Im Bett mit dem ... Feind

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Solange die hübsche Architektin Ashleigh Clancy denken kann, sind die Clancys und die Barlowes verfeindet. Doch nun muss Ash für ein Projekt mit dem preisgekrönten, verboten attraktiven Grayson Barlowe zusammenarbeiten! Jeder in London weiß, dass er ein gewissenloser Playboy ist. Umso unbegreiflicher, dass Ash in seiner Nähe erotische Gedanken durch den Kopf schießen, einer verführerischer als der andere. Und dann findet sie sich überraschend an dem abwegigsten Ort der Welt wieder: im Bett ihres Rivalen!


  • Erscheinungstag 05.03.2024
  • Bandnummer 2639
  • ISBN / Artikelnummer 9783751524575
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Diese Geschichte beginnt an dem Abend, an dem meine jüngere Schwester Niamh mich zu einem Feierabenddrink in eine schicke Londoner Hotelbar einlud. Nun könnte man meinen, es sei nichts Außergewöhnliches, wenn sich zwei Schwestern nach der Arbeit auf einen Cocktail treffen. Doch es grenzt an ein Wunder, dass ich noch eine Schwester habe. Dass Niamh einen Tisch in einem Lokal reservieren und selbständig dorthin gelangen kann, ist ebenfalls ein Wunder. Das größte Wunder von allen aber ist, dass ich an jenem Abend pünktlich eintraf.

Normalerweise bin ich überpünktlich. Vor allem, wenn ich mit meiner Schwester verabredet bin. Doch ausgerechnet an diesem Tag hielt mich ein wohlhabender Klient auf, für den ich eine Luxusvilla in Italien entwerfen sollte. Aber der Kunde ist König. Nur dank meiner langjährigen Pendlererfahrung schaffte ich es durch den Londoner Feierabendverkehr rechtzeitig zu meinem Treffen mit Niamh.

Etwas außer Atem ließ ich meinen Blick über die zahlreichen Gäste der gut besuchten Hotelbar schweifen. Hohe Palmen mit sanft schwingenden Wedeln und üppig blühende Blumenarrangements verliehen dem weitläufigen Raum ein frisches und sommerliches Ambiente, das mich an einen tropischen Strand erinnerte. Nicht, dass ich je eine Fernreise unternommen hätte. Trotzdem hellten die Farben und der Duft meine Stimmung sofort auf. Denn draußen machte das englische Wetter seinem Ruf alle Ehre: Seit einundzwanzig Tagen regnete es ununterbrochen. Aber ich bin ein optimistischer Mensch. Irgendwann musste der sprichwörtliche Sonnenschein folgen!

In einer Nische entdeckte ich Niamh. Lächelnd schlängelte ich mich zwischen Pflanzen, Tischen und Stühlen zu ihr und hob die Hand, um ihr zuzuwinken. In der nächsten Sekunde setzte mein Herz einen Schlag aus. Niamh war nicht allein! An ihrer Seite saß ein Mann, der selbst aus der Entfernung so gut aussah, dass es mir schier den Atem verschlug. Aus zusammengekniffenen Augen musterte ich sein Profil. Irgendwie kam er mir vage bekannt vor …

Bisher hatten weder er noch Niamh mich bemerkt. Also nutzte ich die Gelegenheit, das ungewöhnliche Paar näher in Augenschein zu nehmen. So wie er sich in seinem Rollstuhl vorbeugte, schien er nur Augen für Niamh zu haben, die ihn ihrerseits strahlend anhimmelte. Die beiden bekamen rein gar nichts von dem Trubel um sie herum mit. Sie hielten sogar Händchen!

Sicher wundert ihr euch, dass es mich derart aus der Bahn warf, meine Schwester beim Händchenhalten mit einem heißen Typen zu überraschen. Mit ihren siebenundzwanzig Jahren sollte Niamh schließlich alt genug sein, um ein erfülltes Liebes- oder Sex- oder was für ein Leben auch immer zu führen. Im Grunde ist das richtig. Doch meine Schwester ist in vielerlei Hinsicht ein Kind geblieben. Und das ist ganz allein meine Schuld.

