Im Bann des stürmischen Eroberers

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Das kann doch nicht wahr sein! Lady Helen Tiernay kann die Botschaft des Königs kaum fassen: Schon nächste Woche soll sie Lord Hethe, den berüchtigten „Hammer von Holden“, heiraten. Einen kaltblütigen Krieger, der grundlos die Häuser seiner Bediensteten niederbrennt und mit dem Helen schon lange auf Kriegsfuß steht. Vielleicht kann sie Lord Hethe dazu bringen, die Verbindung zu lösen? Dazu bedient sich Helen einiger pikanter Manöver. Womit sie nicht gerechnet hat: Ihr erklärter Erzfeind ist ein überaus attraktiver Mann! Als er mit seinen Reitern in ihren Burghof einzieht, raubt es ihr beinahe den Atem – und ihr verwegener Plan gerät ins Wanken …


  • Erscheinungstag 19.07.2022
  • Bandnummer 63
  • ISBN / Artikelnummer 9783751511483
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

England, 1173

Verdammt!“

König Henry knüllte das Schreiben zusammen, das er soeben gelesen hatte, und schleuderte es erbost fort. Er murmelte etwas über die so rührselige wie intrigante Gesinnung von Weibsbildern, ehe er Templetun ergeben seufzend die Hand entgegenstreckte. „Ihr könnt mir Lord Holdens Botschaft auch gleich überreichen.“

Templetun hob verblüfft die Brauen. In seinen Blick stahl sich eine Spur Angst, gepaart mit Argwohn. „Woher wisst Ihr davon?“

„Das ist wahrlich keine Zauberei, Templetun, sondern schlicht Erfahrung. Noch nie habe ich eine Beschwerde von Lady Tiernay erhalten, der nicht eine von Lord Holden auf dem Fuße folgte. Zudem habe ich vorhin einen seiner Männer eintreffen sehen und gehe davon aus, dass er eine Nachricht gebracht hat. In der Normandie hat es einige kleinere Aufstände gegeben, und ich habe Lord Holden aufgetragen, die Unruhen in meinem Namen niederzuschlagen. Gewiss will er mir vom Erfolg des Unterfangens berichten.“

„Ah.“ Der Ältere entspannte sich und reichte ihm besagtes Dokument.

Henry entrollte es, ein wenig gereizt, weil er sich hatte erklären müssen. Lord Templetun versah das Amt des Kastellans erst seit einigen Tagen – der eigentliche Kastellan war erkrankt, und Henry wünschte schon jetzt, er möge bald genesen. Sein Ersatz war zu fahrig und abergläubisch und schien zu viel auf Henrys Ruf als „Teufelsbrut“ zu geben. Kopfschüttelnd richtete Henry sein Augenmerk auf das Schriftstück in seinen Händen. Im Nu landete auch dieses, unweit des ersten, zerknüllt auf dem Boden. Henry war aufgesprungen und schritt vor dem Thron auf und ab.

Wie erwartet, hatte Lord Hethe of Holden mit den unbedeutenden Revolten in der Normandie kurzen Prozess gemacht und befand sich auf dem Heimweg. Allerdings beschwerte er sich auch über seine Nachbarin. Offenbar schikanierte Lady Tiernay seinen Kastellan nach Kräften, und dieser wiederum plagte Lord Holden mit diesbezüglichen Sendschreiben. Nun bat Lord Holden, auch der „Hammer of Holden“, also der Hammer von Holden, genannt, Henry mit allem gebotenen Respekt, in dieser Angelegenheit tätig zu werden … andernfalls werde er es selbst tun.

Das klang arg nach einer Drohung, und es missfiel Henry sehr, von einem seiner Vasallen unter Druck gesetzt zu werden. Wäre Lord Holden nicht ein solch fähiger Krieger gewesen, der ihm in den vergangenen zehn Jahren oft beigestanden hatte, hätte er ihn für diese Unflätigkeit bestraft. Doch Lord Holden war nun einmal – im Gegensatz zu dessen Vater einst – unentbehrlich für ihn.

Beim Gedanken an den alten Lord Holden verzog Henry das Gesicht. Als Zweitgeborener hatte Gerhard damit gerechnet, ins Kloster gehen und sein Leben inmitten muffiger alter Pergamente mit päpstlichem Geschreibsel verbringen zu dürfen. Darauf war er ganz versessen gewesen. Leider jedoch war sein älterer Bruder gestorben, woraufhin er seine Pläne hatte aufgeben müssen, um zu heiraten und einen Erben zu zeugen. Seinen Unmut darob hatte er an seinem Sohn ausgelassen.

In Henrys Augen war Gerhard nicht ganz richtig im Kopf gewesen. Glücklicherweise zeigte sich diese Neigung bei dem neuen Lord Holden bislang nicht. Bedauerlicherweise – zumindest für den jungen Holden – hatte der Sohn nie auch nur ansatzweise dieselbe Liebe zur Bildung gezeigt wie der Vater, und das hatte die beiden entzweit. Gerhards Hass hatte den Burschen fort und in Henrys Dienste getrieben, kaum dass er sich die Sporen verdient hatte.

Tja, nun, Gerhards Verlust ist mein Gewinn, dachte Henry. Das jedoch entband den jungen Lord Holden nicht von dessen Pflicht, seinem König Respekt zu zollen.

„Was, zum Teufel, soll ich mit den beiden nur machen?“, sinnierte er verzweifelt.

„Ich weiß nicht recht, Euer Gnaden. Worin genau besteht denn die Widrigkeit?“, erkundigte sich Templetun zaghaft. „Soweit ich verstanden habe, haben sie sich beide beschwert – und nach Eurem Gebaren zu urteilen, vermutlich nicht zum ersten Mal. Aber worüber genau?“

Henry wandte sich ihm zu, bedachte ihn mit einem vernichtenden Blick und wollte ihm gerade bissig bescheiden, dass die Frage rein rhetorischer Natur gewesen sei, schluckte die Bemerkung jedoch hinunter. „Der eine beschwert sich über den anderen“, erklärte er. „Lady Tiernay schreibt, sie wolle mich darüber ‚aufklären‘, dass ihr Nachbar seine Bediensteten und Leibeigenen grausam und schändlich behandele. ‚Ich weiß, dass Ihr eine derartige Misshandlung Eurer Untergebenen niemals gutheißen würdet‘, schreibt sie weiter.“

„Ah“, sagte Templetun abermals und unterdrückte ein Grinsen ob des höhnischen Tonfalls, mit dem sein König die hohe Frauenstimme nachgeahmt hatte. „Und Lord Holden?“

Henry lachte kurz auf. „Er teilt mir mit, dass Lady Tiernay eine alte Gewitterziege sei, die ihre Nase in alles stecke, was sie nichts angehe, und ihm das Leben zur Hölle mache.“

„Hm.“ Der neue Kastellan schwieg einen Moment. „Ist Lord Holdens Frau nicht vor einiger Zeit gestorben?“

Aye, vor zehn Jahren im Kindbett. Seitdem ist Lord Holden mein eifrigster Mann an der Waffe. Stets kampfbereit, stets für mich unterwegs. Ich wüsste nicht, was ich ohne ihn täte.“

„Und ist nicht auch Lady Tiernays Gemahl vor vier oder fünf Jahren verblichen?“

„Wie bitte?“ Henry blickte verwirrt drein, ehe sich seine Miene aufhellte. „Oh, nay, das war ihr Vater. Lady Tiernay ist nicht vermählt und war es auch nie. Ihr Vater hat es verabsäumt, dies vor seinem Tod zu veranlassen.“

„So ist sie im heiratsfähigen Alter?“

„Oh, weit darüber hinaus, fürchte ich. Augenblick, sie müsste jetzt …“ Henry brach ab und rechnete nach. „Sie müsste jetzt um die zwanzig sein.“ Stöhnend trat er zum Thron und stützte sich darauf ab. „Und da haben wir auch gleich das nächste Problem – ich werde sie bald verheiraten müssen. Wo, in drei Teufels Namen, soll ich für eine Ränkeschmiedin wie sie nur einen Gemahl auftreiben?“ Wieder schritt er ruhelos auf und ab.

„Womöglich habt Ihr bereits einen, Euer Gnaden“, wandte Templetun zögerlich ein. Als der König sich abrupt zu ihm umdrehte, zuckte er mit den Schultern. „Vielleicht sollte Lord Holden sie ehelichen. Damit wären beide Probleme auf einmal gelöst. Lady Tiernay wäre vermählt, und die zwei könnten ihren Hader unter sich ausmachen.“

„Es würde keine Woche dauern, bis sie sich gegenseitig an die Gurgel gingen!“, prophezeite Henry verärgert.

„Gut möglich.“ Templetun legte eine vielsagende Pause ein. „Aber auch damit wären beide Probleme aus der Welt geschafft, nicht wahr?“

Henry betrachtete ihn mit unverhohlener Bewunderung. „Verflucht, Templetun“, raunte er. „Welch Niedertracht.“ Aufgeregt eilte er zu seinem Thron und ließ sich darauf nieder. „Ihr werdet in meinem Namen zwei Schreiben aufsetzen … und sie persönlich überbringen!“ Er musterte den Kastellan, ein gefährliches Funkeln in den Augen. „Und, Templetun“, fügte er an. „Wagt es nicht, mich zu enttäuschen.“

1. KAPITEL

Niemand war überraschter als Helen selbst, als sie nach dem Ball trat. Dabei war sie auf dem Weg über den Burghof nur kurz stehen geblieben, um den Kindern zuzuschauen. Plötzlich war der Ball auf sie zugerollt, und spontan hatte sie ihm einen Tritt verpasst – was sich als Fehler erwies.

