Im Rausch unseres Verlangens

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Scarlett weiß: Der sexy Tycoon Javiero Rodriguez verachtet sie, weil sie für das Unternehmen seines verhassten Vaters arbeitet. Als sie ihm unvermittelt bei einem Jobtermin gegenübersteht, herrscht trotzdem eine unwiderstehliche Anziehungskraft zwischen ihnen. Wie im Rausch erliegt sie der Verlockung und gibt sich ihm hin - einmal und nie wieder! Doch wenig später entdeckt sie, dass ihr sündiger Liebesnachmittag nicht ohne Folgen blieb. Noch schockierender ist allerdings das unmoralische Angebot, das Javiero ihr daraufhin macht …
  • Erscheinungstag 27.02.2024
  • Bandnummer 2480
  • ISBN / Artikelnummer 9783963691799
  • Laufzeit 05:03:00
  • Audio Format mp3-Download
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Leseprobe

1. KAPITEL

Die Fruchtblase ist geplatzt.

Wenn ich nicht hinsehe, ist es auch nicht wahr, hoffte Scarlett Walker entsetzt. Sie starrte auf ihre Handtasche, die an einem Haken in der Toilettenkabine hing, und wünschte inständig, dass sie sich irrte.

Aber sie wusste Bescheid. So etwas konnte man nicht missverstehen. Nein, nein, nein. Es sollte doch erst nächste Woche passieren, in der Villa auf der Insel, die seit sechs Jahren ihr Zuhause war. Von ihr aus hätte es auch letzte Woche geschehen können, als sie am Krankenbett ihres Chefs gewacht hatte. Irgendwann, nur nicht heute. Nicht jetzt.

Bitte nicht jetzt.

Ihr Wunsch erfüllte sich nicht. Eigentlich hätte sie es ahnen können. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten nämlich so aufgeregt herum, dass sie ihr Baby förmlich hinaustrieben – kurz bevor Scarlett den Konferenzraum betreten und eine kleine, ungemein explosive Gruppe von Leuten treffen sollte. Einschließlich des Vaters ihres Babys.

Was er wohl sagen würde?

Dynamisch, mächtig und einschüchternd war Javiero Rodriguez in ihren Augen schon gewesen, bevor sie mit ihm geschlafen hatte. Die letzten neun Monate hatte sie sich vor dem Wiedersehen gefürchtet und zugleich darauf gefreut.

Nun musste sie möglichst schnell ins Krankenhaus.

Herzlichen Dank, Baby, dachte sie halb ironisch und halb hysterisch. Wenigstens brauchte sie den Leuten im Konferenzraum nicht zu begegnen. Gerettet!

Heute machte sie ihrem Namen wirklich alle Ehre. Wenn jemand aus einem alltäglichen Ereignis eine kitschige Seifenoper machen konnte, dann ein Mitglied der Familie Walker. Am liebsten hätte Scarlett sich wieder auf die Toilette gesetzt und die Augen aus dem Kopf geweint.

Dafür fehlte ihr allerdings die Zeit. Verzweifelt schluchzte sie auf, kramte mit unsicheren Fingern ihr Handy aus der Handtasche und schrieb Kiara, ihrer besten Freundin.

Meine Fruchtblase ist geplatzt. Hilfe!

Dann zog sie den Rock hoch, in den sie sich eben erst mühsam geschlängelt hatte. Nur ihr Baumwollslip und ein Schuh waren nass. Sie zerrte das wenig schmeichelhafte Höschen mit dem elastischen Vorderteil herunter und warf es in den Mülleimer.

Das brauche ich nicht mehr.

Mit zittrigen Beinen hastete sie aus der Toilettenkabine, ließ am Waschbecken Wasser über ein Papiertuch laufen und schnappte sich einen Stapel zusammengefalteter Papiertücher vom Regal. Heilfroh, weil niemand sonst hier war, schob sie sich wieder in die schmale Kabine und schloss die Tür. Ein paar Tücher ließ sie in die Pfütze fallen, die sie auf dem Boden hinterlassen hatte. Mit den übrigen machte sie rasch Katzenwäsche.

