Julia Extra Band 576

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FEST DER LIEBE IN SNOWFAKE FALLS von MILLIE ADAMS

Lichterglanz, Schneegestöber und der Duft gerösteter Maronen: Noelle genießt die Adventszeit in Snowflake Falls, bis Investor Rocco Moretti die Idylle stört. Will er sie etwa zwingen, das Grundstück ihrer Baumschule zu verkaufen? Trotzdem kann sie seinen Küssen nicht widerstehen …

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  • Erscheinungstag 14.10.2025
  • Bandnummer 576
  • ISBN / Artikelnummer 9783751534413
  • Seitenanzahl 432
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Millie Adams, Dani Collins, Karin Baine, Emily Lark

JULIA EXTRA BAND 576

Millie Adams

1. KAPITEL

Noelle Holiday liebte Weihnachten in Snowflakes Fall. Nicht unbedingt, weil sie den passenden Namen dazu trug oder weil ihre Eltern die örtliche Baumschule besaßen, die sich auf Tannenbäume und festliche Deko spezialisiert hatte, und außerdem eine kleine Frühstückspension für Weihnachtsfans aus der ganzen Region betrieben. Nein, es lag daran, dass in der Weihnachtszeit alles irgendwie wärmer, heller und freundlicher wirkte.

Heute Morgen hatte Noelle dann auch gleich mal wieder den unwiderstehlichen Drang verspürt, sich ihr liebstes Weihnachtsgetränk zu holen, und sich auf den Weg ins Städtchen unten gemacht, das bereits in all seiner winterlichen Pracht funkelte. Die historische Hauptstraße erstrahlte im Glanz der Lichterketten, und der Weihnachtsbaum auf dem Marktplatz glitzerte in allen Farben, mit bunten Lichtern und schimmernden Kugeln. Der Baum stammte natürlich von ihren Eltern. Fürs Stadtzentrum suchte sie jedes Jahr den besten aus. Obwohl es noch früh war, herrschte auf der Straße reges Treiben.

Noelle betrat ihr Lieblingscafé, das sich in einem kleinen Backsteingebäude befand. „Einen Lebkuchen-Latte, bitte.“

„Ist heute Eröffnungstag?“ Ihre Freundin Melody stand hinter der Theke und lächelte. Sie machte den besten Kaffee der Stadt. Die Tatsache, dass sie Noelles beste Freundin war, machte ihn noch ein bisschen besser.

„Ja“, sagte Noelle. „Woher weißt du das?“

„Dein Geweih.“

Noelle lachte. Sie hatte vergessen, dass sie heute kein normales Stirnband trug – sondern eins, das zu ihrem Rentierkostüm gehörte. Braunes Strickkleid, braune Strumpfhose und braune Stiefeletten vervollständigten den Look. Sie schüttelte den Kopf, und die Glöckchen am Geweih-Ende bimmelten. „Wenigstens habe ich meine Leuchtnase noch nicht an. Damit kann man keinen Kaffee trinken.“

Melody lächelte und bereitet das Getränk zu. Noelle wusste, dass sie Aufmerksamkeit erregte. Es machte ihr nichts aus. Die Pension Holiday House und die Baumschule waren seit Generationen im Familienbesitz. Ihr Name war buchstäblich ein Synonym für die Jahreszeit. Und heute, am Tag nach Thanksgiving, ging die festliche Zeit richtig los. Woanders in den USA lief der Konsum gerade auf Hochtouren. Nicht so in Snowflake Falls, Wyoming. Hier gab es keine Ladenketten und keine Schnäppchenjagd am Black Friday.

Das Städtchen war ein angesagter Aufenthaltsort, der Jackson als Hotspot für Kalifornier auf der Suche nach Schnee Konkurrenz machte. In jüngster Zeit hatten einige schickere Boutiquen eröffnet. Auf ein paar Grundstücken wurden Hotels gebaut.

Noelle versuchte, sich davon nicht ablenken zu lassen. Aber ihre Mutter war dabei, die Baumschule und die Frühstückspension zu verkaufen. Einige Grundstücke in der Umgebung waren schon von Rockmore Inc. aufgekauft worden. Noelle war dagegen. Absolut und vollkommen dagegen. Sie wollte nicht, dass ihre zauberhafte viktorianische Pension einem seelenlosen Luxusresort aus Glas weichen musste.

Es gefiel ihr auch nicht, dass sie nach dem Tod ihres Vaters plötzlich so offene Konflikte mit ihrer Mutter hatte, die sie immer wieder daran erinnerte, dass sie keine blutsverwandte Holiday, sondern nur angeheiratet war. Und jetzt, wo ihr Mann nicht mehr lebte, musste sie nicht mehr in Snowflake Falls bleiben, ihr Leben nicht mehr auf diesen Berggipfel beschränken.

Aber Noelles Name stand an diesem Haus, steckte in diesem Land. Wenigstens wollte sie die Gelegenheit, ihre Mutter auszuzahlen. Natürlich brauchte sie dazu nicht nur Geld, sondern auch Zeit und einen Zahlungsplan. Außerdem die Geduld ihrer Mutter. Und dass die sich auch nur ein bisschen um das scherte, was ihrer Tochter am Herzen lag.

Es war so frustrierend! Sie hatten schon immer ein schwieriges Verhältnis gehabt, aber seit ihre Mutter so fest entschlossen war, den Hof und die Pension zu verkaufen, war ihre Beziehung noch angespannter.

Noelle wollte hier nicht weg. Sie klammerte sich an dieses Leben, an die schönen Erinnerungen hier – eingehüllt in den warmen Glanz der Nostalgie.

„Geht es dir gut?“, fragte Melody und reichte ihr den Kaffee.

„Alles okay.“ Noelle zwang sich zu einem Lächeln.

„Geht aufs Haus. Du bringst offiziell Weihnachtsstimmung in die Stadt. Ich finde, dass du dafür angemessen entschädigt werden solltest.“

„Das ist nicht nötig.“ Trotzdem nahm Noelle den Kaffee gern an. Sie brauchte jeden Penny. Dieses Jahr musste gut werden.

Das war das Schwierige. Es war undankbar, die Entwicklungen in der Stadt so negativ zu sehen. Denn sie brauchte Gäste im Holiday House. Sie brauchte den Zustrom von Weihnachtstouristen. Sie brauchte Leute, die Weihnachtsbäume kaufen, Schlittenfahrten machen und durchs Elchgehege fahren wollten. Damit verdienten sie Geld, damit bezahlten sie ihre Angestellten.

Noelle war zwar nicht die Eigentümerin, aber sie leitete die Pension und den Hof und bekam einen Gehaltsscheck wie alle anderen. Der Rest der Einnahmen ging an ihre Mutter.

Weihnachten war ihr Hauptgeschäft.

Doch das zählte nicht, wenn alles, was sie liebte, dem Erdboden gleichgemacht werden sollte. Für ein neues schickes Hotel oder ein Einkaufszentrum. Was sollte als Nächstes kommen?

Noelle verabschiedete sich von Melody und verließ das Café. Sie drehte sich um und blickte die festliche Hauptstraße hinunter.

Und da sah sie ihn.

Er war größer als alle anderen und ganz in Schwarz gekleidet, wirkte wie ein Block aus Dunkelheit, mitten auf der festlich beleuchteten Straße. Um ihn herum wuselten Menschen in bunten Jacken, redeten und lachten. Er war ein Einzelgänger und sein Gesichtsausdruck hatte nichts Fröhliches an sich.