Goliath, der sich wie stets gehorsam an ihrer Seite gehalten hatte, wertete die Geste als Aufforderung zum Spielen. Wie der Wind schoss er ausgelassen bellend hinter dem Ball her. Helen rief ihn zurück, aber ihre Stimme ging in dem Kreischen der Kinder unter, die ihrerseits dem riesigen Wolfshund nachsetzten. Natürlich erreichte der Hund den Ball zuerst. Da er leider die Spielregeln nicht beherrschte und darüber hinaus ein Jagdhund war, brachte er den Ball nicht brav zurück. Stattdessen nahm er ihn zwischen die kräftigen Kiefer und beutelte ihn.

Helen war zu weit weg, um das Material reißen zu hören, doch eben dies musste geschehen sein, denn um Goliath herum stoben plötzlich Federn auf. Glücklich darüber, seine Beute erlegt zu haben, trottete der Hund durch die aufgebrachte Kinderschar und ließ seiner Herrin den zerstörten Ball vor die Füße fallen. Dann legte er sich hin und bettete die Schnauze zufrieden auf die Vorderpfoten. Ein Abbild männlicher Selbstgefälligkeit, fand Helen. Kopfschüttelnd bückte sie sich nach den Überresten des Spielzeugs und begutachtete sie.

„Mylady?“

Sie hob den Blick vom Ball, der feucht vom Hundegeifer war, und schaute die beiden Frauen an, die neben ihr erschienen waren. „Aye?“

„Das ist Maggie“, sagte Ducky leise. Ducky war Helens Kammerfrau und Vertraute. Sie wäre mit dieser Maggie nicht zu ihr gekommen, wenn den beiden nicht etwas auf dem Herzen gelegen hätte. Helen musterte die warzige, aber gutmütig dreinblickende Alte und kam zu dem Schluss, dass ihr gefiel, was sie sah.

„Sei gegrüßt, Maggie.“ Helen legte den Kopf leicht schräg. „Du bist nicht von Tiernay.“ Es war eine Feststellung. Helen kannte einen jeden hier; darauf legte sie großen Wert. Diese Frau hingegen war ihr fremd.

Nay, Mylady, ich stamme von Holden.“

Helen presste die Lippen aufeinander. Das konnte nur Ärger bedeuten. Erbostes Gemurmel riss sie aus ihren Gedanken. Die Kinder sammelten sich um sie und schauten so anklagend wie bekümmert zwischen Goliath und dem zerfleischten Ball hin und her.

„Ich habe ihn im Handumdrehen geflickt“, versprach sie schuldbewusst und sah erleichtert, dass dies die Kleinen zu besänftigen schien. „Los!“

Der Befehl richtete sich eigentlich an Goliath, der sofort aufsprang und neben Helen her auf den Wohnturm zuhielt. Doch auch die Menschen fühlten sich offenbar angesprochen. Ducky und Maggie folgten ihr auf dem Fuße, und die Kinder bildeten den Schluss. Die Gruppe glich einer kleinen Parade, als sie sich über den Hof und die Stufen hinauf bis in den Wohnturm schlängelte.

„Ich brauche frische Federn, Ducky“, verkündete Helen in der Großen Halle.

Aye, Mylady.“ Ducky eilte in Richtung Küche davon, wo der Koch den ganzen Vormittag über Hühnchen für das Nachtmahl gerupft hatte.

„Wartet am Tisch, Kinder. Ich sage Ducky, dass sie euch Pasteten und etwas zu trinken bringen soll.“ Helen ging mit Maggie und Goliath zum Kamin hinüber, wo zwei Sessel standen. Sie ließ sich auf ihrem Stammplatz nieder und bat Maggie mit einer Geste, sich auf den anderen Sessel zu setzen. Danach griff sie nach dem Kästchen, das in der Nähe stand, und kramte darin nach Nadel und Faden. Goliath ließ sich zu ihren Füßen nieder.

Helen spürte, dass die alte Frau verängstigt war. Unruhig und verkrampft saß Maggie auf der Sesselkante. Helen beachtete sie zunächst nicht, weil sie mit ihrer Suche beschäftigt war. Gerade hatte sie alles Nötige beisammen, als Ducky mit einer Holzschüssel voller Federn zurückkehrte.

„Hab Dank.“ Helen nahm die Schüssel entgegen und schenkte Ducky ein Lächeln. „Bist du so gut, den Kindern etwas zu trinken und ein wenig Naschwerk bringen zu lassen? Um ihnen das Warten zu versüßen.“

Aye, Mylady.“

Helen fädelte das Garn durchs Nadelöhr und richtete ihre Aufmerksamkeit auf die vor ihr liegende Aufgabe. Sie stülpte die Ballhülle um, sodass die Innenseite nach außen gekehrt war. „Du bist also von Holden?“, fragte sie Maggie.

„Aye.“ Die alte Frau räusperte sich und rutschte beklommen auf dem Stuhl hin und her. „Ich habe auf Holden Castle die Kammerfrauen beaufsichtigt.“

„Und jetzt nicht mehr?“, fragte Helen behutsam. Sie schaute von der Nadel auf und sah Verbitterung über Maggies Züge huschen.

Nay. Letztes Jahr zur Weihnachtszeit hat man mich entlassen“, erklärte sie widerstrebend. „Der Lord wollte nur noch junge, hübsche Kammerfrauen in seinem Haushalt“, platzte sie nach kurzem Schweigen heraus.

Helen verzog den Mund zu einem schmalen Strich. Diese Neuigkeit überraschte sie keineswegs. Was den „Hammer of Holden“ anging, überraschte sie ohnehin kaum mehr etwas. Harte Arbeit und gute Dienste wurden selten von ihm gewürdigt. Grausamer Mistkerl, dachte sie wütend, ehe sie sich daranmachte, den langen, gezackten Riss im Ball der Kinder zu nähen. Nach einigen Stichen hatte sie sich so weit beruhigt, dass sie wieder sprechen konnte. „Und wo warst du in den vergangenen sechs Monaten?“

Wieder räusperte sich die Frau. „Der Bauer White hat schon vorher um mich geworben. Er war Witwer“, fügte sie errötend an. „Als ich aus meinen Diensten entlassen wurde, haben wir geheiratet. Ich habe mich um den Haushalt gekümmert und auf dem Hof geholfen.“ Ihr Lächeln erstarb, und die Röte schwand aus ihren Wangen. Mit einem Mal wirkte sie blass und müde. „Vor zwei Wochen ist er gestorben.“

„Das tut mir leid“, erwiderte Helen sanft. Sie sah Tränen in Maggies Augen schimmern, ehe die Ältere rasch den Kopf senkte. Helen wandte sich wieder ihrer Arbeit zu und entschied, dass sie den Riss weit genug zugenäht hatte, um den Ball nun mit der Füllung ausstopfen zu können. Sie stülpte die Hülle erneut um und gab die Federn hinein. Als sie fast fertig war, hatte sich Maggie so weit gefangen, dass sie fortfahren konnte.

„Ich wusste, dass es Schwierigkeiten geben würde, denn natürlich konnte ich den Hof nicht allein bewirtschaften …“

„Lord Holden hat dich vertrieben und jemand anderem den Hof gegeben“, warf Helen leise ein. Es war nur eine Vermutung. Diese Vorgehensweise war allerdings nicht unüblich, wenngleich Helen es grausam fand, jemanden, der jahrelang hart und redlich geschuftet hatte, so schäbig abzufertigen.

Aye. Wie üblich hat er den armen jungen Stephen geschickt, die Schmutzarbeit für ihn zu tun.“

Helen nickte. Stephen war Lord Holdens zweitwichtigster Mann und hatte das Sagen, wann immer der „Hammer“ unterwegs war – was recht oft der Fall war. Lord Holden schien ständig irgendwelche Schlachten zu schlagen. Aber mochte Stephen auch Kastellan auf Holden Castle sein, so traf er doch keine Entscheidung selbst. Lord Holden stand in regem Austausch mit ihm und erteilte ihm Befehle – allesamt höchst undankbarer Natur. Es wurde gemunkelt, dass der junge Stephen schrecklich darunter leide, derlei Gewalttaten ausüben zu müssen.

„Lord Holden hat alles in der Kate von Stephen als Heergewette beschlagnahmen lassen“, fuhr Maggie fort und zog Helens Aufmerksamkeit wieder auf sich. „Und er hat angewiesen, alles vor meinen Augen zu verbrennen und mich fortzuschicken.“

Ungläubig sah Helen die ältere Frau an. Als Heergewette galt der Erbteil eines Verstorbenen, der dem König zustand. Darunter fielen gemeinhin Rüstzeug, Waffen und Pferd. Hingegen den gesamten Besitz zu beschlagnahmen, nur um ihn zu verbrennen, war … nun, es war schlicht grausam. Das war Willkürherrschaft. „Hat Stephen die Weisung ausgeführt?“

Maggie schnitt eine Grimasse. „Aye, er dient seinem Herrn treu. Er hat mich immerzu angefleht, ich möge ihm verzeihen, aber er hat es getan.“

Helen nickte versonnen, während sie die letzten Federn in den Ball stopfte und sich daranmachte, ihn zuzunähen. Selbstredend hatte der junge Stephen es getan. Selbstredend führte er die Befehle seines Herrn aus.

„Seine Mutter hätte es schier umgebracht zu sehen, wie der Junge zu solchen Dingen gezwungen wird.“

Fragend schaute Helen auf.

„Seine Mutter und ich waren befreundet, als sie noch im Dorf lebte“, erklärte Maggie. „Es hätte ihr das Herz gebrochen.“

„Ist sie tot?“, fragte Helen höflich. Die Unterhaltung in eine andere Richtung zu lenken, würde Maggie helfen, sich wieder zu fassen. Und wenn ein Gespräch über Stephens Mutter der alten Frau half, den eigenen Verlust zu verschmerzen, würde Helen sie gerne gewähren lassen.