„Es kann jeden Tag so weit sein“, hatte ihr Arzt gestern gesagt, doch der Satz war zum einen Ohr rein- und zum anderen wieder rausgegangen. Hatte sie ernsthaft erwartet, dieses Baby würde ewig in ihrem Bauch bleiben?

Irgendwie schon. Sie war so beschäftigt gewesen, dass sie sich nicht erlaubt hatte, an etwas anderes zu denken als daran, alles für die gesunde Entwicklung ihres ungeborenen Kindes zu tun. Wie genau es zur Welt kommen oder die Geburt ablaufen würde, hatte sie sich nicht überlegt.

Woher sollte sie die Zeit für Wehen nehmen, wenn sie Nikos Bestattung organisieren und weiterhin sein Vermögen verwalten musste? Außerdem stand Kiaras Ausstellung in Paris bevor. Scarlett hatte versprochen, ihrer Freundin mit dem Exposé zu helfen, und sich sogar eingebildet, sie könne zur Vernissage anreisen.

Nächste Woche ist der Geburtstermin, und in drei Wochen willst du nach Paris fliegen?

Verdrängung war eine tolle Sache – solange sie funktionierte. Und das tat sie schlagartig nicht mehr, als Scarlett auf den feuchten Tüchern stand, Kiaras Antwort herbeisehnte und die Frage verdrängte, wie Javiero auf die heutigen Neuigkeiten reagieren mochte.

Auf diese Neuigkeit.

Nicht zum ersten Mal wünschte sie sich, sie könnte die Uhr zurückdrehen und sich anders verhalten. Damals hatte ihr Chef eine weitere Therapie abgelehnt und Scarlett mit manchen Entscheidungen in Bezug auf seine abtrünnigen Söhne frustriert. Vielleicht verdienten die beiden keine besondere Rücksichtnahme, schließlich hatten sie sich geweigert, ihren todkranken Vater zu besuchen. Trotzdem war es für Scarlett ein Gebot des Anstands gewesen, den Halbbrüdern eine letzte Chance zu geben.

Valentino Casale hatte sich nie kooperativ gezeigt, deshalb war seine Abfuhr nicht überraschend gekommen. Javiero hingegen besaß mehr Familiensinn. Ein Herz.

Jedenfalls wollte sie das glauben.

Vielleicht war der Wunsch Vater des Gedankens.

Auf jeden Fall besaß Javiero eine Ausstrahlung, die sie bei den wenigen Begegnungen ziemlich verwirrt hatte. Es war enorm mühsam gewesen, ihre Reaktion auf ihn zu verbergen.

Bestimmt hatte er sie trotzdem durchschaut. Er war einfach zu attraktiv, weltmännisch und erfahren, um nicht zu erkennen, wenn eine Frau für ihn schwärmte. Womöglich hatte er insgeheim sogar über Scarlett gelacht – und deshalb an jenem Tag die Initiative ergriffen. Weil ihm klar gewesen war, dass sie in ihrer Fantasie schon tausend Mal mit ihm geschlafen hatte und es endlich auch in Wirklichkeit tun wollte.

Damit gerechnet hatte sie nicht. Nicht ernsthaft. Mit dem Treffen hatte sie ohnehin schon ihre Befugnisse überschritten und die Anweisungen ihres Chefs missachtet. Noch immer wusste sie nicht genau, warum sie in Madrid gewesen war. Geschweige denn, wie sie in Javieros Bett gelandet war.

Ihr Gerechtigkeitssinn hatte sie getrieben, so viel stand fest. Ob auch Nikos schlechter Zustand damals vor neun Monaten eine Rolle gespielt hatte? War dadurch ihre Sehnsucht geweckt worden, das Leben zu feiern, um den Schatten zu entkommen, die der nahende Tod ihres Chefs warf?

Oder war es schlicht ihr heimliches Verlangen gewesen, ein letztes Mal jenen Mann zu sehen, den sie nach Nikos Tod nie mehr treffen würde?

