Im Bann der schottischen Nacht

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Eine gefährliche Maskerade: Entschlossen schneidet Lady Elizabet ihre Lockenpracht ab, verhüllt ihre weibliche Gestalt mit einer Tunika. Ab sofort dient sie als schottischer Knappe dem neuen Herrn von Ravenmoor Castle, dem verhassten Engländer Sir Nicholas Beringar! Doch mit jedem Tag in Nicholas' Nähe werden Elizabets Gefühle verwirrender. Denn statt grausam ist er ritterlich! Und in seinen Augen sieht sie abgrundtiefe Verwunderung, dass er für seinen Knappen so viel empfindet … Sie will endlich ihre Verkleidung ablegen und ihm eine zärtliche Frau sein. Was für ihren Bruder, der im Kerker der Burg schmachtet, den Tod bedeuten könnte!


  • Erscheinungstag 21.06.2016
  • Bandnummer 302
  • ISBN / Artikelnummer 9783733765446
  • Seitenanzahl 320
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

An der englisch-schottischen Grenze, August 1291

Sir Nicholas Beringar, der Kastellan von Ravenmoor Castle, brachte sein Pferd unweit der steilen Klippen zum Stehen. Die späte Nachmittagssonne überzog den wilden Landstrich mit einem goldenen Schimmer. „Welch ein großartiger Anblick“, sagte er.

„In der Tat“, antwortete Sir Jon, sein Vertrauter, und ließ sein Pferd neben Sir Nicholas’ treten. „Kein Wunder, dass die Menschen ihr Herz an das schottische Grenzland verlieren.“

„Und es bis zum letzten Atemzug verteidigen“, erklärte Sir Nicholas, der voller Ehrfurcht war angesichts der Schönheit der ungezähmten Wildnis dieses herrlichen Landes, das seit dem Tod König Alexanders III. so zerrissen war. „Wie tragisch, dass sich die schottischen Clans im Streit um ihren nächsten König nicht einig sind und nur die Kirche die zerbrechliche Einheit noch aufrechterhält.“

Sir Jon verzog das Gesicht. „Noch.“

„Allerdings. Hoffentlich gelingt es König Edward, zwischen den Schotten zu vermitteln und sie bei der Suche nach einem neuen König zu unterstützen. Indessen ist es meine Aufgabe, Ravenmoor Castle wieder aufzubauen und die schottischen Unruhen an der westlichen Grenze zu beenden.“

„Und die Raubzüge und Viehdiebstähle.“

„Aye“, stimmte Sir Nicholas zu. „Und obschon ich die Streifen verstärkt habe, verschwinden ständig mehr Schafe und Rinder. In den letzten beiden Tagen sind die Diebe sogar noch dreister geworden und haben Reisende ausgeraubt, die auf dem Gebiet von Ravenmoor unterwegs waren.“

Sir Jon nickte. „Das Seltsame ist, dass die zusätzlichen Wachen dafür sorgen sollten, dass die Diebstähle nachlassen. Stattdessen nehmen sie sogar noch zu.“

Sir Nicholas sah mit finsterer Miene zu den Rittern seines Gefolges, die nicht weit entfernt ihre Pferde rasten ließen. „So viel wir auch darüber sprechen, wir werden doch keine Antwort finden. Es ist an der Zeit, nach Ravenmoor Castle zurückzukehren. Nehmt Ihr schon mal die Männer mit Euch, ich komme dann gleich nach.“

Sein Vertrauter sah ihn besorgt an. „Ich lasse zwei Ritter bei Euch.“

„Nicht nötig.“ Sir Nicholas richtete den Blick nach Westen, wo die felsige Landschaft in saftige Wiesen und Torfgebiete überging. „Schließlich haben wir auf unserer Kontrollrunde gerade niemand Verdächtigen entdeckt.“

Vor allem jedoch brauchte er Ruhe, um nachzudenken. Allein.

„Wie Ihr meint.“ Sir Jon ließ sein Pferd drehen und bedeutete den wartenden Rittern, ihm zu folgen.

Das Hufgetrappel der Pferde wurde immer leiser und war schließlich gar nicht mehr zu hören, als der Trupp das Grasland erreichte. Schon nach wenigen Momenten waren die Männer kaum noch zu sehen und verschwanden schließlich im dichten Unterholz eines Hains.

Sir Nicholas rieb sich die Schläfen, um das quälende Pochen dahinter zu besänftigen. Irgendwie musste er dem gesetzlosen Treiben der Viehdiebe Einhalt gebieten. Und nicht zuletzt musste er das Vertrauen der wenigen Schotten gewinnen, die noch in Ravenmoor Castle ausharrten, nachdem König Edward es vor gut einem Jahr in Besitz genommen hatte. Ihm war klar, dass das nicht gerade leicht werden würde, wenn man bedachte, wie er am Morgen empfangen worden war.

Er hatte es sich nicht nehmen lassen, mit einigen der verbliebenen schottischen Bewohner von Ravenmoor zu sprechen, bevor er mit seinen Leuten zum Patrouillenritt entlang der Grenzen der Burgländereien aufgebrochen war. Diese hatten sich jedoch kurz angebunden und reserviert gezeigt und ihn lediglich misstrauisch beäugt. So war es gewesen, seit er vor einer Woche in der Burg angekommen war, egal, wie sehr er sich bemüht hatte.

Sir Nicholas wusste nur allzu gut, warum das so war. Als neuer Kastellan von Ravenmoor Castle hatte er die Unterkünfte der schottischen Bewohner besichtigt und festgestellt, dass vermodernde Dielen und bröckelnde Mauern noch das geringste Übel darstellten.

Wie verfallen die Burg tatsächlich war, hatte eine eingehendere Untersuchung offenbart. Dazu kamen die mangelhafte Kleidung der Leute, die fehlenden Rohstoffe und die leeren Vorratsräume, die kaum mehr als ein paar Kräuterbündel enthielten. Schon bei der oberflächlichen Durchsicht des Hauptbuches der Burg war ihm klar geworden, dass sein Vorgänger als Kastellan, Sir Renaud, im großen Maßstab Mittel veruntreut und Machtmissbrauch betrieben hatte. Wäre es dafür nicht zu spät gewesen, hätte Sir Nicholas den Ritter eigenhändig in Fesseln gelegt und vor König Edward geschleift, wo er für sein schweres Fehlverhalten zur Verantwortung gezogen worden wäre.

Sir Renaud hatte stets ausführliche Berichte an den König gesandt, doch hatte er darin ausschließlich seine gottgefälligen Bemühungen geschildert, das Verhältnis zu den Schotten zu verbessern und Ravenmoor Castle wieder aufzubauen. Das waren Lügen gewesen. Hatte er das Geld stattdessen für seine eigenen verwerflichen Zwecke verwendet? Oder gab es einen anderen Grund für seinen Verrat am König?

Auf jeden Fall hatte Sir Renaud sich hartnäckig der Aufforderung König Edwards widersetzt, vor ihm zu erscheinen und ihm den Zustand der Burg zu schildern. Beim letzten schottischen Angriff auf die Burg hatte er dafür mit seinem Leben bezahlt.

Vielleicht gab es doch so etwas wie Gerechtigkeit. Nachdenklich dirigierte Sir Nicholas sein Pferd Richtung Ravenmoor Castle. Er ritt am Rande eines Sumpfgebietes entlang, die Hufe des Pferdes verursachten ein schmatzendes Geräusch, der Duft von Schilf und Torf erfüllte die Luft. Er schlug den Weg zu einer ein wenig höher gelegenen Baumgruppe ein und ließ sich die Fakten noch einmal durch den Kopf gehen. Doch so viel er auch nachdachte, ihm fiel kein anderes Motiv als Gier ein, warum Sir Renaud ihren König angelogen haben mochte. Und ebenso blieb ihm ein Rätsel, warum es seit einigen Tagen so viel mehr Vorfälle an den Grenzen der Ländereien von Ravenmoor gab.

Was für ein Elend! Wollte er Ravenmoor Castle wieder instand setzen und das Vertrauen der schottischen Bewohner gewinnen, so brauchte er Zeit. Nur war Zeit gerade ein Luxus angesichts der sich stetig verschlechternden Beziehungen zwischen Schottland und England.