„Oh, nay, sie ist nicht tot. Aber als Stephen Kastellan wurde und all die harten Strafen vollstrecken musste … Sie hat es nicht ertragen, das mit anzusehen. Daher hat sie das Dorf verlassen. Die meisten halten sie für tot, aber ich denke, dass sie an der Grenze zwischen Tiernay und Holden lebt. Oft reitet Stephen in diese Richtung davon und bleibt den ganzen Nachmittag fort. Ich glaube, dass er sie dann besucht.“ Sie schwieg kurz. „Er ist auch fortgeritten, nachdem er meine Habe verbrannt hat. Vermutlich war er an jenem Tag bei ihr.“

Helen sah, wie verloren Maggie dreinblickte und wie zusammengesunken sie dasaß. „Und jetzt bist du nach Tiernay gekommen“, stellte sie sanft fest.

„Aye.“ Maggie straffte die Schultern. „Meine Tochter hat vor zehn Jahren den Schankwirt im Dorf geheiratet.“

Helen nickte. Natürlich kannte sie den Schankwirt und dessen Frau.

„Und sie haben angeboten, mich aufzunehmen … Allerdings brauchen sie dafür Eure Erlaubnis.“

Helen schwieg eine Weile. Sie trug die Verantwortung für ihr Land und alle Menschen, die sich darauf niedergelassen hatten. Daher bedurfte es, wie Maggie richtig gesagt hatte, ihrer Erlaubnis, ehe jemand sich hier ansiedeln konnte. Aus dem Bauch heraus wollte sie nicken und Maggie bescheiden, dass sie auf Tiernay willkommen sei. Allerdings war ihr der Tonfall nicht entgangen, in dem Maggie vom Angebot ihrer Tochter berichtet hatte. Zweifellos hatte sie ihr Leben lang gearbeitet, und dass sie ihre Stellung auf Holden Castle eingebüßt hatte, musste ein herber Schlag für sie gewesen sein. Die anschließende neue Ehe und das Dasein als Bauersfrau dürften ihrem angeschlagenen Stolz gutgetan haben. Und nun sollte sie plötzlich von den Almosen ihrer Tochter leben. Helen vermutete, dass ihr dies arg zu schaffen machte. Wenn sie recht darüber nachdachte, blieb nur eine Antwort, und daher schüttelte sie den Kopf. „Nay.“

„Nay?“ Maggie wirkte, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen, und Helen schalt sich dafür, ihren Gedanken laut ausgesprochen zu haben.

„Auf keinen Fall sollst du von Almosen leben, Maggie. Du bist noch immer kräftig und gesund und kannst arbeiten. Zufällig benötige ich gerade jemanden mit deinen Fertigkeiten.“

Maggies jammervolle Miene hellte sich auf, und Hoffnung ließ ihr runzeliges Gesicht leuchten. „Ist das wahr?“

Aye. Bislang standen meine Kammerfrauen unter Edwiths Leitung, aber sie ist vor einem Monat verstorben. Ich habe noch niemanden gefunden, der sie ersetzen kann. Ducky hat die Aufgabe neben ihren übrigen Pflichten versehen müssen. Du würdest uns beiden einen Gefallen erweisen, wenn du Edwiths Platz einnehmen könntest. Das würde Ducky stark entlasten.“

„Oh!“

Zu Helens Bestürzung brach Maggie nun tatsächlich in Tränen aus. Kurz fürchtete sie, dass sie falsch gelegen habe und Maggie lieber zu ihrer Tochter wolle. Als Maggie sie jedoch aus verweinten Augen anstrahlte, entspannte sie sich.

„Oh, Mylady! Habt Dank!“, hauchte die frischgebackene Herrin der Kammerfrauen, sichtlich selig ob der Vorstellung, sich wieder nützlich machen zu können.

„Ich danke dir“, erwiderte Helen entschieden und lächelte Ducky an, die just neben ihr erschienen war. „Vielleicht mag Ducky dich ja herumführen und den Frauen vorstellen, die dir unterstehen werden.“

„Aber gern.“ Ducky schenkte Maggie ein warmes Lächeln, ehe sie sich an Helen wandte. „Boswell lässt Euch ausrichten, dass sich Reiter nähern.“

„Reiter?“ Fragend hob Helen eine Braue.

Ducky nickte. „Aye, sie führen das Banner des Königs mit sich.“

Helen stutzte und lächelte dann. „Gut, gut. Solltest du bei deinem Rundgang durch die Burg meiner Tante begegnen, unterrichte sie bitte davon.“ Sie setzte den letzten Stich, verknotete den Faden und trennte das überschüssige Ende ab. Während Ducky mit Maggie im Schlepptau verschwand, erhob sie sich und trug den Ball zur Tafel, um ihn den noch schmausenden Besitzern zu überreichen.

„Hier“, verkündete sie fröhlich und legte den Ball auf den Tisch. „So gut wie neu. Esst schnell auf und dann hinaus mit euch. Der Tag ist zu schön, um ihn drinnen zu verbringen.“

Begleitet vom zustimmenden Gejauchze und den Dankesbekundungen der Kinder, hastete Helen zum Portal und strich sich dabei die Röcke glatt.

Als sie hinaus in die Sonne trat, kamen die Reisenden soeben durchs Tor in den Hof geritten. Nachdem auch Goliath herausgetrottet war, schloss sie das Portal und fuhr sich noch einmal rasch übers Haar. Sie war angespannt. Reiter des Königs, hatte Ducky gesagt, und Helen erkannte, dass es stimmte. Die Standarte von Henry II. flatterte im Wind, sichtbar für alle, die Augen im Kopf hatten – was auf Helen zutraf. Dies war ein denkwürdiger Tag. Vermutlich war dies die Antwort des Königs auf ihre zahllosen Sendschreiben, die Lord Holden betrafen. Es war die einzige Erklärung für den hohen Besuch.

Das machte sie von Herzen froh. Helen hatte schon befürchtet, dass der König dem kaltherzigen, ja barbarischen Gebaren ihres Nachbarn gänzlich gleichgültig gegenüberstehe. Sie fühlte sich verzweifelt und hilflos, weil sie nicht mehr tun konnte, als Holdens entlaufene Leibeigene und Freie aufzunehmen und sich schriftlich beim König zu beschweren. Ein-, zweimal hatte sie Holdens mutmaßliche nächste Opfer gar freikaufen müssen, um sie vor seinem Zorn zu bewahren. Lord Hethe, der „Hammer of Holden“, war wahrlich der Teufel in Menschengestalt.

Endlich aber schickte der König jemanden, der die Sache klären würde. Jedenfalls nahm Helen an, dass dem so war. Denn für den König höchstselbst wäre das Gefolge recht spärlich gewesen. Henrys Reisegeleit konnte sich über mehrere Meilen erstrecken, denn es umfasste adelige Herren und Damen, Dienerschaft, Vasallen und all das, was er unterwegs benötigen mochte.

Nay, zweifellos hatte er jemanden an seiner statt entsandt, und das war ihr nur recht. Wahrscheinlich war die Angelegenheit zu belanglos für den König; schließlich betraf sie nur diejenigen, die unter dem „Hammer of Holden“ litten. Verglichen mit den Nöten eines ganzen Reichs war sie geradezu nichtig. Die Menschen von Holden konnten sich glücklich schätzen, dass König Henry ihrer Drangsal überhaupt Beachtung schenkte.

Der Gedanke munterte Helen auf, und geduldig wartete sie, bis die Männer zu Pferde die Treppe vor dem Wohnturm erreicht hatten. Mit Goliath an der Seite schritt sie die Stufen hinab, um sie zu begrüßen.

„Lady Tiernay?“ Es war der Älteste aus der Gruppe, der das Wort an sie richtete. Seine aufwändige Gewandung raschelte, als er abstieg und sich erwartungsvoll Helen zuwandte.

Aye. Ihr seid ein Gesandter des Königs“, sprach sie das Offensichtliche aus.

Er nickte, den Anflug eines Lächelns auf den Lippen, beugte sich über ihre Hand und küsste diese. „Lord Templetun, zu Euren Diensten.“

„Seid willkommen auf Tiernay, Lord Templetun“, erwiderte sie förmlich, legte ihm eine Hand auf den Arm und wandte sich der Treppe zu. „Die Reise dürfte Euch hungrig und durstig gemacht haben. Erlaubt mir, Euch angemessen zu empfangen, indem ich Euch Speise und Trank anbiete.“

Lord Templetun nickte abermals und schritt an ihrer Seite die Stufen hinauf, wobei er seinen Begleitern über die Schulter hinweg Anweisungen zurief. Helen und er hatten das Portal fast erreicht, als es aufflog und die Kinder lachend und kreischend herausstürmten. Jäh verstummten sie, starrten den Besucher mit großen Augen an und entschuldigten sich murmelnd. Sie beherrschten sich gerade so lange, bis sie an den Gästen vorbei waren, ehe sie johlend davonstoben, um ihr Spiel wieder aufzunehmen, das Goliath und Helen ungebeten unterbrochen hatten. Helen lächelte bei dem Gedanken. Den fragenden Blick von Lord Templetun übersah sie geflissentlich.

Sie führte den Boten des Königs hinein und an den Tisch, an dem bis eben noch die Kleinen gesessen hatten. Dort bot sie ihm den Platz am Kopf der Tafel an, wo einst ihr Vater gesessen hatte. Danach entschuldigte sie sich und verschwand in die Küche. Wenig später kehrte sie mit einer Schar Bediensteter zurück, die auf edlen Silbertabletts erlesene Leckereien und den besten Wein herantrugen, den Tiernay zu bieten hatte. Nachdem Lord Templetun anständig bewirtet worden war, ließ Helen sich, innerlich aufgekratzt, neben ihm nieder. Schweigend nippte sie an einem Becher Met, während Lord Templetun aß. Ungeduldig wartete sie darauf, den Grund für sein Erscheinen zu erfahren, doch es wäre unhöflich gewesen, ihren Gast auszufragen, ehe dieser sich gestärkt hatte.

Templetun kam ihrer Ungeduld entgegen, denn er machte kurzen Prozess mit dem Essen. Im Handumdrehen hatte er eine beachtliche Menge verschlungen – die er mit noch mehr Wein hinunterspülte. Anschließend lehnte er sich zufrieden seufzend zurück und schaute Helen an.