In diesem Moment blickte Niamh auf. Mit einem begeisterten Leuchten in den Augen winkte sie mich herbei. „Ash, da bist du ja! Komm zu uns! Das ist Ethan Barlowe. Ihr müsst euch unbedingt kennenlernen! Sein großer Bruder Grayson kommt auch gleich.“

Grayson Barlowe?

Urplötzlich kostete es mich unglaubliche Mühe, einen Schritt vor den anderen zu setzen. Ich rang mir ein Lächeln ab und tat, als wäre alles in Ordnung. Dabei war nichts in Ordnung! Rein gar nichts. Das konnte nicht wahr sein! Ethans Bruder war doch nicht etwa …

Urplötzlich fühlte sich meine Kehle pelzig an. Ich schluckte mühsam. Doch! Die dunklen Züge, das seidig schwarze Haar, die graublauen Augen … Mit einem Mal wusste ich, an wen mich Niamhs Begleiter erinnerte. Die Brüder unterschieden sich nur in einem winzigen Detail: Um Ethans Augen rankten sich Lachfalten, die man in Graysons Miene vergeblich suchte.

Ich hielt ihm die Hand hin. „Hallo, Ethan! Schön, dich kennenzulernen.“

Einen seltsamen Augenblick lang geschah nichts. Schließlich schlug er mit der linken Hand ein. Erst da bemerkte ich, dass seine Rechte schlaff auf seinem Oberschenkel ruhte.

„G…ganz m…meiner…s…seits, Ash. Niamh h…hat mir so v…viel … v…von dir … erzählt.“ Offensichtlich kostete es ihn große Anstrengung, diese wenigen gestotterten Worte hervorzupressen. Ich bin Architektin und keine Neurologin, aber ich erkenne einen erworbenen Hirnschaden, wenn ich ihn sehe. Immerhin kümmere ich mich seit zwanzig Jahren um meine Schwester.

Jemand trat an unseren Tisch. Ich musste mich nicht umdrehen. Ein Hauch Aftershave wehte mir in die Nase. Zitrus. Bergamotte. Leder. Ein Schauder lief meinen Rücken hinab. Mein Herz pochte so schnell, als stünde ich kurz vor einem Infarkt. Vor noch nicht ganz drei Monaten hatte derselbe Geruch meine bislang schmerzhafteste berufliche Niederlage umwoben. Grayson Barlowe hatte den Hauptpreis des jährlichen Architekturwettbewerbs abgeräumt, auf den ich ein ganzes Jahr lang hingearbeitet hatte. Ich war naiv genug gewesen, an meinen Sieg zu glauben. Nicht aus Überheblichkeit oder weil ich meine kreativen Fähigkeiten überschätzte. Sondern weil alle meine Kollegen überzeugt gewesen waren, dass mein Entwurf die Auszeichnung verdiente und ich den Preis quasi in der Tasche hatte.

Nun, es kam anders.

Den zweiten Platz zu belegen, war natürlich auch ein Erfolg. Unter anderen Umständen wäre ich stolz gewesen. Doch es traf mich tief, dass ausgerechnet Grayson Barlowe mit hauchdünnem Vorsprung an mir vorbeigezogen war.

Die Rivalität zwischen uns reichte lange zurück. Im Grunde hatte alles mit seinem Großvater und meinem Vater begonnen, die sich ihr Leben lang bekriegt hatten. Seit dem Tod der beiden Männer hegte ich allein aus Respekt vor meinem Vater eine tiefe Abscheu gegenüber Grayson Barlowe.

Natürlich ist er ein hervorragender Architekt. Man könnte ihn sogar als Genie bezeichnen. Seine innovativen Entwürfe sind mit jedem wichtigen Preis der Szene ausgezeichnet worden. Ich bin unglaublich eifersüchtig auf seinen Erfolg! Der Ruhm scheint ihm zuzufliegen, ohne dass er sich dafür anstrengen müsste. Und wo wir schon von „zufliegen“ sprechen – zu allem Überfluss fliegen ihm auch die schönsten Frauen zu. Scharenweise werfen sie sich ihm an den Hals. Nun, ich jedenfalls nicht. Ich bin doppelt geimpft und für alle Zeit immun gegen diese Art von Anziehungskraft.