Ihm blieb nichts anderes übrig, als sich auf das zu konzentrieren, was er selbst in der Hand hatte. Die Verteidigungsanlagen waren weitgehend wieder hergerichtet, und so würde er in den nächsten Tagen endlich das Hauptbuch einer genauen Durchsicht unterziehen und Einblick in die tatsächlichen Geschehnisse erlangen. Vielleicht bekam er dann auch eine Idee, wie er dem Misstrauen der Schotten in der Umgebung begegnen konnte.

Eine leichte Brise erhob sich über den Hügeln und war auch zwischen den dicht stehenden Ulmen und Eichen spürbar. Sein Blick ging gen Westen. Inzwischen müssten seine Leute an der Burg angelangt sein, wo noch jede Menge Arbeit auf sie wartete. Sir Nicholas legte seinen Helm an und presste seinem Pferd die Beine in die Flanken.

Da schoss plötzlich ohne jegliche Vorwarnung ein Pfeil an seinem Kopf vorbei und verfehlte ihn nur um Haaresbreite.

„Verflucht!“ Die Erde spritzte auf, als Sir Nicholas sein Pferd entschlossen nach links herumriss. Hastig zog er sein Schwert und ließ den Blick über die dichten Bäume gleiten, um die Angreifer zu entdecken.

Nichts.

Er spürte, wie seine Nackenhaare sich aufstellten. Doch wertvolle Augenblicke vergingen, ohne dass es zu dem von ihm erwarteten Angriff kam; kein Metall klirrte, keine Klinge blitzte, und keine Krieger stürmten aus dem Schutz der Bäume hervor. Wer nur mochte den Pfeil abgeschossen haben? Sir Nicholas trieb sein Pferd voran. Er würde es herausfinden, koste es, was es wolle.

„Halt, oder der nächste Pfeil wird sein Ziel nicht verfehlen!“, erklang gebieterisch die Stimme eines jungen Burschen.

„Wie ist Euer Name?“, rief Sir Nicholas und hielt sein Pferd an. Suchend schaute er sich um, ob er den Jungen zwischen den Zweigen und Blättern ausfindig machen konnte. War er allein? Und falls nicht, wie viele richteten wohl gerade ihren gespannten Bogen auf ihn?

Ein Zweig erzitterte.

Sir Nicholas sah genauer hin. Zwischen den Blättern ragte die Spitze eines schwarzen Stiefels hervor.

„Ihr seid umzingelt“, hörte er die Stimme eines jungen Burschen. Die Blätter einer nahen Ulme vibrierten wie zur Bekräftigung seiner Aussage. „Werft Euer Gold auf den Boden, und Euch wird nichts geschehen.“

Sir Nicholas musterte die Ulme. Waren dort die vermeintlichen Komplizen des Burschen versteckt? Doch dann bemerkte er überrascht, dass zwischen den Ästen der Ulme und einigen weiteren Bäumen ein ganzes Netz schwarzer Fäden hing, die allesamt bei dem Jungen zusammenliefen. Was für ein geschickter Trick, um sein Opfer glauben zu lassen, zwischen den Bäumen rundherum würden zusätzliche Männer nur darauf warten einzugreifen.

Was hatte dieser junge Schotte wohl erlebt?, dachte Sir Nicholas voller Mitgefühl. Er wusste nur zu gut, dass schwere Zeiten ein Leben unwiderruflich zu ändern vermochten. Wo mochten die Eltern des Jungen sein? Ob sie bei der Belagerung von Ravenmoor Castle vor mehr als vierzehn Tagen gestorben waren? Oder bei einer früheren Auseinandersetzung um das Land an der schottisch-englischen Grenze?

„Werft Euer Gold zu Boden!“ Die Stimme des Jungen verriet seine Nervosität.

Der Ast hob und senkte sich und erlaubte Sir Nicholas einen genaueren Blick auf den Banditen. Er schien eher schmächtig zu sein, seine Jacke war viel zu groß und schlotterte um ihn herum. Und trotz der Kapuze auf dem Kopf des Jungen konnte Sir Nicholas einen Blick auf das im Schatten liegende Gesicht erhaschen.

Auch wenn der Junge womöglich ein Opfer der Zeiten war, konnte Sir Nicholas auf seinem Herrschaftsgebiet keine gesetzlosen Akte dulden. „Ich bin Sir Nicolas Beringar, der Kastellan von Ravenmoor Castle und verantwortlich für das Land hier, auf dem du deine Raubzüge durchführst. Komm her. Und zwar sofort.“

Lady Elizabet Armstrong zog die weite Kapuze enger um ihr Gesicht und wich noch weiter in den Schutz der dichten grünen Blätter zurück. Maria, Muttergottes, warum war sie ausgerechnet auf den neuen Kastellan gestoßen?

Auf ihrer Stirn bildeten sich Schweißtropfen. Ihre Hände wurden feucht. Hätte sie doch nur auf ihre innere Stimme gehört und wäre mit ihrer heutigen Beute nach Hause zurückgekehrt. Doch als sie gerade nach unten klettern wollte, hatte sie den einsamen Reiter erspäht und war sich sicher gewesen, ihn ohne große Gegenwehr um seine Barschaft erleichtern zu können.

Der Kastellan sah sie aus stahlgrauen Augen an. Ihre Blicke trafen sich und lösten in ihr die verschiedensten Empfindungen aus. Er besaß eine Ausstrahlung, der sie sich kaum entziehen konnte, ungeachtet der Gefahr, die von ihm ausging. Seine Schultern waren so breit, dass sie zu ihrer Betonung eigentlich weder Gambeson noch Kettenhemd nötig hatten. Er war schlank und muskulös und jeder körperlichen Aufgabe gewachsen. Und nicht zuletzt sprach aus seiner aufrechten Haltung im Sattel die Selbstsicherheit, die er in vielen Jahren des Kampfes errungen hatte.

Elizabet zwang sich, ihre ganze Aufmerksamkeit auf seinen Kettenpanzer, sein kastanienbraunes Streitross und sein fein verziertes Breitschwert zu richten. Am Geschirr seines Pferdes war sein Wohlstand abzulesen – wenn er auch nur ein paar Münzen bei sich hatte, würde sie ihm diese abnehmen. Und falls nicht, blieben immer noch seine Waffen. Die würden auf dem Markt einen guten Preis bringen.

„Solltet Ihr kein Gold bei Euch haben, so legt Euer Schwert und Euren Dolch auf den Boden“, forderte Elizabet mit tiefer Stimme.

Der Kastellan zuckte ungeduldig mit den Schultern.

Sie wurde zornig. Wie immer, wenn jemand sie nicht ernst nahm. Sie legte einen Pfeil ein und spannte die Sehne.

„Das halte ich nicht gerade für das Klügste“, sagte Sir Nicholas mit verstörender Ruhe. „Ich weiß, dass du allein bist.“

Ihre Hand zitterte, während sie den Mann vor ihr auf dem Pferd von Kopf bis Fuß musterte. Für ihren Geschmack war er ein wenig zu selbstsicher. „Tut, was ich sage, sonst werden meine Männer Euch töten.“

Der Blick des Kastellans verfinsterte sich. „Ich habe die Schnur in den Ästen entdeckt.“

Elisabet geriet langsam in Panik. Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sich ergeben war unmöglich. Schließlich hielt er sie für einen Jungen und würde sie vermutlich bestrafen, ihr womöglich gar die Hand abschlagen, wenn nicht noch Schlimmeres. Doch wenn er herausfand, dass sie eine Frau war? Ihr lief es kalt den Rücken hinunter. Ehe sie sich von ihm berühren ließe, würde sie bis zum bitteren Ende kämpfen.

Zitternd senkte sie den Bogen. Auf der Suche nach einem festen Halt rutschte sie auf dem Ast hin und her. Er gab ein verräterisches Knarzen von sich. Sie atmete tief durch und hielt sich an einem anderen Ast fest. Irgendwie musste sie den Mann loswerden. „Ich habe mich entschlossen, Euch gehen zu lassen.“

Der Ritter sah sie finster an. „Komm runter, ich will mit dir reden.“

Sie drängte sich näher an den Stamm des Baumes. Er war so ganz anders als ihre Opfer der letzten Tage. Wenn sie ihnen die Chance gelassen hätte, wäre jeder von ihnen Hals über Kopf geflohen, so wenig Rückgrat hatten sie besessen. Sir Nicholas dagegen erwies sich als echte Herausforderung.

Was sollte sie nur tun?

