Julia Ärzte zum Verlieben Band 185

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DUNKLE ERINNERUNG – STRAHLENDE ZUKUNFT? von JC HARROWAY

Dr. Joe Austin ist attraktiv – aber unglaublich streng! Darcy kann es ihrem neuen Boss nicht recht machen; er glaubt nicht an ihr medizinisches Können. Sie ahnt nicht, dass Joe hinter seiner Perfektion Schmerz und Angst vor Nähe verbirgt. Bis er sie überraschend küsst …

ÜBER DEN WOLKEN MIT SCHWESTER CHELSEA von AMY ANDREWS

Sie retten ein Baby – und feiern ihren Triumph über den Tod mit einem heißen Kuss! Doch mehr darf nicht sein, schwört sich Flying Doctor Aaron Vincent. Denn bald wird die hübsche Schwester Chelsea ihn und das australische Outback verlassen und zurück nach London gehen …

EINGESCHNEIT MIT DEM CHIRURGEN von SCARLET WILSON

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  • Erscheinungstag 16.12.2023
  • Bandnummer 185
  • ISBN / Artikelnummer 8031230185
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

JC Harroway, Amy Andrews, Scarlet Wilson

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 185

1. KAPITEL

Darcy Wright glaubte fest an gute erste Eindrücke, besonders am ersten Tag in einem neuen Job. Wo zum Teufel war also ihr Stift, wenn sie ihn brauchte? Gedankenverloren klopfte sie die Taschen ihres weißen Kittels ab und musterte dann die Schwesternstation, ob ein verirrter Stift zu sehen war. Leider nicht. Wie sollte sie ihrem neuen Chef zeigen, was für eine gute Chirurgin sie war, wenn sie ohne Stift keine Einverständniserklärung unterschreiben konnte?

Er würde jede Minute hier sein, und sie wollte ihn beeindrucken und ihm den Patienten präsentieren, den sie gerade untersucht hatte und der dringend operiert werden musste.

Menschen zu helfen und Leiden zu lindern, war das Wichtigste in ihrem Leben, und nun stand nur noch Joe Austin, ihr neuer Chef, zwischen Darcy und der Krönung ihrer Karriere: als Fachärztin für die Patienten in ihrer Obhut verantwortlich zu sein.

„Mr. Clarke in Zimmer drei wird heute operiert“, sagte sie zu Isha, der Stationsschwester, die hinter dem Tisch stand. „Hätte ich einen Stift, könnte ich …“ Darcy blies sich die Haarsträhne, die sich aus ihrem Pferdeschwanz gelöst hatte, aus dem Gesicht.

Isha nickte, zog einen Stift aus ihrer Uniformtasche und reichte ihn ihr.

„Danke.“ Erleichtert lächelte Darcy.

„Moment.“ Isha riss die Augen auf. „Sie setzen einen Patienten auf Dr. Austins OP-Liste, ohne ihn vorher zu fragen?“

„Natürlich … Als seine chirurgische Assistenzärztin ist das meine Aufgabe.“ Darcy unterschrieb die Einverständniserklärung zur OP und gab Isha den Stift zurück.

Der besorgte Gesichtsausdruck der Stationsschwester machte Darcy nervös. Bis vor einer halben Stunde hatte sie noch nie von Joe Austin gehört. Erwartet hatte sie Dr. Fletcher, den freundlichen, älteren Chirurgen, der mit ihr das Einstellungsgespräch für diese Stelle im Londoner City Hospital geführt hatte. Stattdessen hatte sie erfahren, dass er vor Kurzem in Rente gegangen und sie Dr. Austins Team zugeteilt worden war.

Ein ungutes Gefühl machte sich in Darcy breit, ihr guter Eindruck war in Gefahr. „Warum …? Wie ist Dr. Austin denn so?“, fragte sie vorsichtig. Sicher bekam sie Lob, weil sie früher gekommen war und den Patienten mit akuten Unterleibsschmerzen unter den in der Nacht aufgenommenen Patienten gefunden hatte.

Darcy arbeitete hart für ihre Patienten, um zu beweisen, dass sie gut war in ihrem Job.

Bestimmt erkannte ihr Chef ihr Engagement.

„Hmm … Alle Patientinnen lieben ihn“, antwortete Isha. „Selbst die verheirateten, wenn Sie verstehen, was ich meine.“ Sie grinste und zwinkerte ihr zu. „Haben Sie nicht von ihm gehört?“

Ishas Augen funkelten besorgniserregend amüsiert.

Von ihm gehört …? Wie furchteinflößend konnte er schon sein?

„Neeeiin …“, antwortete sie gedehnt. „Bis heute Morgen bin ich davon ausgegangen, dass ich für Dr. Fletcher arbeite. Warum hätte ich von ihm hören sollen?“

„Oh … Das wird ein Vergnügen für Sie. Optisch ist er kein Dr. Fletcher, so viel steht fest. Außerdem ist er ein fantastischer Chirurg und berühmt.“ Ihr Blick wanderte zum Stationseingang. „Und da kommt er“, flüsterte sie.

Sofort verfiel Darcys Körper in den Panikmodus. Sie schaute weiter geradeaus, um sich nicht umzudrehen und dieses furchterregende Wesen anzustarren, das wohl nett anzuschauen war, aber ihren Enthusiasmus nicht wirklich beeindruckend finden könnte.

Doch bestimmt zählte auch für Dr. Austin nur das Wohlergehen der Patienten, zuallererst Mr. Clarke.

„Sagen Sie ihm nicht, dass ich noch nie von ihm gehört habe“, zischte sie Isha panisch zu. Der erste Eindruck war der schlechteste Zeitpunkt für einen beruflichen Fauxpas. Isha zwinkerte ihr zu und tippte sich an die Nase, als wollte sie sagen, dass sie Darcys Unwissen für sich behalten würde.

Zog sie sie etwa auf? Hoffentlich war das ein Witz. Ein schlecht gelauntes Monster als Chef, das ihr die Arbeit vermieste, konnte sie gar nicht brauchen.

Es juckte Darcy in den Fingern, ihren eigensinnigen Pferdeschwanz zu richten, aber es sollte nicht so aussehen, als ob sie sich extra herausputzte. Stattdessen wappnete sie sich innerlich für diesen Mann, mit dem sie die nächsten drei Monate eng zusammenarbeiten würde.

Dann stellten sich ihr die Nackenhaare auf, ihr Körper prickelte, ein köstliches Aftershave hüllte sie ein, als sie eine beeindruckend große und verlockende Präsenz neben sich spürte.

„Guten Morgen, Dr. Austin“, begrüßte Isha den Mann in Darcys peripherem Blickfeld lächelnd.

„Hat sich deine Tochter von ihrer Erkältung erholt?“

Da sie es nicht länger vermeiden konnte, schaute Darcy zu dem beeindruckenden Neuankömmling auf – sein attraktives Profil beruhigte ihre strapazierten Nerven nicht gerade. Kein Monster. Elegant gekleidet in einem dreiteiligen marineblauen Anzug, einem taubengrauen Hemd und mit bordeauxrotem Schlips, wirkte Joe Austin beruhigend selbstbewusst und souverän. Groß, attraktiv und mit markanten Gesichtszügen – mit seinem Aussehen hätte er ein Model sein können statt gastroenterologischer Chirurg. Vielleicht war er deshalb berühmt.

Erleichterung flackerte in Darcy auf.

Als bemerkte er sie endlich, schweifte sein Blick über Darcy.

Überrumpelt lächelte sie und änderte ihre Meinung.

Nicht attraktiv – heiß.

Das Lächeln hätte sie sich sparen können. Noch bevor sie sich vorstellen konnte, konzentrierte er sich wieder auf Isha.

Kein gutes Zeichen.

All ihre versteckten Unsicherheiten verknoteten ihr den Magen. Darcy riss sich zusammen; sie war einunddreißig Jahre alt! Dieses eine Mal würde sie es Joe Austin nachsehen. Schließlich war er atemberaubend attraktiv, wie Isha angedeutet hatte.

Während sie auf ihre Gelegenheit zum Unterbrechen wartete, musterte sie den Mann wie jemand auf Diät einen Schokoladenkuchen.

Er war so ganz anders als der freundliche Dr. Fletcher, der mit weit über sechzig eher ein großväterlicher Typ gewesen war. Joe Austins braune Haare zierte gerade genug Grau an den Schläfen, um eine zukünftige Mitgliedschaft im Club der attraktiven, älteren Männer zu verheißen, und sein sündhafter, beinahe sinnlicher Mund schien nur für Darcy den finsteren Ausdruck zu tragen.

Innerlich stöhnte Darcy. Es gab Wichtigeres, als ihren Chef so attraktiv zu finden, dass ihr gesamter Körper prickelte. Sie musste einen dringenden Fall präsentieren: Mr. Clarke und seinen geplatzten Blinddarm. In einer kurzen Gesprächspause ergriff sie die Gelegenheit und streckte eine Hand in seine Richtung.

„Dr. Austin …“ Sie hatte genug davon, ignoriert zu werden.

Daraufhin drehte ihr Chef den Kopf in ihre Richtung, und diesmal schauten sie sich in die Augen. Seine waren kastanienbraun, sein Blick scharf und intensiv.