„Grayson!“ Ethan strahlte. „Darf ich dir meine Verlobte vorstellen?“

Verlobte?“, riefen Grayson Barlowe und ich wie aus einem Mund. Während seine tiefe Stimme überaus rau und sexy tönte, klang meine eher so, als wäre jemand versehentlich auf ein Quietschtier getreten.

Niamhs Lächeln strahlte noch heller als Ethans, als sie ihre linke Hand in die Höhe hielt. An ihrem Finger prangte ein teurer Ring, dessen funkelnde Diamanten beinahe das Leuchten in ihren Augen übertrafen. „Ethan hat mir einen Heiratsantrag gemacht. Am Montagabend. Das möchten wir heute hier mit euch feiern.“

Diese Neuigkeiten verschlugen mir die Sprache. Ich konnte nicht glauben, dass meine Schwester sich verliebt hatte, ohne dass ich etwas bemerkt hatte. Außerdem konnte ich mich neben Grayson Barlowe kaum auf den Beinen halten. Meine Knie waren butterweich, und aus unerfindlichen Gründen hätte ich mich ihm gern an den Hals geworfen, um ihn anzuhimmeln. Doch ich warf ihm nur einen verstohlenen Blick zu.

Sein schwarzgrauer Anzug betonte die breiten Schultern und seine durchtrainierten Beine. Ähnlich wie sein Bruder, trug er sein tintenschwarzes Haar nach hinten gekämmt. Doch anders als bei Ethan schimmerten an Graysons Schläfen bereits die ersten grauen Strähnen. Das verlieh ihm ein erhabenes und weises Aussehen, das ihn noch attraktiver wirken ließ.

Er wandte den Kopf in meine Richtung.

„Wusstest du etwas davon?“, fragte er knapp und vorwurfsvoll.

„Nein. Nicht das Geringste. Und du?“

Graysons Lippen verzogen sich zu einer flachen Linie. „Natürlich nicht.“ Mit zusammengezogenen Brauen wandte er sich wieder seinem Bruder zu. „Wie lange kennt ihr euch schon?“

„Sechs Wochen.“

„Sechs Wochen!“ Wieder sprachen Grayson und ich gleichzeitig. Na ja, er sprach, ich fauchte wie eine erschreckte Katze.

Eindringlich blickte ich Niamh an. „Wie kannst du nach so kurzer Zeit wissen, dass er der Richtige ist?“

Meine Schwester reckte ihr Kinn, ihre Augen funkelten wütend. „Wir wissen es einfach. Es war klar, als wir uns zum ersten Mal im Fitnessstudio begegnet sind. Ich dachte, du würdest dich für mich freuen, Ash! Ich hatte noch nie einen Freund, und Ethan ist so lieb und nett und …“

„Reich.“

Am liebsten hätte ich Grayson für diese Unverschämtheit eine Ohrfeige verpasst – allen Vorbehalten gegen Gewalt zum Trotz. Es ärgerte mich, dass er meiner Schwester unterstellte, sie sei hinter Ethans Vermögen her. Er kannte sie doch gar nicht!

Wutentbrannt baute ich mich vor ihm auf. „Was fällt dir ein?“

Grayson bedachte mich mit einem vor Zynismus triefenden Blick. „Ich möchte dich unter vier Augen sprechen.“ Mit einer Kopfbewegung bedeutete er mir, ihm zu folgen.

Wie hätte ich mich dieser Aufforderung widersetzen sollen? Welche Frau konnte Grayson Barlowe widerstehen? Außerdem wollte auch ich ihn außerhalb von Niamh und Ethans Hörweite sprechen. Eine Verlobung nach nur sechs Wochen? Das war lächerlich! Niamh war naiv und unschuldig und viel zu gutgläubig. Ich war drei Jahre mit Ryan zusammen gewesen, bevor wir uns verlobt hatten, und die Sache hatte in bitteren Tränen geendet. Seinen, nicht meinen.