Aber er war der schönste Mann, den Noelle je gesehen hatte. Sein Haar war tiefschwarz, so dunkel wie eine sternlose Nacht. Seine Augen hatten die Farbe von Kohle, sein Kiefer war kantig, sein Mund ernst. Als er sich auf sie zubewegte, schlug ihr das Herz bis zum Hals. Wie eine Klinge schnitt er durch die Menge, jede seiner Bewegungen effizient. Schwarze Jacke, schwarze Krawatte, schwarze Hose, schwarze Schuhe. Ihr fiel jedes Detail auf, während er näher kam. Als er direkt an ihr vorbeiging, wollte ihr Herz zerspringen.

Er würdigte sie keines Blickes.

Sie blieb wie ein unsichtbares Rentier stehen und nippte an ihrem Lebkuchen-Latte. Wer war das?

Sie begann sofort, in Gedanken eine Geschichte zu spinnen – wie könnte sie auch nicht? Die Stadt und ihre Einwohner blieben immer gleich. Touristen waren spannend, aber dieser Mann war mehr als das. Hatte er eine tragische Vorgeschichte und wollte hier die Weihnachtsstimmung wiederfinden? War er ein Witwer? Ein Investmentbanker aus New York, der vom Weg abgekommen war und eine Frau brauchte, die ihn mit dem Geist der Kleinstadtweihnacht erfüllte?

Haha. Als ob.

Er war garantiert mit Frau und Kindern hier. Aber er hatte Handschuhe an, sodass sie nicht sehen konnte, ob er einen Ring trug.

Er wirkte wie einer der unzähligen Manager, die zum Skifahren nach Snowflake Falls kamen. Und doch hatte er etwas Einzigartiges an sich.

Noelle räusperte sich und entfernte sich vom Eingang des Cafés. Sie musste zurück ins Holiday House. Nicht mehr lange, bis der Wahnsinn ausbrechen würde. Heute war sie für die Weihnachtsbäume zuständig. Es kamen zwar auch ein paar neue Gäste an, aber das würde das Personal der Pension erledigen.

Da sie das ganze Jahr über im Haus wohnte, war das Tagesgeschäft in der Pension oft ihre Hauptaufgabe. Wenn aber die Festlichkeiten auf dem Rest des Anwesens zunahmen, verließ sie sich stärker auf ihr Saisonpersonal. Viele von ihnen arbeiteten schon seit Jahren im Holiday House. Die Vorstellung, dass sie bald keine Jobs mehr hätten, nicht mehr Teil ihres Lebens wären, war surreal.

Das würde sie nicht zulassen.

„Zeit, ein paar Weihnachtsbäume zu verkaufen“, sagte sie zu sich selbst, während sie die Straße entlang zu ihrem kleinen Auto stapfte.

Als sie die kurvige, unbefestigte Straße zum Holiday House hinauffuhr, zogen dicke graue Wolken am Himmel auf. Es störte sie nicht, das hier war ihre Lieblingsjahreszeit. Wenn der Boden gefror und mit Schnee bedeckt war …

Sie liebte Schnee.

Da ihr Vater nicht mehr lebte, lag es jetzt an ihr, die Straße zur Pension frei zu halten. Vor fünfzehn Jahren hatte er einen riesigen Schneepflug gekauft und so dafür gesorgt, dass die Gäste immer aufs Grundstück kamen. Er hatte an jedes Detail gedacht, um das Haus zum herrlichsten Ort für die Wintermonate zu machen.

Noelle nahm nicht die Straße zur Pension, sondern die Abzweigung zur Baumschule, wo es zu dieser Jahreszeit auch Schlittenfahrten, heiße Schokolade und Glühwein gab. Ein kleiner Weihnachtsmarkt zog Besucher an, Lichterketten tauchten die Bäume in warmes Licht, während der Duft von auf offenem Feuer gerösteten Maronen die kalte Luft erfüllte.

Der Parkplatz war bereits zur Hälfte mit Menschen gefüllt, die einen Weihnachtsbaum und ein festliches Erlebnis haben wollten. Sie fuhr hinter dem Parkplatz zu dem nur für Angestellte zugänglichen Bereich, hielt bei ihrem kleinen Büro, das mit „Nordpol“ beschriftet war, holte das Kartenlesegerät heraus und schloss es an ihr Telefon an. Dann setzte sie ihre rote Leuchtnase auf und drückte auf den Knopf, damit sie fröhlich blinkte.

In dem Moment sah sie ein elegantes schwarzes Auto auf den Parkplatz einbiegen. Merkwürdig. Aber sie brauchte nicht hinzugucken, um zu wissen, wer am Steuer saß.

Der Wagen war genau wie sein Besitzer. Glatt, groß und scharf.

Sie nahm an, dass er Frau und Kinder haben musste – warum sonst sollte er hier oben sein? Warum sollte er sonst einen Weihnachtsbaum besorgen?

Aber dann parkte er das Auto und stieg aus. Ganz allein.

Und kam direkt auf sie zu.

Rocco Moretti war kein Mann, der Würdelosigkeit hinnahm. Und diese ganze Schneekugel von einer Stadt war eine Würdelosigkeit nach der anderen.

Die Straßen waren verfallen, die Gebäude in einem erbärmlichen Zustand und noch dazu vom Fundament bis zum Dachfirst mit Lichtern, Ornamenten und Girlanden geschmückt. Das Ganze war so zuckersüß, dass es genauso gut die Achselhöhle eines Lebkuchenmannes hätte sein können.

Er hasste es.

Er hasste Weihnachten.

Er hasste Fröhlichkeit.

Er hasste diesen Ort.

Und doch hatte man ihm versichert, dass dies hier die klügste Investition war, die er derzeit tätigen konnte. Er hatte bereits ganze Landstriche aufgekauft. Nur ein Puzzleteil fehlte ihm noch.

Die kleine Baumschule.

Die Eigentümerin des Grundstücks hatte sich mit ihm in Verbindung gesetzt, um die Bedingungen zu besprechen. Aber sie hatte klargestellt, dass ihre Tochter den Verkauf absegnen müsste. So lauteten die Bedingungen.

Jetzt starrte ihn die kleinste Würdelosigkeit an, die er je gesehen hatte.

Eine Frau mit lockigem kastanienbraunen Haar, einer blinkenden roten Nase und einem Geweih auf dem Kopf. Sie könnte hübsch sein, wenn sie nicht so albern zurechtgemacht wäre. Das galt für die ganze Stadt. Die Schönheit und die natürliche Pracht der Umgebung hätten ihn durchaus beeindrucken können – ohne die ganze kitschige Deko!

Er wusste instinktiv, dass die Frau, die ihm jetzt im Weg stand, diejenige war, die ihn daran hinderte, das letzte Stück Land zu kaufen, das er für sein Resort brauchte. Und er war fest entschlossen, es genau hier zu bauen.

Rocco kannte sich mit Bedingungen von Testamenten aus und verstand, dass die Frau das Haus ihres verstorbenen Mannes unbedingt loswerden wollte. Nicht nur hatte er Jahre damit zugebracht, die Villa auszumisten, die seine Mutter in ihrem Wahn vollgestopft hatte. Es hatte auch ewig gedauert, die Bedingungen ihres Testaments zu entwirren. Seine Mutter war nie zufrieden gewesen. Sie sammelte und sammelte, als ob sie so irgendwann das eine magische Objekt finden würde, das Erfüllung brachte. Kontrolliertes Chaos – so hatte sie es genannt. Für ihn war es nie etwas anderes als nur Chaos gewesen. Aber sie hatte auch bewiesen, dass in ihrem Kopf eine gewisse Form der Kontrolle existierte.

Und zwar durch ihren kontrollierenden letzten Willen.

Demnach musste Rocco immer weiter bauen. Dem Immobilien-Imperium immer mehr hinzufügen, neues Gerümpel auf die Erde stellen. Oder er musste heiraten und sich fortpflanzen. Vor seinem zweiunddreißigsten Geburtstag, der inzwischen besorgniserregend nah war.