Darcys Puls raste. Ernsthaft …? Kein Wunder, dass das weibliche Personal und die Patientinnen in der näheren Umgebung selig lächelten.

„Das ist Ihre neue chirurgische Assistenzärztin“, stellte Isha sie vor, weil Darcy scheinbar vergessen hatte, dass sie eine qualifizierte Chirurgin war und keine blauäugige Medizinstudentin an ihrem ersten Tag auf Station, die den echten Arzt anhimmelte.

„Ahh …“, erwiderte er, offensichtlich unbeeindruckt von dem, was er sah.

Was …? Sie erwartete weder eine Begrüßungsfanfare noch ein Feuerwerk, aber er hätte wenigstens höflich sein können. Wäre da nicht ihr Hang gewesen, übertrieben defensiv zu werden, wenn sie sich unwohl oder beurteilt fühlte, hätte sie ihm die Meinung gegeigt, berühmter Chirurg oder nicht.

Schließlich ergriff er ihre ausgestreckte Hand. „Schön, Sie kennenzulernen.“ Sein Ton ließ anderes vermuten.

Darcys Lächeln wackelte noch einmal unsicher, bevor es erstarb. Wie hatte sie ihn bereits jetzt verärgert? Hatte er bemerkt, wie sie ihn gemustert hatte …?

Vor Jahren schon hatte sie sich einen festen, entschlossenen Händedruck angewöhnt, damit sie ernst genommen wurde; nie hatte sie ihn dringender gebraucht. „Darcy Wright. Ich bin auch sehr erfreut, Sie kennenzulernen.“

Sie holte tief Luft, bereit, ihn mit ihren diagnostischen Fähigkeiten zu beeindrucken.

„Willkommen in meinem Team.“ Er erwiderte die Geste genauso fest, seine kastanienbraunen Augen musterten sie wie ein Virus unter dem Mikroskop. Stoisch ignorierte sie, dass sein „Willkommen“ eher klang wie „Unter welchem Felsen sind Sie denn vorgekrochen?“. Aber sie versteifte sich trotzdem.

Vielleicht hatte sie sich nur eingebildet, wie sein Blick sie von Kopf bis Fuß musterte? Sie riss ihren Blick von seinen vollen Lippen los, die lächerlicherweise den Gedanken an verzweifelte Küsse weckten. Sie war nicht zum Schwärmen hier. Okay, er war heiß. Na und? Es war einfach nur lange her, über ein Jahr, seit sie jemanden vom anderen Geschlecht attraktiv gefunden hatte …

Seit der Trennung von ihrem Ex, Dean, hatte sie sich nur auf ihre Karriere konzentriert. Je härter sie arbeitete, um bei ihren Patienten etwas zu bewirken, umso größer die Belohnung.

Jetzt, wo sie seine Aufmerksamkeit hatte, musste sie sich auf den Patienten konzentrieren. „Kann ich Mr. Clarke präsentieren, den ich auf Ihre dringende OP-Liste für heute gesetzt habe?“

Skeptisch zog Joe eine Augenbraue hoch, wartete schweigend. Seinem dunklen Blick fehlte Wärme, selbst Respekt. Dafür war er so durchdringend, dass Adrenalin durch Darcys Körper schoss und sie beinahe ihre Entschlossenheit einbüßte.

Wie typisch für sie, dass das Objekt ihrer Lust aus unzähligen Gründen tabu war …

Ihr Chef.

Vermutlich verheiratet.

Schien sie auf den ersten Blick nicht zu mögen.

Ihre Hoffnung auf einen positiven ersten Eindruck bekam einen Dämpfer. Isha hatte recht, sie hätte erst fragen sollen. Freunde würden sie nicht werden, aber dafür war er sowieso zu heiß. Sie musste ihm zeigen, wie kompetent sie war, nicht erröten, wenn er sie ansprach.

„Ich habe mich mit Ihren Patienten vertraut gemacht“, erklärte sie trotz allem. „Mr. Clarke ist ein fünfunddreißigjähriger Mann in Zimmer drei mit einem geplatzten Blinddarm, der operiert werden muss. Heute.“ Sie reichte ihm das Tablet mit der Patientenakte. Guter Eindruck hin oder her, inzwischen betete sie einfach nur, dass sie ihren ersten Tag überstand, ohne ihm deutlich zu sagen, was sie von ihm hielt.

Mit versteinerter Miene scrollte er durch die Informationen. „Wo haben Sie gearbeitet, bevor Sie ins City gekommen sind?“ Seinem Ton nach hielt er sie für nicht gut genug, um seine Assistenzärztin zu sein.

Ihre Unsicherheiten flammten auf. Jeder hatte empfindliche Stellen, tief sitzende Ängste. Ihre stammten aus der Kindheitsüberzeugung, dass sie irgendwie fehlerhaft oder grundsätzlich nicht liebenswert war. Denn ihr Vater war noch vor ihrem ersten Geburtstag gegangen und danach immer nur sporadisch aufgetaucht, und jedes Mal hatte er ihr Hoffnung gemacht und diese dann wieder zerstört.

Zum Glück hatte Darcy eine andere, konstantere Familie. Sie liebte ihre Halbschwestern – Lily, eine Rechtsanwältin, und Stella, die Jüngste, ebenfalls eine Ärztin, mit der sich Darcy eine Wohnung teilte. Ihre Mutter und ihr Stiefvater, Grant, ein wunderbarer Mann, liebten sie alle gleich. Grant hatte Darcy adoptiert und wie seine leiblichen Töchter behandelt.

Aber manchmal hatte nicht einmal das gereicht, damit sich Darcy nicht abgelehnt fühlte. Sie musste etwas getan haben, um ihren Vater zu vertreiben. Wenn sie sich besser benahm oder in der Schule härter arbeitete, konnte sie vielleicht die Liebe ihres Vaters zurückgewinnen. Damit begann der Wettbewerbsdruck, der sie noch immer antrieb.

Wie konnte dieser Mann all diese Unsicherheiten mit einem einzigen Blick erkennen? Seine offensichtliche und unbegründete Verachtung brachte ihr Blut zum Kochen.

Seine Ablehnung war unfair.

So hochmütig wie möglich ratterte sie eine Kurzversion ihres beeindruckenden Lebenslaufs runter, während ihr bei seiner ausdruckslosen Miene immer unwohler wurde. Was brauchte es, um diesen Mann zu beeindrucken?

„… und bevor ich hierherzog, habe ich die chirurgische Rotation im Hanes-Krankenhaus bei Dr. Clough absolviert“, beendete sie mit hocherhobenem Kopf, um sich ihre aufgewühlten Gefühle nicht anmerken zu lassen.

„Ich weiß, dass Sie mich geerbt und nicht ausgesucht haben, aber Dr. Fletcher hat mir die Stelle gern angeboten.“ Sie gab sich Mühe, nach außen den Anschein einer gegenseitig respektvollen Arbeitsbeziehung zurückzugewinnen, nach der sie sich sehnte.

„Hmm …“, brummte Joe Austin unverbindlich, während er die Notizen zu Mr. Clarke sorgsam durchlas, als suchte er nach dem Fehler, der bewies, dass sie doch keine echte Ärztin war.

Das Letzte, was Darcy so kurz vor ihrer beruflichen Ziellinie brauchen konnte, war ein arroganter, fordernder und rücksichtsloser Tyrann, der sie herumkommandierte, wenn sie die Dinge gern auf ihre Weise tat. Ihr Selbstvertrauen stand bereits auf wackeligen Füßen.

Sie räusperte sich und konzentrierte sich auf das, was wirklich zählte: ihr Patient. „Dr. Austin, ich glaube, Mr. Clarke braucht eine Not-Laparotomie.“ Sie hielt ihre Stimme ruhig, aber bestimmt. „Wie Sie aus den Notizen sehen können, zeigt er offensichtliche Zeichen eines akuten Abdomens …“

„Haben Sie andere Gründe für seine Symptome ausgeschlossen?“, unterbrach er sie, ohne vom Bildschirm aufzusehen.

„Natürlich!“, stotterte Darcy beinahe. Hielt er sie für völlig inkompetent? Es wurde zunehmend schwieriger, seine ungerechtfertigte Skepsis nicht persönlich zu nehmen. Ganz sicher war Joe Austin anders als jeder andere Oberarzt, den sie je erlebt hatte.

Er war heißer, aber unhöflich, und brachte sie zur Weißglut.

Darcy weckte ihre letzten Reserven an Geduld. Oberärzte hatten ihre eigenen Regeln und Routinen. Das hatte sie nie zuvor persönlich genommen. Warum dann jetzt?

Weil ihr sein Auftreten das Gefühl gab, unbedeutend zu sein, und das fühlte sich zu sehr nach ihrem Vater und ihrem Ex an.

Erst jetzt warf sie einen Blick auf seine linke Hand und fragte sich, wie es seine Frau mit ihm aushielt. Doch sein Ringfinger war nackt. Verdammt … Das half ihr nicht gerade, die Anziehung abzuwehren.