„Meine Hochachtung, Mylady, das Mahl war vorzüglich und macht Euch alle Ehre.“

„Habt Dank, Mylord“, erwiderte sie leise und fragte sich, wie sie ihr Anliegen zur Sprache bringen sollte. Templetun bereitete ihrer Grübelei ein Ende, indem er eine Schriftrolle aus seinen wallenden Gewändern zog.

„Ich überbringe Euch Kunde vom König.“ Er legte das Pergament vor ihr ab. Mit dem langen Nagel seines rechten kleinen Fingers stocherte er in seinen nicht eben makellosen Zähnen herum, während er darauf wartete, dass Helen las.

Mit bebenden Händen erbrach sie das Siegel und entrollte das Schreiben. Ihre Gedanken überschlugen sich. Wie gedachte der König ihren Nachbarn für den rohen Umgang mit seinen Untergebenen zu strafen? Würde er ihn unter Aufsicht stellen? Ihm eine Geldstrafe aufs Auge drücken? Ihn gar züchtigen?

„Ich soll ihn heiraten?“ Helen hatte die Botschaft überflogen, und die Worte schrien ihr von dem Pergament aus regelrecht entgegen. „Nay!“ Ihr schwindelte, und als sie sich schwanken spürte, schüttelte sie entschlossen den Kopf und sah Templetun durchdringend an. „Das ist doch wohl ein Scherz.“

So aufgewühlt war sie, dass sie gar nicht merkte, wie sie fahrig das Schreiben zerknüllte. Auch entging ihr, dass sich mit einem Mal Wachsamkeit und Sorge in Templetuns Miene stahlen.

Langsam schüttelte er den Kopf. „Keineswegs, Mylady. Der König scherzt nie.“

„Aber er muss einfach … Er kann doch nicht … Das ist …“ Sie brach ihren gestammelten Monolog ab, da sie Schritte vernahm. Als sie sich umdrehte, war sie erleichtert, dass ihre Tante die Halle betrat. Tante Nell war stets die Stimme der Vernunft. Sie würde wissen, wie mit diesem … Umstand zu verfahren war.

„Tante Nell!“ Helen war selbst erschrocken darüber, wie verzweifelt sie klang. Sie sprang auf und lief ihrer Tante entgegen, die ihr die Mutter ersetzt hatte, seit diese vor einigen Jahren gestorben war.

„Was ist denn, mein Kind?“ Tante Nell fasste sie bei den Händen und ließ den Blick von dem zerknitterten Pergament zu dem bleichen Gesicht ihrer Nichte wandern.

„Der König … Er hat Lord Templetun hergeschickt.“ Sie wies auf den Mann an der Tafel. „Und er …“ Nicht fähig, die Worte auszusprechen, drückte sie ihrer Tante das zerknüllte Schreiben in die Finger, mit dem stummen Flehen, es zu lesen.

Ihre Tante glättete es und ging den Inhalt sorgsam durch. Helen beobachtete, wie sie den Blick über die Schrift gleiten ließ, innehielt und das Ganze noch einmal von vorn las.

„Nay“, hauchte sie, ebenso entsetzt wie Helen, ehe sie zu Lord Templetun herumfuhr, der nach wie vor am Tisch saß. „Ist das ein Scherz, Mylord? Denn sollte es sich um einen solchen handeln, wäre es ein überaus geschmackloser.“

„Mitnichten, Mylady.“ Unbehaglich rutschte Templetun auf seinem Platz hin und her und wirkte seltsamerweise, als habe er ein schlechtes Gewissen. Er ließ den Blick durch die Halle schweifen, in der Absicht, die beiden Frauen nicht mehr ansehen zu müssen. „Der König selbst hat mir aufgetragen, das Schreiben zu verfassen und zu überbringen. Ein weiteres habe ich Lord Holden auszuhändigen, und zugleich soll ich ihn herholen, damit die Hochzeit stattfinden kann. Der König räumt Euch ein wenig Zeit für die Vorbereitungen ein.“

„Aber …“ Helen verstummte kopfschüttelnd und versuchte, einen klaren Gedanken zu fassen. „Das ist unmöglich. Lord Holden ist ein bösartiger, grässlicher, grausamer Schuft. Der König kann unmöglich verlangen, dass ich ausgerechnet ihn heirate!“

Als Templetun schweigend den Kopf senkte und ihrem Blick auswich, erkannte sie, dass der König es sehr wohl konnte. Wie betäubt sank sie auf die Bank an der aufgebockten Tafel, und die Benommenheit nahm dem Schreck ein wenig die Schärfe. Sie sollte also den scheußlichen, grausamen Bastard von einem Nachbarn ehelichen. Lord Hethe, den „Hammer of Holden“. Den Kerl, der grundlos die Habe seiner Hörigen verbrannte. Grundgütiger, was würde er erst tun, wenn er Anstoß an ihr nahm?

„Das muss ein Missverständnis sein“, wandte Tante Nell entschieden ein und riss Helen damit aus ihren jammervollen Gedanken. „So herzlos kann der König doch nicht sein, dass er meine Nichte zwingt, diesen Mann zu heiraten. Womöglich begreift er schlicht nicht. Wir müssen zum Hof und ihm die Lage erklären. Wir müssen …“

„Der König weilt nicht länger bei Hofe“, fiel Templetun ihr ins Wort. „Er hat sich nach Chinon begeben, um sich mit dem jungen Henry zu treffen und einige von dessen Höflingen zu vertreiben.“

Als der Name von König Henrys Sohn fiel, schauten Helen und Nell sich verwirrt an.

„Höflinge vertreiben?“, fragte Helen verständnislos.

„Mm“, erwiderte Templetun verdrossen. „Aye. Henry wünscht eine Ehe zwischen der Tochter des Count of Maurienne und dem jungen John. Der Count scheint willens, möchte jedoch vorab sehen, dass John Aussicht auf mehr Einfluss hat. Der König hat sich erboten, John die Besitzungen Loudon, Mirebeau und Chinon zu überlassen, doch der junge Henry verwehrt sich dagegen. Er will nur einlenken, wenn sein Vater ihm endlich die Herrschaft über England, die Normandie oder das Anjou überträgt, und zwar nicht nur dem Titel nach.“

„Er strebt nach mehr Macht.“ Nell seufzte bekümmert.

„Ganz recht.“ Templetun nickte ernst. „Es war ein Fehler, dass der König zu Lebzeiten seinen Sohn hat krönen lassen. Der Junge will die Macht, die mit dem Titel einhergeht.“

„Aber was hat es nun mit der Vertreibung der Höflinge auf sich?“, fragte Tante Nell ungeduldig.

„Tja, nun. Zunächst wollte der König den jungen Henry in Gewahrsam nehmen, gewissermaßen als Warnung. Aber er glaubt, dass einige der Höflinge seinem Sohn diese Flausen einflüstern. Er hofft, dass sein Ältester Vernunft annimmt, wenn dieser Einfluss erst getilgt ist.“ Templetun sprach freiheraus, und als ihm aufging, dass er ins Plaudern geraten war, wandte er sich stirnrunzelnd wieder dem ursprünglichen Gesprächsgegenstand zu. „Auf jeden Fall würde es nichts ändern, wenn Ihr ihn aufsucht. Sein Entschluss steht fest. Er meint, dass Ihr, Lady Helen, und Lord Holden Euren Hader unter Euch ausmachen sollt. Und er wünscht, dass die Vermählung so rasch als möglich erfolgt. Dafür soll ich Sorge tragen.“

Helen neigte den Kopf und richtete den Blick auf das Schriftstück, das ihre Tante noch immer hielt und das König Henrys Entscheidung in dieser Angelegenheit bezeugte. Diese war unmissverständlich formuliert, doch kurz hatten Tante Nells Worte Helen Hoffnung gemacht. Wenn sie nur mit dem König reden, ihn um Gnade anflehen könnte …

Eine Bewegung und das Rascheln von Stoff zu ihrer Rechten ließen Helen aufmerken. Sie schaute sich um und erspähte Ducky. Die Magd rang die Hände, das Gesicht vor Kummer und Angst verzogen. Sie musste genug mitbekommen haben, um zu wissen, welche Weisung das Schreiben enthielt, und war darüber nicht weniger bestürzt als Helen. Um Duckys willen straffte sie die Schultern und zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln, nur um jäh zusammenzuzucken und herumzufahren, weil ihre Tante – diese liebreizende, sanftmütige Dame – plötzlich loszeterte wie ein altes Fischweib.

„Woher, zum Teufel, hat er einen solch selten dämlichen Einfall?“

Sprachlos starrte Helen ihre Tante an, bevor sie sich zu Lord Templetun umdrehte, um dessen Antwort zu hören. Der war jedoch nicht gewillt, eine Erklärung abzugeben, ja, es schien ihm regelrecht zu widerstreben. Der alte Mann blickte schuldbewusst drein und wand sich vor Unbehagen. Eine ungute Ahnung keimte in Helen auf, als Tante Nell sie auch schon aussprach.

„Von Euch!“

Lord Templetun erstarrte. Seine Miene glich der eines Bengels, der beim Plündern der Speisekammer ertappt worden war.

Ihr wart es“, flüsterte Helen fassungslos und wusste nicht recht, ob sie ihn nach dem Warum fragen oder ihm gleich an die Kehle gehen sollte. Ehe sie sich entscheiden konnte, war Templetun schon auf den Beinen und umrundete den Tisch mit möglichst viel Abstand zu ihr und Tante Nell.

„Nun, ich sollte aufbrechen. Der König ist kein Freund von Müßiggang. Bis nach Holden ist es zwar nicht weit, aber der Tag neigt sich dem Ende zu, und des Nachts zu reisen ist weit weniger angenehm als im Hellen, nicht wahr?“

Helen wusste, dass er keine Antwort erwartete. Zumindest schien er nicht auf eine warten zu wollen; das Portal zog ihn offenbar magisch an. Hastig strebte er darauf zu, wobei er noch hastiger sprach. Helen wünschte, er wäre an dem Essen erstickt, das sie ihm vorgesetzt hatte.