Danach würde Javiero sie links liegen lassen, schließlich tolerierte er sie nur seiner Mutter zuliebe. Er behandelte Scarlett zwar nicht feindselig, aber geringschätzig. Es störte ihn, dass sie für seinen Vater arbeitete. Er konnte sie nicht respektieren.

Vielleicht hatte sie auch an jenem Tag die Realität verleugnet. Ausgeblendet, dass die leidenschaftlichen Stunden ihr Leben verändern oder dass sie und Javiero ein neues Leben zeugen könnten! Als der Arzt ihre Schwangerschaft bestätigt hatte, war ihr klar gewesen: Ich will dieses Baby unbedingt bekommen. Dass sie Javieros Kind erwartete, empfand sie sogar als ausgleichende Gerechtigkeit.

Nicht, dass Niko ihrer Meinung gewesen wäre. Ein harter Mann. Ein Albtraum von Chef. Zynisch hatte er ihre Beweggründe hinterfragt, als sie ihm von der Schwangerschaft erzählt hatte. Gefolgt war ein seltener Streit. Selten, weil Scarlett normalerweise immer tat, was er befahl.

„Sie haben mich hintergangen“, hatte er ihr vorgeworfen.

„Ich habe Ihren Söhnen erzählt, dass Sie im Sterben liegen, weil sie verdienen, es zu erfahren.“

Überraschenderweise hatte ihr der Widerspruch Nikos Respekt eingebracht. In den Augen ihres Chefs hatte sie bewiesen, dass sie zäh genug war, um sein Erbe zu verwalten. Auch ihr Baby hatte er in seinem Testament bedacht. Es würde jene Hälfte seines Vermögens erben, die Javiero ablehnte.

Obwohl die Schwangerschaft ihr Leben auf den Kopf stellte, bereute Scarlett sie nicht. Sie streichelte ihren Babybauch und freute sich darauf, ihren Sohn oder ihre Tochter kennenzulernen.

Nur. Nicht. Heute.

Wo bleibt Kiara?

Ein schwacher Schmerz meldete sich in ihrem unteren Rücken, wurde stärker und stieg in die Körpermitte. Eine Wehe?

Tja. Natürlich hatte sie Wehen! Was hatte sie denn gedacht? Dass sie in den Konferenzraum marschieren würde, so nackt unter ihrem Rock wie ein Schotte unter dem Kilt, dem Vater ihres Babys in die Augen sehen und ihm erklären würde …

Sie vergrub das Gesicht in beiden Händen und verkniff sich ein Wimmern.

Erleichtert ließ sie die Hände sinken, weil jemand hereinkam. Durch den Türspalt sah sie, dass der Neuankömmling weder Kiaras üppige Rundungen noch ihre schwarzen Locken hatte.

Du liebe Güte. Die schlanke Frau im cremeweißen Kostüm war Paloma Rodriguez, Javieros Mutter.

Scarlett fluchte nie, doch jetzt legte sie den Kopf in den Nacken und schleuderte stumm einige äußerst ungehörige Schimpfworte an die Decke. Noch einmal simste sie Kiara. Die hatte ihr Handy wahrscheinlich wegen der Besprechung ausgestellt.

Vor dem Spiegel strich sich Javieros Mutter die Haare glatt und kontrollierte ihr Make-up. Offenbar war es ihr wichtig, sich im Konferenzraum makellos zu zeigen – vor allem im Konkurrenzkampf mit ihrer Rivalin um die Zuneigung ihres toten Mannes.

Scarlett musste in Sekundenschnelle entscheiden. Egal, wie dieser Tag verlief: Javiero würde endlich erfahren, dass sie sein Kind bekam. Und er sollte es von ihr selbst hören.

Als seine Mutter das Bad verlassen wollte, zwang Scarlett sich, etwas zu sagen. „Señora Rodriguez?“ Sie hörte, dass ihre Stimme bebte. „Ich bin es, Scarlett.“

Paloma blieb stehen und fragte ebenso überrascht wie argwöhnisch: „Ja?“

„Wartet Javiero im Flur auf Sie?“

„Ja.“

„Ich würde ihn gern sprechen. Unter vier Augen. Äh … hier.“

„Warum?“, fragte die Spanierin eisig.