Sie ließ ihre Stimme härter, autoritärer klingen, diese Stimme reservierte sie für betrunkene Angehörige an Samstagabenden in der Notaufnahme. „Wenn Sie Mr. Clarke untersuchen, werden Sie eine Abwehrspannung und einen Loslassschmerz in der rechten Darmbeingrube feststellen.“ Defensiv zählte sie eine Reihe typischer Zeichen und Symptome auf. Sie war es nicht gewöhnt, sich so ausführlich erklären zu müssen – schließlich war sie keine Anfängerin mehr.

Natürlich musste sie den schwierigen Chef erwischen. War es zu viel verlangt, dass er ihr ein Mindestmaß an Respekt und Akzeptanz entgegenbrachte, wenn er doch wusste, wie schwer der Weg vom naiven Medizinstudenten zum erfahrenen Facharzt war?

Sie schob die Hände in die Taschen ihres weißen Kittels. Hier ging es um das Beste für den Patienten.

„Er zeigt eine Peritonitis wie aus dem Textbuch“, fuhr sie frostig fort, zum Teufel mit allen Erwartungen. „Meine Diagnose ist ein geplatzter Blinddarm, also habe ich mit einem intravenösen Antibiotikum angefangen und ihn auf die OP-Liste gesetzt.“ Sie stellte sich das befriedigende Bild von Joe Austins zerknirschtem Gesichtsausdruck vor, wenn sie im OP bewies, dass ihre Diagnose stimmte. „Ich operiere gerne, wenn Sie ausgebucht sind.“

Kurz flackerte so etwas wie Respekt in Joes dunkelbraunen Augen auf. Er presste seine Lippen zusammen. „Ms. Wright …“ Sie hielt den Atem an, ihr Herz raste mit derselben Aufregung und Erwartung, die sie mit einem Skalpell in der Hand spürte.

„Ob und wenn“, fügte er betont hinzu, „ich Sie mit Freude meine Patienten operieren lasse, werden Sie früh genug erfahren.“

„Aber ich habe diese Prozedur schon oft durchgeführt“, stotterte Darcy verblüfft. Die Abfuhr tat weh, auch wenn sie respektierte, dass er die Versorgung seiner Patienten sicherstellen wollte. Ja, sie war neu und musste ihre Talente erst noch beweisen, aber sie hatte die letzten zehn Jahre hart gearbeitet, hatte persönliche Opfer gebracht, um ihre Ziele zu erreichen.

„Dann beginnen wir doch die Visite mit Mr. Clarke“, sagte Joe zu Isha und ging in Richtung Station.

Isha, die aussah, als hätte sie die Klatschlotterie des Krankenhauses gewonnen, lächelte Darcy mitfühlend, aber ermutigend an und folgte eilig dem tollen Mann.

Wohl eher dem unerträglichen Mann.

Darcy beeilte sich, damit sie den Anschluss nicht verlor, und fühlte sich wie eine Hochstaplerin. Ausgeschlossen. Schlecht gemacht. Es war eine Weile her, seit sie jemandem erlaubt hatte, ihr dieses Gefühl zu geben.

Nur der Gedanke an Mr. Clarkes vor Schmerzen blasses Gesicht ließ Darcy entschlossen bleiben. Ihre Diagnose stimmte. Das würde Joe Austin schnell selbst herausfinden, wenn er den Patienten untersuchte. Dann würde er sich entschuldigen müssen – öffentlich, ausgiebig und bevorzugt auf den Knien.

2. KAPITEL

Joe Austin graute es vor dem ersten Tag mit neuen Assistenzärzten. Meist kamen sie mit schlechten oder faulen Angewohnheiten, die er schnell und gründlich ausmerzen musste. Auch wenn niemals jemand so in die Defensive gegangen war wie Darcy Wright.

„Ich weiß nicht, wie die Dinge im St. Marys gehandhabt werden, Ms. Wright“, sagte Joe auf dem Weg über den Stationsflur, „aber hier bin ich für meine Patienten verantwortlich.“

Ein Seitenblick zeigte ihm die leichte Röte auf ihren Wangen. Verdammt, er musste seinen Ton im Zaum halten, sie behutsam an die Tatsache heranführen, dass sie statt des freundlichen und entspannten Rod Fletcher nun für einen Chef mit hohen Erwartungen arbeitete, der nicht vorhatte, etwas schleifen zu lassen.

Notgedrungen hatte Joe seinen Laden fest im Griff, hauptsächlich für seine emotionale Gesundheit. Er kannte die verheerenden Konsequenzen von Unaufmerksamkeit aus eigener Erfahrung. Aber mit einigen versöhnlichen Bemerkungen erkannte seine neue Assistenzärztin vielleicht, dass seine unflexible Haltung nicht persönlich gemeint war.

„Natürlich“, erwiderte sie. „Aber es ist meine Aufgabe, Ihre Patienten zu evaluieren.“ Sie würde seine Erklärung nicht einfach akzeptieren, und er konnte sie dafür nur respektieren.

„Mir war nur nicht klar“, fuhr sie fort, „dass ich mir damit einen erniedrigenden und sehr öffentlichen Tadel einhandele.“ Trotzig reckte sie ihr Kinn.

Ihre Blicke kollidierten. Sie war unangenehm schön und, nach seinem ersten Eindruck, sehr intelligent und hoch motiviert. Und sie weckte etwas in ihm, das er lange nicht gefühlt hatte: Begeisterung, Interesse, Anziehung.

Ihm schwirrte noch immer der Kopf davon. Er hatte so lange in einem dichten Nebel aus Trauer gelebt, dass dieses positive Gefühl besonders erstaunlich war.

Wie hatte sie das so mühelos geschafft?

„Es tut mir leid, wenn ich diesen Eindruck vermittelt habe“, sagte er und bewunderte, wie ihre brillantblauen Augen herausfordernd funkelten. „Ich fürchte, als meine Assistenzärztin werden Sie sich an meine Eigenheiten gewöhnen müssen.“ Selbst in seinen Ohren klang das nicht nach einer Entschuldigung.

Aber er wusste bereits, dass diese spezielle Assistenzärztin viele Prüfungen bedeutete, nicht zuletzt, weil sie ihm so schnell unter die Haut ging.

Sie presste ihre vollen Lippen zusammen.

„Ich will nicht schroff klingen“, fuhr er fort, „aber ich verlange den höchsten Standard.“

Und wie die meisten Perfektionisten verlangte Joe am meisten von sich selbst.

„Das ist toll.“ Ihr Lächeln zeigte Entschlossenheit. „Weil ich für meine Arbeit brenne. Ich nehme die Versorgung anderer sehr ernst, und in diesem Fall weiß ich, dass meine Diagnose stimmt.“

Er blieb vor Zimmer drei stehen und zog ein Paar Latexhandschuhe aus der Box, die an der Wand angebracht war. Ein bewunderndes Lächeln zuckte um seinen Mund. „Das freut mich zu hören – in meinem Team gibt es keine Faulpelze.“

„Dr. Austin …“, sagte sie mit zusammengebissenen Zähnen, „… ich respektiere natürlich Ihre Autorität, und ich bin hier, um von Ihnen zu lernen, aber auf meinen vorherigen Positionen habe ich immer sehr selbstständig gearbeitet. Meine Oberärzte haben mir die routinemäßige Stationsarbeit und die OP-Vorbereitung der Patienten gern überlassen, damit sie sich auf ihre OP-Listen und Sprechstunden konzentrieren konnten.“

Wenigstens hatte sie den kampfeslustigen Ton etwas aus ihrer Stimme getilgt.

Joe nickte. So hatte er früher auch mal gearbeitet. Bevor sein Privatleben zerfallen und seine Arbeit seine einzige Zuflucht geworden war. Damals war er zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen, um zu sehen, was zu Hause passierte, mit seiner Familie.

Und er hatte den höchsten Preis dafür bezahlt.

„Sie haben eine erfahrene Assistenzärztin vor sich.“ Darcy fuhr fort: „Wozu etwas selbst machen, wenn man jemanden hat, der dafür bezahlt wird …“ Ihr Lächeln deutete auf einen spielerischen Sinn für Humor hin.

Es verwandelte ihr Gesicht so, dass Joe den Atem anhielt. Sie war nicht einfach schön, sie war atemberaubend. Wie sah sie wohl in ihrer Privatkleidung und mit offenen Haaren aus?

„Bis zu einem gewissen Punkt stimme ich Ihnen zu, Ms. Wright“, erwiderte er mit ruhiger, aber unbeugsamer Autorität. Bei ihr musste er auf Zack sein. „Aber wenn es mein Skalpell ist, und mein Name neben dem des Patienten steht, entscheide ich, wer auf meine OP-Liste kommt.“

Innerlich seufzte er, zu spät fiel ihm ein, dass er ihr das Du anbieten sollte. Aber der Gedanke, dass sie ihn mit Joe ansprach, ließ seine Haut heiß prickeln. Das formelle „Dr. Austin“ würde ihm helfen, ihren weiblichen Reizen zu widerstehen und sie auf Abstand zu halten.

Egal, er war älter als sie. Und nur verantwortlich für ihre Aus- und Weiterbildung. Anders durfte er sie nicht sehen. Auf keinen Fall sollte er an ihr warmes, offenes Lächeln denken, das er kurz zur Begrüßung gesehen hatte, und wie er es mit seiner trauerbedingten schlechten Laune vertrieben hatte.