Die Blätter rauschten leise in der Brise, die jetzt durch die Bäume wehte, es duftete nach Torf und frischem Bergquellwasser. Elizabet sah zum Himmel auf und bemerkte, dass langsam die Abenddämmerung hereinbrach. Wie viel hätte sie dafür gegeben, jetzt zu Hause zu sein in ihrem sicheren Gemach. Warum nur war sie nicht nach Wolfhaven Castle zurückkehrt, als sie die Gelegenheit dazu hatte?

„Bursche, ich werde dir nichts tun.“

Trotz der Entfernung zwischen ihnen spürte sie seinen Missmut. Doch auch seine Entschlossenheit. „Ihr wollt mich hereinlegen. Aber ich weiß, welche Strafe auf Diebstahl steht.“

Sie hielt die Luft an, als er sich unterhalb des Astes postierte, auf dem sie stand, und direkt zu ihr aufsah. Einen wütenden Blick hätte sie leicht ausgehalten, doch als er sie jetzt mit seinen durchdringenden grauen Augen ansah, war ihr, als würde er ihr unmittelbar in die Seele schauen. Hilflos versuchte sie sich zu verbergen.

„Was hältst du von einer Stelle als mein Knappe?“

Eine List! „Haltet Ihr mich für derart leichtgläubig? Sobald ich nach unten komme, werdet Ihr nichts Besseres zu tun haben, als mir die Hand abzuhacken.“ Einmal abgesehen davon, dass nur Gott ihr noch würde helfen können, falls Sir Nicholas herausfand, dass sie eine Frau war.

Mit gerunzelter Stirn senkte er sein Breitschwert und legte es flach auf den Widerrist seines Rosses. „Ich gebe dir mein Wort, dass ich mein Angebot aufrichtig meine.“

In ihr regte sich zarte Hoffnung. Und wenn er nun die Wahrheit sagte? Elizabet dachte an ihren Vater, ihren Bruder und die anderen Leute von Wolfhaven, die sich auf Ravenmoor Castle in Gefangenschaft befanden. Ob sie verwundet waren? Oder leiden mussten? Die Ungewissheit quälte sie, und mit jedem weiteren Tag glaubte sie weniger daran, dass sie überhaupt noch lebten. Die Beute der letzten Tage würde bei Weitem nicht ausreichen, um eine Wache zu bestechen, ihren Bruder, ihren Vater und die anderen freizulassen. Doch was, wenn sie sich auf Sir Nicholas’ Angebot einließ? Ob es ihr wohl gelingen würde, weiterhin erfolgreich ihre Rolle als Junge durchzuhalten?

Unvorstellbar.

Man musste schon ein Narr sein, um über das Angebot überhaupt nachzudenken. Außerdem war bekannt, dass man den Engländern mit ihren Lügen einfach nicht trauen konnte.

Ungeachtet dessen, dass alles dagegen sprach: Sollte der Kastellan sein Angebot ernst gemeint haben, musste sie diese Gelegenheit ergreifen. Denn damit hatte sie Zutritt zu Ravenmoor Castle und die Möglichkeit, etwas für ihren Vater und ihren Bruder Giric zu tun.

„Hallo da oben?“

Sie versuchte, ihre innere Unruhe niederzuringen, und nickte. „Einverstanden. Ich werde Euer Knappe.“

Der Kastellan nickte zufrieden. „Dann komm jetzt herunter. Du reitest mit mir zur Burg.“

„Nay. Ich mache mich morgen im ersten Sonnenlicht auf den Weg.“

In seiner Wange zuckte es. „Junge, ich habe dir mein Wort gegeben, dass dir nichts geschieht.“

Sie klammerte sich an ihrem Ast fest. „Und ich habe mein Wort gegeben, dass ich morgen früh nach Ravenmoor Castle komme.“

„Ich kann auch heraufkommen und dich holen“, sagte er herausfordernd.

Sie warf einen schnellen Blick zum nächststehenden Baum und musterte darauf erneut den Kastellan. Nun gut, in dem Fall würde sie eben springen. Und sofern sie sich nicht das Genick brach, würde es beim Gewicht seiner Rüstung nicht allzu schwierig sein, ihm davonzurennen.

Leder knarzte, als er sich im Sattel zurechtrückte.

Aus irgendeinem Grund wusste sie genau, dass er ihre Fluchtpläne durchschaute. Verärgert reckte sie ihm das Kinn entgegen.

Er sah sie belustigt an. „Gut, dann im Morgengrauen.“

Sie atmete langsam aus.

„Und jetzt sagst du mir noch deinen Namen.“

Ihr Name? Natürlich wollte er ihren Namen wissen. „Thomas“, sagte sie, noch ehe sie sich besinnen konnte.

„Thomas“, wiederholte er ohne ergänzende Anrede, „wenn du dich nicht bis zur Morgenandacht meldest, mache ich mich auf die Suche nach dir.“ Er sah sie finster an. „Und es ist besser für dich, wenn du das nicht als hohle Drohung ansiehst. Ich mache keine falschen Versprechungen.“

Daran zweifelte sie nicht. „Ich werde da sein.“

Er nickte ihr zu, wendete sein Pferd und machte sich im Galopp auf in Richtung Ravenmoor Castle.

Elizabet musste schlucken, als seine gebieterische Erscheinung zwischen den Bäumen verschwand. Sie hatte sich richtig entschieden. Jetzt noch zu zweifeln würde nur unweigerlich ins Unglück führen.

Es war inzwischen fast ganz dunkel geworden. Auf halber Höhe des Turmes von Wolfhaven Castle hielt Elizabet müde inne und wandte sich Lachllan zu, dem Verwalter des Familienguts.

Die Fackeln in den Wandhaltern warfen ihren Schein auf sein faltiges Gesicht. Es war voller Besorgnis, Liebe und Wut. „Unter keinen Umständen werdet Ihr die Stelle als Knappe des Kastellans annehmen. Ich habe Giric versprochen, für Eure Sicherheit zu sorgen, und dieses Versprechen werde ich halten.“ Unwillig schüttelte er den Kopf. „Dass Ihr Euch allein hinausgeschlichen habt und auf Raubzug gegangen seid, macht mich schon wütend genug. Seht Ihr nicht, was für eine Dummheit es wäre, allein zur Burg aufzubrechen? Was habt Ihr Euch nur dabei gedacht?“

Der besorgte Klang seiner Stimme rührte sie. Elizabet legte dem Verwalter die Hand auf die Schulter. „Gäbe es eine andere Möglichkeit, Vater, Giric und unsere Leute zu befreien, dann würde ich diese nutzen. Nur gibt es sie nicht. Mit dem, was ich heute erbeutet habe, könnte man noch nicht mal genügend Futter für eine Ziege besorgen. Und noch viel weniger einen Wachmann bestechen.“ Sie ließ ihre Hand sinken. Ihr einziger Wunsch war es jetzt, ein paar Stunden zu schlafen. „Wenn ich erst einmal drinnen bin, wird sich schon eine Chance ergeben, unseren Leuten zu helfen.“

Lachllan sah sie skeptisch an. „Selbst wenn ich Eurem törichten Plan zustimmen könnte, wie wollt Ihr dem Kastellan auf Dauer glaubhaft machen, dass Ihr der Junge seid, für den er Euch hält? Halb hinter Blättern verborgen und mit Eurem Gesicht im Schatten mag Euch das gelungen sein. Aber in seinen Diensten, Seite an Seite mit ihm?“

Sie runzelte die Stirn. Eben diese Frage hatte sie den gesamten Heimweg hinweg beschäftigt. „Was die Aufgaben eines Knappen sind, weiß ich. Und was die Kleidung betrifft, so werde ich mich aus Girics Truhe bedienen.“ Wenn ihr Bruder jetzt von ihrem Vorhaben hören könnte, würde er fuchsteufelswild werden. Ihrem Vater dagegen wäre es vermutlich herzlich gleichgültig nach den Auseinandersetzungen, die sie miteinander ausgefochten hatten. Dennoch liebte sie ihn noch immer. Da sie indes beide in den Verliesen von Ravenmoor Castle saßen, konnten weder Giric noch ihr Vater Einfluss nehmen auf ihre Entscheidung.