Für eine Hochschwangere war es nicht leicht, die Tür zu öffnen. Scarlett bugsierte ihren Körper aus der Kabine, und Palomas Blick heftete sich auf ihren Babybauch. Der Frau fielen fast die Augen aus dem Kopf.

„Ich muss mit ihm reden.“ Eine neue Wehe ließ Scarlett nach Luft schnappen.

Javiero Rodriguez war weder körperlich noch mental fit für einen Auftritt in der Öffentlichkeit.

Er hatte zwar geduscht, sich aber nicht rasiert. Vor seinem Abflug aus Madrid war er auch nicht mehr beim Friseur gewesen. Das sah ihm gar nicht ähnlich. Den Löwenanteil seiner dreiunddreißig Jahre hatte er an Traditionen festgehalten und Erwartungen erfüllt. Schließlich musste er einer Dynastie zu altem Glanz verhelfen, den guten Ruf seiner Mutter wiederherstellen und seine Überlegenheit beweisen.

All dies und noch mehr hatte er erreicht. Inzwischen war sein Konzern eine dominante Größe auf den Finanzmärkten und er einer der begehrtesten Junggesellen der Welt. Charmant, klug und ein ausgezeichneter Tänzer, der sich erlesen kleidete.

Zufrieden war er dennoch nie gewesen. Ein Happy End gibt es nur im Märchen, sagte er sich. Javiero kannte Geldsorgen und wusste, wie es war, sich machtlos zu fühlen. Sein Vater hatte ihn geringschätzig behandelt und sein Vertrauen missbraucht. Keinen Finger gerührt, um dem Sohn aus der Grube zu helfen, in die er ihn gestoßen hatte. Seit dem Tod seines geliebten Großvaters kannte Javiero auch Trauer. Heute wusste er: Langeweile ist das Beste, worauf man hoffen darf.

Vor drei Wochen war er beinahe gestorben. Er hatte ein Auge verloren und Narben davongetragen, die für den Rest seines Lebens bleiben würden. Wie ein Monster sah er aus, und so fühlte er sich auch.

Genervt fuhr er sich mit einer Hand durch die Haare. Als er mit den Fingerspitzen die Stelle berührte, wo die Ärzte seine Kopfhaut wieder angenäht hatten, ließ er die Hand angewidert sinken.

Es war grausam, seine schauerliche Gestalt arglosen Angestellten zuzumuten, die sich gerade einen Kaffee holten, aber seine Mutter brauchte Verstärkung. Sie war an seiner Seite geblieben, als fast alle anderen Menschen einen Bogen um ihn gemacht hatten. Verwandte, die er finanziell unterstützte, hatten einen Blick auf ihn geworfen und ihre Kinder außer Sichtweite gebracht. Seine Ex-Verlobte, die sich wegen ihrer exotischen Haustiere für interessant hielt, hatte ihn wie eine heiße Kartoffel fallen lassen.

Ihre Zurückweisung hatte lediglich sein Ego verletzt. Die geplante Hochzeit war der Versuch gewesen, seinen Stolz zu wahren. Das sah er jetzt ein, und seine ohnehin schon miese Laune sank auf einen weiteren Tiefpunkt. Was bin ich bloß für ein erbärmlicher Dummkopf!

Grimmig und gehässig war er geworden. Die beiden Eigenschaften hatten sich ebenso tief in ihm eingraben wie die Narben auf seinem Gesicht und auf dem Rest seines Körpers. Wie ein heimtückisches Virus waren sie in seine Knochen gedrungen, bis sich die Gelenke steif anzufühlen begannen und sein Herz wie ein Betonklotz.

Mit seinem verbliebenen Auge starrte er durch das Fenster hinunter auf die Straßen von Athen. Eigentlich hatte er keinen Fuß mehr in diese Stadt setzen wollen.