Schönes Abschiedsgeschenk seiner Mutter, die ihn für alle Zeiten kontrollieren wollte. Sie hatte es geschafft, indem sie ihm das Unternehmen überlassen hatte. Mit einem von ihr ausgesuchten Vorstand, der dafür sorgte, dass Rocco alle Bedingungen einhielt.

Er ging auf die kleine Würdelosigkeit zu. „Hallo.“

Sie starrte ihn nur an wie ein Reh im Scheinwerferlicht.

„Kann ich Sie nach einer Übernachtungsmöglichkeit für heute Nacht fragen? Das hier ist das Holiday House, richtig?“

Er sprach gut Englisch, und Frauen fanden seinen Akzent charmant. Das spielte ihm in die Hände.

„Das Holiday House ist heute leider ausgebucht.“

Ein lösbares Problem. „Schade“, sagte er nur.

„Sind Sie mit Ihrer Familie hier?“

„Nein. Ich bin geschäftlich in der Stadt. Nur ich.“

„Okay. Dann brauchen Sie wohl keinen Weihnachtsbaum.“

Er hatte noch nie einen Weihnachtsbaum gebraucht und konnte sich nichts Abscheulicheres vorstellen. Ein Staubfänger, der nur Dreck und Nadeln hinterließ. „Nein, danke. Kein Bedarf. Ich habe aber gehört, dass das Holiday House sehr schön sein soll. Ist es in Ordnung, wenn ich die Straße hochfahre, um es mir anzusehen?“

„Ja, natürlich.“

„Danke. Ich möchte nicht von so weit her gekommen sein, ohne wenigstens einen Blick darauf geworfen zu haben.“

„Wo haben Sie denn von uns gehört?“, fragte sie.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass es auf einer Liste mit rustikalen Gasthöfen stand.“

„Ja, kann sein. Home and Garden, Town & Country und Countryside Magazine haben alle über uns berichtet.“

„Countryside, ja. Das war’s.“ Glaubte sie wirklich, dass er Zeitschriften las? Wie ein Rentner im Wartezimmer beim Arzt?

Sie rümpfte die Nase, als sie ihn in Augenschein nahm. Ja, sie hätte wirklich hübsch sein können. Das braune Strickkleid schmiegte sich verführerisch an ihre Kurven. Ihre Augen waren rostbraun-golden, die Lippen rosa und voll.

Aber die Nase. Und das Geweih.

„Ich bin Noelle. Noelle Holiday.“

„Schön, Sie kennenzulernen.“ Das war also tatsächlich die Frau, die er umgarnen musste. Die Frau, die er dazu bringen musste, die Papiere zu unterschreiben. Er würde ihr ein Angebot machen, das sie nicht ablehnen konnte. Und womit konnte ihm das besser gelingen als mit seinem erprobten Charme?

„Und Sie sind …?“

„Rocco“, sagte er. „Rocco Moretti.“

„Freut mich, Sie kennenzulernen. Warum nehmen Sie nicht einen Becher Apfelwein auf Kosten des Hauses? Die alkoholfreie Variante?“, fragte sie mit Blick auf seinen Wagen. Ohne eine Antwort abzuwarten, wandte sie sich ab, tauchte eine Kelle in die dampfende Flüssigkeit und goss sie in einen Pappbecher.

Seine Oberlippe kräuselte sich unwillkürlich, während er versuchte, ein Lächeln zustande zu bringen. Das war so unhygienisch. Aber er hatte keine andere Wahl, als das Getränk anzunehmen. Es ging hier um Charme. „Vielen Dank. Aber ich will Sie nicht aufhalten. Bis dann.“

Rocco nahm den Becher, stieg in sein Auto und atmete tief durch. Dann stellte er den Becher in den Becherhalter, fuhr er die Straße entlang und folgte den Schildern, die ihn zum Holiday House führten.

Als er vor dem Haus anhielt, zog sich alles in ihm zusammen. Es war ein altes viktorianisches Haus, so geschmacklos wie der Rest des Ortes. Mit dem Becher Apfelwein in der Hand stieg er aus dem Wagen. Er schüttete die Flüssigkeit aus und sah zu, wie Dampf von der gefrorenen Erde aufstieg.

Dann zerdrückte er den Becher in der Faust. Auf der vorderen Veranda warf er ihn in einen Abfalleimer, wischte sich die Hände mit einem Taschentuch ab und betrat das Haus. Eine junge Frau stand an der Rezeption und schaute auf die Gästeliste.

Er setzte ein Lächeln auf. „Ich habe ein Anliegen.“

2. KAPITEL

Am Ende des Tages war Noelle erschöpft, aber immer noch aufgekratzt wegen ihrer Begegnung mit Rocco. Sie würde ihn nie wiedersehen. Er brauchte keinen Weihnachtsbaum, und die Pension war ausgebucht. Es gab also keinen Grund zur Hoffnung, ihm jemals erneut zu begegnen.

Ihn anzuschauen war, als hätte sie ein Lichtstrahl getroffen. So etwas hatte sie noch nie erlebt.

Natürlich hatte sie auch noch nie einen Tag wie heute erlebt, und darauf sollte sie sich konzentrieren. Auf den triumphalen Erfolg ihres erfolgreichen Eröffnungstages. Sie summte vor sich hin, als sie die Treppe hochging und das Holiday House betrat.

Das Personal war schon weg. Drinnen war es ruhig und gemütlich. Sie warf einen Blick in die Bibliothek – halb in der Erwartung, ein oder zwei Gäste zu sehen, die dort lasen oder Dame spielten. Aber es war niemand da.

Sie runzelte die Stirn.

Plötzlich fühlte sie sich müde. Normalerweise würde sie noch etwas bleiben, um zu sehen, ob einer der Gäste etwas brauchte. Aber sie konnte sich nicht gegen das Gefühl wehren, sich hinlegen zu müssen. Also beschloss sie, direkt ins Bett zu gehen.

Ihr Zimmer befand sich unter dem Dach, mit einem eigenen kleinen Bad und einer Küchenzeile. Als ihre Eltern beschlossen hatten, mehr Zeit außerhalb der Pension zu verbringen, hatte sie die Leitung übernommen.

Bevor ihr Vater gestorben war. Ein stechender Schmerz zog durch ihre Brust.

Sie ging zum Plattenspieler und suchte das Weihnachtsalbum, das ihre Großmutter ihr hinterlassen hatte. Während die Musik leise durch den Raum klang, widmete Noelle sich ihrer Abendroutine. Sie putzte sich die Zähne, wusch sich das Gesicht und zog sich ein langes Baumwollnachthemd an.

In Momenten wie diesen stellte sie sich vor, in einer einfacheren Zeit zu leben. Einer Zeit, in der ihre beiden Eltern noch bei ihr waren. In der ihre Großmutter noch hier war. Oder vielleicht sogar in der Mitte des letzten Jahrhunderts. Damals waren die Zeiten zwar hart, aber Holiday House ein Zufluchtsort gewesen.

Niemand war hergekommen, um alles zu zerstören.

In dem Moment wünschte sie sich, sie könnte ihr Haus vom Rest der Welt und vom Lauf der Zeit trennen.

Sie legte sich ins Bett, während die Platte noch lief, und schlief erschöpft ein.

Noelle schreckte hoch und hatte keine Ahnung, wie spät es war. Ihr Wecker hatte nicht geklingelt.

Sie drehte sich um und sah, dass er in der Dunkelheit blinkte. Stromausfall? Zum Glück war es noch früh. Zumindest dem schwachen Licht nach zu urteilen, das durch das Fenster fiel. Sie stand auf und öffnete die Vorhänge. Draußen gab es nichts als Weiß. Eine dicke weiße Decke. Sie würde die Zufahrt räumen müssen. Vergangene Nacht hatte es einen richtigen Schneesturm gegeben. Unerwartet früh im Jahr.