Lachllan gab sich wenig überzeugt. „Ihr werdet schon mehr brauchen als lediglich andere Kleider, um den Kastellan auf Dauer davon zu überzeugen, dass Ihr ein Junge seid. Dazu ähnelt Ihr viel zu sehr Eurer Mutter.“ Er lächelte kurz. „Ihr seid so wunderschön wie sie.“

Elizabet stieg das Blut in die Wangen. „Meine Mutter war eine starke Frau, die für ihre Überzeugungen gekämpft hat. Meine Entscheidung steht, ich werde gehen. Das bin ich ihr und unseren Leuten schuldig.“

„Habt Ihr mir nicht zugehört?“, fragte Lachllan. Er lächelte nicht mehr. „Dieses Mal werde ich Euch nicht Euren Willen lassen.“ Warnend hob er den Finger. „Euer Vater würde mich bei lebendigem Leib aufknüpfen lassen, wenn ich Euch gehen ließe. Ganz zu schweigen von Giric. Außerdem liebe ich Euch selbst viel zu sehr, um zuzulassen, dass Ihr Euch einer solchen Gefahr aussetzt.“

Sie lachte auf, schließlich wusste sie es besser – ihrem Vater war sie herzlich egal. Einen zweiten Sohn hatte er sich gewünscht, nicht eine Tochter, und hatte von ihrer Geburt an stets nur Giric gelobt und beachtet. Es schmerzte sie, wenn sie an all die Jahre dachte, die sie um seine Anerkennung gebuhlt hatte.

Vergeblich.

Dennoch musste sie diesen Versuch jetzt wagen. „Ich werde nicht hier abwarten und nichts tun.“

„Ihr habt Euch um die Verwundeten gekümmert, außerdem wart Ihr in den vergangenen Tagen unzählige Stunden unterwegs auf Euren Raubzügen. Mehr kann keiner von Euch erwarten.“

Ein kühler Wind wehte von oben durchs Treppenhaus und brachte die Flammen der Fackeln zum Tanzen, sodass lange Schatten über die Wände huschten.

Die Situation war ausweglos.

Elizabet seufzte und dachte traurig daran, dass sie sich heimlich wie ein Dieb aus ihrem Zuhause würde davonschleichen müssen. Doch das musste sie auf sich nehmen, um die Ihren zu retten. Vor ihrem morgendlichen Aufbruch durch den Fluchttunnel würde sie Lachllan eine Nachricht hinterlassen, damit er wusste, wo sie war. „Ich wünsche Euch eine gute Nacht.“

Mit wachen Augen musterte er sie, als wolle er ihre Befindlichkeit erkunden, und verzog das Gesicht in einem Ausdruck des Bedauerns. „Meine Liebe, wenn es doch nur anders wäre.“

Sie umarmte ihn, wissend, dass sie ihn lange nicht sehen würde. „Dasselbe wünsche ich mir auch.“ Elizabet setzte ihren Weg nach oben fort. Warum nur sah er nicht ein, dass sie dieses Risiko auf sich nehmen musste? Doch selbst wenn sie es ihm hätte verständlich machen können, wie hätte sie ihn beruhigen sollen?

Die Antwort darauf war einfach.

Gar nicht.

Denn ihr Vorhaben barg jede Menge Gefahren, das stand außer Frage.

Sie trat in ihr Gemach, und wie so oft überwältigten sie die Erinnerungen an ihre Kindheit, an die glücklichen Zeiten mit ihrer Mutter. Einen Moment lang gab sie sich dem warmen Gefühl hin, das sie immer hatte, wenn sie an ihre Mutter dachte. Doch schon bald wurde es von dem Gedanken an die Kälte ihres Vaters verdrängt. Als sie um ihre Mutter getrauert hatte, hatte Giric ihr beigestanden und nicht ihr Vater. Sie wusste nicht, was sie ohne ihren Bruder getan hätte.

Elizabet schloss die Tür. Nein, an diesem Abend durfte sie sich nicht irgendwelchen traurigen Gedanken überlassen. Ihre ganze Aufmerksamkeit musste sie dem morgigen Tag widmen, der Befreiung ihres Vaters, ihres Bruders und der Leute von Wolfhaven Castle.

Angespannt trat sie an die Truhe am Fuß ihres Bettes und schob mehrere wollene Kleider beiseite, bis sie endlich gefunden hatte, was sie suchte. Ihre Hand zitterte, als sie die Schere hervorzog. Sie riss sich zusammen und strich sich durch ihre langen schwarzen Haare. Nein, sie war kein Kind mehr, sondern eine Frau, die Verantwortung übernehmen musste.

Was, wenn Sir Nicholas sie so sehen könnte? Würde er in ihr die Frau sehen oder einen Feind, den es zu bekämpfen galt?

Sie schüttelte den Kopf über ihre eigenen Gedanken. War sie verrückt? Wie konnte sie nur so an den Kastellan denken? Entschlossen setzte Elizabet die Schere an, und mit einem Schnitt war die erste Strähne ab. Ihr kam es vor, als würde sie damit die letzte Verbindung zu ihrer Jugend kappen. Tiefschwarze Haarbüschel fielen zu Boden und verteilten sich auf dem Stein.

Sie hatte sich entschieden.

Nun gab es kein Zurück mehr.

2. KAPITEL

Sir Nicholas war bis zu den Hüften nackt, Schweißtropfen rannen ihm über die Brust. Mit mehreren seiner Männer hob er den schweren Holzbalken an. „Jetzt.“ Laut ächzend beförderten sie den Balken in das hell lodernde Feuer.

Die Funken stoben hoch, begleitet von dichtem schwarzen Rauch, bevor die Flammen das trockene Holz in Besitz nahmen.

Von dem Haufen ging der beißende Geruch von Wolle, Holz und anderen Dingen aus, von denen Sir Nicholas sich lieber gar nicht erst fragte, was es sein mochte. Nur die Burgmauern und der Wohnturm waren in Ordnung, sämtliche sonstigen Gebäude dagegen, die Werkstätten und Behausungen, waren in einem solch erbärmlichen Zustand, das einem selbst das Ungeziefer leidtat, das sich dort eingenistet hatte. Sie hatten vor einigen Tagen damit begonnen, die Gebäude niederzureißen und alles zu verbrennen, was nicht mehr zu gebrauchen war, danach konnten sich Sir Nicholas’ Ritter mit den Bewohnern daranmachen, alles neu aufzubauen.

Die auf Ravenmoor Castle verbliebenen Schotten hatten sich zutiefst skeptisch gegenüber seinen Plänen gezeigt, zumal sie für die Dauer der Arbeiten in der Burg unterkommen mussten. Sir Nicholas wusste, dass ihr Argwohn eine ebenso bedrohliche Kraft darstellte wie das Feuer, bei dem er nun stand. Beides musste sorgfältig unter Kontrolle gehalten werden, sonst würde es sich zu einem Flächenbrand auswachsen.

Inzwischen hatte er sich fast schon an die skeptischen Blicke der Schotten gewöhnt. Auf keinen Fall wollte er sich durch ihr Misstrauen von seinen Zielen abbringen lassen – er würde neue Wohnstätten errichten und langsam ihr Vertrauen gewinnen. Und sofern ihm das tägliche Treiben der Burg Zeit dafür ließ, wollte er das Hauptbuch durchgehen, um dem vollen Ausmaß von Sir Renauds Betrug an ihrem König auf die Spur zu kommen.

Er ging in die Knie, griff nach dem nächsten Holzbalken und nickte den anderen Männern zu. Gemeinsam stemmten sie die Last und wandten sich zum Feuer.

„Sir Nicholas!“, rief ein Ritter von hinten.

„Hoch damit!“, befahl Sir Nicholas und schob den Balken voran. Das von Insekten zerfressene Holz stürzte polternd ins Feuer. Es verkantete sich und blieb halb in den Flammen stehen. Sir Nicholas vergewisserte sich, dass der modernde Balken keine Gefahr darstellte, und drehte sich um.

Der Ritter, der nach ihm gerufen hatte, deutete Richtung Fallgitter. „Ein schottischer Bursche wünscht Euch zu sprechen. Er sagt, sein Name sei Thomas.“

Sein Gefühl hatte ihn also nicht getrogen, er war tatsächlich gekommen. Zufrieden sah er hinüber zu dem schmächtigen Jungen, der sich nervös am Tor herumdrückte. „Bringt ihn zu mir.“

„Aye, Sir Nicholas.“ Der Ritter machte sich auf zum Burgtor.