„Ihre Familie soll einen beträchtlichen Teil des Nachlasses erben“, hatte der Anwalt seines Vaters erklärt. „Alle Beteiligten müssen beim Verlesen des Testaments anwesend sein, damit die Umsetzung erfolgen kann.“

Javiero wollte das Geld seines Vaters nicht. Er wollte nicht in diesem Bürokomplex seines Vaters sein und erst recht keine weitere Version der Frage hören, was der für gerecht hielt.

Seiner Mutter zuliebe hatte er nachgegeben. Nikolai war furchtbar mit ihr umgesprungen, dafür verdiente sie einen Ausgleich. Wenn Javieros Anwesenheit half, ihr zu verschaffen, was ihr rechtmäßig längst gehören sollte, dann machte er mit.

Allerdings brachte er es nicht fertig, gute Manieren an den Tag zu legen. Die Aussicht auf die Tirade seiner Mutter strapazierte seine Geduld. Sie würde ein weiteres Mal argumentieren, dass ihr Sohn Nikos legitimer Erbe war und Javiero deshalb der gesamte Nachlass zustand, und nicht dem unehelichen Kind ihres Mannes.

Anschließend würde Nikos einstige und hinterhältige Geliebte Evelina natürlich das Erbe für Val, ihren eigenen Sohn, beanspruchen, weil der zwei Tage älter als Javiero war.

Meins, meins, meins.

Javiero wünschte, der verdammte Jaguar hätte ihn umgebracht.

Was Scarlett betraf … Während seiner Zeit im Krankenhaus hatte sie einmal angerufen. Ein einziges Mal. Im Auftrag seines sterbenden Vaters. Seine Mutter hatte ihr gesagt, dass Javiero überleben würde. Mehr hatte Scarlett nicht wissen müssen. Kein weiteres Wort von ihr, keine Karte, keine Blumen. Nichts.

Warum wurmte ihn das? Mit Ausnahme des letzten Zusammentreffens war sie stets Nikos geschäftsmäßige und souveräne Assistentin gewesen. Fast schon krankhaft in ihrer Ergebenheit dem Chef gegenüber. Sie kreuzte auf in einem ihrer Bleistiftröcke, die blonden Haare im Nacken zusammengebunden, ebenso perfekt wie dezent geschminkt, und trieb ihn mit ihrer eingleisigen Agenda zur Weißglut.

„Ich soll Ihnen von Ihrem Vater ausrichten: Er weiß, dass Sie hinter der feindlichen Übernahme in Deutschland stecken. Und er ist bereit, Ihnen die Leitung seines Konzerns zu überlassen, wenn Sie nach Athen zurückkehren und seine Geschäfte führen.“

Nein.

Oder: „Evelina hat Geld gefordert. Niko ist dieser Forderung nachgekommen. Hier ist dieselbe Summe für Ihre Mutter. Falls Sie mit ihm darüber reden möchten …“

Nein.

Und dann das letzte Treffen. „Ihr Vater hat sämtliche Therapieoptionen ausgeschöpft. Er wird dieses Jahr wohl nicht überleben. Jetzt wäre der richtige Zeitpunkt, um ihn zu besuchen.“

Nein.

Endlich war sie aus der Rolle gefallen. Faszinierend. Sie begriff nicht, wieso er sich einen Dreck um seinen Vater oder dessen Geld scherte. „Wollen Sie nicht haben, was Ihnen rechtmäßig zusteht? Was, wenn alles an Val fällt?“

Da war er hellhörig geworden. Ginge es nach Javiero, könnte Val jeden verfluchten Euro kriegen, doch dann wäre seine Mutter am Boden zerstört. Wollte Niko seinem unehelichen Sohn denn alles vererben?

Nein, beteuerte Scarlett. Das war nicht die ganze Wahrheit. „Besuchen Sie ihn“, drängte sie und blickte drein, als würde sie ihn notfalls am Ohr zu Niko zerren. Warum war sie derart vehement? Dass sie seinen Vater liebte, schied aus, denn sie sagte nie ein schlechtes Wort über ihn – aber auch nie ein gutes.