„Mist“, fluchte sie.

Dann fand sie es extrem komisch, dass sie erst gestern Abend darüber nachgedacht hatte, wie schön es wäre, wenn die Pension und sie vom Rest der Welt abgeschnitten wären.

Aber nicht, solange sie Gäste hatte – und Angestellte, die hierherkommen mussten, damit es Frühstück, saubere Zimmer und tausend andere Dinge gab.

Sie kletterte aus dem Bett und lief die Treppe hinunter, schlüpfte im Stiefelraum in ihre Schuhe und schnappte sich einen langen Mantel. Dann ging sie hinaus zum Maschinenschuppen. Der alte Schneepflug war geparkt und bereit, seine Pflicht zu erfüllen. Seufzend setzte sie sich auf den Fahrersitz und drehte den Schlüssel, der immer im Zündschloss steckte.

Nichts passierte.

Das war neu. Normalerweise heulte die Maschine auf und fuhr los.

Nicht dieses Mal.

Sie drehte den Schlüssel erneut. Wieder nichts. „Los jetzt“, befahl sie. Vergeblich.

Sie versuchte es immer wieder, aber der Motor war tot.

Na super. Das bedeutete, dass sie warten musste, bis die Stadtreinigung die Straße hier oben pflügen würde.

Eine Katastrophe, das konnte ewig dauern. Sie schnaubte, stieg aus und stapfte durch den Schnee zurück ins Haus.

Sie war erstaunt, wie still es war. Und dann darüber, wie schwer sich ihr Kopf anfühlte. Sie durfte jetzt nicht krank werden.

Murrend schlurfte sie in die Küche und beschloss, sich einen Kaffee zu machen. Der Strom lief wieder. Noelle durchforstete den Gefrierschrank und sah nach, ob es etwas Leichtes zum Backen gab. Sie fand vorbereiteten Plätzchenteig und machte sich daran, ihn aufzutauen und zu backen, damit es in der Küche angenehm duftete, wenn die Gäste aufstanden. Normalerweise hätte es ein richtiges Frühstück gegeben. Aber heute war sie allein hier und hatte sich zu lange mit dem störrischen Schneepflug herumgeschlagen.

Noelle trug noch immer die dicken Stiefel und ihr Nachthemd, als sie die ersten Schritte auf der Treppe hörte. Sie ging in den Eingangsbereich und blieb am Fuß der Treppe stehen. Auf dem Geländer sah sie eine große männliche Hand.

Als sie diese Finger sah, wusste sie es.

Dann kam er ins Blickfeld und es gab keinen Zweifel mehr. Rocco Moretti hatte irgendwie die letzte Nacht in diesem Haus verbracht.

„Guten Morgen“, sagte er.

Sie sah zu ihm auf. „Was machen Sie denn hier?“

„Ich bin ein Gast in diesem Etablissement.“

„Wir waren ausgebucht.“

„Ja. Aber ich habe beschlossen, hierzubleiben.“

„Wie?“

„Ich habe Maßnahmen ergriffen.“

Plötzliche Beklemmung überkam sie. Sie war mit diesem Mann eingeschneit. Alleine. Bisher hatte sie sich noch nie Gedanken über Gäste und Sicherheit gemacht. Vielleicht hätte sie das tun sollen. Aber sie war hier aufgewachsen, und es war immer hundertprozentig sicher gewesen. Also hatte sie sich nie Sorgen gemacht.

In diesem Moment fühlte sich der ganze Raum kleiner an. Das ganze Haus, der ganze Berg. Sie sah ihn an und zitterte, aber es war keine Angst. Es war etwas, das sie noch nie erlebt hatte. Eine Spannung, die in ihre Lunge und Glieder strömte und ihr das Gefühl gab, aus der Haut fahren zu wollen.

„Und was für Maßnahmen haben Sie ergriffen?“

„Ich habe die junge Frau an der Anmeldung gebeten, mir die Kontaktdaten der Gäste zu geben.“

„Aber das darf sie nicht! Datenschutz und …“

„Und alle haben mein Angebot nur zu gern angenommen. Vor allem, als ich ihnen sagte, dass es hier ein Problem mit den Wasserleitungen gibt.“

Sie riss die Augen auf… „Und warum haben Sie ihnen das gesagt?“

„Weil ich hierbleiben wollte. Eventuell bin ich zu weit gegangen.“

„In welcher Hinsicht?“

„Ich hätte nicht jedes Zimmer freimachen müssen. Habe ich aber.“

„Ich … ich verstehe nicht …“

„Ich habe den Gästen eine Rückerstattung und kostenlose Unterkunft in meinen Resorts in Jackson angeboten.“

„Jackson!“

„Ja. Die Zimmer sind viel teurer als Ihre.“

„Wollen Sie mir etwa sagen, dass Sie der einzige Gast sind?“

„Ja.“

„Aber das ist … Das ist psychopathisch, das Ihnen doch klar, oder?“

„Was ist daran psychopathisch? Ich wollte lediglich Kontrolle über diese Interaktion.“

„Und warum?“

„Wissen Sie wirklich nicht, wer ich bin? Ich bin Rocco Moretti von Rockmore Incorporated. Ich will Ihr Haus kaufen.“

Ihr Magen machte einen Satz. Dieser Mann ihr persönlicher Erzfeind? Der Kerl, der ihre Existenz ruinieren wollte?

Wahrscheinlich war das der Grund gewesen, warum sie angehalten hatte, als sie ihn auf der Straße gesehen hatte. Sie hatte seine angeborene Bosheit gespürt. „Sie sind schlimmer als ein Serienmörder“, giftete sie. „Sie sind ein Bauträger.“

„Das bin ich. Ein Bauträger, meine ich.“

„Warum tun Sie das?“

„Ihre Mutter hat gesagt, dass sie kein Glück mit Ihnen hat. Ich habe vorgeschlagen, selbst mit Ihnen zu sprechen. Das hier gilt als sehr kluge Investition.“

„Ist es nicht. Denn ich werde nicht zustimmen.“

„Wirklich? Sie verweigern Ihrer Mutter diese sehr großzügige Summe?“

Wut stieg in ihr auf. Alte Wut wegen der Streitereien mit ihrer Mutter über genau dieses Thema. Noelle hatte sich bei ihr zurückgehalten, weil sie ihre Mutter liebte. Beziehungen konnten kompliziert sein. Aber es war so, so schwierig. Alles fühlte sich schwer und angsteinflößend an.

Und es war alles seine Schuld.

„Das hier ist der Nachlass meines Vaters“, zischte sie. „Seiner Familie. Das Holiday House trägt unseren Namen. Es bedeutet mehr als Geld.“

„Nicht für Ihre Mutter.“

Wie konnte er es wagen? Er kannte sie nicht. Er wusste nicht, wie die Trauer ihre Mutter verändert hatte und dazu führte, dass sie es nicht mehr aushielt, hier zu sein. Das verstand er alles nicht.

Er stellte ihre Mutter als gieriges Monster dar.

Sie biss die Zähne zusammen, starrte ihm ins Gesicht und ignorierte die Beschleunigung ihres Herzschlags. „Sprechen Sie nicht über Dinge, die Sie nicht verstehen. Sie versucht, ein neues Leben zu führen, das hat bei uns zu Spannungen geführt. Aber Sie kennen sie nicht.“

„Ich muss weder Ihre Mutter noch Sie kennen, um zu wissen, dass Sie irgendwann zur Besinnung kommen. Das tun die Leute immer. Sie können sich hier also weiter abmühen oder eine Auszahlung nehmen und ein glückliches Leben führen.“

„Nein.“

„Die Wahrheit ist, Miss Holiday, wenn Sie nicht zustimmen, werden alle Verkäufe scheitern, nicht nur Ihrer. Sie werden das Wohlergehen Ihrer Nachbarn beeinträchtigen. Ich kann nicht um das hier herum bauen.“ Er machte eine ausladende Handbewegung. „Und viele andere Besitzer wollen verkaufen. Können Sie sich vorstellen, was passiert, wenn Sie dieses Geschäft für alle ruinieren?“

„Das ist ziemlich manipulativ“, stotterte sie.