„Sind Mr. Clarkes Werte stabil?“ Die Frage richtete er an Isha, die sie amüsiert beobachtete.

„Er ist tachykard und fiebrig, aber sein Blutdruck ist stabil.“

„Ich habe erlebt, dass es Patienten wie ihm rapide schlechter ging“, mischte sich Darcy ein, ließ sich aus dem Gespräch nicht ausschließen. „Ich denke, sobald Sie Mr. Clarke untersucht haben, werden Sie meiner Einschätzung zustimmen.“

Warum musste sie unbedingt recht haben? Warum interessierte er sich so für ihre Motive?

„Vielleicht“, erwiderte er, schob ihre Attraktivität als irrelevant beiseite, „aber ich bin ein kompromissloser Chef. Ich will, dass Dinge erledigt werden, wie ich das will. Ich werde vermutlich alles doppelt kontrollieren, also gewöhnen Sie sich besser dran.“

Eifrig trat Darcy vor und nahm sich ein Paar Handschuhe. „Ich lerne schnell, wie Sie sehen werden, wenn Sie mir erlauben, Mr. Clarke zu operieren.“

Sie gab einfach nicht auf.

„Wir werden sehen.“ Ihre Entschlossenheit verdiente seinen widerstrebenden Respekt. Würden sie die ganze Zeit beruflich aneinandergeraten? Ohne weiter darüber nachzudenken, warum ein Teil von ihm das reizvoll fand, konzentrierte er sich auf die Ordnung und Präzision seiner Arbeit, um das Chaos auszugleichen, das er aus seinem einmal idyllischen Leben gemacht hatte. Dann drückte er die Tür auf und betrat selbstbewusst den Raum, um Mr. Clarke zu begrüßen.

Darcys Diagnosefähigkeiten hatten sich als perfekt erwiesen.

Im grellen Licht der OP-Lampen blinzelte Joe und schluckte die Schuldgefühle darüber, wie negativ er auf seine neue Assistenzärztin reagiert hatte, herunter. Er beobachtete, wie sie das Operationsfeld vorbereitete, ihre langen, glänzenden, blonden Haare bis auf einige verlockende Strähnen versteckt unter der blauen Kopfbedeckung.

„Bereit?“ Er schaute auf, wieder prasselte das aufblitzende Misstrauen in Darcys hellblauen Augen auf ihn ein. Eingerahmt von unglaublich langen Wimpern waren sie das Einzige, was über der OP-Maske von ihrem Gesicht sichtbar war. Er hätte etwas nachsichtiger sein sollen. Ihr Beruf erlaubte weder Zweifel noch Unsicherheit. Hätte Darcy nicht erkannt, wie ernst es um den Patienten stand, hätte er jetzt mit einer lebensbedrohlichen Sepsis im Warteraum sitzen können.

Sie hatte es gut gemacht, und es war nicht ihre Schuld, dass diese Woche für ihn besonders hart war.

Die bevorstehende Leukämie-Benefizveranstaltung, die er mit seiner Ex-Frau zweimal im Jahr im Gedenken an ihre Tochter Rosie abhielt, riss bei ihm eine schlecht verheilte Wunde wieder auf. Wohlmeinende Freunde fragten, wie es ihm ging. Als könnten der verheerende Verlust seines einzigen Kindes und das Implodieren seiner Ehe mit dem einzigen sozial akzeptierten Wort gut zusammengefasst werden.

Wenn er Bekannte anlächelte, schienen ihn Schuldgefühle zu zerreißen. Wenn er vor Laura, seiner Ex-Frau, irgendein Gefühl zeigte, kämpfte sie mit den Tränen. Die Trauer, für die es weder ein Verfallsdatum noch eine wundersame Heilung gab, erdrückte ihn von innen heraus, während er nur darauf wartete, dass ihre Gäste gingen, damit er den Sandsack in seiner Garage bearbeiten konnte, bis seine Knöchel bluteten und er vor Erschöpfung bewusstlos wurde.

Über die Jahre hatte er zu viele Nächte auf dem kalten Zementboden geschlafen und war mit geschwollenen Händen – die unersetzbaren Werkzeuge für seine Arbeit – und geschwollenen Augen aufgewacht.

Kein Wunder, dass es ihn aus der Bahn geworfen hatte, seine unerwartet attraktive und forsche Assistenzärztin zu treffen.

Sie nickte. „Sind Sie damit einverstanden, wenn ich fortfahre, Dr. Austin?“

„Bitte fahren Sie fort, Ms. Wright.“ Er unterdrückte ein Seufzen, dunkle Gedanken an sein vergangenes Versagen beseitigten das dumme, aufflackernde Verlangen.

„Sie seufzen.“ Darcy unterbrach die Vorbereitung des Patienten, in ihrer Stimme war deutlicher Frust zu hören. „Habe ich etwas falsch gemacht? Gibt es eine andere Art, sprich Ihre Art, wie ich das Feld vorbereiten soll?“

Sie hatte die Haut mit Jod abgetupft und die Stelle mit sterilen OP-Tüchern abgegrenzt, perfekt nach Standard. Und so schnell und präzise, dass er wusste, dass sie nicht vorhatte, ihre Technik zu ändern, um seine eigentümliche Laune zu besänftigen.

„Nein.“ Er räusperte sich. „Ich war abgelenkt von einer … persönlichen Sache. Machen Sie weiter.“

Kurz hielt Darcy inne und musterte ihn eingehend. Dann fuhr sie fort.

Tief atmete Joe durch. Er musste sich zusammenreißen. Sonst dachte sie noch, er wäre verwirrt oder ließe sich leicht ablenken.

„Während wir gerade beim Thema sind, die Dinge so zu machen, wie ich das möchte“, sagte er hinter seiner eigenen OP-Maske, „ich möchte, dass Sie dafür sorgen, dass bei all meinen Patienten mit Abdominalschmerzen ein Bluttest auf Pankreatitis gemacht wird. Ich habe da eine feste Regel.“

Gründliche Routinen, um in seiner zerstörten Existenz etwas Ordnung und Kontrolle wiederherzustellen. Jedes Feld abzuhaken, sein Bestes für seine Arbeit zu geben, sprach ihn irgendwie von einem winzigen Teil der Schuld frei, dass er das für ihn Wichtigste auf diese Art verloren hatte: seine Familie. Zuerst seine Tochter und dann seine Ehe. Denn was war er ohne Arbeit?

Kein Ehemann und nicht länger ein Vater.

„Natürlich.“ Darcy nickte, ihr scharfer Blick argwöhnisch und misstrauisch. „Ich nehme auch nie ein Skalpell in die Hand, bevor ich nicht weiß, wie die Bauspeicheldrüsenenzyme aussehen, und alle konservativen Ursachen für Abdominalschmerzen ausgeschlossen habe“, bemerkte sie ruhig, aber vorwurfsvoll. „Das hat mir der erste Facharzt, für den ich je gearbeitet habe, beigebracht.“

Hinter seiner Maske zuckte Joe zusammen. Vielleicht klang er ein bisschen herablassend für jemanden mit ihrer Erfahrung. Wahrscheinlich konnte er ihr nicht viel beibringen, außer wie man ein paranoider Workaholic wurde. Dafür bewunderte er ihre ruhige Beharrlichkeit. Sie war wenigstens zehn Jahre jünger als er mit dreiundvierzig, und bei der Arbeit stellte selten jemand seine Autorität infrage.

Für einen Außenstehenden war er schließlich auch der große Joe Austin, der ehemalige Goldjunge der gastrointestinalen Chirurgie, jetzt eine abgestumpfte und leere Hülle seines früheren Selbst.

Er räusperte sich. „Ich habe gesehen, dass akute Pankreatitis übersehen und mit einem chirurgischen Notfall verwechselt wurde.“ Ja, das war Anfängerzeug, das sie bereits wusste, aber es tat niemandem weh, es zu wiederholen, diente der Sicherheit seiner Patienten und sorgte dafür, dass der Tod seiner Tochter irgendeinen Sinn ergab, und wenn nur als Ablenkung.

„Ich werde keinen meiner Patienten einer unnötigen Laparotomie unterziehen“, erklärte er weiter, obwohl er nicht verstand, warum Darcys Meinung über ihn im Geringsten zählte. Sollte sie ihn doch für übellaunig und anspruchsvoll halten.

Nur …

Ihr wachsamer Blick schien sein Innerstes zu klar zu sehen. Vorhin hatte sie ihm praktisch gesagt, wie er seine Arbeit auf der Station tun sollte. Vielleicht kümmerte ihn, was sie von ihm hielt, weil er hoffte, verbergen zu können, wie sehr er seine Arbeit brauchte – sie gab ihm ein Ziel und erlaubte ihm, sich auf die Leben anderer zu konzentrieren statt auf die Katastrophe seines eigenen Lebens.

„Da stimmen wir überein“, sagte sie abgehackt, als sie die Deckenleuchten einstellte, damit sie einen klaren Blick hatte.