„Wie man mir mitteilte, ist Lord Holden derzeit auf dem Heimweg. Er war im Auftrag des Königs fort“, plapperte er drauflos, während Tante Nell ihm langsam nachging, die Augen schmal, die Miene sturmumwölkt. „Daher bleibt Euch genügend Zeit, das Festmahl vorzubereiten. Ich denke, Ihr solltet es für Ende nächster Woche anberaumen, das sollte ungefähr passen. Selbstredend werde ich Euch einen Boten schicken, damit Ihr rechtzeitig die letzten Vorkehrungen treffen könnt.“ Mit diesem Satz schlüpfte er durchs Portal.

„Die kleine Ratte!“, spie Nell, als die große Tür hinter ihm zuschlug.

Dem konnte Helen nur aus vollem Herzen beipflichten, aber derzeit lasteten ihr ganz andere Dinge auf der Seele. „Warum hat er dem König geraten, mich mit Holden zu vermählen?“

„Gute Frage“, murmelte Tante Nell und legte ihr tröstend die Hände auf die Schultern.

„Ihr werdet ihn doch nicht tatsächlich heiraten, oder?“, stieß Ducky aus, als sie zu ihnen trat. „Nicht den ‚Hammer of Holden‘!“

„Ich hoffe nicht, Ducky.“ Mutlos ließ Helen die Schultern hängen.

„Aber was wollt Ihr tun?“

Helen legte die Stirn in Falten, rang die Hände und überlegte fieberhaft, welche Möglichkeiten ihr blieben. Flucht? Doch wohin? Den König anbetteln? Wie? Er war fort, und die Hochzeit sollte kommende Woche stattfinden. Den angehenden Bräutigam meucheln? Ein verlockender Gedanke, jedoch nicht durchführbar, wie sie einräumen musste. Sie verzog das Gesicht.

„Mylady?“, drängte Ducky.

Helen seufzte. „Ich weiß nicht, was ich tun könnte“, gestand sie bedrückt.

Entgeistert riss Ducky die Augen auf. „Könnt Ihr ihn nicht zurückweisen? Weigert Euch einfach und …“

„Um mich vom König in ein Kloster verbannen zu lassen? Da heirate ich den Kerl doch lieber und bringe ihn anschließend um! Denn wer würde sich um die Menschen hier kümmern, wenn man mich in einen Konvent steckte? Niemand anderer als der ‚Hammer of Holden‘. Tiernay würde ihm als Teil meiner Mitgift zufallen, sollte ich mich dem Befehl des Königs widersetzen.“

Ducky biss sich auf die Unterlippe und beugte sich vor. „Maggie weiß das eine oder andere über Kräuter“, raunte sie Helen zu. „Ebenso wie die alte Joan, die Heilerin. Vielleicht kennt sie etwas, das wir ihm einflößen könnten …“

„Willst du wohl still sein“, zischte Helen, hielt ihr den Mund zu und schaute sich bang in der leeren Halle um. „So etwas will ich nie wieder von dir hören, Ducky. Dafür könntest du hängen.“

„Aber was wollt Ihr denn tun?“, fragte die Kammerfrau kläglich, nachdem Helen ihren Mund freigegeben hatte. „Ihr könnt doch nicht den ‚Hammer of Holden‘ heiraten!“

Wieder seufzte Helen. „Wie es aussieht, werde ich es wohl müssen. Eine direkte Verfügung des Königs kann ich schlecht in den Wind schlagen.“

„Wieso nicht?“, wollte Ducky aufgebracht wissen. „Der ‚Hammer‘ tut es oft genug. Er …“

„Das ist es!“ Tante Nell, die bislang stumm geblieben war, packte Helen aufgeregt bei den Armen und schüttelte sie, ohne dass es ihr offenbar bewusst war.

„Was?“, fragte Helen, einen Hoffnungsschimmer vor Augen.

Du kannst dich schlecht weigern, aber der ‚Hammer of Holden‘ kann es. Er ist ein viel zu mächtiger Lord, als dass der König ihn zwingen könnte, sollte er nicht wollen.“

Ducky schnaubte. „Glaubt Ihr auch nur einen Moment, dass der ‚Hammer‘ sich weigern könnte, Lady Helen zu heiraten? Seht sie Euch doch an! Sie ist so schön wie ihre Mutter und lieblich wie Met. Dann wäre da noch ihr Land. Wer würde eine Mitgift wie Tiernay ausschlagen?“

Abermals sackte Helen in sich zusammen, als sie ihre Hoffnung schwinden sah.

Tante Nell jedoch straffte die Schultern. „Dann müssen wir eben dafür sorgen, dass du und Tiernay ihn nicht locken“, beschied sie der Nichte grimmig.

Ducky schien Zweifel zu hegen. „Dieser Lord Templetun hat doch schon gesehen, wie bildhübsch sie ist. Wir können ihr schlecht nachträglich die Zähne schwärzen oder den Kopf scheren.“

„Nay“, stimmte Helen ihr versonnen zu und lächelte verhalten, denn ihr war eben etwas eingefallen. „Aber es gibt andere Dinge, die wir tun können.“

2. KAPITEL

Hethe, Lord Holden, saß am Kopfende seiner Tafel und starrte den Mann vor sich an. Mehrere Wochen lang hatte Hethe für seinen König gekämpft und war gerade erst heimgekehrt. In letzter Zeit tat er kaum etwas anderes als zu kämpfen. Genauer gesagt ging das schon so seit dem Tod seiner Gemahlin vor zehn Jahren, ja, länger sogar. Henry II. weitete seine Macht beharrlich aus, und Hethe hatte das ehrgeizige Streben seines Herrschers genutzt, um der Heimstatt zu entfliehen, die er zunächst mit seinen ständig mäkelnden Eltern und schließlich mit der liebreizenden jungen Nerissa bewohnt hatte.

Er rieb sich die Müdigkeit aus den Augen und wünschte, sich der Erinnerungen ebenso leicht entledigen zu können. An seine arme verblichene Gemahlin zu denken, stimmte ihn stets reumütig. Sie waren beide so jung gewesen, vor allem Nerissa.

Wie immer verscheuchte er diese Gedanken. Stattdessen bedachte er Lord Templetun mit einem finsteren Blick. „Seid so gut und erklärt mir noch einmal, weshalb Ihr mich mit Eurer Anwesenheit beehrt, Mylord“, bat er bedächtig.

„Der König hat mich mit dieser Botschaft hergeschickt.“ Templetun schob ihm abermals die Schriftrolle zu, offenbar in der Hoffnung, dass Hethe sie endlich entgegennehmen würde. „Und er hat mich angewiesen, Euch nach Tiernay zu geleiten, damit Ihr Lady Helen ehelicht.“

„Du kannst diese Hexe nicht heiraten!“, rief William, als Hethe zögernd nach dem Schreiben griff und das Siegel erbrach.

„Lady Tiernay ist keineswegs eine Hexe“, wandte Templetun ein und bedachte Hethes ranghöchsten Mann mit einem tadelnden Blick – den Mann, dessen vorrangige Aufgabe es war, das Wohl seines Herrn im Auge zu haben. „Ich komme gerade von ihr, und sie ist ganz entzückend.“

„Oh, aye. Nun … verständlich, dass Ihr dies behauptet, nicht wahr?“, murmelte William.

„Habt Ihr die Dame schon einmal zu Gesicht bekommen?“, fragte Templetun gereizt und nickte zufrieden, als William widerwillig den Kopf schüttelte. „Ich hingegen habe sie gesehen, und sie ist reizend. Sehr sogar.“ Er senkte den Kopf und fügte kaum hörbar an: „Im Gegensatz zu diesem Drachen von Tante.“

„Was ist mit ihrer Tante?“, hakte Hethe sofort nach und reichte die Nachricht des Königs an William weiter. Sollte er doch lesen, was dort geschrieben stand. Hethe reichte es, die Unterschrift gesehen und sie auf den ersten Blick als die des Königs erkannt zu haben. Er hatte genügend Botschaften von Henry erhalten und war mit dessen Handschrift vertraut. Mehr als die Signatur brauchte er nicht, um zu wissen, dass Templetuns Behauptungen vermutlich der Wahrheit entsprachen. Nicht, dass er aufrichtig daran gezweifelt hätte. Weshalb hätte der Mann sich etwas Derartiges aus den Fingern saugen sollen?

Templetuns Miene verdüsterte sich ob der Frage, und als Antwort schüttelte er nur den Kopf. „Also, was sagt Ihr?“, hielt er entgegen. „Werdet Ihr die Dame heiraten oder nicht?“

Hethe lachte unfroh. „Habe ich denn eine Wahl?“ Dabei sah er William und nicht Templetun an. William schaute von dem Schreiben auf und schüttelte widerstrebend den Kopf.

„Dachte ich mir.“ Müde fuhr er sich durchs Haar und verlagerte sein Gewicht. Eine neue Gemahlin, um die er sich sorgen musste, brauchte er nun wirklich nicht. Selbst wenn er nach einer Ausschau gehalten hätte, wäre Tiernays Tyrannin die Letzte gewesen, für die er sich entschieden hätte. Allmächtiger! Das schreckliche Weib mischte sich in alles ein und traktierte ihn andauernd mit Schreiben, in denen sie ihn dafür schalt, wie schändlich er mit seinen Untergebenen umspringe. Er selbst hatte nie auch nur einen ihrer Briefe gelesen, aber William erstattete ihm stets Bericht. William wiederum erfuhr den Inhalt von Stephen, der die Besitzung als Kastellan verwaltete, wann immer Hethe in die Schlacht zog. Die Frau setzte dem jungen Stephen gehörig zu.