Grayson und ich fanden ein kleines Besprechungszimmer am anderen Ende des Flurs. Die weichen Sofas aus Samt und die eleganten bodenlangen Seidenvorhänge erinnerten mich an ein gemütliches Wohnzimmer. In den Bücherregalen standen Reihen voll ledergebundener Schmöker, ein Schreibtisch aus Massivholz nahm die Mitte des Raumes ein. Der pastellpinke Teppich war so flauschig, dass ich bei jedem Schritt knöcheltief einsank. Ohne die kühle Marmorstatue des Hotelgründers neben dem Fenster und seinem strengen Portrait an einer der Wände hätte der Raum geradezu heimelig wirken können.

Mit einem lauten Klicken fiel die Tür hinter uns ins Schloss. Grayson musterte mich aus schmalen Augen, und es kostete mich alle Mühe, seinem Blick zu begegnen. Wegen seiner Größe musste ich zu ihm aufsehen. Das war neu für mich. Mein Ex-Verlobter hatte es gehasst, wenn ich hochhackige Schuhe trug. Aber selbst wenn ich in Graysons Gegenwart auf Stelzen ginge, müsste ich den Kopf noch in den Nacken legen. Ich ballte die Hände zu Fäusten, hielt mich kerzengerade und reckte mein Kinn.

„Wir müssen diese Angelegenheit sofort beenden.“ Seine Stimme klang entschlossen. Darin schien er mir ähnlicher, als mir lieb war. Wenn ich mir etwas in den Kopf gesetzt habe, ziehe ich es gegen alle Widerstände durch.

Obwohl ich ihm zustimmte, wollte ich mich nicht ohne Weiteres auf seine Seite schlagen. Nicht nach der beleidigenden Unterstellung, meine Schwester sei nur auf Ethans Vermögen aus.

„Was genau hast du dagegen?“ Mein Ton war klar und kühl. „Sie sind schließlich erwachsen.“

Graysons dunkle Augenbrauen zogen sich zusammen. „Deine Schwester sucht offensichtlich einen wohlhabenden Ehemann. Und mein Bruder hat sich ebenso offensichtlich vom Aussehen deiner Schwester blenden lassen.“

Meine Schwester sieht in der Tat umwerfend gut aus. Die Leute drehen sich auf der Straße nach ihr um. Aber das hieß nicht, dass sie so oberflächlich war, wie Grayson ihr vorwarf. Es ärgerte mich, dass er nicht einmal den Versuch unternahm, hinter die Fassade zu blicken. Denn Niamh war lieb, zärtlich und fürsorglich.

„Wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Frauen müssen nicht heiraten, um sich ein angenehmes Leben zu sichern.“ Nennt mich eine Heuchlerin, aber obwohl ich mich selbst als Feministin bezeichnen würde, sehne ich mich bisweilen nach einem treusorgenden Ehemann an meiner Seite. Einem Ehemann, der mir den Rücken freihält, mich anspornt und unterstützt. Der mich genauso liebt, wie ich bin. Bisher kam kein Mann in meinem Leben je an diese hehren Wünsche heran. Nicht einmal annähernd. Wahrscheinlich gibt es so einen Mann nur in meiner Fantasie.

Grayson presste die Lippen aufeinander. „Ich werde nicht zulassen, dass mein Bruder ausgenutzt wird.“

„Das ist eine gemeine Unterstellung.“ Offensichtlich wusste er nicht, wie es um meine Schwester stand. Anders als sein Bruder hatte Niamh keine sichtbare Behinderung. Ihre Einschränkungen waren eher intellektueller als körperlicher Art. Zum Beispiel liest sie auf dem Niveau eines Grundschulkinds und kann nur einfache Rechenaufgaben lösen. Außerdem ist ihre Gedächtnisleistung sehr eingeschränkt, weshalb kompliziertere Aufgaben sie schnell überfordern. Durch ihre Alltagshelfer erhält sie die größtmögliche Unterstützung, und natürlich tue ich, was ich kann. Vor allem seit Mum vor dreieinhalb Jahren gestorben ist. Niamh und ich waren schon immer ein eingeschworenes Team. Und – lasst euch das gesagt sein! – diese Welt ist nicht immer ein schöner Ort für Menschen, die nicht der Norm entsprechen. Oder für ihre Pflegepersonen.