Sir Nicholas wischte sich über die Stirn und musterte den Jungen. Wie am Vortag trug er viel zu große Kleider, und eine ausgefranste Kapuze verdeckte einen Großteil seines Gesichts. Der Junge sah erbärmlich aus.

„Sir Jon!“, rief Sir Nicholas. „Übernehmt das Kommando.“

„Aye, Sir Nicholas.“

Sir Nicholas näherte sich seinem neuen Schützling, der verzweifelt durch das Tor nach draußen sah. „Ich hätte dich überall aufgespürt.“

Thomas sah ihn aus wutblitzenden Augen an. „Ich hatte nicht vor zu fliehen.“

Allzu schnell kam diese Antwort und ließ keinen Zweifel an seinen wahren Gefühlen. Wie auch hätte der Junge keine Furcht haben sollen? Schließlich hätte Sir Nicholas ihm nach dem Gesetz für seinen versuchten Raub auf dem Gebiet von Ravenmoor Castle die Hand abhacken oder ihn hängen lassen können. Doch Sir Nicholas war zufrieden damit, dass Thomas sein Wort gehalten und auf die Burg gekommen war. Auch wenn er sich fragte, wie lange sein neuer Knappe wohl aushalten würde, so eingeschüchtert wirkte er.

Sir Nicholas blieb nur eine Armlänge entfernt vor dem Jungen stehen. „Nimm deine Kapuze ab, damit ich dein Gesicht sehen kann.“

Zitternd griff Thomas nach dem Zipfel der Kapuze und zog daran. Der alte braune Wollstoff sank nach unten und legte struppige Büschel rabenschwarzen Haares frei, die ein außergewöhnlich schlankes Gesicht rahmten. Ein sehr junges Gesicht mit beinahe mädchenhaften Zügen. Der Junge presste die Lippen zusammen und hob herausfordernd sein Kinn.

Doch so jung Thomas auch aussah, durch die Schmutzspuren auf seiner Wange und seine angriffslustige Haltung hatte er etwas von einem kampfbereiten schottischen Krieger. Indes waren es seine Augen, die Sir Nicholas in ihren Bann schlugen. Sie glichen zwei Smaragden und erinnerten in ihrer intensiven Färbung an die grünen Hügel Schottlands, während die Miene des Burschen so ungezähmt war wie das Meer. Ohne dass er etwas gesagt hätte, erkannte man seinen unbeugsamen Willen.

Das Geräusch laut splitternden Holzes drang zu ihnen.

Sir Nicholas sah zu einem Holzhaufen, der ehemaligen Werkstatt des Schmieds. Mehrere Männer machten sich dort zu schaffen und zerrten die Holzreste zum Feuer.

Neben immensen Mitteln würden unendlich viel Zeit und Arbeit erforderlich sein, um Ravenmoor Castle in seiner ganzen Pracht wieder auferstehen zu lassen. Inmitten dieses Durcheinanders einen eigenwilligen Jungen aufzunehmen würde so mancher vermutlich nicht verstehen. Doch angesichts der gespannten Verhältnisse im Grenzland wollte Sir Nicholas durch Thomas’ Anstellung die schottischen Bewohner des Schlosses von seinen guten Absichten überzeugen.

„Komm mit.“ Sir Nicholas setzte sich in Richtung der rückwärtigen Burgmauer in Bewegung, wo die Männer damit begonnen hatten, die Baracken niederzureißen.

Elizabet folgte dem Kastellan über den Hof, auf dem überall verteilt Trümmerhaufen herumlagen. Gebannt beobachtete sie das Spiel seiner Rückenmuskeln, die von außerordentlicher Kraft kündeten. So schnell würde ihm niemand gefährlich werden, doch seine Feinde mussten ihn fürchten.

Sie atmete tief durch, um sich zu beruhigen, und bemerkte überrascht, dass nahezu sämtliche Wohnungen und Werkstätten innerhalb der Burgmauern abgerissen worden waren. Also würden die letzten noch verbliebenen Gebäude vermutlich keine Gefahren bergen. Wie sie sich eingestand, hatte der Kastellan gut daran getan, die Bauten abreißen zu lassen. Er schien tatsächlich entschlossen zu sein, Ravenmoor Castle wieder aufzubauen. Oder war es lediglich eine List, um das Vertrauen der hier lebenden Schotten zu gewinnen?

Sie beobachtete Sir Nicholas, der sich mit der Eleganz und Selbstsicherheit einer Katze bewegte. Er war es gewohnt, Entscheidungen zu treffen und Befehle zu erteilen, denen Folge geleistet wurde. Ein banger Gedanke ging ihr durch den Kopf. Was, wenn sie oder ein anderer Schotte sich ihm widersetzen würde? Würde er Gerechtigkeit walten lassen oder aber sich so selbstgerecht verhalten wie der ehemalige Kastellan?

Angespannt ließ sie ihren Blick über jeden der vier Türme schweifen, die sich an den Ecken der Burgmauer erhoben, und ihr Hals schnürte sich zu. In einem der Türme wurden ihr Vater, Giric und ihre Leute gefangen gehalten. Sie musste sie finden und befreien. Und bis es so weit war, würde sie alles Erforderliche tun, um ihr Überleben auf Ravenmoor Castle zu sichern.

Anstatt sie zu den mächtigen Abfallhaufen zu führen, die nur darauf warteten, zum Feuer geschafft zu werden, schlug der Kastellan den Weg zur Burg ein.

Angst durchströmte ihre Adern. „Wohin bringt Ihr mich?“

Sir Nicholas setzte seinen Weg unbeirrt fort.

Sie folgte ihm, aber ihre Knie zitterten bei jedem Schritt. Bedauerte er etwa schon seinen Entschluss, sie zu seinem Knappen zu machen? Wollte er sie womöglich doch bestrafen lassen? Oder war ihm aufgegangen, dass sie eine Frau war, die er nun in sein Gemach bringen wollte?

„Achtung!“, rief ein stämmiger Mann, der plötzlich auf sie zustolperte.

Ein wohlgenährtes, aber dreckverkrustetes Schwein schoss quiekend auf Elizabet zu. Ehe sie überhaupt reagieren konnte, stürmte ihr das Borstenvieh durch die Beine. Mit einem Aufschrei stürzte Elizabet zu Boden.

Laut quiekend machte das Schwein seinem Unmut Luft, als ein rotblonder Junge es beiseitedrängte. Der stämmige Mann von zuvor stürmte an Elizabet vorbei und packte das Tier an den Hinterbeinen. Keuchend hob er das Schwein hoch und sah zum Kastellan. „Entschuldigt, Sir Nicholas. Das vermaledeite Vieh muss sein Schicksal geahnt haben.“

„Aye, Ihon.“ Sir Nicholas’ Augen blitzten vergnügt auf, und er warf Elizabet einen bedeutungsvollen Blick zu. „Es sind immer die, die man unterschätzt, die einem am meisten Ärger machen.“

„Da habt Ihr recht.“ Lachend und mit schweren Schritten ging der Mann fort, vermutlich Richtung Küche. Das protestierende Schwein hielt er fest unter den Arm geklemmt. Der rotblonde Junge folgte ihm, nicht ohne Elizabet noch einen neugierigen Blick zuzuwerfen, bevor er seinen Schritt beschleunigte, um den untersetzten Mann einzuholen.

Sir Nicholas’ amüsierter Blick ließ Elizabet das Blut in die Wangen schießen.

„Bist du verletzt?“, erkundigte er sich.

Nein. Nur ihr Stolz hatte etwas abbekommen. Sie sprang auf die Füße und klopfte ihre übergroßen Gewänder ab. Warum nur fühlte sie sich so beklommen in der Gegenwart dieses Mannes? „Ich bin kein kleiner Junge mehr, den man in den Arm nehmen und trösten muss.“

Sein amüsierter Ausdruck verschwand. „Meine Frage war Ausdruck meiner Sorge“, erwiderte er kühl. „Und ich werde weder dir noch einem anderen meiner Diener irgendeine Respektlosigkeit durchgehen lassen.“

Elizabet senkte erschöpft und verwirrt den Blick. „Es tut mir leid. Das alles heute ist etwas zu viel für mich.“ Es war die Wahrheit. Im Morgengrauen hatte sie sich davonstehlen müssen, um Lachllans wachsamen Augen zu entgehen, nur um sich als Junge verkleidet in die Burg des Feindes einzuschleichen. Und nicht genug damit, dass sie Angst um ihre Familie hatte und daran zweifelte, ob sie mit ihrer Maskerade Erfolg haben würde. Nein, dazu kam auch noch die Einsicht, wie sehr sie nach dieser kurzen Zeit schon den Mann schätzte, von dem für sie die größte Bedrohung ausging.