Nun sah es ganz danach aus, dass künftig er derjenige sein würde, dem sie zusetzte – und nicht nur durch unpersönliche Botschaften. Er würde sich mit der Frau persönlich herumschlagen dürfen. Überaus persönlich sogar. Bei dem Gedanken erhob er sich von seinem Platz und strebte mit langen Schritten auf die Treppe zu. Umgehend war auch Templetun auf den Beinen und setzte ihm nach.

„Mylord? Wo wollt Ihr hin?“

„Ein Bad nehmen“, erwiderte Hethe, ohne langsamer zu werden. „Ich gehe davon aus, dass ich mir den Todesgestank vom Leibe waschen und eine Nacht Ruhe gönnen darf, ehe ich nach Tiernay hasten muss, um die Dame zu heiraten. Sie wird sich inzwischen ja wohl kaum in Luft auflösen.“

„Oh, nay.“ Am Fuß der Treppe blieb Templetun stehen und ließ Hethe ziehen. „Ich meine, aye … Gönnt Euch ruhig ein Bad und Schlaf. Ich setze Lady Tiernay durch einen Boten davon in Kenntnis, dass wir morgen eintreffen werden. Gleich nach dem Morgenmahl?“, fügte er hoffnungsfroh an.

„Nach dem Mittagsmahl“, beschied Hethe. „Ich würde gern erfahren, wie es um mein eigenes Land steht, ehe ich überstürzt wieder aufbreche, um auf einer neuen Besitzung Fuß zu fassen.“

„Selbstverständlich. Also nach dem Mittagsmahl“, willigte Templetun wenig erfreut ein.

Hethe brummte nur und schritt die Treppe hinauf zu seiner Kammer. Er stand schon eine Weile am Fenster und starrte hinaus, als es an der Tür klopfte. Hethe beschied dem Klopfenden einzutreten und war nicht überrascht, als mehrere Bedienstete einen Badezuber und eimerweise heißes Wasser hereintrugen. Zwar hatte er nicht ausdrücklich ein Bad verlangt, sondern nur Templetun gegenüber erwähnt, dass er gern eines nehmen würde, doch das genügte auf seiner Burg, um sofort alles Nötige zu veranlassen. Holdens Gesinde war tüchtig und verrichtete seine Arbeit in Windeseile. Was Hethe mit großer Zufriedenheit erfüllte. Seine Leute hatten die Knechte und Mägde weise gewählt.

Schweigend beobachtete er, wie das Bad bereitet wurde, ehe er die Bediensteten entließ. Eine der Mägde blieb zurück, um ihm zur Hand zu gehen. Sie war drall und hübsch, aber er schickte sie dennoch mit einem Wink hinaus. Er wollte allein sein, denn er musste über die Sache mit seiner Vermählung nachdenken. Darüber, wie es sein würde, wieder verheiratet und für eine Gemahlin verantwortlich zu sein.

Bei dem Gedanken versteifte er sich unwillkürlich. Rasch entledigte er sich seiner Kleider und stieg in den Zuber. Das Wasser umfing ihn so warm und einladend wie eine Geliebte. Hethe lehnte sich zurück, schloss die Augen und spürte, wie er sich allmählich entspannte. Seine Gedanken begannen zu wandern.

Er war erst zwölf gewesen und Nerissa sieben, als der Ehevertrag unterzeichnet worden war. Sie war nicht ganz zwölf gewesen und er siebzehn, als ihre Eltern, des Wartens müde, auf die Hochzeit gedrängt hatten. Beide Seiten hatten nach einer Verbindung der zwei Sippen gegiert – Hethe hatte Namen und Titel mit in die Ehe gebracht und Nerissa das Vermögen ihres Vaters. Der junge Hethe war immerhin reif genug gewesen anzuregen, die Hochzeitsnacht zu verschieben, bis das Mädchen älter sei – was, wie sich herausstellte, vernünftig gewesen wäre. Damit jedoch war weder Nerissas Familie noch die seine einverstanden.

Ausgerechnet Nerissa hatte den Preis für die Geltungssucht ihrer Eltern zahlen müssen. Sie war sofort schwanger geworden und, einem Opferlamm gleich, im Kindbett gestorben. Da war sie noch keine dreizehn Jahre alt gewesen.

Nie würde Hethe sich verzeihen, seinem Vater gegenüber den Aufschub nicht durchgesetzt zu haben. Vielleicht hätte er sich auch schlicht weigern sollen, die Ehe zu vollziehen. Oder er hätte alle glauben machen können, die Ehe sei vollzogen worden, um die Sache ein, zwei Jahre später in aller Heimlichkeit nachzuholen. Das aber hatte er nicht getan, denn mit siebzehn war er so liebestoll wie jeder andere junge Bursche auch. Und Nerissa war ein bezauberndes Mädchen gewesen – schon in dem zarten Alter. Starke Getränke in Verbindung mit den gestrengen Ermahnungen seines Vaters hatten dazu geführt, dass es einfach geschehen war. Neun Monate später hörte er Nerissa schreien, während das Kind versuchte, sich aus ihrem Schoß ans Licht der Welt zu kämpfen. Es hatte den Kampf verloren, und Nerissa war verblutet, das Kind noch im Leib.

Seitdem rang Hethe sowohl gegen die Feinde des Königs als auch gegen die eigenen Dämonen. Wochen, ja Monate brachte er damit zu, ein Schlachtfeld nach dem anderen mit dem Blut seiner Gegner zu tränken. Er kämpfte, bis er den Tod nicht mehr riechen und sehen konnte, und kehrte zurück in der Hoffnung, dass er dieses Mal zur Ruhe kommen werde – dass er die Burg dieses Mal als den Ort des Friedens vorfinden werde, nach dem er sich so sehr sehnte. Das jedoch geschah nie. Noch immer meinte er Nerissas Schreie durch die Gänge hallen zu hören, so wie vor all den Jahren, fast drei Tage lang. Und so trieb es Hethe rasch wieder fort, manchmal binnen weniger Stunden. Er fand hier einfach keine Ruhe.

Heute ist es nicht anders, dachte er missmutig, obgleich es nicht Nerissas Schreie waren, die ihn dazu drängten, den kalten Mauern von Holden zu entfliehen. Nay, was ihn heute dazu bewog, sich aufs Schlachtfeld zurückzusehnen, war die Nachricht, die der Bote des Königs überbracht hatte. Wieder heiraten sollte er also – und dann auch noch die Tyrannin von Tiernay.

Welch Hohn. Dieses Mal würde er das Opferlamm abgeben, und das alles nur aus einer Laune des Königs heraus. Begeisterung konnte Hethe dafür nicht empfinden.

Ein Klopfen riss ihn aus seiner unerquicklichen Grübelei. Er setzte sich gerade hin, rief „Herein!“ und begann sich zu waschen. Dass William eintrat, überraschte ihn so wenig, wie ihn zuvor das Erscheinen der Bediensteten mit dem Zuber überrascht hatte. Sein ranghöchster Mann dürfte inzwischen von Stephen auf den neuesten Stand gebracht worden sein und würde ihm nun Bericht erstatten. So war es immer.

„Ist irgendetwas vorgefallen, während wir fort waren?“, fragte Hethe und schöpfte sich Wasser auf die Haare.

Nay. Zumindest nichts, von dem wir nicht schon durch Stephens Sendschreiben wüssten.“ William zuckte mit den Achseln, setzte sich aufs Fußende des Bettes und schaute Hethe bekümmert an. „Du wirst nicht allen Ernstes diese Frau heiraten, oder?“

Hethe schwieg kurz. „Klang der Brief wie ein Ersuch oder wie ein Befehl?“, fragte er schließlich.

„Wie ein Befehl“, räumte William sichtlich unmutig ein.

Hethe verzog das Gesicht und zuckte seinerseits mit den Schultern. „Dann wird mir wohl nichts anderes übrig bleiben. Irgendwann hätte ich ohnehin wieder heiraten müssen“, fügte er an, in dem Bemühen, sich mit der Tatsache abzufinden.

Aye, aber … Tiernays Tyrannin …“ William blickte gequält drein.

Hethe lachte leise. „Tja, nun. Ich werde sie heiraten und ins Brautbett führen. Danach schauen wir, ob der König nicht unserer Dienste bedarf, um seinen Sohn zu bändigen. Meine Gemahlin lasse ich auf Tiernay zurück, um sie ab und an zu besuchen. Damit bleibt alles beim Alten.“

Williams Erleichterung war beinahe greifbar, und Hethe konnte nachvollziehen, warum. William war ein schmächtiger Junge gewesen und von den anderen Kindern oft gepiesackt worden. Als Jüngling war er ordentlich gewachsen und zu dem großen, kräftigen Kerl geworden, der er heute war. Dies, wie auch seine Ausbildung an Hethes Seite, hatte ihn zu einem herausragenden Ritter werden lassen. Hethe wusste, dass sein Freund auf Ruhm und die Anerkennung des Königs aus war. Womöglich träumte er gar davon, sich mit seinem Schwert ein Stück Land mit einem eigenen Gut darauf zu verdienen. Daher zögerte William nie, gemeinsam mit ihm in die Schlacht zu ziehen. Er ermunterte Hethe sogar, sich mitsamt seinen Mannen freiwillig zur Verfügung zu stellen. Wenn Hethe sich nun plötzlich eine Frau nahm, sesshaft wurde und dem Krieg vielleicht abschwor, sah er seine Ziele in Gefahr. Doch er hätte sich keine Sorgen machen müssen – Hethe hatte keineswegs vor, sesshaft zu werden.