Grayson fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Ich sah ihm dabei fasziniert zu und stellte mir vor, wie diese langen Finger langsam meine nackten Beine hinaufstrichen. Ein Schaudern rief mich zur Ordnung. Ich schluckte schwer. Verdammt! Ich musste mich zusammenreißen! Was mir nicht schwerfallen sollte, da es die Haltung ist, mit der ich üblicherweise durchs Leben gehe. Immer zum Kampf bereit. Keine Ahnung, wo diese absurde Fantasie über Grayson plötzlich herkam. Es ist lange her, seit mich überhaupt jemand berührt hat. Und wenn ich mich nach Streicheleinheiten sehnte, gab es Tausende, wenn nicht Abertausende Männer, die dafür eher infrage kämen als mein Erzrivale.

Grayson blickte mich wieder an. Mit einem sanften Rieseln zog eine Gänsehaut über meinen ganzen Körper. Wie faszinierend seine Augen waren! Gletscherblau mit kleinen grauen Flecken, gerahmt von langen dichten Wimpern. Ich verspürte einen leichten Stich Eifersucht. Warum brauchte ich drei Schichten Mascara und ein teures Serum, um meine Wimpern überhaupt sichtbar zu machen?

„Was macht deine Schwester beruflich?“

„Sie arbeitet als Freiwillige in einem Tierheim.“ Ich befeuchtete meine Lippen mit der Zungenspitze. „Wie steht es um deinen Bruder?“

Graysons Augen folgten der Bewegung meiner Zunge. Etwas Weiches, Fedriges flatterte in meinem Bauch herum. Doch schon blinzelte er hastig, und seine Miene verschloss sich, als hätte jemand einen Rollladen heruntergelassen.

„Ich habe ihm eine Teilzeitstelle in meiner Firma gegeben.“ Selbst diese knappe Antwort gab mehr über Grayson preis, als er mir vermutlich mitteilen wollte. Ich verstand seine Botschaft, weil seine Sorge um seinen Bruder meiner Sorge um meine Schwester glich. Angesichts der Einschränkungen unserer Geschwister lebten wir beide in einer Welt voller Reue, Schuld, Schmerz und stiller Verzweiflung. Ich würde diese Welt nie wieder verlassen. So sehr ich mir auch wünschte, ich könnte die Zeit zurückdrehen und die Ereignisse auf diesem verdammten Spielplatz ungeschehen machen.

Grayson runzelte die Stirn. „Geht es dir gut?“

Nun war es an mir, hastig zu blinzeln. Dies war nicht der Moment, mich von der Vergangenheit überwältigen zu lassen. Oder von seinem Blick. In den vergangenen zwanzig Jahren hatte ich meine Gefühle so tief in mir verschlossen, dass ich beinahe vergessen hatte, dass es sie gab. Beinahe.

Meine kleine Schwester wollte heiraten, und das durfte ich ihr nicht erlauben. Zumindest musste ich sie überzeugen, weniger überstürzt zu handeln, und sicherstellen, dass sie wusste, was sie tat. Schließlich hatte sie keinerlei Erfahrung mit Männern. Und hatte ich nicht mein ganzes Leben damit verbracht, sie vor weiterem Schmerz zu bewahren, nachdem ich dieses eine entscheidende Mal versagt hatte? Ich ertrug es nicht, sie leiden zu sehen – und verletzte Gefühle waren das schlimmste Leid. Wer, wenn nicht ich, sollte das wissen? Schließlich quälte ich mich schon so viele Jahre genau damit.