Erneut beobachtete Joe sie fasziniert. Er kannte die Herausforderungen eines Lebens als Facharzt für Chirurgie nur zu gut, und sie besaß bereits viele der erforderlichen Eigenschaften. Selbstvertrauen, Durchsetzungsvermögen und Hartnäckigkeit. Diese Attribute waren praktisch eine Voraussetzung für einen Chirurgen, der täglich Entscheidungen über Leben und Tod traf.

Aber was war ihre persönliche Geschichte hinter der Maske? Hatte sie einen Ehemann oder Freund oder Kinder, die sie kaum sah, so wie er vernachlässigt hatte, was am wichtigsten war: Zeit mit seinen Lieben zu verbringen?

Als sie ihn beim Starren erwischte, wurde ihr Blick härter, als erwartete sie Kritik.

„Was?“, fragte sie, die Hand nach einem Skalpell ausgestreckt. „Warum schauen Sie mich so an?“

Joe kämpfte gegen den Drang zu lächeln. Sie war so … angriffslustig. Erfrischend. Erregend. Ihr fehlender Respekt vor seiner Autorität sollte ihn wurmen. Stattdessen fühlte er sich … leichter, als würde er jeden Moment über seine eigene Absurdität loslachen. Wann hatte ihn das letzte Mal so ein spontanes, positives Gefühl übermannt? Und was an dieser Frau weckte in ihm Erheiterung … neben ganz anderen Gefühlen?

Er blinzelte. Er durfte seine jüngere Kollegin nicht attraktiv, begehrenswert oder faszinierend finden. Abgesehen von den ethischen Hindernissen, der Tatsache, dass er ihr Chef war, war er nicht ein einziges Mal ausgegangen, seit er und Laura sich vor drei Jahren getrennt hatten.

Eingerostet war noch untertrieben.

Aber nach seiner Familientragödie verdiente er auch keine zweite Chance. Er hatte seine Chance gehabt und es vermasselt.

Doch Darcy Wright mit ihren hellen Augen und ihrem umwerfenden Lächeln konnte selbst die Lust eines Mönches wecken.

„Wie sehe ich Sie denn an?“, fragte er fasziniert. Normalerweise hielt seine Arbeit jeden Gedanken, der sich nicht um die Betreuung der Patienten drehte, von ihm fern, so vermied er es, etwas zu fühlen.

Darcy schnaubte. „Als ob Sie darauf warten, dass ich einen Fehler mache.“ Kurz blitzte Verletzlichkeit in ihren Augen auf, bevor sie den Blick wieder senkte und sich auf ihren Patienten konzentrierte.

Erneut zog sich sein Magen vor Bedauern und etwas anderem zusammen. Scham. Normalerweise kümmerte es ihn nicht, was jemand von seinen hohen Ansprüchen hielt. Das meiste Personal war schon lange genug hier, um den alten Joe Austin zu kennen, den Chirurgen, der er gewesen war, bevor sein Leben zerfallen war, und sah es ihm nach. Aber falls Darcy noch keine Zeit gehabt hatte, beim Krankenhaustratsch auf den neuesten Stand gebracht zu werden, wusste sie nicht, dass er einmal eine entspanntere und angenehmere Seite gehabt hatte. Dass er mit seinen Patienten gescherzt, beim Operieren Kuschelrockballaden gespielt und den Krankenschwestern Fotos von Rosie gezeigt hatte – Momente eines stolzen Dads, die Erinnerung daran drehte ihm jetzt den Magen um.

Wäre er öfter zu Hause gewesen, wäre ihm vielleicht aufgefallen, wie schnell es ihr schlechter gegangen war, und Rosie würde noch leben.

Natürlich war nichts davon Darcys Schuld, und er musste sich entschuldigen.

Seine eigenen Gefühle der Unzulänglichkeit verdrängend, wandte er sich wieder ihrem Gespräch zu. „Es ist meine Aufgabe, Ihre Technik zu überwachen, Sie zu kontrollieren und zu bewerten in Ihrer Vorbereitung auf Ihre nächste Stelle als Fachärztin.“ Eine gute Erinnerung daran, sich nicht in dieser Anziehung zu verfangen.

„Ich weiß“, antwortete sie wenig überzeugt. „Aber es gibt Beobachtung und Beobachtung.“ Sie reichte der OP-Schwester das Skalpell und bat um eine Klemme.

Erneut zuckte sein Mund unter seiner Maske. „Mache ich Sie nervös?“ Interessant … Brachte er sie genauso aus dem Konzept wie sie ihn? Würden bei ihrer Zusammenarbeit immer diese … Funken fliegen?

„Nicht im Geringsten“, erwiderte sie, aber ihr ausweichender Blick verriet sie. „Sind wir noch gut?“, fragte Darcy den Anästhesisten, überprüfte, dass die Narkose des Patienten zufriedenstellend war.

Joe verdiente die Standpauke, die sie vermutlich zurückhielt, nachdem er sie auf der Station in die Zange genommen hatte. Alte Gewohnheiten kamen wieder zum Vorschein, und es juckte ihm in den Fingern, die Kontrolle über die Instrumente zu übernehmen. Ihr selbstbewusster Schnitt in Mr. Clarkes Abdomen war wie aus dem Bilderbuch – genau über dem McBurney-Punkt, der anatomischen Landmarke zur Position des Appendix. Er stimmte ihrer Diagnose zu: Peritonitis als Folge eines wahrscheinlich geplatzten Blinddarms. Er erwartete, dass jemand mit ihrer Erfahrung den chirurgischen Notfall leicht erkennen und behandeln konnte.

Warum war er also so hart mit ihr gewesen?

Weil er niemanden wie Darcy erwartet hatte. Ihre Hartnäckigkeit, ihre Entschlossenheit hatten ihn dazu gebracht, einen zweiten Blick nach seinem ersten Eindruck zu riskieren. Und dann noch einen dritten und vierten. Sie hatte ihn aus seiner emotionalen Distanziertheit geholt, ihn etwas fühlen lassen nach Jahren, in denen er versucht hatte, nichts zu fühlen. Außer seiner Arbeit, seinen Patienten war ihm alles egal, bis sich jedes positive Gefühl … fremd anfühlte. Mit seinem Schutzschild hatte er es übertrieben, als er ihre Diagnose infrage gestellt hatte.

„Ich hatte ein ‚Ich habe es Ihnen doch gesagt‘ erwartet“, bemerkte er, als durch den kleinen Schnitt die Ansammlung von Eiter sichtbar wurde, die den ansonsten gesunden und fitten Mr. Clarke krank machte.

Überrascht sah sie ihm in die Augen. „Ich möchte hervorragende Referenzen, wenn ich gehe, und keine kleinlichen Punkte sammeln.“

Sie sprach abgehackt, weil sie sich konzentrierte. Ihre präzisen und geübten Bewegungen sagten Joe, dass sie diesen angeborenen Instinkt besaß, der aus einem geschickten Techniker einen intuitiven Chirurgen machte.

„Außerdem“, fügte sie hinzu, „bin ich hier, um von Ihnen zu lernen, damit ich die beste Chirurgin werde, die ich sein kann. Vielleicht sogar so gut wie Sie.“

Dazu schwieg Joe. Früher hatte er Darcys Ambitionen einmal geteilt, und zu einem gewissen Grad tat er das immer noch, nur drehten sich seine Motive jetzt genauso sehr um Selbstschutz wie darum, die Welt zu retten. Sein Perfektionismus diente als Schild, um Kummer abzuwehren.

„Ich bringe Ihnen alles bei, was ich kann.“ Obwohl er die wertvollste Lektion des Lebens außerhalb des Krankenhauses gelernt hatte, auf die harte Tour – eine Lektion, die er niemandem wünschte.

„Ich freue mich darauf“, antwortete sie. „Obwohl mir nicht klar war, dass ich für einen so angesehenen Chirurgen arbeiten würde, als ich heute Morgen auf die Station kam.“

Er zuckte zusammen – ihre Ehrfurcht verdiente er ganz sicher nicht. Offensichtlich wusste sie von seiner Arbeit bei der Entwicklung der RA-Klemme, einer chirurgischen Klammer, die das Risiko einer postoperativen Nachblutung halbierte.

Ja, bei seiner Arbeit war er gut. Dafür war er ein größtenteils abwesender Vater gewesen und letztendlich ein unzulänglicher Ehemann. Er hatte einmal alles gehabt – und ruiniert. Wusste Darcy von Rosies Tod, von seinem Versagen als Vater, der einzig wirklich wichtigen Rolle, die er je gehabt hatte?

„Ich habe eine chirurgische Klemme entwickelt und nicht Krebs geheilt.“ Vor Kummer zog sich Joes Inneres zusammen. Könnte er nur Krebs heilen. Dann hätte er vielleicht noch sein süßes, kleines Mädchen …

Er war so damit beschäftigt gewesen, andere zu behandeln, dass er nicht zu Hause gewesen war, als es seiner Tochter vor vier Jahren so rapide schlechter ging nach einer kurzen Erkrankung, die er für eine normale Magen-Darm-Grippe gehalten hatte. Als seine Frau und seine sechsjährige Tochter im Krankenhaus angekommen waren, war Rosie nach einer Hirnblutung bewusstlos gewesen – eine seltene Komplikation ihrer unentdeckten, akuten Leukämie – und auf die Intensivstation aufgenommen worden. Er hatte es verpasst, ein letztes Mal mit ihr zu sprechen. Sie daran zu erinnern, dass er sie liebte und immer lieben würde.

