Julia Ärzte zum Verlieben Band 208

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GEBURTSSTUNDE EINER GROSSEN LIEBE von ALISON ROBERTS

Hebamme Grace wagt einen Neuanfang in Neuseeland. Sie zieht in eine WG mit dem charmanten Gynäkologen Jock McKay. Doch schnell wird aus ihrer Sympathie für ihn sinnliches Verlangen! Nur was, wenn Grace mehr von dem überzeugten Junggesellen will als eine gemeinsame Nacht?

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  • Erscheinungstag 20.09.2025
  • Bandnummer 208
  • ISBN / Artikelnummer 8031250208
  • Seitenanzahl 384

Leseprobe

Alison Roberts, Tina Beckett, JC Harroway

JULIA PRÄSENTIERT ÄRZTE ZUM VERLIEBEN BAND 208

Alison Roberts

PROLOG

Ein Geräusch veranlasste sie, den Kopf zu wenden. Und was Grace Collins zu sehen glaubte, ließ sie schaudern und einen schockierten Laut ausstoßen.

„Was ist, Grace?“

„Hast du das gesehen?“

„Was?“

„Ich glaube, jemand hat durch unser Fenster geschaut.“

„Du bist dir nicht sicher?“

Grace krauste die Stirn. Es war vielmehr ein Gefühl gewesen. „Ich habe nur etwas aus den Augenwinkeln registriert, und dann ist es wieder verschwunden …“

Als hätte jemand sich schnell bewegt, weil er nicht gesehen werden wollte?

„Wahrscheinlich war es nur ein Zweig in dem Baum auf der Straße, der sich bewegt hat. Der Sturm zieht schon auf. Wer wäre so verrückt, bei diesem Regen durch die Gegend zu laufen und bei fremden Leuten in die Fenster zu blicken?“ Jenni lächelte. „Und wie toll ist es, dass wir beide heute frei haben und im Warmen und Trockenen bleiben können?“

Dann runzelte sie jedoch besorgt die Stirn. „Seit wir den Tratsch über deinen Ex gehört haben, bist du nervös. Aber bei Neuigkeiten, die durch den Flurfunk in der Klinik verbreitet werden, sollte man immer vorsichtig sein.“

„Ich weiß. Und du hast recht. Ich bin nur nervös.“ Grace atmete tief durch, als sie von der Couch aufstand. Wenn sie sich bewegte, könnte sie das seltsame Bauchgefühl vielleicht unterdrücken? „Warum sollte ich mir überhaupt den Kopf darüber zerbrechen? Mich wundert nicht, dass Ehefrau Nummer zwei ihn verlassen hat.“

Sie wusste genau, warum das passiert war. Und es fiel ihr schwer, die Erinnerungen zu unterdrücken, die sie verschlossen hatte. Das konnte durchaus der Grund dafür sein, dass sie sich bedroht gefühlt hatte.

Schnell ging sie zum Fenster, um die Gardinen zuzuziehen und die Dunkelheit auszusperren. Es war erst Spätnachmittag, aber die Tage waren kurz und konnten in Schottland zum Ende des Winters hin ziemlich düster sein.

Obwohl der kleine Gasofen genug Wärme spendete, hatte ihre Mitbewohnerin und Freundin Jenni, die es sich mit ihrem Laptop auf den Knien an einem Ende des Sofas bequem gemacht hatte, sich eine Decke über die Schultern gehängt.

„Komm und sieh dir das an, Grace. Jock hat noch mehr Fotos geschickt.“

Froh über die Ablenkung, setzte Grace sich neben sie und zog sich die Decke auch über die Schultern. Vielleicht war dies genau das, was sie wirklich brauchte – sich ins Gedächtnis zu rufen, dass der Umzug von London nach Glasgow im Zuge ihrer Ausbildung zur Hebamme das Beste war, was sie je gemacht hatte. Denn hier hatte sie Jenni kennengelernt, die nun ihre beste Freundin überhaupt war, und sie wohnten zusammen und arbeiteten in derselben Geburtsklinik und …

… und zum ersten Mal seit viel zu langer Zeit begann sie sich endlich sicher zu fühlen.

„Oh …“, sagte Grace wehmütig, weil das Foto auf dem Bildschirm so idyllisch war. Es war vom Heck eines kleinen Boots aus aufgenommen und zeigte einen tiefblauen See, in dem sich die bewaldeten Hügel der nahegelegenen Inseln spiegelten. Am strahlend blauen Himmel war nicht eine einzige Wolke zu sehen.

„Und das hier …“ Jenni klickte weiter.

Das nächste Foto zeigte eine Schule Delphine, die dem Boot folgten und aus dem Wasser sprangen.