Javiero spürte, dass es irgendein Geheimnis gab. Trotzdem lehnte er ab, verärgert, weil Scarlett in ihm den Wunsch weckte, das Geheimnis zu lüften. Er wollte sie begleiten, obwohl er geschworen hatte, seinen Vater unter keinen Umständen wiederzusehen.

Scarletts Besuch hatte so etwas Endgültiges gehabt. Heute siehst du sie zum letzten Mal, war ihm klar geworden. In dem Machtkampf hatte plötzlich Verzweiflung mitgeschwungen. Die knisternde sexuelle Spannung zwischen ihnen war überwältigend gewesen und in einem leidenschaftlichen Moment explodiert, der Javiero verunsichert hatte.

Offenbar nur ihn. Noch Monate später dachte er an Scarlett. Sie war abgereist, um weiter für einen Mann zu arbeiten, der ihn anwiderte.

Damals hatte er nicht so scheußlich ausgesehen. Ob seine Verletzungen sie abstoßen würden?

Warum sollte es ihn kümmern, was sie dachte?

„Javiero.“ Seine Mutter klang aufgewühlt und seltsam triumphierend. Sie trug die schwarzen Haare wie gewohnt zum Dutt gesteckt, doch unter dem Make-up war sie blass. Mit einem habgierigen Glitzern in den blaugrünen Augen nickte sie Richtung Damentoilette: „Geh hinein.“

Er hob die Brauen. Prompt spürte er unter der Augenklappe ein Ziehen. Das Narbengewebe war noch nicht verheilt.

Sie trat einen Schritt zur Seite und zeigte mit einer Hand auf die Tür. „Jetzt.“

Mit einem ungeduldigen Knurren ging er in die Damentoilette – und blieb beim Anblick der Frau, die sich gerade vom Waschbecken wegdrehte, abrupt stehen.

Leise glitt die Tür hinter ihm zu. Entgeistert starrte er Scarlett an. Ihre blonden Haare waren im Nacken zusammengesteckt. Das Gesicht wirkte voller. Sie trug die Bluse über dem Rock, und unter ihrem offenen taillierten Blazer …

Er neigte den Kopf, als traue er seinem gesunden Auge nicht. In der nächsten Sekunde heftete er den Blick wieder auf ihr Gesicht. Bestürzt musterte sie seine strubbeligen Haare, die Augenklappe und das vernarbte Gesicht, das der unordentliche Bart nur mangelhaft bedeckte.

Schwanger. Dieses Wort landete in seinem Hirn wie ein Stein in einem Teich und sandte eine Schockwelle durch seinen Körper.

Scarletts Handy polterte auf den Boden.

Sie hatte versucht, Kiara zu erreichen. Jetzt fixierte sie entgeistert die violetten Krallenspuren in Javieros Gesicht. Auf beiden Seiten der Wunden zeichneten sich die Stiche kürzlich gezogener Fäden ab. Seine dunkelbraunen Haare waren deutlich länger und zerzauster als bei jedem anderen Zusammentreffen und sahen aus, als hätte er sie mit Gel nach hinten gestrichen. An einer Stelle klaffte eine Lücke. Mit der schwarzen Augenklappe wirkte er wie ein Pirat. Das schmale Band lag auf seiner Schläfe und verschwand in den Haaren.

Vielleicht sahen seine Gesichtszüge dadurch so aus, als wären sie verrutscht? Sein Mund war … nicht so, wie er sein sollte, die Oberlippe uneben, und die Krallenspuren zogen sich durch seine Bartstoppeln hinunter bis zum Hals. Eine Narbe befand sich gefährlich dicht neben der Halsschlagader, registrierte Scarlett bestürzt.

Oh Gott, er wäre fast gestorben! Sie hielt sich mit beiden Händen am Rand des Waschbeckens fest, weil ihr bei dem Gedanken so schwindelig wurde, dass sie fast in Ohnmacht fiel.

Seine Wunden waren es allerdings nicht, die ihm diese abweisende Miene verliehen, stellte sie mit einer Mischung aus Panik und Kummer fest. Nein. Der verächtliche Blick galt ihr. Ihrem Zustand.