Eine Welle der Trauer schnitt durch die Nähte, die sein Herz gerade so zusammenhielten, der Schmerz raubte ihm den Atem. Er hätte merken müssen, dass etwas nicht stimmte. Schließlich war er Arzt. Beobachtung, Intuition, Sorgfalt gehörten zu dieser Rolle. Er hatte Rosie im Stich gelassen, und leider konnte er nicht zurückgehen und sie retten.

„Nun, wie Sie sehen können, bin ich eine fähige Chirurgin, und Sie werden mir wenigstens ein kleines bisschen vertrauen müssen, wenn Sie schlafen wollen.“ Schnell dirigierte sie die OP-Schwester, dort abzusaugen, wo sie es wollte. „Wir haben heute Nacht Bereitschaft – das wird eine lange Schicht, wenn Sie darauf bestehen, jede meiner Bewegungen zu überwachen und Dinge nachzuprüfen, die selbst ein Medizinstudent unbeaufsichtigt tun kann.“

Sie hatte recht. Und er hatte genug zu tun.

„Ich bin sicher, meine kleinen Schwächen wirken … übervorsichtig.“ Wenn er seinen Patienten half, konzentrierte er sich auf etwas anderes als seinen verkorksten Kopf und sein ramponiertes Herz. „Aber Sie scheinen alles unter Kontrolle zu haben.“

Während er teils überwacht und teils über seine Fehler nachgegrübelt hatte, hatte Darcy den Abszess um Mr. Clarkes Blinddarm entfernt und die Arterie abgeklemmt, um das perforierte Organ zu entfernen.

„Danke …“ Ihr Mund zuckte unter ihrer Maske mit einem vermutlich sarkastischen Lächeln. Sie passte den Wundhaken an, um die Wunde zu öffnen. „Wie Sie sehen, lasse ich mich weder von professioneller Bewunderung noch von Nervosität am ersten Tag oder Selbstzweifeln von einer Patientendiagnose oder Patientenversorgung ablenken.“

Unterschwellig klang heraus: Selbst, wenn mir mein älterer Kollege in die Quere kommt.

Selbstzweifel? Sie wirkte extrem selbstbewusst. Sie hatte es ihm gezeigt, oder nicht?

Die OP-Schwester reichte eine Klemme. Instinktiv griff Joe danach, im selben Moment wie Darcy. Ihre Hände kollidierten, ihre Finger berührten sich, abrupt schauten sie sich in die Augen.

Es konnte nur den Bruchteil einer Sekunde gedauert haben, aber das reichte, um Joes Körper mit derselben rastlosen Hitze zu durchfluten, die er gespürt hatte, als sie sich das erste Mal zu ihm umgedreht und ihn angelächelt hatte.

Er ließ die Klemme los, und Darcy erholte sich zuerst. „Ich beende das mit Mr. Clarke gern allein. Es sei denn, Sie haben noch einen letzten Rat?“

Ihre Berührung zwang ihn, seine besten Bewältigungsstrategien hervorzukramen. „Nur ein Mantra, das ich sehr nützlich finde: Fehler kosten Leben.“

„Das tun sie“, stimmte sie zu. Mitgefühl für ihren Beruf ließ ihre blauen Augen weicher wirken. „Obwohl wir nicht jeden Patienten retten können. Das ist eine Realität des Jobs, oder?“

Verdammt, er konnte es nicht gebrauchen, dass sie ihn so intuitiv durchschaute. Er brauchte diese … Ablenkung nicht. Und doch brachte sie mit ihrem Lächeln und ihrem Mut und ihrer … Hartnäckigkeit seine Gefühle, gute wie schlechte, an die Oberfläche.

Forsch nickte er. „Dann lasse ich Sie machen …“ Ob es ihm gefiel oder nicht, er konnte nicht jeden Aspekt der Patientenversorgung selbst kontrollieren.

Für den Moment brauchte er Darcy genauso wie sie ihn.

„Ich bin nebenan und diktiere Briefe, falls Sie mich brauchen.“ Joe verließ den OP, entsorgte Handschuhe, Maske und Kittel und wünschte, er könnte seine Reue auch so einfach entsorgen.

Innerhalb des Krankenhauses, in dem er den schrecklichsten Tag seines Lebens erlebt hatte, fand er keinen Frieden, aber ein Mindestmaß an Routine in seinem Alltag, und mehr verdiente er auch nicht.

Nein, Darcy Wright war eine Versuchung, der er nicht nachgeben konnte. Nicht jetzt. Niemals.

3. KAPITEL

Darcy steckte ihre Zahnbürste zurück in ihre Tasche und spritzte sich kaltes Wasser in ihr blasses Gesicht. Lange, schlaflose Bereitschaftsnächte machten ihr nichts aus, aber an den eklig trockenen Mund und die gereizten Augen nach Schlafmangel würde sie sich nie gewöhnen. Es war erstaunlich, was Zahnpasta und ein belebender Spritzer Wasser ins Gesicht um drei Uhr nachts ausmachten.

Beinahe genauso belebend, wie den Tag und den Großteil der Nacht mit einem Mann zu verbringen, der sie auf die Palme brachte wie kein anderer: ihrem Kontrollfreak von einem Chef.

Wenn sie nur seine chirurgischen Fähigkeiten und seinen Umgang mit den Patienten nicht so respektiert hätte. Wenn er schroff zu den Patienten gewesen wäre. Aber er schien aufzuleben, wenn er jemandem half, war fürsorgend, freundlich und engagiert.

Sie atmete aus, erschöpft von dem emotionalen Spektrum, das sie in der kurzen Zeit durchgemacht hatte. Noch nie hatte sie jemand gleichzeitig frustriert und in Bewunderung versetzt, in jeder freien Sekunde ihre Gedanken beherrscht. Und egal, wie oft sie sich sagte, dass es sinnlos war, lächerlich und ganz besonders verboten, sie fühlte sich zu ihm hingezogen.

Zum Glück hielten sie Neuzugänge und OPs beschäftigt.

Darcy kämmte sich die Haare und band ihren Pferdeschwanz neu, ihr Herz sank bei dem Gedanken daran, dass sie die nächsten drei Monate eng mit ihm zusammenarbeiten würde. Sie könnte die Ruhe bewahren und ihm aus dem Weg gehen. Aber wenn er ihr weiterhin nicht von der Seite wich und einfach übernahm, würde sie vielleicht ausrasten und etwas … Dummes tun oder sagen.

Ihre Wangen röteten sich. Wenn ihre Schwestern die ehrgeizige, karriereorientierte Darcy jetzt hätten sehen können – verunsichert und aufgewühlt wegen eines Mannes – würden sie sich schlapplachen.

Joes abweisendes Verhalten heute hatte wieder einmal ihre tief sitzende Angst, unwichtig zu sein, an die Oberfläche geholt. Einen Mann beeindrucken zu wollen, führte nur zu der Art Herzschmerz, die sie als Kind immer und immer wieder erlebt hatte, während sie darauf gewartet hatte, dass das Telefon klingelte. Jetzt hoffte sie einfach nur, dass sie relativ harmonisch miteinander arbeiten würden.

Etwas erfrischt kam Darcy von der Toilette und blieb abrupt stehen. Joe hatte sich auf einem der bequemen Stühle im Personalraum für die OP-Mitarbeiter ausgestreckt, seine Haare zerzaust von der OP-Haube, seine scharfen, dunkelbraunen Augen wirkten erschöpft nach ihrer langen Schicht.

Ihr Puls fing an zu rasen. „Ähm … Hallo, Dr. Austin. Ich dachte, Sie wären schon weg.“ Eine Welle von Mitgefühl überschwemmte sie. Seine Müdigkeit ließ ihn menschlicher wirken, nahbarer, realer.

„Ich denke, es ist Zeit, dass wir uns duzen, meinst du nicht, Darcy?“, fragte er und erwischte sie vollkommen unvorbereitet. „Ist es für dich in Ordnung, wenn ich dich mit Darcy anspreche?“

Ihren Namen aus seinem Mund zu hören, warf sie beinahe um, raubte ihr den Atem und jede Hoffnung auf ein zusammenhängendes Gespräch.

Jedes Mal, wenn sie ihre Meinung über ihn unter Kontrolle hatte, zeigte er eine andere Seite von sich, trübte ihr Urteilsvermögen. Hatten seine Augen gestern nichts als Misstrauen und Skepsis gezeigt, offenbarten sie jetzt eine ganze Palette komplexerer Gefühle, ausdrucksstark und offen. Sein großer, schlanker Körper – so sexy in OP-Kleidung, das Oberteil zeigte ein Dreieck von dunklem Brusthaar, und seine muskulösen Arme – war entspannt. Selbst seine Hände waren elegant und doch geschickt auf eine absolut erregende Art.