Grace lächelte. „Sie sehen so glücklich aus, stimmt’s? Ich liebe Delphine.“

„Jock ist genauso glücklich. Er meinte, es wäre das Paradies. Meistens …“

„Nur meistens? Wie anspruchsvoll ist dein Bruder eigentlich?“

„Anscheinend gibt es dort so wenig Hebammen, dass er bei komplikationslosen Schwangerschaften selbst Geburtshelfer spielen muss. Und er sagt, er hat nicht so lange Medizin studiert, nur um Babys auf die Welt zu bringen.“ Jenni schüttelte den Kopf. „Er meint, es macht ihm einen Strich durch sein Liebesleben und durchs Angeln, und unter anderem deshalb ist er ja überhaupt nach Neuseeland gezogen.“ Dann klappte sie den Laptop zu. „Ich glaube, er schickt mir all diese tollen Fotos, damit ich auch hinziehe. Er hat sogar die freien Zimmer in dem Wohnheim für Krankenhausmitarbeiter fotografiert.“

„Und, gerätst du nicht in Versuchung?“ Grace hörte, wie der Wind am Fenster des winzigen Wohnzimmers in dem kleinen Reihenhaus rüttelte. Zumindest hoffte sie, dass es der Wind war …

„Es ist eine Kleinstadt an der Spitze der Südinsel. Fast ein Dorf, und ich möchte nie wieder in einem so kleinen Ort leben. Man kann abends nicht ausgehen, ohne dass alle davon erfahren. Und wo bleibt der Spaß, wenn man keinen neuen Typen kennenlernen kann?“

Grace schüttelte den Kopf. „Hattest du nicht erzählt, dass Jock anscheinend fast jede Woche eine neue Freundin hat?“

„Stimmt. Die einzige langfristige Beziehung, die er eingeht, wird die zu dem Boot sein, das er sich gekauft hat. Angeln ist seine Lieblingsbeschäftigung.“ Jenni schauderte. „Ich hasse Boote. Mit sieben oder acht bin ich mal ins Wasser gefallen. Jock wird es natürlich abstreiten, aber er hat mich reingeschubst.“

„Ich dachte, Zwillinge wären ihr Leben lang Seelenverwandte?“

„Er fand es witzig.“ Nun lächelte Jenni. „Wahrscheinlich war es das auch. Es war Sommer, und zu dem Haus gehörte ein großer Teich. Es war eine der besseren Pflegefamilien, in die man uns gesteckt hat.“ Nun klang sie aufgesetzt fröhlich. „Wollen wir uns etwas zu essen bestellen? Pizza mit viel Käse?“

„Klingt gut.“ Grace wusste, wann sie besser das Thema wechselte. Sie nahm ihr Telefon aus der Tasche. „Wie heißt die Stadt, in der Jock arbeitet?“

„Picton. Von dort fahren die Fähren von der Nord- zur Südinsel, und zwar durch die Marlborough Sounds. Das sind ehemalige vom Meer geflutete Flusstäler mit hunderten von Inseln, die früher Berggipfel waren.“

„Und dort gibt es ein Krankenhaus mit einer Geburtenstation?“

„Ich glaube, es hat ein größeres Einzugsgebiet. Einige der Inseln sind bewohnt. Jock meinte, dass die Hebammen manchmal Hausbesuche mit dem Boot und sogar Hausgeburten machen müssen.“

Grace scrollte, um noch mehr Fotos zu betrachten. „Das sieht toll aus.“

„Es ist auf der anderen Seite der Welt. Wer sollte dort hingehen wollen? Es sei denn, man steht auf Boote.“

Grace blickte zum Fenster. Da es zog, blähten sich die Gardinen ein wenig. „Mir fallen andere Gründe ein, warum die andere Seite der Welt ein guter Ort zum Leben wäre“, sagte sie leise. „Man wäre dort viel schwerer zu finden, stimmt’s?“

Jenni schwieg einen Moment, bevor sie antwortete. „Na ja, Jock würde sich riesig freuen, wenn du dich da bewerben würdest. Ich würde dich wahnsinnig vermissen, aber …“

„Aber dann müsstest du uns besuchen, nicht?“, fiel Grace ihr ins Wort. „Du redest schon seit einer Ewigkeit davon, dass du Jock irgendwann besuchen musst.“

Jenni blinzelte. „Es reizt dich wirklich, nicht?“

„Ich würde auf keinen Fall mit deinem Bruder zusammenleben wollen. Anscheinend ist keine Singlefrau vor ihm sicher.“

„He … Wenn ich ihm sage, dass du tabu bist, bist du es sehr wohl. Und außer dir ist Jock der einzige Mensch auf der Welt, dem ich mein Leben anvertrauen würde.“

Für eine Weile schwiegen sie und hingen ihren Gedanken nach. An einem weinseligen Abend hatte Jenni ihr einmal anvertraut, dass Jock und sie als Kinder und Jugendliche immer unerwünscht gewesen waren, und sie, Grace, hatte ihr von ihrer unglücklichen Ehe erzählt. Seitdem hatten sie nie wieder darüber gesprochen. Jenni und sie hatten beide gelernt, dass sie mit Mut und Entschlossenheit alles erreichen konnten. Allerdings wussten sie beide auch nur zu gut, dass man nichts als selbstverständlich betrachten durfte.