„Ich bin ziemlich manipulativ.“ Er lächelte kalt. „Sag man mir zumindest nach.“

„Dieser Ort braucht kein großes Luxusresort!“

„Da würden Ihnen einige widersprechen.“

„Diese Leute haben keinen Sinn für Geschichte.“

„Geschichte – was wollen Sie mir über Geschichte erzählen? Sie sind Amerikanerin. Ihre Version der Geschichte ist neu im Vergleich zu meinem Geschichtsverständnis. Ich bin Italiener.“

„Na, dann Glückwunsch zu den Fresken. Sie können gern herunterspielen, was dieser Ort bedeutet. Das ändert aber nichts an meiner Meinung.“

„Also gut. Wenn das nicht zieht, wie wäre es damit: Ich biete Ihnen eine sehr großzügige Abfindung an. Und wenn Sie hier nicht weg wollen, lege ich noch einen Job als Hotel-Managerin obendrauf. Vorausgesetzt, ich halte Sie für qualifiziert.“

„Ich will nicht für Sie arbeiten. Ich arbeite für mich. In meinem Familienunternehmen. Wenn Sie nicht verstehen, inwieweit das etwas anderes ist …“

„Doch, das verstehe ich.“ Er kam die Treppe herunter und sah sich um. „Es ist urig. Aber Sie müssen zugeben, dass das Interesse an einem solchen Ort nie so gering war wie jetzt.“

Plötzlich überkam sie der Drang, zu niesen. Sie konnte nicht dagegen ankämpfen. Sie atmete ein, wippte heftig nach vorn und bedeckte ihr Gesicht, so gut sie konnte.

Als sie aufblickte, hatte er sich zurückgezogen, und seine Hände berührten denn Kragen seines Jacketts. Der Mann trug um sechs Uhr früh einen Anzug.

„Geht es Ihnen gut?“

„Ich fühle mich ein bisschen schwach auf den Beinen“, gab sie zu.

„Das tut mir leid.“

„Tja. Die Hausarbeit wartet aber nicht. Ich muss herausfinden, wie ich den Schneepflug reparieren kann.“

„Wenn Sie für mich arbeiten würden, könnten Sie sich krankschreiben lassen. Aber gut. Ich bin nur hergekommen, um Sie zu überzeugen, dass Sie nicht hierbleiben wollen.“

„Ironie des Schicksals“, sagte sie. „Denn jetzt stecken wir hier fest.“

„Wie bitte?“

„Sie sind der Typ Mann, der es gewohnt ist, seinen Willen zu bekommen und alles unter Kontrolle zu haben. Aber leider muss ich Ihnen mitteilen, Mr. Moretti, dass Sie nicht das Wetter kontrollieren können.“

3. KAPITEL

Mit wachsendem Unbehagen sah Rocco sich im Haus um. Überall lagen Dinge. Die Einrichtung ließ sich am ehesten als Ansammlung von Staubfängern bezeichnen. Je schneller ein Ort wie dieser dem Erdboden gleichgemacht wurde, desto besser. Das hier war die Antithese zu allem, was er in seinen Resorts schuf. Er strebte nach klaren Linien, Minimalismus. Nach modernem, schnörkellosem Luxus.

Dieser Ort bestand ausschließlich aus Schnörkeln.

Und dann sagte ihm diese niesende Kreatur im Nachthemd, dass er hier festsaß?

Allein mit ihr …

Momentan war sie zwar nicht als Rentier verkleidet, aber ihr rotes Haar war ungezähmt, ihr Gesicht mit Sommersprossen übersät. Ihr übergroßer Pullover hatte ein Schneeflockenmuster, sie trug Glitzer-Lidschatten. Sie war menschgewordener Maximalismus.

Und sie war wunderschön. Alles, was er nie gewollt hatte, in einem einzigen verlockenden Paket, das absolut tabu sein sollte.

Diese Art der Verlockung war ihm neu. Sein Leben war kontrolliert. Doch dieser Ort war ihm fremd, und auch auf das Wetter hatte er keinen Einfluss.

Diese Frau war wie all das, was ihm fremd war – verpackt in seidenweiche Haut.

Was sollte das? Wenn hier ungelöste Probleme aus seiner Kindheit hochkamen, würde er sie lieber überspringen. Vermutlich sagte die plötzliche Angst, dass sich sein Kindheitstrauma als Vorliebe für eine chaotische Frau manifestieren könnte, einiges über ihn aus. Wenn das kein psychologischer Durchbruch war.

„Ich stecke grundsätzlich nirgends fest“, sagte er.

„Mag sein, aber das ist nun mal die Situation.“

„Was genau meinen Sie damit?“ Er ging zur Haustür und öffnete sie. Draußen war nichts als Weiß. Es lag nicht nur Schnee auf dem Boden, sondern es wirbelte auch dicht und heftig in der nebligen Luft. Ein Schneesturm. Er drehte sich um und sah sie an. „Was tun Sie normalerweise in so einer Situation?“

„Normalerweise?“ Sie rümpfte die Nase. „Normalerweise bahne ich mir einen Weg. Das Problem ist aber, dass mein Schneepflug nicht anspringt.“ Sie lehnte sich wieder zurück und fiel dann mit einem gewaltigen Niesen nach vorn. „Ist noch nie passiert. Und ich bin keine Mechanikerin.“

„Was glauben Sie, wie lange das dauert?“

„Keine Ahnung. Das gehört zum Leben, wenn Sie hier oben ein Grundstück kaufen. Falls Sie wirklich glauben, dass hier Ihr Luxusresort entstehen sollte.“

„Es war leicht, Ihre Gäste hier wegzulocken.“

„Ja, mit kostenloser Unterkunft“, sagte sie. „Und weil Sie ihnen erzählt haben, dass hier das Chaos ausgebrochen ist.“

„Hier ist ja nun auch das Chaos ausgebrochen. Was glauben Sie, wie lange es dauert, bis Sie ein unlösbares Klempnerproblem haben?“

„Wird nicht passieren. Das Haus befindet sich in einem guten Zustand.“ Im anderen Raum ging ein Timer los. „Moment.“

Sie ging durch die Tür, und er folgte ihr in eine Küche. Groß und sauber, moderner als der Rest des Hauses. Nicht, dass es wichtig gewesen wäre, denn dieses Haus würde nicht mehr stehen, sobald er das Grundstück gekauft hatte. Aber jetzt war die Küche gut genug für ihn. Andernfalls würde er verhungern.

Sie beugte sich hinunter, öffnete den Ofen und holte ein Blech mit Keksen heraus.

„Was soll das sein?“

„Frühstück. Verschiedene Kekssorten. Ich habe versucht, so schnell wie möglich etwas auf den Tisch zu bringen, da ich so lange mit dem Schneepflug gebraucht habe.“

„Haben Sie den Teig heute Morgen gemacht?“

„Nein“, sagte sie.

„Ich esse keine Reste.“

„Sie essen keine Reste?“

Er schüttelte den Kopf. „Nein.“ Er würde sich nicht rechtfertigen. Das hatte er nicht nötig. Er hatte sich entschieden, seine Umgebung so zu gestalten, dass sie für ihn funktionierte. Das musste er niemandem erklären.