Alles in Darcy zog sich erwartungsvoll zusammen. In ihrem Kopf wirbelte ein Chaos verwirrender Gefühle – Anziehung, Verärgerung, Aufregung und Erschöpfung. Aber trotz seines Sexappeals war er noch immer der Mann, der den ganzen Tag an ihr gezweifelt und sie bevormundet hatte. Sie konnte ihn gleichzeitig attraktiv und nervig finden.

Nein … Sie fand gar nichts an ihm! Er war ihr Chef.

„Ähm … Okay … Joe …“, antwortete sie auf seine Frage. Sein Vorname fühlte sich intim an auf ihrer Zunge. „Brauchst du mich?“

Der Hauch eines amüsierten Lächelns zuckte um seinen Mund und ließ seine Augen leuchten.

Sie errötete, als ihr auffiel, dass ihre Frage … zweideutig geklungen hatte. Und ihr verrücktes Verlangen danach, dass er „Ja“ sagte, war geradezu alarmierend … aus den völlig falschen Gründen.

Um die unpassende Reaktion ihres Körpers zu überspielen, tat sie so, als überprüfte sie auf ihrem Handy, ob sie einen Anruf aus der Notaufnahme verpasst hatte. Alle Ärzte waren auf den Ton ihres Pagers oder das Klingeln ihres Handys konditioniert – aber sie brauchte die kostbaren Sekunden, um ihre Verteidigung neu aufzustellen und diese lästige Anziehung zu bekämpfen, die nicht nachlassen wollte, egal, wie verwirrend sie ihren Chef fand.

„Nein, ich brauche dich nicht.“ Sein Blick verweilte auf ihr, als hätte er noch etwas Wichtiges zu sagen, und ließ Darcys Puls in schwindelerregende Höhe schießen.

Bitte nicht … Diese Vornamensache war schon schockierend genug.

„Okay …“, krächzte sie, versuchte, sich zusammenzureißen.

Sie hatten gerade eine sechsstündige OP hinter sich – ein Fall von multiplen Stichverletzungen im Bauchbereich bei einem Mann, der zur falschen Zeit in der falschen Gasse gewesen war, aber zum Glück während Joe Austins Schicht. Darcy fand Joe faszinierend als Chirurgen. Er arbeitete mit derselben verbissenen Präzision und Aufmerksamkeit für jedes kleine Detail, mit der er sie überwacht hatte. Kein Blutgefäß war zu klein, um nicht kauterisiert zu werden. Keine Spalte im Bauchbereich war zu verborgen, um nicht überprüft zu werden.

Der Beruf, den sie beide gewählt hatten, brachte einzigartige Herausforderungen mit sich. Aber die leichte Verletzlichkeit in seinem Blick, als er gesagt hatte, dass Fehler Leben kosteten, war wie ein Schuss Neugier in Darcys Blutbahn. Was hatte den brillanten und engagierten Joe Austin dazu gebracht, so überwachsam zu sein, dass es schon fast zwanghaft war? Eine schlimme Erfahrung? Der Schock, einen Patienten zu verlieren?

Und warum fand sie seine Intelligenz und Hingabe, sogar seine Menschlichkeit – nach dem ersten Eindruck hätte sie abgestritten, dass er eine Schwachstelle haben könnte – das Bedauern, das sie gesehen hatte, so verdammt verführerisch? Es wäre so viel einfacher, alles an ihm nicht zu mögen, seine überhebliche Art und sein Aussehen.

„Unser Opfer der Messerstecherei ist stabil und auf dem Weg auf die Intensivstation“, sagte er.

Darcy seufzte, jeder Gedanke daran, sanft nachzufragen, warum er so übertrieben engagiert war, löste sich auf. „Das gehört zu meinen Aufgaben. Ich wollte mir nur erst etwas Wasser ins Gesicht spritzen.“

Er zuckte mit den Schultern und tippte auf den Ordner, der auf dem Sitz neben ihm lag. „Ich bin für meine Notizen zurückgekommen.“

Warum brachte seine Sorgfalt all ihre schlimmsten Eigenschaften an die Oberfläche, gab ihr das Gefühl, sie wäre … unbedeutend, nicht gut genug? War es nur Bewunderung für eine chirurgische Koryphäe? Oder lag es daran, dass er scheinbar nicht sehen oder verstehen konnte, wie wichtig Darcy ihr Beruf war, dass es ein Loch in ihrem Herzen füllte, wenn sie Menschen helfen konnte?

Der schulische Erfolg ihrer Teenagerjahre hatte die Art von Lob und Auszeichnungen gebracht, die ihr sagten, dass sie trotz des nachlassenden Interesses ihres Vaters an ihr okay war und gut in etwas. Sie war süchtig danach, ihr Konkurrenzdenken blühte auf der Jagd von einem Erfolg zum nächsten. Ohne ahnen zu können, wie erfüllend sie einen medizinischen Beruf finden würde.

„Warum bist du so abwehrend?“, fragte er. Sein Gesichtsausdruck war aufreizend gleichgültig, als wäre er ganz unschuldig daran. Erschrocken wurde ihr bewusst, wie mühelos Joe ihre Abwehr erschütterte, die sie ihr Leben lang aufgebaut hatte.

Gleichzeitig erinnerte sein Verhalten sie an ihren Ex, Deans ständige Suche nach Fehlern.

„Du bist kaum zu Hause.“

„Du arbeitest zu hart.“

„Du stellst uns hintenan.“

Dean war Bildhauer und hatte ihren Antrieb oder ihre Berufswahl nie wirklich verstanden. Als wäre die Ausbildung zur Chirurgin nur eine Fantasie, wenn Kunst doch die einzig wahre Bestrebung war. Weil ihr klar geworden war, dass sie auf dem besten Weg ins Unglück waren, hatte sie ihre Verlobung gelöst und ihre Wahl getroffen: ihre Arbeit.

Joe musterte sie, sein Blick fuhr über ihr gerötetes Gesicht, als wäre sie eine faszinierende und neu entdeckte Krankheit. Konnte er ihre Gedanken lesen? Ahnte er, wie sie dabei versagt hatte, ihren Beruf und ihre einzige ernste Beziehung auszubalancieren?

Statt seine provokante Frage zu beantworten, feuerte sie zurück: „Warum bist du so scharf darauf, meine Aufgaben zu erledigen, bevor ich eine Chance dazu habe? Du hast gesagt übervorsichtig, aber es kommt … paranoid rüber, als ob du niemandem vertraust.“

Sie presste ihre Lippen fest aufeinander. Das hätte sie nicht sagen sollen. Sie sollte nicht mit ihm argumentieren. Aber die Erschöpfung, die sie auf seinem Gesicht gesehen hatte, machte auch ihr zu schaffen.

„Paranoid …?“, fragte er gedehnt, ruhig und ernst, sein Blick beunruhigend aufmerksam und provokant. „Vielleicht, weil ich es hasse, etwas auf die harte Tour zu lernen.“

Gewissensbisse vibrierten durch Darcy. Welche Lektion hatte bei ihm so eine extreme Wachsamkeit ausgelöst?

Joe starrte sie auf eine Art an, die Darcy an ein gefährliches Raubtier erinnerte, blitzschnell und gnadenlos. „Aber ich habe zuerst gefragt.“ Er zog die Augenbrauen hoch.

Sie seufzte. Der Schmerz ständiger Ablehnung durch ihren Vater hatte sie über die Jahre dazu getrieben, sich zu beweisen. Dabei machte es sie gleichzeitig konfliktscheu und empfindlich dagegen, von anderen beurteilt zu werden.

Nur mit diesem Mann kamen die Zusammenstöße von allein.

„Ich bin Chirurgin“, erwiderte sie. „Es ist meine Aufgabe, mich durchzusetzen und entschlossen zu sein.“ Trotzig hielt sie seinem wachsamen Blick stand. „Vielleicht hasse ich es, unterschätzt zu werden.“

Egal, wie sie sich angestrengt hatte, eine gute Tochter zu sein, nichts hatte ihren Vater gehalten.

Sie räusperte sich. „Du verstehst sicher, warum deine Art, mich zu befragen, als wäre ich eine Studienanfängerin, dazu führt, dass ich etwas … gereizt bin.“

„Verstanden“, erwiderte er, holte tief Luft und nahm Darcy den Wind aus den Segeln. „Setz dich, Darcy.“ Auf seinem Gesicht waren widersprüchliche Ausdrücke zu sehen, als wollte er ihre Gesellschaft und gleichzeitig allein sein.

Ihr hätte eine Pause von seiner überwältigenden Männlichkeit und der Art, wie er das Schlimmste in ihr zum Vorschein brachte, auch ganz gutgetan. Aber da er bereits nach ihrem letzten Patienten gesehen hatte, konnte sie nicht ausweichen und setzte sich neben ihn.

Großer Fehler.

Nicht nur, dass sie nah genug war, um die würzigen Noten seines Aftershaves und seine Körperwärme zu bemerken, seine Nähe erinnerte sie außerdem daran, wie sie beinahe in Flammen aufgegangen war, als ihre Hände sich im OP zufällig gestreift hatten. In dem Moment hatte die Zeit scheinbar stillgestanden, ihre Blicke hatten sich getroffen, als würden sie sich zum ersten Mal sehen.