Sir Nicholas blieb eine ganze Weile still, dann nickte er. „Also gut. Komm mit, es ist viel zu tun.“

Schweigend folgte sie ihm und registrierte dankbar, wie sie den Eingang zum Wohngebäude passierten und zur hinteren Ringmauer weitergingen.

Der Geruch von Rauch und Staub lag in der Luft. Fünf Männer rissen die Bretterwände des verlassenen Stalls ein.

Elizabet kräuselte die Stirn. „Ihr habt gesagt, meine Pflichten seien die eines Knappen.“ Wozu ihres Wissens auch gehörte, für den Ritter die Pferde zu striegeln und sich um sie zu kümmern und die Ställe auszumisten.

„Die Tätigkeit eines Knappen umfasst alles, was sein Herr ihm aufträgt“, erwiderte Sir Nicholas. „Zunächst werden wir den Männern dabei helfen, den Stall abzureißen, und danach arbeiten wir uns Richtung Feuer vor.“

Elizabet nickte und suchte die hinterste Ecke des Stalls auf. Der Kastellan trat an ihre Seite und riss ohne ein Werkzeug ein Brett aus der Verankerung. Voller Bewunderung beobachtete sie das Spiel seiner Muskeln, fasziniert von seiner Körperkraft. Und sie konnte nicht anders, sie fragte sich, wie sich diese starken Hände wohl auf ihrer Haut anfühlen würden …

Verwirrt von diesen ungebetenen Gedanken, griff Elizabet nach einer rostigen Stange und machte sich daran, ein Brett zu lockern. Sie war wegen der Ihren hergekommen und nicht, um wie ein dummes Schaf einen schönen Engländer anzuschmachten, der in Diensten des blutrünstigen englischen Königs stand.

Mit einem Knirschen löste sich das Holz. Sie warf das Brett auf einen beständig anwachsenden Haufen und betrachtete verstohlen die vier Türme. Ein bisher verdrängter Gedanke erschütterte sie. War es möglich, dass ihre ganze Mission vergeblich war und ihre Leute bereits tot waren? Ein Zittern erfasste ihren gesamten Körper. Nein, sie lebten. An etwas anderes durfte sie gar nicht denken. Elizabet setzte die Stange am nächsten moderigen Brett an und hebelte es los. Sobald sie ihren Aufenthaltsort herausgefunden hatte, würde sie sie befreien.

Die Augustsonne schob sich immer höher am Himmel empor und brannte unerbittlich auf Sir Nicholas’ Rücken. Ohne der Hitze irgendwie Beachtung zu schenken, begutachtete er den Fortschritt ihrer Arbeiten. Drei Schuppen waren noch dem Erdboden gleichzumachen, und es gab noch viel zu verbrennen, doch sobald sie damit fertig waren, konnten sie mit dem Wiederaufbau beginnen.

Da bemerkte er eine Bewegung zu seiner Rechten und sah sich um. Thomas zerrte am Ende eines Bretts und mühte sich, das widerspenstige Holzstück loszureißen.

„Macht weiter“, sagte Sir Nicholas zu seinen Männern und trat zu seinem Knappen. Er griff nach dem Brett. „Warte, ich helfe dir.“

Der Schweiß lief in Rinnsalen über das schmutzige Gesicht des Jungen. Sir Nicholas sah, wie Thomas ihn argwöhnisch betrachtete, die Schultern hochzog, sich ganz auf das Holzbrett konzentrierte und mit aller Macht daran zog.

Das Brett gab nach.

Der Junge stolperte rückwärts, doch Sir Nicholas fing ihn auf, ehe er zu Boden stürzen konnte. Thomas erstarrte in seinen Armen, während sich Sir Nicholas nicht rührte. Unter den weiten Kleidern fühlte er, dass der Junge zerbrechlich war wie ein Schilfrohr. Er verfluchte sich insgeheim. Warum nur war es ihm nicht in den Sinn gekommen, dass Thomas dem Verhungern nahe sein musste? Aus welchem anderen Grund hätte er es sonst wagen sollen, Reisende zu überfallen? Bei ihm sollte er jeden Tag ausreichend zu essen bekommen. Dafür wollte Sir Nicholas selbst sorgen.

Der Knappe wand sich in seinen Armen. „Lasst mich frei.“

Sir Nicholas ließ ihn sofort los.

Verstört sah Thomas ihn an und wich zurück.

Der Kastellan unterdrückte seinen Ärger. Sein Knappe würde schon noch lernen, ihm zu vertrauen. Ihm war selbst nicht ganz klar, warum ihm das so wichtig war, aber es war ihm wichtig, und das hatte nichts mit der Burg und dem Grund und Boden rundherum zu tun.

Sir Nicholas zeigte zu einem Eimer zwanzig Schritt von ihnen entfernt. „Dort ist Wasser. Geh und trink etwas.“

„Aye.“ Thomas beäugte ihn misstrauisch und ging.

Sir Nicholas rieb sich das Kinn, während der Junge davonschlich. Dessen Eifer erfreute ihn. Den ganzen Morgen hindurch hatte Thomas genauso hart gearbeitet wie alle anderen, ohne sich ein einziges Mal zu beklagen. Und doch war er stets auf Distanz zu den anderen Männern geblieben. Sir Nicholas musste lächeln. Was für einen stolzen Dickkopf er da als Knappen gefunden hatte.

Ob der Blick des Jungen wohl so misstrauisch bleiben würde, wenn er ihm jetzt vorschlug, in der Küche etwas essen zu gehen? Vermutlich. Thomas erinnerte ihn an seinen einzigen Bruder, Hugh, als dieser jung gewesen war.

Die Erinnerung an ihre viel zu kurze gemeinsame Kindheit schmerzte. Sir Nicholas war als der Jüngere nach dem Tod ihres Vaters von seinem Onkel aufgenommen worden. Hugh dagegen als der Ältere hatte es durch die Beziehungen ihrer Familie zum Königshaus zum Knappen des jungen Prinzen Edward gebracht.

Allerdings hatte der Ungehorsam ihres Vaters gegenüber dem König einen Schatten auf die gesamte Familie geworfen, und sie hatten ihren Titel, ihre Burg und ihr Land verloren. Hugh hatte sich zurückgezogen, und das Schwert war zu seiner einzigen Leidenschaft geworden. Zu seinem ganzen Stolz.

Und jetzt war Sir Nicholas einem anderen einsamen und verängstigten Burschen begegnet, dessen einzige Zuflucht sein Stolz war. Genau wie bei Hugh, der bis heute sein Leid nicht überwunden hatte.

Nicholas schwor sich, den Jungen durch alle schwierigen Situationen zu geleiten, die zukünftig auf ihn warten mochten. Thomas sollte nicht dasselbe einsame Schicksal erleiden wie sein Bruder.

Doch zunächst galt es, das Misstrauen des Jungen zu überwinden. Nur wie? Nicholas hatte gehofft, dass sich im Lauf der Stunden dessen kühle, distanzierte Haltung ein wenig geben würde, doch zeigte sich Thomas noch immer unverändert argwöhnisch.

Der Junge tat die Schöpfkelle zurück in den Eimer. Zögernden Schritts kam er zu Nicholas zurück.

Nichts zu machen. „Zurück an die Arbeit.“

Sein Knappe presste die Lippen aufeinander und nickte.

Schweigend arbeiteten sie nebeneinander, während um sie herum Holzbalken polternd zu Boden fielen und die Männer einander laut irgendetwas zuriefen. Thomas machte einen weiten Bogen um Nicholas, wenn er das Abbruchmaterial zum Feuer schleppte. Als sich dies zum vierten Mal wiederholte, konnte Nicholas nicht länger an sich halten.