„Ich weiß nicht, ob ich genug andere Sachen hier habe.“

Er ging zum Kühlschrank und nahm eine Packung Eier heraus. „Das sollte reichen. Ich werde mir ein paar Eier machen. Wie schwer kann das schon sein?“

„Sie wissen nicht, wie man Eier kocht?“

„Habe ich noch nie probiert. Heißt aber nicht, dass ich nicht weiß, wie es geht.“

Sie nieste erneut.

„Sie sind krank. Ich möchte nicht, dass Sie Viren in mein Essen spucken.“

„Ich spucke keine Viren.“

„Doch, tun Sie“, sagte er. „Das ist bedauerlich. Für uns beide.“

„Und was soll ich dann tun?“

„Hier rausgehen“, sagte er.

Sie gehorchte ihm, was ihn überraschte. Von ersten Moment an war sie nichts als widerspenstig gewesen. Undankbar für all das, was er zu tun versuchte. Die meisten Leute hätten seinen Scheck mit Handkuss genommen. Das Leben an Orten wie diesem war nicht leicht. Harte Arbeit, viele Entbehrungen. Beim Ausbau seines Resort-Imperiums begegnete ihm so selten Widerstand, dass er nicht einmal ein Prozedere für den Umgang mit Abweichlern hatte. Normalerweise musste er nur deutlich machen, dass er es mit dem Geldangebot ernst meinte – dann nahmen die Leute den Scheck und gaben ihm ihr Land.

Diese Art von Situation hier war … nicht gesund. Mit Menschen, die so sehr an einem Ort oder einer Sache hingen, dass sie es nicht ertragen konnten, loszulassen, stimmte etwas nicht.

Rocco sah sich in der Küche nach einer Pfanne um und machte alle Schubladen auf, bis er unter dem Ofen endlich eine fand. Es nervte ihn, dass er ein Rezept für Eier nachschlagen musste. Aber er war nun mal ein Perfektionist.

Und er musste feststellen, dass Eier mehr Aufwand erforderten als gedacht.

Er verzog das Gesicht, aber irgendwann hatte er das Rührei fertig. Auf den Tellern teilte er es so auf, dass er den Löwenanteil bekam. Dann legte er ihr einen Keks dazu. Offensichtlich mochte sie Gebäck.

Er ging den Flur entlang, beide Teller in der Hand, und fand schließlich ein Esszimmer. Sie saß am Ende eines Esstisches.

„Hier“, sagte er und stellte einen Teller vor sie hin.

„Rührei und ein Keks.“

„Genau“, sagte er.

„Okay, gut. In dieser Kanne hier ist Kaffee.“

Damit war er einigermaßen zufrieden. Er mochte seinen Kaffee schwarz und stark.

„Warum essen Sie keine Reste?“, fragte sie. „Sind Sie sich etwa zu fein dafür?“

„Ich bin mir nicht zu fein dafür.“

„Warum dann? Es klingt nach einer versnobten und verschwenderischen Denkweise. Und es waren keine Reste. Es waren gefrorene, vorgeformte Kekse. Backfertig.“

„Oh“, sagte er. „Die sind okay.“

„Warum essen Sie denn nun keine Reste?“

„Stört es Sie etwa nicht, wenn Sie das Alter von Lebensmitteln nicht kennen?“

„Ich habe noch nie darüber nachgedacht“, sagte sie.

„Dann haben Sie offensichtlich noch nie etwas gegessen, das sein Verfallsdatum überschritten hat.“ Das war alles, was er dazu sagen würde.

„Und Sie werden mich nicht davon überzeugen, zu verkaufen. Wir stecken in einer Sackgasse.“

„Finden Sie das fair? Ihre Mutter wünscht sich verzweifelt, dass Sie eine andere Entscheidung treffen.“

„Sie ist nicht verzweifelt. Sie trauert und will so tun, als hätte es meinen Vater nie gegeben.“

Er verlor langsam die Geduld. „Noelle“, sagte er gereizt, ihr Name rollte ungewohnt über seine Lippen. „Du musst doch einsehen, dass es dumm ist, sich mir zu widersetzen.“

„Ich werde nicht an dich verkaufen.“ Sie duzte ihn zurück. „Das ist meine Entscheidung.“

„Du hast garantiert deinen Preis.“

„Bau woanders. Warum ist es so wichtig, dass du das hier durchziehst?“

„Weil ich immer weiter bauen muss“, sagte er. „Und hier ist eine ausgezeichnete Möglichkeit.“

„Was meinst du mit ‚immer weiter bauen‘?“

„Damit mein Geschäft wächst.“

„Bist du nicht einer der reichsten Männer der Welt?“

„Du wusstest nicht mal, wer ich bin, als ich mich dir gestern vorgestellt habe. Und jetzt redest du über mein Vermögen?“

„Ich habe dich gegoogelt, während du die Eier gemacht hast.“

„Also gut. Ja, bin ich.“

„Also warum?“

„Ich muss die Firma jedes Jahr um zwei Prozent vergrößern, sonst wird sie aufgelöst. Das ist die Bedingung im Testament meiner Mutter.“

„Ernsthaft? Du verlierst dein Eigentum, wenn du das nicht tust? Wer ist dafür verantwortlich?“

„Es gibt einen Vorstand. Die würden es natürlich toll finden, wenn ich die Kontrolle verliere. Dann hätten sie alles im Griff. Aber ich werde nicht zulassen, dass ein Gremium, das aus den Erfüllungsgehilfen meiner Mutter besteht, sich durchsetzt.“

„Liebst du dein Unternehmen?“

„Das Unternehmen lieben? Was soll das heißen?“

„Ich liebe das Holiday House. Ich kann das Erbe meiner Familie hier spüren. Die Erinnerungen an meinen Vater. Dieser Ort bedeutet mir sehr viel. Empfindest du auch so für Rockmore?“

„Nein. Ich weiß nicht.“

„Warum ist es dann so wichtig?“

„Weil ich nicht verlieren will.“

„Was genau würdest du denn verlieren?“

Warum sagte er es ihr nicht? Das hier war ein Ausnahmezustand, und er war gezwungen, hierzubleiben. Mit so einer Frau hätte er sonst im Leben nie gesprochen. Warum also nicht nachgeben? Im seinem Alltag gab es weder Chaos noch Nachgeben, und hier war er in beidem versunken. Der Schnee machte seine Vorstellung zunichte, dass er je Macht über irgendetwas Bedeutendes gehabt hätte. „Ich würde das Spiel verlieren. Und ich gebe die Kontrolle nicht ab, cara.“

Sie rümpfte die Nase, und er fand es verstörend charmant. War er je zuvor dem Charme einer Frau erlegen?

„Du gibst die Kontrolle nicht ab und isst keine Reste. Sehr interessant.“ Sie nieste wieder.

Er kämpfte mit seiner Abneigung gegen alles, was mit Keimen zu tun hatte. „Du gehörst ins Bett. Du bist krank.“

„Ging mir schon mal besser.“ Sie nahm einen Schluck Kaffee. „Gibt es eine Möglichkeit, dass du je aufhörst?“

„Was meinst du mit aufhören?“

„Ich meine … Gibt es einen anderen Weg, der diese Expansion beendet?“

Er überlegte, ob er ihr die Wahrheit sagen sollte. Wie alles an seiner Mutter war die Wahrheit irrational. Für ihn war es eine Demütigung, die Erbärmlichkeit der Frau zu offenbaren, die ihn geboren und aufgezogen hatte. Aber es war nun mal die Wahrheit über sie und sein Leben. „Ja“, sagte er. „Gibt es. Ich muss heiraten und ein Kind bekommen.“

Sie blinzelte. „Wirklich? Deine Mutter war ziemlich kontrollierend.“

„Du hast keine Ahnung, wie sehr.“

„Kannst du jetzt verstehen, dass ich nicht von meiner Mutter kontrolliert werden will?“

„Kann ich. Aber deine Entscheidung kontrolliert sie auch. Solange du an diesem Ort festhältst, ist sie an ihn gebunden. Er bestimmt, was für ein Leben sie führen kann. Meine Mutter ist tot. Sie kontrolliert mich aus dem Grab heraus.“

Noelle stand auf und verließ wortlos den Raum. Er blieb zurück und starrte auf seinen Teller. Ihm dämmerte, dass er einen schweren Stand hatte. Wenn eine Person nicht mit Geld zu manipulieren war, wusste er nicht, wie er vorgehen sollte. Und auf verlorenem Posten zu stehen war er nicht gewohnt. Zumindest nicht in diesen Tagen.