Ungehalten musterte er ihren Bauch. „Ich dachte, wir treffen uns im Konferenzraum.“

Klang seine Stimme wegen der Verletzungen so rau, oder spiegelte sie seine Gefühle für Scarlett wider? Keine Spur jener Sinnlichkeit und Bewunderung, die manchmal mitgeschwungen war.

Nicht, dass er sie je sonderlich warmherzig behandelt hätte. Reserviert war er gewesen, gleichgültig, verärgert, ungeduldig, leidenschaftlich. Großzügig, wenn er erotische Freuden schenkte oder Komplimente machte. Eiskalt, als Scarlett gegangen war. Missbilligend. Nachtragend.

Vernichtend stumm.

Und jetzt … Ignorierte er etwa ihren unübersehbaren Babybauch?

Adrenalin strömte durch Scarletts Adern. So viele Gedanken stürzten auf sie ein. Heiße Tränen stiegen ihr in die Augen, und ihre Kehle war wie zugeschnürt. Hilf mir! wollte sie rufen, doch sie hatte oft genug in der Klemme gesessen, um zu wissen, dass es auf sie selbst ankam. Immer kam alles auf sie selbst an. Mit aller Kraft versuchte sie, einen klaren Kopf zu bewahren und diese Minuten durchzustehen, bevor sie sich der nächsten Herausforderung stellte.

Einer winzigen Herausforderung namens Geburt.

Als sich eine Wehe im unteren Rücken ankündigte, presste sie die Finger fester auf das Waschbecken und biss die Zähne zusammen. Jetzt galt es, die Schmerzen zu verdrängen und den letzten Rest Würde zusammenzukratzen. „Ich habe Wehen“, sagte sie mit angestrengter Stimme. „Das Baby ist von dir.“

Fassungslos starrte er sie an. Dann senkte er den Blick wieder auf ihren Bauch. „Und das soll ich glauben?“

„Meine Fruchtblase ist geplatzt. Das ist ein klassisches Zeichen.“

„Du weißt, was ich meine.“ Seine aggressive Haltung veränderte sich nicht, aber ein winziger Schatten zuckte in seinem gesunden Auge auf, als Scarlett tief einatmete.

Sie wollte die stärker werdende Wehe ertragen, ohne mit der Wimper zu zucken, doch es funktionierte nicht.

„Ist es von meinem Vater?“

„Nein!“ Mit der Frage musste ich wohl rechnen, schoss es ihr durch den Kopf. So ziemlich jeder glaubte, dass sie mehr gewesen war als Nikos leidgeprüfte Assistentin. Sie schloss die Augen und verzog das Gesicht vor körperlichem und seelischem Schmerz, als die Wehe ihren Höhepunkt erreichte. „Ich habe keine Zeit für lange Erklärungen. Ob du mir jetzt glaubst, dass das Baby von dir ist, oder ob du es erst nach einem Vaterschaftstest tust, spielt keine Rolle.“ Das stimmte nicht. Sein Misstrauen war ihr zuwider. Es zerstörte das bisschen Selbstachtung, das sie noch besaß. „Ich muss ins Krankenhaus, aber ich wollte es dir selbst sagen: Es ist dein Baby. Du hättest es gleich bei der Besprechung erfahren, genau wie die Tatsache, dass …“

Er wird mir nie verzeihen. Das hatte sie schon angesichts des positiven Schwangerschaftstests gewusst. Jetzt merkte sie es ihm an, obwohl er Nikos Testament noch gar nicht kannte. Nein, er würde ihr nie vergeben. Auch nicht, dass sie ihm auf Nikos Wunsch hin widerwillig die Schwangerschaft verheimlicht hatte. Ihr Chef hatte damals im Sterben gelegen, deshalb hatte sie eingewilligt, Javiero erst später zu informieren. Andernfalls wäre es zu einem Krieg gekommen, dem Niko in seinem Zustand nicht gewachsen gewesen wäre. Nach seinem Tod kam sowieso alles heraus.