Als sein Knappe zurückkehrte, stellte er sich ihm in den Weg. „Warum vermeidest du mich, als hätte ich die Pest?“

In Thomas schönen Augen glimmte kurz Furcht auf, doch trat sofort Zorn an ihre Stelle. „Es ist kein Verbrechen, zu schweigen.“

„Nein, ist es nicht.“ Nicholas hielt inne. „Weiß deine Familie, dass du hier bist?“

Ein Ausdruck der Vorsicht machte sich auf dem Gesicht des Knappen breit. „Macht Euch keine Sorgen um meine Familie.“

Nicholas musterte Thomas’ und fragte sich erneut, wie ähnlich dessen Situation seiner eigenen grauenvollen Jugend war. Ob seine Eltern tot waren? Musste er selbst für sein Überleben sorgen? Wenn dies der Fall war, konnte es nicht verwundern, dass er zum Dieb geworden und halb verhungert war. Und auch nicht, dass er so misstrauisch auf jedes seiner Angebote reagierte.

Sir Nicholas’ mitleidige Miene störte Elizabet. Der Kastellan sollte sich nicht für sie interessieren. Eigentlich hatte sie gehofft, dass er sie schon wenige Stunden nach ihrer Ankunft vergessen haben würde. Doch nicht nur war dies nicht eingetreten, er hatte sie auch den ganzen Tag hindurch nicht aus den Augen gelassen und war offensichtlich entschlossen, sich um sie zu kümmern.

Und sie selbst? Wenngleich sie sich mit voller Kraft der Arbeit gewidmet hatte, hatte sie sich seiner Anziehungskraft nicht entziehen können. Mit jeder gemeinsam verbrachten Stunde hatte er sie mehr in den Bann geschlagen. Gott im Himmel, warum nur sorgte er sich so um sie? Und noch mehr verwirrte sie die Tatsache, dass sie sich darüber überhaupt Gedanken machte.

Müdigkeit überkam sie, und mit einem mutlosen Seufzer wich sie ihm in einem Bogen aus, um die Arbeit wieder aufzunehmen. Eine leichte Brise strich durch das Innere der Burganlage, geschwängert vom Duft des Moores, den sie so sehr liebte.

Sie griff nach der nächsten Holzbohle, und das raue Holz scheuerte an den Blasen ihrer Hände. Doch sie achtete nicht darauf und auch nicht auf die Schmerzen in ihrem Rücken, sondern zwang sich weiterzumachen. Erst beim Läuten der Vesperglocken schaute sie hinauf zum wolkenlosen Himmel.

„Das reicht für heute, Männer!“, tönte Sir Nicholas’ mächtige Stimme über den Hof. „Ein guter Beginn.“

Die Männer aus der Burg und die englischen Ritter, die keine Schildwache halten mussten, versammelten sich im Hof am Brunnen. Lautes Lachen mischte sich mit freundschaftlichen Begrüßungen.

Vor Erschöpfung konnte sich Elizabet kaum noch auf den Beinen halten. Sie nahm die fröhliche Atmosphäre und das Lachen der Männer auf. Es erinnerte sie an die herzliche Kameradschaft unter ihren eigenen Leuten. Wie sehr sie sich danach zurücksehnte! Doch das war Vergangenheit.

Sie massierte sich die schmerzenden Armmuskeln und warf einen verstohlenen Blick auf die Türme, wo Giric und ihr Vater eingekerkert waren.

Die Glocken verstummten. Auch ohne ihr Geläut war sie sich der verrinnenden Zeit nur allzu bewusst. Sie musste sich mit dem täglichen Geschehen der Burg vertraut machen, und vor allem musste sie herausfinden, wo die Ihren eingesperrt waren, sofern sie überhaupt noch lebten. Ihr Plan war es gewesen, die Leute, die auf der Burg lebten, behutsam auszufragen. Nur, dass der Kastellan ihr Vorhaben durchkreuzte, indem er sie nicht einen Moment lang aus den Augen ließ.

Sir Nicholas ahnte selbstverständlich nichts von ihrer Not. Er ließ das Holzstück, das er in Händen hielt, fallen und musterte sie. „Komm mit.“

Zu erschöpft, um zu protestieren, folgte sie ihm zu den Männern, die sich zum Essen versammelt hatten. Ob sie wohl beim Essen den Männern die Lage des Verlieses entlocken konnte? Sie musste sich einfach nur wie jeder Neuling nach der Anlage der Burg erkundigen. Auf diese Weise würde sie ganz bestimmt keinen unwillkommenen Verdacht auf sich lenken. Und sobald es dunkel war, würde es ihr schon irgendwie gelingen, sich in das Verlies zu stehlen.

Während sie den Hof überquerten, stieg ihr der Duft gebratenen Schweinefleischs in die Nase. Sofort meldete sich ihr Magen und erinnerte sie daran, dass das letzte Essen schon einige Stunden zurücklag. Sie konnte sich nicht entsinnen, jemals derart müde oder hungrig gewesen zu sein.

Einer der englischen Ritter rief: „Ihr riecht wie eine Straßendirne, Sir Jon!“ Die Männer rundherum brachen in schallendes Gelächter aus.

Elizabets Wangen röteten sich, als sie zur Mitte des Hofs sah, wo die Männer einander am Brunnen gegenseitig aufzogen und unflätige Scherze ausstießen.

Sir Jon griff nach einem Wassereimer. „Ihr riecht auch nicht gerade besser.“ Damit jagte er dem anderen hinterher.

Mehrere Männer stellten sich dem Flüchtenden in den Weg. In großem Schwall ergoss sich das Wasser über ihn und spülte Schlamm und Ruß von ihm ab. Der Pulk schüttete sich aus vor Lachen. Matschbekleckert kehrten die Männer zum Brunnen zurück und begannen, sich ihrer rauchgeschwängerten, verschwitzten Kleider zu entledigen.

Schockiert beobachtete Elizabet, wie in einem Schauspiel echter Männlichkeit überall bleiche Hinterbacken und wohlgeformte Muskeln aufblitzten. In ihr zog sich alles zusammen. Es war nur eine Frage der Zeit, bis das Augenmerk der Männer auf sie fallen würde. Und als Knappe des Kastellans würde man von ihr erwarten, sich ebenfalls zu entkleiden und zu waschen. Mit pochendem Herzen wich sie einen Schritt in Richtung der Wohnburg zurück.

Lächelnd beobachtete Nicholas die Späße der Männer, während er die Bänder seiner Hose löste. Zufrieden dachte er an das heute Erreichte. Das letzte der maroden Gebäude hatten sie heute abgerissen und mussten nun nur noch dessen Überreste verbrennen, dann konnten sie morgen mit dem Neuaufbau beginnen. So wie die Burg selbst würde mit der Zeit auch alles andere wieder in Ordnung kommen.

Er schaute sich nach seinem Knappen um. Thomas würde gewiss froh darüber sein, dass die Arbeit des Tages hinter ihnen lag. Wie die anderen Männer würde er sich seiner Kleidung entledigt haben und sich den Schmutz des Tages abwaschen. Stattdessen jedoch entdeckte Nicholas ihn, wie er sich langsam Richtung Wohnturm davonstahl. „Thomas?“

Die Hände zusammengeballt an der Seite, hielt Thomas mitten im Schritt inne und schaute ihn verunsichert aus weit aufgerissenen Augen an.

Die Reaktion seines Knappen verwirrte und überraschte Nicholas, und er tat einen Schritt auf den Jungen zu.

Sofern dies überhaupt möglich war, wurde der Junge noch bleicher. Wie einen Schild hielt er seine Hände vor sich. „Bleibt, wo Ihr seid.“

Was zum Hades sollte das? „Ich tue dir nichts.“

Thomas ließ seinen angsterfüllten Blick von Nicholas zu den nackten Männern und wieder zu Nicholas schweifen. „Kommt nicht näher.“ Er zitterte am ganzen Körper und wich einen weiteren Schritt zurück.

Endlich ging Nicholas auf, woher die Angst des Jungen stammen musste. Unbändiger Zorn brandete in ihm auf. Herr im Himmel, Thomas war missbraucht worden!

3. KAPITEL

Wütend ballte Sir Nicholas die Hände. Plötzlich ging ihm wieder auf, wie unruhig und misstrauisch Thomas ihn den gesamten Tag über beobachtet hatte. Und auch, wie der Knappe in seinen Armen erstarrt war, als er ihn aufgefangen hatte. So, wie sich der Junge allein durch sein Leben kämpfte, war die Frage, was für Schurken er begegnet war und wie schändlich sie sich an ihm vergangen haben mochten.