In seiner Kindheit hatte er viel Zeit allein verbracht, sich durch die Dunkelheit bewegt. Er hatte in einem verkommenen Luxus gelebt, in dem nur ein einziger Raum heilig gewesen war. Sein Zimmer war sein wichtigster Zufluchtsort gewesen.

Das alte Anwesen hatte Geheimgänge. So konnte er sich durch die Wände bewegen, um verschiedene Bereiche des Hauses zu erreichen. Dann musste er nicht durch die vollgestopften Flure. Es gab kein Zimmer im Haus, das seine Mutter nicht mit ihrer Krankheit beansprucht hatte.

Er ertrug es nicht, irgendwo gefangen zu sein. Das erinnerte ihn zu sehr an diese Zeit in seinem Leben. An Tage, die er lieber vergessen würde.

Holiday House war zugig und alt. Auch wenn das Anwesen seiner Kindheit viel stattlicher gewesen war als dieses, es war genauso alt und heruntergekommen gewesen. Alt bedeutete kalt und feucht. Vor allem da, wo er gelebt hatte – in den italienischen Alpen. Viele Leute verbanden Italien mit Wärme und Sonne. Aber er konnte sich gut an Winter erinnern, in denen sie von einer Schneedecke eingehüllt gewesen waren. Das hatte er nie gemocht. Es hatte das Gefühl der Isolation verstärkt.

Und so war es auch jetzt.

Aber er machte sich Sorgen um Noelle. Irgendwie war sie sein Schützling geworden.

Er hatte keine Angst vor Krankheiten. Aber er hatte eine Vorliebe für Sauberkeit und die Kontrolle über diese Sauberkeit, denn in seinem Elternhaus hatte er keinerlei Kontrolle über seine Umgebung gehabt.

Dann würde er sich eben öfter die Hände waschen.

Er hatte sich noch nie um einen anderen Menschen gekümmert, aus Mangel an Gelegenheit. Nein, er hatte sein Leben damit verbracht, sich um sich selbst zu kümmern. Als Kind hatte es sich wie ein Überlebenskampf angefühlt. Zwei ältere Haushaltsangestellte hatten für seine Mutter gearbeitet und sich um die Mahlzeiten gekümmert, so gut es ging.

Als Erwachsener empfand er es als Luxus, für sich selbst zu sorgen, ohne dass seine Mutter mit ihren unmöglichen Forderungen und Bedürfnissen alles schwieriger machte. Sie hatte die Kontrolle über alles gewollt, einschließlich ihn. Als er aufhörte, formbar zu sein, als er aufhörte, ein Kind zu sein, wurde das für sie zur Herausforderung.

Er beschloss, die Initiative zu ergreifen und die Kontrolle zu übernehmen.

Es gab doch sonst niemanden, der sich um sie kümmern konnte.

4. KAPITEL

Ihr Kopf hämmerte. Vielleicht kam das Hämmern aber auch von draußen. Schwer zu sagen. Noelle setzte sich benommen auf und sah auf die Uhr. Erst zwanzig Minuten, seit sie nach oben gegangen war. Sie fühlte sich schrecklich. Langsam rollte sie sich aus dem Bett und trottete zum Fenster. Bei dem Anblick, der sich ihr bot, zog sie verblüfft die Augenbrauen hoch.

Rocco war draußen und hackte Holz.

Im Anzug.

Ohne nachzudenken, öffnete sie das Fenster. „Was machst du da?“ Sie schaute auf den Mann hinunter, der knietief im Schnee stand und Kleidung trug, die wahrscheinlich mehr kostete als alles, was sie je in ihrem Leben besessen hatte.

„Geh zurück ins Bett.“ Er blickte ärgerlich zu ihr hoch.

„Übst du, um mich in Stücke zu hacken und mir das Haus wegzunehmen?“

„Nein, ich übe nicht die hohe Kunst des Zerstückelns. Ich hacke Feuerholz, damit ich die Bibliothek heizen kann. Nicht, dass dir kalt ist.“

„Oh“, sagte sie. „Das ist sehr nett von dir. Verdächtig nett.“

„Ich schwöre, ich habe nicht vor, dich zu ermorden.“

„Äußerst beruhigend.“ Doch so erstaunlich der Anblick unten auch war, sie kroch wieder zurück ins Bett.

Sie musste erneut eingenickt sein, denn als sie die Augen öffnete, war es dunkler, und die Tür stand offen.

„Hier“, sagte eine sehr männliche Stimme. Rocco stand im Türrahmen und hielt ein Tablett mit einer Schüssel und einer Tasse.

„Was ist das?“

„Ich habe eine Dose Suppe und Tee gemacht.“

„Oh. Das ist sehr nett von dir.“ Immer noch verdächtig.

„Ja, das ist es.“ Er klang selbstzufrieden und ein bisschen überrascht.

Sie schaute sich um. „Ich möchte nicht undankbar sein, aber ich finde die Vorstellung, Suppe im Bett zu essen, nicht besonders reizvoll.“

„Ich habe unten Feuer gemacht“, sagte er.

„Gut. Vielleicht esse ich in der Bibliothek. Ist ja bloß ein Schnupfen.“ Sie nieste.

„Lass mich das Essen tragen. Wenn du niest, während du das Tablett hältst, könnte das ein Desaster verursachen.“

„Ich bin eh ein Desaster.“ Sie stieg aus dem Bett und folgte ihm.

„Bist du das?“, fragte er. „Ein Desaster?“

In was für einer seltsamen Welt war sie gelandet? Er hackte Holz, kümmerte sich um sie und tat so, als würde er sie kennenlernen wollen, was nicht wahr sein konnte. Sie blickte in sein Gesicht – Himmel, wie attraktiv er war! – und versuchte zu verstehen, was er dachte. Was er fühlte. Aber er war ein Rätsel. Das lag nicht nur daran, dass sie wenig Erfahrung mit Männern hatte. Rocco war … anders.

Keine Reste. Keine Erfahrung mit Kochen. So kalt in vielerlei Hinsicht und doch … kümmerte er sich um sie.

„Fühlt sich jedenfalls so an. Eingeschneit mit einem kaputten Schneepflug und einem Fremden, der mich loswerden will.“

„Habe ich gesagt, dass ich dich loswerden will?“

„Du versuchst mich zu kaufen.“ Sie fand es wichtig, sich und ihm klarzumachen, dass er, trotz seiner Freundlichkeit, ihr Leben auf den Kopf stellen wollte.

„Das hat nichts mit meinen Gefühlen zu tun.“

Plötzlich wurde ihr warm. Eine merkwürdige Art, sich auszudrücken. „Na ja, ich bin halt ich. Da kann man nichts machen“, sagte sie.

„Und du willst hier bleiben. Das kann ich nicht nachvollziehen.“

Sie ging in Richtung Bibliothek, hielt aber an der Küchentür an. Sie warf einen Blick hinein und sah totales Chaos. „Was ist denn hier passiert?“

„Ich räume nachher auf.“

„Du hast nur eine Dose Suppe aufgemacht und Tee gekocht?“ Es sah aus, als hätte er eine Not-Operation durchgeführt. Jeder Schrank stand offen. Die Mikrowelle war auf, eine Nudel hing an der Tür.