Scarlett entschied sich für Klartext: „Du erbst nichts. Genau, wie du es wolltest. Niko vererbt sein Vermögen zu gleichen Teilen seinen Enkeln.“

„Enkeln.“ Er zog die Brauen hoch. Ein seltsamer Anblick, denn eine Braue war durch eine Krallenspur unterbrochen, die andere perfekt und vertraut. „Plural.“

„Ja. Er hat bereits eine Enkelin. Aurelia. Vals Tochter.“

Javieros Blick wurde eisig, als sie seinen Halbbruder erwähnte. „Seit wann hat Val eine Tochter?“

„Seit ihre Mutter Kiara sie vor zwei Jahren zur Welt gebracht hat. Die beiden leben bei mir auf der Insel.“

„Das kann nicht sein“, widersprach er mit jenem Zynismus, den er sich nach all den Problemen mit der anderen Familie seines Vaters angeeignet hatte. „Evelina hätte ein Enkelkind benutzt, um Dad zu schröpfen. Du bist aber nicht mit Ausgleichs-Schecks für meine Mutter aufgetaucht.“

„Evelina weiß nichts von Aurelia. Ebenso wenig wie dein Halbbruder. Niko wollte nicht, dass ihr von dem Kind erfahrt. Es hätte nur weitere Kämpfe gegeben, und dafür war er zu krank. Evelina und deine Mutter werden je eine Million Euro erhalten. Der Rest geht an Aurelia und …“ Sie legte sich eine Hand auf den Bauch und hoffte inständig, das Kribbeln in ihrem Rücken möge sich nicht als Wehe entpuppen.

„Na toll“, stieß Javiero hervor. „Er behandelt uns so fair, dass er uns unsere eigenen Kinder verschweigt und ihnen sein verdammtes Vermögen aufbürdet. Kein Wunder, dass meine Mutter gerade so begeistert ausgesehen hat. Hast du ihr gesagt, dass Vals Kind die Hälfte bekommt und sie nur eine Million?“

„Nein.“ Scarlett zwang sich, seinem giftigen Blick standzuhalten.

„Feigling.“ Er lachte harsch und schüttelte den Kopf. „Noch mehr seiner dämlichen Spielchen, bis zum Ende! Und du hilfst ihm nach wie vor.“ Anklagend zeigte er auf sie. „Dass ich eine Nichte habe, wusstest du doch schon, als du nach Madrid gekommen bist. An jenem Tag.“

Seine Verachtung traf sie wie ein Stich mit einer scharfen Klinge. „Ich habe nicht die Zeit, um Nikos oder mein Verhalten zu rechtfertigen.“ Javiero würde die Dinge ohnehin nie von ihrer Warte aus betrachten. Er verabscheute sie. „Ich muss in eine Klinik.“ Sie blickte zu Boden. Dort lag ihr Handy, mit dem Display nach unten. Unerreichbar, denn sie konnte kaum atmen, geschweige denn sich bücken. „Kiara ist mein Geburts-Coach. Holst du sie bitte her? Sie reagiert nicht auf meine SMS.“

„Die Mutter von Vals Baby ist dein Geburts-Coach?“

Diese spöttische Frage machte sie wütend. Sie mochte moralisch nicht überlegen sein, aber Kiara herabwürdigen lassen? Das würde sie auf keinen Fall zulassen. „Sprich nicht so verächtlich über sie. Aurelia ist ein unschuldiges Kind und Kiara die beste Freundin, die ich je hatte.“ Ihre einzige Freundin, um genau zu sein. „Mach von mir aus deinen Vater und deinen Halbbruder schlecht, aber wage es nicht, meine Freundin und ihr Kind anzugreifen.“

Autor

Dani Collins
Dani Collins verliebte sich in der High School nicht nur in ihren späteren Ehemann Doug, sondern auch in ihren ersten Liebesroman! Sie erinnert sich heute immer noch an den atemberaubend schönen Kuss der Helden. Damals wurde ihr klar, dass sie selbst diese Art von Büchern schreiben möchte. Mit 21 verfasste...
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