Verflucht. Warum hatte er nicht schon früher daran gedacht, was man dem Jungen angetan haben mochte? „Thomas“, sagte Nicholas mit sanfter Stimme, „die Männer hier werden dich nicht auf diese Weise berühren.“

Der Junge starrte ihn mit schreckgeweiteten Augen an, und seine Unterlippe begann zu zittern. „Haltet Euch fern von mir.“

Die panische Angst in der Stimme seines Knappen brachte Nicholas’ Blut zum Kochen. Wenn diese Banditen jetzt hier gewesen wären, so hätte er ihnen die Köpfe abgeschlagen und aufgespießt. Wie sehr er sie und ihr perverses Vergnügen verfluchte!

Doch Nicholas hielt seine Gefühle im Zaum, denn unter keinen Umständen durfte er seiner Wut freien Lauf lassen, sonst würde der Junge nur noch weiter auf Distanz gehen. Gefragt waren vielmehr Geduld und Verständnis. Es war seine Erfahrung, dass man damit viel weiter kam.

Er entspannte seine geballten Hände und schüttelte den Kopf. „Du musst dich nicht gemeinsam mit den Männern waschen.“

Erleichterung breitete sich auf dem Gesicht des Jungen aus, ohne indes das Misstrauen vollständig zu verdrängen.

Nicholas sah seinen Knappen in die Augen und ging auf ihn zu.

Unsicher wich Thomas einen Schritt zurück.

„Ich gebe dir mein Wort, dass dir nichts passieren wird.“ Nicholas wies in Richtung Wohnturm. „Komm mit mir. In meinem Gemach befindet sich ein Badezuber. Dort kannst du dich waschen. Allein.“

Sein Knappe musterte ihn misstrauisch, ehe er schließlich nickte.

Schuldbewusst folgte Elizabet Nicholas. Niemals hatte sie vorgehabt, ihn glauben zu lassen, man habe sie entehrt. Angesichts seines Entsetzens hätte sie ihm beinahe die Wahrheit gesagt. Doch dann war sie stumm geblieben. Die Ihren waren gefangen in seinem Verlies und ihr Schicksal ungewiss. Ehe sie nicht in Freiheit waren, konnte sie ihm unter keinen Umständen die Wahrheit beichten.

Sie folgte dem Kastellan in den großen Saal, auf Beinen, die sich schwerer anfühlten als ein Sack Getreide. Die Luft war erfüllt von dem Aroma gebratenen Schweinefleischs, Rosmarins und Salbeis. Sie hatte ihren Vater einige Male nach Ravenmoor Castle begleitet, aber nicht so oft, dass die hier beschäftigten Frauen sie erkennen würden.

Nicholas und Elizabet gelangten zum Treppenturm der Wohnburg und machten sich auf den Weg nach oben. Das Geräusch ihrer Stiefel hallte von den Wänden wider, auf denen ihre Schatten im Schein der brennenden Fackeln tanzten.

Im zweiten Stockwerk ging der Kastellan einen Korridor hinunter und trat in ein geräumiges Gemach ein. Die spärlichen Teppiche auf dem Boden und die kahlen Wände verrieten einen Mann, der keinen Wert auf Reichtum oder Überfluss legte, sondern der praktisch dachte.

Elizabets Blick wanderte von einem Tischchen zu dem wuchtigen Bett daneben. Hitze stieg ihr in die Wangen, als sie das mächtige Gestell und die dicke, mit Federn gefüllte Matratze betrachtete, über die eine wollene Decke gebreitet war. Ohne dass sie etwas dagegen hätte tun können, entstand vor ihrem geistigen Auge das Bild von Nicholas, wie er nackt auf dem Bett lag.

Nackt? Ein leises Ächzen entfuhr ihr, und sie schloss die Augen. War sie verrückt geworden? Niemals durfte sie sich solche Gedanken erlauben. Er war ihr Feind, der Mann, der die Ihren gefangen hielt. Wenn sie in ihrer Wachsamkeit auch nur einen Moment lang nachließ, dann würde es gefährlich werden.

Verwirrt wegen ihrer unpassenden Gedanken, öffnete sie wieder die Augen. Er kniete in der Ecke vor einer glänzenden Truhe mit Eisenbeschlägen und wühlte darin herum. Schließlich zog er ein Paar Beinlinge und eine lange leinene Tunika hervor.

„Die sollten dir besser passen als dein jetziges Gewand.“ Er warf ihr die Kleidungsstücke zu.

Sie fing sie auf und legte sie mit zitternden Händen auf das Bett. „Die brauche ich nicht. Wenn ich meine Kleider erst ausgespült habe, sind sie wieder völlig in Ordnung.“

Nicholas seufzte und verschränkte die Arme vor der Brust. „Nach dem Bad“, erklärte er nachdrücklich, „ziehst du die Kleider an, die ich dir herausgesucht habe. Als mein Knappe hast du meinem Befehl zu gehorchen.“

Elizabet sah zu dem Zuber unweit des Kamins. Wie versprochen war das Bad bereit. Sie schaute ihn an und nickte.

„Für später“, fuhr er fort, „warten in der Truhe noch ein zweites Paar Beinlinge und ein Hemd auf dich.“ Nicholas musterte sie noch einmal und ging zur Tür. Dann hielt er noch einmal inne und drehte sich zu ihr um. „Ich werde noch eine Zeit lang beschäftigt sein. Sobald du fertig bist, gehst du einfach in den großen Saal zum Essen. Warte dort auf mich. Du wirst mich bedienen.“ Der Kastellan verabschiedete sich und schloss bestimmt die Tür hinter sich.

Elizabet bebte am ganzen Körper und presste den rauen Leinenstoff an sich. Nicht einen Gedanken hatte sie daran verschwendet, dass sie sich vom Kastellan angezogen fühlen könnte, und sie hatte auch nicht damit gerechnet, dass er ein derart anständiger und umsichtiger Mann war.

Dabei hatte alles so einfach sein sollen: das Angebot des Kastellans annehmen, sich auf Ravenmoor Castle einquartieren, ihre Leute befreien und verschwinden. Jetzt war alles kompliziert geworden – durch diesen Mann, der ihre Gedanken beherrschte. Doch brachte es nichts, noch länger hier herumzustehen und sich den Kopf zu zerbrechen über etwas, das sie nicht beeinflussen konnte. So würde sie ihrem Ziel auch nicht näher kommen. Seufzend begann sie sich auszuziehen.

Nicholas schüttelte den Kopf, und die Wassertropfen flogen umher. Endlich wieder sauber. Er streifte seine Tunika über und band seinen Gürtel fest. In seinem kleinen, doch zweckmäßigen Dienstraum fiel sein Blick auf das auf dem Tisch liegende Hauptbuch. Vielleicht würde er vor dem Essen noch ein wenig vorankommen mit der Durchsicht der Aufzeichnungen seines Vorgängers.

An der Tür klopfte es.

Er griff nach einem Handtuch und trocknete sich das Gesicht ab. „Herein.“

Die Tür knarrte beim Öffnen. Sir Laurence trat ein, ein drahtiger englischer Ritter, der bereits dem vorherigen Kastellan gedient hatte. „Sir Nicholas.“

Er senkte das Handtuch. „Gibt es Neuigkeiten?“

„Gewissermaßen. Es geht um die Gefangenen im Verlies.“

„Gefangene?“ Nicholas sah den Ritter mit durchdringendem Blick an. „Und ich erfahre erst jetzt, nach mehr als vierzehn Tagen, von ihnen? Wie kann das sein? Und das, obschon ich ausdrücklich nachgefragt habe, ob ich noch irgendetwas Wichtiges erfahren muss?“

„Entschuldigt vielmals, Sir Nicholas. Sir Renaud hatte strikten Befehl erlassen, sich nicht um das Wohlergehen der Gefangenen zu kümmern, und ich …“ Sir Laurence räusperte sich. „Ein Versehen, das sich nicht noch einmal wiederholen wird.“

Autor

Diana Cosby

Diana Cosby ist eine internationale Bestsellerautorin. Ihre preisgekrönten historischen Liebesromane, die im mittelalterlichen Schottland spielen, wurden in zahlreiche Sprachen übersetzt. Bevor sie Autorin wurde, machte Diana Karriere bei der Navy, zog in dieser Zeit 34 Mal um und lernte auf diese Weise viele unterschiedliche Kulturen kennen. Ihre Zeit in Europa...

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