„Ich habe noch nie Suppe gekocht.“

„Soll jetzt nicht unfreundlich klingen, aber du hast eine Dose aufgemacht. Das zählt nicht als kochen.“

Er schaute sie finster an. „Ich bin solche Aufgaben nicht gewohnt.“

„Ich wette, du hast auch noch nie Holz gehackt. Aber du hast noch beide Hände. Das ist doch was. Hast du schon mal Wasser gekocht?“

„Natürlich nicht“, sagte er. „Warum sollte ich?“

„Keine Ahnung. Wir kennen uns nicht. Wir sitzen nur zusammen hier auf einem Berggipfel fest.“ Sie sah sich um. „Soll ich dir beim Aufräumen helfen?“

„Kommt nicht infrage. Du bist krank. Ich möchte, dass du dich hinsetzt und deine Suppe isst. Ich putze.“

„Ich wette, du hast keinen Schimmer, wie das geht.“

Sein Gesichtsausdruck verfinsterte sich. „Ich weiß sehr gut, wie man putzt.“

Sie ging in die Bibliothek, setzte sich in einen großen Sessel und legte die Füße auf dem gepolsterten Hocker ab. Er reichte ihr das Tablett mit der Suppe und dem Tee. Wirklich eine nette Geste, so insgesamt.

Was für ein merkwürdiger Mann er war. Nicht, dass sie Erfahrung mit Männern gehabt hätte. Sie liebte ihr Heimatstädtchen, aber die Männer hier waren langweilig. Die kannte sie alle schon ewig. Und wenn man einen Mann mit dreizehn kannte, gab es wenig, was ihn in seinen Zwanzigern interessant machte.

Die gut aussehenden, interessanten Männer, die in die Stadt kamen, waren nahezu immer vergeben. Rocco war der erste ansatzweise infrage kommende Mann, den sie hier je getroffen hatte.

Sofern ein Inferno aus Stein, Wut und Kapitalismus tatsächlich infrage kam.

Im Grunde wusste sie nicht mal, ob er wirklich Single war. Vielleicht war er mit einer Frau verlobt, die ihn aus dem Leben der ewigen Expansion befreien würde.

Allerdings konnte Noelle nicht einschätzen, ob er das wollte oder nicht.

Er schien es nicht zu mögen, unter der Kontrolle von irgendjemandem oder irgendetwas zu stehen. Aber sie hatte keine Ahnung, was er dachte. Obwohl sie ungern zugab, dass er komplexer war, als sie zunächst gedacht hatte. Als sie ihm gesagt hatte, er wäre schlimmer als ein Serienmörder.

Das war er offensichtlich nicht. Ein Serienmörder hätte sie nicht gesund gepflegt.

Sie nahm sich einen Cracker und tunkte ihn in ihre Hühnersuppe. Im Nebenzimmer brach ein großer Tumult aus, den sie geflissentlich ignorierte. Etwa fünfundzwanzig Minuten später tauchte er wieder auf. „Geht es dir gut?“, fragte er.

„Den Umständen entsprechend. Bist du verlobt?“

Er sah verblüfft aus. „Bin ich nicht.“

„Habe mich nur gewundert. Hätte ich auch nicht gedacht.“

„Ich bin mir nicht sicher, wie ich das auffassen soll.“

„Wertfrei, würde ich sagen. Es gibt keine versteckte Bedeutung. Ich war nur neugierig. Außerdem hast du die Sache mit deiner Mutter, der Heirat und dem Kind erwähnt. Ich dachte, du hättest vielleicht Schritte unternommen. Ich fand es lustig, weil du der erste akzeptable Junggeselle bist, den ich in dieser Stadt getroffen habe …“ Sie verschluckte sich an ihrem Tee, und ihre Kehle fühlte sich unangenehm an. Dann schämte sie sich, denn sie hätte sich nicht so bloßstellen dürfen.

„Ich bin nicht verlobt. Akzeptabel ist eine andere Frage.“

Sie lachte. „Lustig, ich habe genau das Gleiche gedacht.“

„Bist du verheiratet?“

„Wenn du mit meiner Mutter gesprochen hast, dann kennst du die Antwort. Und du weißt auch, dass sie unter anderem dagegen ist, dass ich hierbleibe, weil ich hier niemanden kennenlerne.“ Sie runzelte die Stirn. „Mit das Schlimmste daran, dass meine Mutter so schnell hier wegwill, ist, dass es mir das Gefühl gibt, dass sie unser Leben nie wirklich geliebt hat. Dass sie meinen Vater nie so geliebt hat, wie ich dachte.“ Er starrte sie nur an. Da war keine Gemeinsamkeit. Kein Verständnis. „Würdest du dich nicht auch so fühlen, wenn du herausfinden würdest, dass deine Mutter verzweifelt versucht hat, dem Leben mit deinem Vater zu entkommen?“

„Ich habe meinen Vater nie gekannt.“

„Oh. Das tut mir leid.“

„Schon in Ordnung. Es bedeutet mir nichts.“

„Deine Mutter hat dich allein großgezogen?“

„Ja.“

„In Italien?“

„Ja.“

„Rocco, wir sind hier nur zu zweit. Da können wir auch ein wenig Small Talk machen.“

Das war nur eine höfliche Geste. Und ja, manchmal wehrten sich die Leute aus den Städten dagegen. Sie verstanden nicht, was sie damit bezwecken wollte. Aber sie bestand darauf, ihren Gästen eine authentische Kleinstadt-Erfahrung zu geben. Außerdem gefiel es ihr, neue Leute kennenzulernen und von ihrem Leben zu hören.

Sie liebte ihr Leben.

Aber sie kannte auch nichts anderes.

Sie war nie aufs College gegangen, hatte nie in einem anderen Bundesstaat gelebt oder das Leben in einer Stadt ausprobiert. Deshalb faszinierte es sie immer, zu sehen, wie jemand anders lebte.

„Ich bin hier aufgewachsen“, sagte sie. „Dieser Ort ist seit Generationen im Besitz der Familie meines Vaters. Er bedeutet mir sehr viel. Meine Großmutter hat hier als Gastwirtin gelebt – bis sie starb, als ich fünfzehn war. Und mit achtzehn habe ich die Stelle übernommen.“

„Und deine Eltern?“

„Die haben unten im Städtchen gewohnt. Meine Mutter hat das Haus bereits verkauft, um ihre neue Eigentumswohnung in Florida zu bezahlen. Ihr gefällt es da besser, wo die Sonne dauernd scheint. Mir nicht.“

„Hast du je da gelebt, wo die Sonne dauernd scheint?“

„Nein.“

„Woher weißt du dann, dass es dir nicht gefällt?“

„Manchmal weiß man es einfach.“

Sie schwiegen einen Moment lang. Sie wollte mehr Informationen aus ihm herauskitzeln, aber kein Drama verursachen. „Also“, sagte sie. „Du kommst aus Italien.“

„Ja“, sagte er gedehnt. „Aus den italienischen Alpen. Meine Mutter stammt aus einer sehr alten, wohlhabenden Familie. Sie hatte mehr Geld als Verstand. Als sie älter war, ließ sie sich schwängern. Und beschloss, niemandem die Identität des Kindsvaters zu verraten.“

„Oh. Aber wenigstens war sie wohlhabend.“...

Autor

Dani Collins
<p>Dani Collins verliebte sich in der High School nicht nur in ihren späteren Ehemann Doug, sondern auch in ihren ersten Liebesroman! Sie erinnert sich heute immer noch an den atemberaubend schönen Kuss der Helden. Damals wurde ihr klar, dass sie selbst diese Art von Büchern schreiben möchte. Mit 21 verfasste...
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