„Warum ruhst du dich nicht ein wenig aus?“, fragte sie, erneut verärgert über ihre körperliche Reaktion auf diesen Mann.

Doch Joe schüttelte den Kopf. „Ich schlafe unter den besten Umständen schlecht, also ist es sinnlos, es hier zu versuchen.“

Etwas Dunkles bewegte sich in seinem Blick, etwas, das sie bei ihrer Begegnung gesehen hatte, nur war sie da zu sehr damit beschäftigt gewesen, ihn zu beeindrucken, um es einordnen zu können. Jetzt konnte sie es identifizieren: Joe Austin quälte sich.

Mit dem Fehler, den er zukünftig unbedingt vermeiden wollte, der bitteren Lektion, die er gelernt hatte. Alle Ärzte fürchteten sich davor, einen Patienten durch menschliches Versagen zu verlieren.

Darcy schluckte den Kloß in ihrem Hals herunter. Das Bedauern in seinem Blick erreichte den Teil von ihr, der Menschen helfen wollte. Sie erinnerte sich noch an den Rausch, als sie sich um ihre Schwester Lily gekümmert hatte, die sich als Kind ein Bein gebrochen hatte. Sie hatte sich gebraucht gefühlt. Geschätzt. Da hatte sie zum ersten Mal in Erwägung gezogen, Ärztin zu werden.

Aber sie wusste sehr wenig über Joe, abgesehen von dem, was sie während einer kurzen Pause aus dem Internet gelernt hatte. Nicht nur in der Welt der Chirurgie berühmt, war Joe als Ehemann der internationalen Bestsellerautorin Laura Knight auch in der britischen Promi-Szene gut bekannt.

Mr. Clarkes OP hatte ihrer Informationssuche an dem Punkt ein Ende bereitet, sein geplatzter Blinddarm hatte Vorrang vor wachsender Neugier und seltsamer und unpassender Niedergeschlagenheit.

Hoffentlich beendete sein Familienstand ihr Interesse an ihm. „Erwartet deine Frau dich nicht zu Hause?“

Natürlich hatte jemand wie er – attraktiv, erfolgreich, intelligent – eine wunderschöne, talentierte Frau.

„Ich verbringe meine Bereitschaftsnächte normalerweise hier und hole Arbeit nach, die liegen geblieben ist.“ Joes intensiver Blick raubte Darcy den Atem.

„Außerdem bin ich seit drei Jahren geschieden.“ Ein Hauch von Belustigung zuckte um seinen Mund, als hätte er ihren lahmen Versuch, nach Informationen zu angeln, durchschaut.

Geschieden …

Eine beunruhigende Welle der Erleichterung durchfuhr Darcy. Er war nicht mehr mit einer wunderschönen, talentierten Frau verheiratet.

Armer Joe …

Leider waren das für sie schlechte Nachrichten. Tabu wegen seines Familienstandes bedeutete sofort eine Mauer zwischen ihnen. Aber einfach tabu, weil er ihr Chef war, ergab eine deutlich schwächere Barriere.

Darcy wandte den Blick ab – auf keinen Fall durfte er von ihrem geheimen Begehren erfahren. Mit professioneller Beurteilung konnte sie umgehen, aber mit einer weiteren persönlichen Katastrophe in dieser Phase ihrer Karriere …?

Auf keinen Fall.

4. KAPITEL

„Also warum hast du dich für Medizin entschieden?“, fragte Joe und stellte seine leere Kaffeetasse auf den Tisch vor ihnen.

Darcy wurde heiß, weil sie mit einem Mann ein Gespräch führen musste, der sie nicht zu mögen schien, vielleicht sogar ihre unangebrachte Schwärmerei ahnte und ihr das Gefühl gab, dass ihr beruflicher Beitrag – die eine Sache in ihrem Leben, auf die sie stolz war – überflüssig war.

Lieber hätte sie mit ihm über die Arbeit gesprochen, ihn gefragt, warum er bei der letzten OP statt Seidennähten Nylonnähte verwendet hatte, um ihre eigenwilligen Hormone abzulenken, die ihn als eine Art sexy Arzt aus einer dieser Arztseifenopern sahen.

„Meine jüngere Schwester hat sich beim Sturz von einem Trampolin das Bein gebrochen“, erzählte sie. „Sie war sechs, ich war acht. Weil es im Sommer passiert ist, habe ich die Schulferien damit verbracht, Lily zu unterhalten – ihr Limonade zu bringen, ihr vorzulesen, ihre Zehen zu kratzen und Cartoonkatzen auf ihren Gips zu malen.“ Leise lachte Darcy über die fröhlichen Erinnerungen, schob dafür andere Gefühle aus diesem Sommer weg. Denn eigentlich hätte sie mit ihrem Vater nach Frankreich fahren sollen, ihre erste gemeinsame Urlaubsreise. Sie hatte sich unglaublich darauf gefreut, war vor Aufregung durchs Haus getanzt und hatte ihre Eltern mit Fragen genervt. Doch zwei Tage vorher hatte er aus heiterem Himmel abgesagt.

Zum ersten Mal hatte ihre blinde Vergötterung für ihren Vater gewackelt, ihr Herz war gebrochen, sie war verwirrt gewesen und hatte sich gefragt, was sie falsch gemacht hatte.

„Es hat mir so viel Spaß gemacht, Lily zu pflegen, dass ich wusste, dass ich Menschen helfen will. Was ist mit dir?“ Sie versuchte, die Klauen ihrer Kindheitsdämonen abzustreifen. „Wolltest du immer Chirurg werden?“

„Meine Mutter war Krankenschwester.“ Er zuckte die Schultern, als erklärte das alles.

Dabei wollte Darcy mehr, Antworten auf Fragen wie: Warum bist du geschieden? Bist du darüber hinweg? Hast du Kinder?

Dann wechselte er das Thema. „Ich habe deinen Rat befolgt und vorhin noch einmal deinen Lebenslauf gelesen.“

„Ach …?“ Darcy lächelte. Also kannte er ihre akademischen Leistungen und ihre Arbeitszeugnisse. Vielleicht würde er sie doch auf beruflicher Ebene respektieren. Vielleicht war ihr katastrophaler erster Tag nur ein Ausrutscher gewesen. Hoffentlich löste sich ihre dumme Schwärmerei in Luft auf. Und bevor sie sich versah, bewarb sie sich mit Joes glühender Referenz um eine Facharztstelle.

„Besonders interessant fand ich, dass du in dieser Fernsehsendung warst – die, die eine Gruppe Medizinstudenten durch das Studium und zu ihren ersten Stellen begleitet hat. Nach unserer Visite heute Morgen habe ich mir einen Ausschnitt angeschaut.“

Eiskalt überlief es Darcy. „Tatsächlich?“ Sie biss die Zähne zusammen und wandte den Blick ab.

Gerade, als sie dachte, sie hätte sich ein paar Krümel Respekt verdient, schien er subtil gegen eine ihrer schlechten Entscheidungen zu sticheln. Sie ließ diese Fernsehsendung nur in ihrem Lebenslauf stehen, weil sie mehrere Preise gewonnen hatte. Dabei bereute sie ihre Teilnahme längst. In ihrem ersten Studienjahr hatte sie naiverweise gedacht, es würde ihr helfen, aus der Menge herauszustechen, und wäre eine lustige Art, um ihre Anfänge zu dokumentieren. Nur zeigten einige der ersten Folgen sie und ihre Kommilitonen dabei, wie sie die Sau rausließen. Damals war Darcy noch nicht so streng mit sich gewesen wie jetzt. Sie war jung gewesen, unsicher, wer sie war. Denn kurz zuvor war sie noch einmal auf ihren Vater zugegangen, in der Hoffnung, als Erwachsene eine Beziehung aufzubauen, jetzt, wo sie eine Tochter war, auf die er doch stolz sein konnte.

Spontan hatte sie ihn angerufen, war mit dem Zug nach Edinburgh gefahren, wo er jetzt wohnte, ihr Herz so voller Hoffnung, dass sie kaum Luft bekommen hatte. Was sie herausgefunden hatte, hatte ihr ihr dummes Herz gebrochen. Er hatte noch zwei weitere Töchter. Es lag nicht daran, dass er kein Kind gewollt hatte, er hatte nur Darcy nicht genug gewollt, um an ihrem Leben teilzuhaben.

Verletzt durch den ultimativen Betrug ihres Vaters hatte sie sich gehen lassen und sich den Ruf des Partygirls der Sendung verdient. Der Regisseur hatte sie nur zu gern als unzuverlässig dargestellt, als wäre sie nicht wirklich dabei, um Ärztin zu werden. Aber sie hatte schnell gelernt, dass das nicht stimmte. Dass ihr Vater nicht der war, der sie gehofft hatte. Dass sie ihn weder beeindrucken noch dazu bringen konnte, sie zu lieben.

Autor

Amy Andrews
Amy war ein Kind, das immer eine Geschichte im Kopf hat. Ihr Lieblingsfach war English und sie liebte es Geschichten zu schreiben. Sollte sie einen Aufsatz mit nur 100 Worten schreiben – schrieb Amy 1.000 Worte. Anstatt nur eine Seite bei dem Thema „ Beschreibt auf einer Seite eure Sommerferien“...
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