Ungeduldig wischte ich mir über die Augen. „Ich habe eine Allergie. Diese frischen Blumen im Restaurant …“

Mit einem Griff in die Jackentasche hielt er mir ein ordentlich gefaltetes, schneeweißen Stofftaschentuch hin. Ich starrte darauf, als hätte ich noch nie ein Taschentuch gesehen. Was stimmte, denn wie die meisten modernen Menschen benutzte ich Papiertaschentücher. Dass Grayson ein frisch gewaschenes und offensichtlich sogar gebügeltes Stofftaschentuch besaß, ließ vermuten, dass er in seinem tiefsten Inneren ein konservativer Mensch war. Oder tat er das vielleicht für die Umwelt? Wollte er die Wälder retten, die abgeholzt und zu Papiertaschentüchern verarbeitet wurden?

„Nimm ruhig.“ Seine Stimme klang wie die eines Drill-Instruktors. Ich wollte schon aus Prinzip ablehnen, ich wusste aber, dass ich in meiner Handtasche keine Papiertaschentücher finden würde. Tampons, Mintbonbons, Lippenstift, Kopfschmerztabletten, Desinfektionsmittel und schicke neue Visitenkarten, die mich ein Vermögen gekostet hatten, aber keine Taschentücher. Meine letzte Packung hatte ich Niamh vor zwei Tagen gegeben, als sie Nasenbluten gehabt hatte. Seitdem hatte ich noch keine nachgekauft.

Ich war gezwungen, sein Angebot anzunehmen. Wie zufällig berührten sich unsere Finger. Da traf mich ein Energiestoß, so überwältigend wie ein elektrischer Schlag. Vorsichtig hob ich sein Taschentuch an meine Augen, tupfte sie trocken, und überlegte kurz, ob ich mich auch schnäuzen sollte. Vielleicht würde das meiner Lüge etwas mehr Authentizität verleihen. Doch ich entschied mich dagegen. Ich war noch nie eine dezente Schnäuzerin gewesen. Wenn nicht als Walross, so könnte ich glatt als Nebelhorn durchgehen.

Neben dem Geruch nach Waschmittel hing auch ein Hauch von Graysons Aftershave in dem Stoff. Eine verführerische Mischung aus Zitrus, Bergamotte, Leder und seiner ganz eigenen männlichen Note. Ich ließ den Stoff sinken und faltete das Tuch klein zusammen. Ich musste etwas mit meinen Händen tun. Sonst könnte ich dem Drang, Grayson zu berühren, mit Sicherheit nicht widerstehen. Doch statt meiner Hände wurde mein Blick wie von einem starken Magneten zur perfekt geschwungenen Linie seines Mundes gezogen. Seine Unterlippe hatte eine sinnliche Üppigkeit, auf der seine Oberlippe schmal und scharf konturiert ruhte. Als hätte ein Bildhauer hier sein Meisterwerk vollendet. Dieser Mund verhieß Leidenschaft, zeugte aber auch von Vorsicht. Niemals würden diese Lippen zu viel preisgeben. Sie würden sich stets hüten, sich auch nur einen Millimeter zu weit zu öffnen.

Ich unterdrückte ein Schaudern. Ich durfte nicht weiter darüber nachdenken, wie wunderbar es sich anfühlen könnte, Grayson Barlowe zu küssen. Wunderbar und aufregend! Aber das war absolut undenkbar.

Ich stopfte das Taschentuch in meine Handtasche. „Ich werde es waschen und dir dann zurückgeben.“

„Behalt es.“

Ich zuckte mit den Schultern, als wäre es mir egal. Dabei gebe ich geliehene Sachen immer zurück. Gute Manieren und so. Und wenn wir schon bei Manieren sind … Niamh und Ethan hatten uns eingeladen, um gemeinsam ihre Verlobung zu feiern. Nun diskutierten wir hinter verschlossenen Türen, statt in der blumengeschmückten Hotelbar auf ihre glückliche Verbindung und ihre rosige Zukunft anzustoßen.

„Also, was willst du gegen die Verlobung deines Bruders unternehmen?“, fragte ich.