„Die Tyrannin von Tiernay ins Brautbett führen“, sinnierte William und tat so, als erschauere er. „Pfui Teufel! Du hast mein Mitgefühl.“

„Und das weiß ich zu schätzen, William. Wirklich.“ Er klang unbewegt und versuchte, ein Bild von dieser Frau heraufzubeschwören. Als er sie das letzte Mal gesehen hatte, war sie ein Kind von vielleicht zehn Jahren gewesen. Nachdem sein Vater gestorben war, war er nach Tiernay geritten, um ihrem Vater zu versichern, dass sich an den zwischen Holden und Tiernay getroffenen Vereinbarungen nichts ändern werde. Das war im Jahr nach Nerissas Tod gewesen. Aye, Lord Tiernays Tochter musste damals etwa zehn gewesen sein – gerade einmal ein Jahr jünger, als seine Braut bei ihrer Hochzeit gewesen war. Doch Tiernays Tochter hatte weder die weiblichen Rundungen noch den Liebreiz seiner Nerissa besessen. Sie war ein mageres kleines Ding gewesen und schien, wenn er sich recht entsann, nur aus Zähnen und Ellbogen bestanden zu haben. Wahrscheinlich war sie im Laufe der Zeit nicht schöner geworden – vermutlich glich Helen of Tiernay einem sauertöpfischen alten Gaul mit vorstehenden Zähnen.

„Kind, sie sind da! Ich habe sie vom Fenster meines Schlafgemachs aus erspäht. Sie sind soeben eingetroffen!“

Als Tante Nell die Treppe herabstürmte, ließ Helen das Nähzeug sinken und sprang auf. Unwillkürlich grub sie die Finger in ihren Rock und zerknitterte den feinen Stoff. Einen Augenblick stand sie vor Schreck wie gelähmt da, dann jedoch fasste sie sich so weit, dass sie nach ihrer Kammerfrau rufen konnte.

Ducky musste Tante Nells aufgeregte Stimme gehört haben, denn kaum einen Herzschlag später hastete sie schon aus der Küche herbei. Sie hielt einen Becher in den Händen und sah ebenso bestürzt aus wie Tante Nell. Beinahe wären die beiden zusammengeprallt, als sie durch die Große Halle auf Helen zueilten. Aus irgendeinem Grund wirkte die allgemeine Kopflosigkeit beruhigend auf Helen.

Alles war gerichtet. Lord Templetuns Bote war während des gestrigen Nachtmahls angekommen. Somit waren sie gewarnt und hatten Zeit gehabt, letzte Vorkehrungen zu treffen. Sie war bereit, ging die Liste im Geiste aber trotzdem noch einmal durch.

Helen trug ihr bestes Gewand. Ihr Haar war gewaschen und umschmeichelte ihr Gesicht in weichen Wellen. Sie sah so gut aus, wie es ihr nur möglich war. Fast wünschte sie, verdreckt und in Lumpen gehüllt zu sein, aber dann hätte Templetun gleich gemerkt, dass etwas im Argen lag. Schließlich hatte er gesehen, wie sie normalerweise aussah, weil er beim ersten Mal unangemeldet aufgetaucht war. Daher wäre es nicht besonders klug gewesen, sich die Zähne zu schwärzen und ein übergroßes, mit Kissen ausgestopftes Kleid zu tragen, um ihren angehenden Bräutigam dazu zu bringen, sich gegen den Heiratsbefehl zu sträuben. Helens Strategie musste weniger offenkundig sein und war es auch. Nur zwei Dinge galt es noch zu erledigen, doch um eine möglichst hohe Wirkkraft zu erzielen, hatte sie damit auf die Ankunft der Männer gewartet.

„Hast du den Knoblauch?“, fragte sie Ducky, als die Kammerfrau und Tante Nell zu ihr traten.

Aye, Mylady, hier.“ Ducky drückte Tante Nell den Becher in die Hand, griff in ihre Rocktasche und bediente sich aus ihrem kleinen Geheimvorrat. Diesen trug sie bei sich, seit der Bote sie gestern Abend über die voraussichtliche Ankunftszeit der Herren Templetun und Holden in Kenntnis gesetzt hatte. Sie zog eine Handvoll Knoblauch hervor, befreite eine der Zehen von der dünnen, trockenen äußeren Schale, reichte sie Helen und machte sich daran, eine weitere zu pellen.

Mit grimmiger Miene nahm Helen die geschälte Zehe, fackelte nicht lange und steckte sie sich in den Mund. Als sich beim Kauen der scharfe Geschmack entfaltete, schnitt sie eine Grimasse. Es brannte, aber sie kaute unbeirrt und schob eifrig weitere Zehen nach. Schließlich hatte sie sechs davon im Mund, die sie, wenn sie nicht gerade kaute, mit der Zunge hin- und herschob. Ducky und Tante Nell verzogen mitfühlend das Gesicht. Endlich schluckte Helen die gesamte Masse hinunter und streckte die Hand nach dem Becher aus, den Ducky Tante Nell gegeben hatte.

Tante Nell schnupperte kurz an dem Gefäß und zuckte jäh zurück. Dies und ihr Ausdruck warnten Helen – das Gebräu besaß Schlagkraft. Nell reichte es ihr. Helen hob sich den Becher ebenfalls an die Nase, nur um ihn genauso rasch wieder sinken zu lassen. Sie hatte gehofft, dass der Knoblauch ihr vorübergehend den Geruchssinn nehmen und somit helfen werde, die Mixtur zu schlucken, die ihrem Plan Nachhaltigkeit verleihen sollte. Doch der Knoblauch übertünchte gar nichts. Großer Gott, ich kann das unmöglich trinken, dachte sie entsetzt. Der Gestank, der ihr in die Nase drang, war der garstigste, den sie je gerochen hatte.

„Nur Mut“, murmelte Tante Nell kaum hörbar. Helen sah sie an, und die Ältere lächelte ihr aufmunternd zu und nickte. Es half ja nichts. Helen stieß den Atem aus, den sie unwillkürlich angehalten hatte, kniff sich die Nase zu und kippte sich den Inhalt des Bechers in den Mund. Sie rang den Drang zu würgen und zu speien nieder, ballte die Hände zu Fäusten, krampfte sogar die Zehen zusammen und blieb standhaft – während sie darauf wartete, dass der Würgereiz abflaute. Aber vergebens.

Ihre Augen begannen zu tränen, doch sie zwang sich, die Flüssigkeit im Mund zu behalten und sogar noch hin- und herzuschwenken. Erst als sie sicher war, dass das grässliche Gebräu auch in den letzten Winkel gedrungen war, schluckte sie es hinunter. Sie spürte es ihre Kehle hinabrinnen; es verschlug ihr regelrecht den Atem.

„Oh, Gott!“ Sie hustete, und sowohl Tante Nell als auch Ducky klopften ihr kräftig auf den Rücken. Ihr mitfühlender Blick war geradezu herzergreifend.

„Alles in Ordnung, Liebes?“, fragte Tante Nell bang, als der Hustenanfall abebbte.

Helen nickte, holte tief Luft und erkannte erst dann, dass dies nicht weise war, da sie damit nur den widerlichen Mundgeruch in ihre Lunge zog. Sie zwang sich, ruhig zu atmen.

„Aye“, erwiderte sie schließlich, wenngleich sie nicht ganz sicher war. Der Trank lag ihr schwer im Magen und schien diesen in Aufruhr zu versetzen. Offenbar fanden ihre Eingeweide ihn ebenso abstoßend wie ihr Gaumen.

„Dann sollte Ducky nun besser alle Spuren beseitigen, ehe wir unsere Gäste begrüßen.“

„Aye.“ Helen straffte die Schultern und lächelte ihrer Kammerfrau beruhigend zu. „Sorge bitte auch dafür, dass Bier und Speisen bereit sind, Ducky. Und vergiss nicht zu veranlassen, dass unsere Gäste baden können.“

Die Kammerfrau nickte und verschwand mit Knoblauchschalen und leerem Becher in Richtung Küche.

Helen strich sich die Röcke glatt, bevor sie auf das Portal zuschritt, Tante Nell und Goliath im Schlepptau. Währenddessen führte sie sich ihren Plan vor Augen. Er wird schon gelingen, sagte sie sich. Sie musste daran glauben. Es war die einzige Hoffnung, an die sie sich klammern konnte. Wenn sie die andere Möglichkeit auch nur in Erwägung zog …

Sie erreichte das Portal und wollte es gerade öffnen, als ihre Tante sie zurückhielt.

„Lächele“, befahl diese ihr leise. Artig setzte Helen ein Lächeln auf und wartete darauf, dass ihre Tante es absegnete.

„Nun“, bemerkte Nell nach kurzem Zögern. „Allzu begeistert über das Eintreffen der Herren solltest du dich wohl in der Tat nicht geben. Das könnte ihren Argwohn wecken. Und es ist ja nicht so, als würdest du es genießen, den ‚Hammer of Holden‘ zu peinigen, nicht wahr?“

Der letzte, spöttisch geäußerte Satz hatte die gewünschte Wirkung. Helens Lächeln wurde zwar nicht breiter, aber aufrichtiger. Ihre Züge entspannten sich, als sie sich das anstehende Spektakel ausmalte. Tante Nell nickte zustimmend, öffnete das Portal und schob Helen über die Schwelle.

Sie hielt nach den Reitern Ausschau und sah sie just in den Burghof einziehen. Den „Hammer of Holden“ erkannte sie sofort. Er und Lord Templetun ritten vorneweg, und etwa ein Dutzend Männer folgte ihnen. Helen keuchte auf. Lord Holden war ungemein stattlich. Das hatte sie nicht erwartet. Sie hatte stets angenommen, dass sich das Wesen eines Menschen in seinem Äußeren spiegele, und war davon ausgegangen, dass Lord Holden so abstoßend war wie seine Taten. Doch das war er nicht im Mindesten. Er hatte den Kopf Lord Templetun zugeneigt, der gerade etwas zu sagen schien, und daher sah sie sein Gesicht nur teilweise. Aber was sie erblickte, genügte, ihr den Atem zu rauben. Fast bereute sie es, dass sie ihn nicht heiraten würde. Die Gruppe erreichte den Fuß der Treppe und saß ab, und abermals stockte Helen der Atem.