„Sie auflösen, was sonst?“

Ich zog eine Augenbraue hoch. „Und wie willst du das anstellen?“

Seine Nasenflügel blähten sich, als er heftig ausatmete. Er erinnerte mich an einen reinrassigen Hengst, der einen Rivalen zum Kampf forderte. „Ich werde ihn schon zur Besinnung bringen.“

„Viel Glück. Wo er doch ganz und gar hingerissen von meiner Schwester zu sein scheint.“

Graysons Miene verhärtete sich. „Du glaubst doch nicht ernsthaft, dass die beiden verliebt sind?“

„Wenn es nicht Liebe ist, ist es vielleicht Lust?“ Ich wünschte sofort, ich hätte mir diese Bemerkung verkniffen. Hitze stieg in meine Wangen. Als hätte nur die Erwähnung eines so aufgeladenen Wortes wie „Lust“ etwas Verruchtes in dieses heimelige Besprechungszimmer gebracht. Etwas Verruchtes und Verbotenes. Etwas, das jeden Moment außer Kontrolle geraten könnte. Als hielte jemand ein Zündholz an trockenes Holz. Ich konnte die Flammen schon knistern hören. Das Inferno stand kurz bevor.

Grayson musterte mich eindringlich. So intensiv hatte mich noch nie ein Mann angeblickt. In der Luft zwischen uns pulsierte eine Spannung, die sich mit jeder Sekunde weiter auflud. Endlich senkte er den Blick. Doch nur bis zu meinen Lippen, wo er einige weitere endlose Sekunden verweilte.

Ich hielt den Atem an. Mein Puls beschleunigte, bis mein Herz nur so in meiner Brust hüpfte.

„Was auch immer sie füreinander empfinden, es wird nicht von Dauer sein.“

„Du glaubst wohl nicht an die wahre Liebe?“

„Du etwa?“

Ich hasse es, wenn jemand eine Frage mit einer Gegenfrage beantwortet. Ich schätze, das ist Graysons bewährte Strategie. Er ist nicht der Typ, der seine Gefühle oder sein Privatleben offenbart.

„Manche haben das Glück.“ Ich lächelte steif.

Er warf einen Blick auf meinen Ringfinger. „Du wohl nicht?“

Dass so viele Kollegen in der Architekturszene von meiner geplatzten Verlobung wissen, hasse ich noch mehr als Gegenfragen. Die Sache war nur wenige Tage vor der Hochzeit in die Brüche gegangen. Natürlich gab das einen Skandal, der wie ein Lauffeuer die Runde machte.

„Sagen wir, ich kam gerade noch mal davon.“

Grayson schnaubte leise. Lachte er? Oder war das ein weiterer Ausdruck seines Zynismus? Oder etwas ganz anderes? Er stand mindestens einen Meter von mir entfernt. Doch seine männliche Energie füllte den Raum und machte mir meine Weiblichkeit auf nie gekannte Art und Weise bewusst. Meine Haut prickelte, mein Herz raste, und eine prickelnde Hitze sammelte sich an meinen geheimsten Stellen. Stellen, an die ich ausgerechnet jetzt keinesfalls denken wollte! An die ich seit Jahren nicht gedacht hatte. Seit meinem Ex-Verlobten hatte ich keinen Liebhaber mehr gehabt. Bis zu diesem Augenblick hatte ich mich zu niemandem hingezogen gefühlt. Was passierte hier? Was dachte ich mir bloß? Mit meinem Erzrivalen ins Bett zu gehen, war ein absolutes No-Go. Außerdem durfte ich mich nicht von dem eigentlichen Grund unserer Begegnung ablenken lassen: Meine Schwester und sein Bruder hatten sich … schluck … verlobt.