Du liebe Güte, jetzt, da die Männer standen, erkannte sie, wie groß ihr Bräutigam war. Er sowie der Bursche, der sein Pferd auf Templetuns anderer Seite angehalten hatte, überragten alle übrigen Ritter und Bewaffneten. Auch waren beide doppelt so kräftig wie der ältere, schon etwas in sich zusammengesunkene Templetun. Doch allein Lord Holden galt Helens Aufmerksamkeit. Er wirkte genau wie der Unhold, der er war – stark, breitschultrig und grimmig.

Sie machte sich bewusst, mit wem sie es zu tun hatte: mit dem „Hammer of Holden“. Mit einem grausamen, jähzornigen Kerl, der sie gewiss mit bloßen Händen entzweibrechen konnte. Bis jetzt hatte sie ihr Augenmerk allein darauf gerichtet, der Ehe zu entfliehen. Nun traf sie die Erkenntnis, dass ihr Plan diesen Mann, der gekommen war, sie zu holen, vermutlich rasend machen würde. Was, wenn er seine Wut an ihr ausließ? Was, wenn er …?

„Nur Mut“, flüsterte Tante Nell, die zu spüren schien, dass die Furcht sie zu überwältigen drohte.

Entschlossen schob Helen bei den aufmunternden Worten die unliebsamen Gedanken und Ängste beiseite. Sie riss sich zusammen, zwang sich, das Kinn zu recken, und setzte erneut das unerschütterliche Lächeln auf.

„Noch kannst du kehrtmachen und um dein Leben laufen.“

Williams verschwörerisch geraunter Rat entlockte Hethe ein Lächeln. Derlei Bemerkungen gab William schon seit Holden von sich. Hethe wünschte nur, sie wären nicht halb ernst gemeint gewesen. Dass die Vermählung William nicht weniger bekümmerte als ihn selbst, war nicht eben ermutigend. Sie hatten einiges über die Dame erfahren in den Jahren, seit der alte Tiernay gestorben war – nicht zuletzt durch all die schriftlichen Abkanzelungen. Vor Tiernays Tod hatten sie zwar von seiner Tochter gewusst, sich jedoch nicht mit ihr herumschlagen müssen. Erst danach hatte sie angefangen, ihnen das Leben schwer zu machen. Von einem Tag auf den anderen hatte sich Lady Helen of Tiernay von der Tochter des Nachbarn zum Plagegeist gemausert.

Der Wandel hatte sich praktisch über Nacht vollzogen. Hatte Hethe zuvor stets einen guten Faden mit dem benachbarten Tiernay gesponnen, wurde er von dort plötzlich unablässig mit bösartigen Briefen beschossen, in denen er beschuldigt wurde, seine Bediensteten und Leibeigenen zu misshandeln.

Als hätte ich je auch nur einem meiner Untergebenen ein Haar gekrümmt, dachte er gereizt. Allein Lady Tiernay, die nun die Besitzung ihres Vaters verwaltete, schien dies zu denken. Vermutlich lag es daran, dass sie eine Frau war. Einige der Strafen, die Hethe verhängte, mochten ihr unnötig oder überzogen vorkommen. Aber er war immer der Ansicht gewesen, dass eine Führung mit strenger Hand gute Ergebnisse zeitigte und allen bewusst machte, wo sie standen.

„Grundgütiger“, entfuhr es William.

Der Ausruf riss Hethe aus seinen Gedanken. Er wandte sich zu William um und folgte dessen verzücktem Blick zu der Frau auf dem oberen Treppenabsatz.

„Bei allen Heiligen“, hauchte er.

Die Dame war von strahlender Schönheit. Ihr langes goldfarbenes Haar fiel ihr in Wellen hinab und schien das Sonnenlicht einzufangen und zu spiegeln. Soweit er das aus der Ferne beurteilen konnte, war ihr blasses Gesicht vollkommen ebenmäßig. Und ihr Leib … Er ließ den Blick über ihren Körper wandern und verschlang das blaue Gewand, das ihr ausnehmend gut stand, förmlich mit den Augen.

Dies war keine Hexe. Diese Frau entsprach ganz und gar nicht dem Bild, das er sich von seiner zukünftigen Braut gemacht hatte. Nay, sie konnte unmöglich Helen of Tiernay sein. Dieser liebreizende Engel war gewiss nicht das zänkische Weib, das Stephen unablässig mit bösen Briefen schikanierte. Offenbar war er nicht der Einzige, der so dachte, denn er hörte, wie William an Templetun gewandt leise fragte, wer denn die beiden Damen auf der Treppe seien. Erst jetzt bemerkte er auch die ältere Frau und den großen Hund neben der Jüngeren.

„Ah, das sind Lady Tiernay und ihre Tante“, erwiderte Templetun und betrachtete ihre Gastgeberin zufrieden und sichtlich erleichtert. Hethe sah ihm an, dass er gefürchtet hatte, die Dame könne sich beim ersten Zusammentreffen nicht unbedingt von ihrer besten Seite zeigen. Aus einigen Bemerkungen Templetuns hatte er geschlossen, dass sie diese Ehe ebenso wenig wollte wie er anfangs.

Er stutzte. Anfangs? Er würde seine Meinung doch nicht etwa ändern, nur weil die Kleine hübsch war? Fast hätte er höhnisch gegrinst. Doch zu seiner Schande musste er sich eingestehen, dass er zwar nicht erpicht darauf war, das Mundwerk zu heiraten, das ihm seit gut einem Jahr zusetzte, den dazugehörigen Leib jedoch sehr wohl. Zumindest hätte er diesen gern einmal im Bett gehabt. Kurz erging er sich in diesem Tagtraum, ehe er sich seine arme verblichene Gemahlin ins Gedächtnis rief. Ihm ging auf, dass er die Dame dort früher oder später würde schwängern müssen, wenn er sie zur Frau nahm. Zunächst konnte er Vorkehrungen dagegen treffen – wie rechtzeitiges Zurückziehen und all die anderen leidigen Maßnahmen. Er kannte sie alle, weil er den Frauen, denen er seit dem Tod seiner Gemahlin beigelegen hatte, ein Kind hatte ersparen wollen. Letztlich jedoch würde er einen Erben zeugen müssen – oder es zumindest versuchen. Er zuckte zusammen, als ihm abermals Nerissas Wehklagen durch den Schädel hallte.

„Sollen wir?“

Templetuns Aufforderung rettete ihn aus seinen düsteren Grübeleien. Er straffte die Schultern und schritt den anderen voran die Stufen hinauf.

Der Ältere eilte ihm nach und hielt sich an seiner Seite. „Lady Tiernay“, grüßte Templetun, als er vor ihren beiden Gastgeberinnen stehen blieb. „Meine Damen, darf ich vorstellen – Lord Hethe of Holden. Lord Holden – dies sind Lady Helen of Tiernay und ihre Tante Lady Nell Shambleau.“

Hethe nahm noch eine Stufe, sodass er mit Lady Helen auf Kopfhöhe war. Ihre himmelblauen Augen passten zu ihrem Kleid, und unwillkürlich lächelte er. Ein Lächeln, das vor allem von seinen unteren Körperpartien ausgelöst wurde. Wie von selbst wuchs es sich zu einem so breiten wie glücklichen Grinsen aus – bis seine Braut zurücklächelte und fragte: „Wie geht es Euch?“

Jäh erstarb sein Grinsen und wich einer entsetzten Grimasse. Nicht etwa die Worte der Dame waren schuld, sondern ihr fauliger Atem, der ihn streifte, während sie sprach. Vor Schreck trat Hethe hastig einen Schritt zurück und wäre die Treppe hinuntergestürzt, hätte William ihn nicht gestützt, indem er ihm eine Faust in den Rücken drückte.

„Grundgütiger!“, keuchte Hethe und starrte die Burgherrin verwirrt und sogar ein wenig vorwurfsvoll an. Das wiederum brachte ihm einen scharfen und zugleich verstörten Blick von Templetun ein, der ihn wohl an seine Manieren gemahnen sollte. Hethe rang sich ein falsches Lächeln ab, das gleichsam als Entschuldigung diente, und drehte sich wieder zu Lady Helen um. Dabei wandte er das Gesicht ein wenig ab, um dem üblen Odem zu entgehen. „Da wäre ich doch fast aus dem Gleichgewicht geraten“, murmelte er.

„Nun, gebt gut acht, Mylord“, hauchte ihm seine Verlobte ins Antlitz. Sie neigte sich vor und hakte sich bei ihm unter, wohl um zu verhindern, dass er abermals das Gleichgewicht verlor. Dann strahlte sie ihn an und seufzte ihm ins Gesicht. „Wir wollen schließlich nicht, dass ein solch stattliches Mannsbild wie Ihr die Stufen hinunterfällt und sich das Genick bricht! Zumindest nicht vor der Hochzeit, nicht wahr?“, neckte sie ihn, und in ihren Augen blitzte es.

Beinahe hätte Hethe gewimmert. Der infernalische Atem, der ihn umwehte, ließ ihn schwindeln. Heiliger Simon! Etwas Widerwärtigeres hatte er nie gerochen. Nie hätte er für möglich gehalten, dass ein solcher Gestank einem menschlichen Mund entfleuchen konnte. Und der Umstand, dass der Pesthauch zwischen den lieblich geschwungenen Lippen dieser wundervollen Dame hervordrang, schien die Sache umso schlimmer zu machen.

„Sollen wir hineingehen?“, fragte Lady Helens Tante fröhlich.

Autor

Lynsay Sands
Bekannt ist die kanadische Autorin Lynsay Sands für ihre historischen sowie übernatürlichen Geschichten, die sie mit ihrem speziellen Humor ausstattet. Sie hat eine Buchreihe über die Familie Argeneau verfasst, dabei handelt es sich um eine moderne Vampirfamilie. Für ihre über 30 Bücher hat sie bereits mehrere Auszeichnungen erhalten. Ihr erstes...
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