Grayson stützte sich mit einer Hand auf einer Sofalehne ab. „Sind wir uns einig, dass wir Ethan und Niamh dazu bringen müssen, ihre Verlobung zu überdenken?“

„Ich wüsste nicht, wie wir das bewerkstelligen sollen.“ Natürlich war das keine Antwort auf seine Frage. Aber ich wollte mich auf nichts einlassen, was meine Schwester verletzen würde. Niamh war felsenfest überzeugt, dass Ethan und sie füreinander bestimmt waren. Sie hatte sich Hals über Kopf verliebt. Und natürlich war sie begeistert von dem riesigen Diamantring an ihrem Finger! Seit ihrer Kindheit hatte sie von einem romantischen Antrag geträumt. Die Tatsache, dass sie in vielerlei Hinsicht immer noch ein Kind war, bedeutete nicht, dass ihre Träume nicht wahr werden konnten. Sie wäre zutiefst verletzt, wenn Grayson und ich ihren Hoffnungen ein jähes Ende setzten.

Wer war ich, ihre schillernde Seifenblase platzen zu lassen? Vielleicht war dies nicht nur ihre erste, sondern auch ihre einzige Gelegenheit, eine Beziehung zu führen? Ich trug die Schuld daran, dass sie war, wie sie war. Und obwohl ich sie am liebsten vor allem Leid und Schmerz beschützen und immer für sie sorgen wollte, durfte ich ihr Glück nicht leichtfertig aufs Spiel setzen. Sie verdiente es, geliebt zu werden. So wie wir alle. Auch wenn ich Ethans Beweggründe nicht genau kannte, so war auf den ersten Blick klar, dass er sie vergötterte. Vielleicht war das nur eine vorübergehende Verliebtheit. Wenn dem so war, wenn Ethans Gefühle schneller abkühlten als die Niamhs, würde die Trennung meiner Schwester das Herz brechen. Dann würde es meine Aufgabe sein, die Einzelteile aufzusammeln und neu zusammenzusetzen.

Darin habe ich einige Erfahrung. Das Herz meiner Mutter brach, als mein Vater sich nach einem fehlgeschlagenen Geschäftsdeal das Leben nahm. Nach einem geplatzten Geschäft mit Grayson Barlowes Großvater, um genau zu sein. Das befeuerte nicht nur die alte Fehde zwischen unseren Familien. Der Tod meines Vaters ließ meine Mutter, Niamh und mich beinahe mittellos zurück. Kein Wunder, dass Mum keine Kraft mehr hatte. Obwohl die Ehe meiner Eltern ein einziges Auf und Ab gewesen war, hatte mein Vater für uns gesorgt. Zum Glück gelang es mir, meine Mutter wiederaufzurichten. Doch dann kam Niamhs Unfall. Dieser weitere Schicksalsschlag gab ihr den Rest. Nur zwei Jahre nach dem Freitod ihres Ehemanns trug ihre Lieblingstochter einen bleibenden Hirnschaden davon. Man könnte sagen, dass ich schnell erwachsen werden musste. Selbst das ist eine Untertreibung. Ich hatte nicht einmal Zeit, um meinen Vater zu trauern, bevor ich mich meiner Schuld am Unglück meiner Schwester stellen musste. 

„Wir setzen uns mit ihnen zusammen und reden es ihnen aus.“ Graysons Stimme schnitt durch meine schmerzhaften Erinnerungen.

Wir? Er wollte mich an seiner Seite? Schon der Gedanke, mich mit ihm zu verbünden, verursachte ein seltsames Flattern in meinem Bauch. Irgendetwas, das gleichermaßen Aufregung wie Angst sein konnte. Ich ließ mich auf das Sofa fallen, hinter dem er stand. Nicht, weil ich es bequem haben wollte. Aber meine Knie drohten, unter mir nachzugeben. Graysons bestimmtes Auftreten schüchterte mich ein. Zugleich konnte ich meinen Blick nicht von ihm wenden. Er sah so verdammt gut aus! Sogar wenn er wie jetzt die Stirn runzelte.

Autor

Melanie Milburne
<p>Eigentlich hätte Melanie Milburne ja für ein High-School-Examen lernen müssen, doch dann fiel ihr ihr erster Liebesroman in die Hände. Damals – sie war siebzehn – stand für sie fest: Sie würde weiterhin romantische Romane lesen – und einen Mann heiraten, der ebenso attraktiv war wie die Helden der Romances....
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