„Du weißt, dass ich dich bei allem, was du machst, unterstützen werde“, meinte Jenni schließlich leise. „Aber glaubst du wirklich, er würde dich suchen? Nur weil er wieder allein ist?“

Grace antwortete nicht, weil ihr Telefon in ihrer Hand gerade vibrierte. Sie schloss die Webseite, nahm den Anruf allerdings nicht entgegen, sondern hielt Jenni das Telefon hin. Es handelte sich um eine unterdrückte Nummer.

Wahrscheinlich war es nur ein Phishing-Anruf. Dennoch schauderte Grace, als sie Jennis Blick begegnete. Schnell blockierte sie die Nummer.

„Wahrscheinlich nicht“, erwiderte sie leise. „Aber das eigentliche Problem ist, dass ich wieder damit rechne. Und das werde ich nicht zulassen. Und wenn ich dafür auf der anderen Seite der Welt noch einmal neu anfangen muss, dann werde ich genau das tun.“

1. KAPITEL

Es schien Grace, als würde sie sich in einer jener Postkartenidyllen befinden, die Jock an jenem stürmischen Abend in Glasgow seiner Zwillingsschwester gemailt hatte.

Lag das wirklich erst fünf oder sechs Wochen zurück?

Im Picton Hospital hatte man tatsächlich so dringend eine Hebamme gesucht, dass man das Online-Bewerbungsverfahren und sämtliche Formalitäten beschleunigt hatte.

Und hier war sie nun, in den frühen Morgenstunden ihres ersten Tags in ihrem neuen Leben, und fuhr zwischen den Inseln hindurch auf die hübsche Kleinstadt zu, die ihre neue Heimat sein würde. Noch erschien es ihr unwirklich, doch das musste auch an dem Jetlag liegen, obwohl sie während des langen Flugs von Glasgow nach Wellington viel geschlafen hatte. Und es war gut, dass sie das letzte Stück nicht geflogen war, sondern die Fähre genommen hatte, denn so konnte sie sich ein wenig an die rasante Geschwindigkeit gewöhnen, mit der ihr Leben sich veränderte.

Die Fußgänger durften die Fähre zuerst verlassen. Grace rollte ihren Koffer über den Kai und fand ein Taxi mit einem netten Fahrer, der sogar einen kleinen Umweg machte, um ihr das Krankenhaus zu zeigen. Kurz darauf zog sie den Koffer die Stufen zu einer alten Villa hinauf. Oben auf der Treppe atmete sie tief durch und blickte über die Schulter auf den Yachthafen, hinter dem sich das Meer mit den zahlreichen Inseln erstreckte. Lächelnd betätigte sie dann den schmiedeeisernen Türklopfer.

Und wurde sofort ernst, als eine Frau mit zerzaustem blonden Haar ihr öffnete. In einer Hand hielt sie eine Scheibe Toast, von der sie offenbar abgebissen hatte, und sie trug ein Männerhemd, das nur unten zugeknöpft und unter dem sie offenbar nackt war.

Grace blinzelte. „Ich bin Grace. Das hier ist das Krankenhauswohnheim, stimmt’s?“

„Ja …“ Die Frau lächelte freundlich. „Jock sagte, heute würde wohl jemand kommen. Herein.“ Sie öffnete die Tür weiter und blickte dann in den langen Flur. „Jock? Bist du schon aufgestanden?“

„Du musst nicht so schreien, Greta.“

Eine der Türen im Flur wurde geöffnet, und ein Mann kam heraus. Zu Grace’ Erleichterung war er nicht halb nackt, sondern nur barfuß. Sein Haar war zerzaust, und er trug ein T-Shirt und verwaschene Jeans, ein ganz normaler Aufzug für einen Sonntagmorgen. Sie hätte Jock McKay überall erkannt. Mit dem roten Haar, den strahlend blauen Augen und den Sommersprossen war er das männliche Pendant zu Jenni, sodass sie ihn bereits zu kennen glaubte. Allerdings war sein Lächeln viel schalkhafter als das seiner Schwester, und er hatte das Selbstvertrauen eines Mannes, der jede Frau bezaubern konnte.

Selbst sie, die sonst gegen jeglichen männlichen Charme immun war, musste ihn anlächeln.

„Sie kommen gerade richtig zum Frühstück“, verkündete er. Dann lächelte er noch strahlender. „Oder sollten wir lieber Brunch daraus machen? Kann ich Sie zu einem meiner berühmten Schinkensandwiches verführen?“

Sein schottischer Akzent war ihr genauso vertraut wie sein Aussehen und sein warmes Lächeln genauso verlockend wie die Aussicht auf Frühstück. Grace blinzelte, weil sie zu ihrem Leidwesen plötzlich mit den Tränen kämpfte.

Sie war nur müde. Sie hatte Jetlag, befand sich fern ihrer Heimat auf der falschen Seite der Welt, und es war nicht mehr Winter, sondern Sommer, aber …

… aber erstaunlicherweise schien es ihr, als wäre sie endlich nach Hause gekommen.

Wow …

Im Laufe der Jahre hatte er einige Fotos von Grace Collins mit seiner Schwester gesehen. Doch nun wurde Jock McKay klar, dass sie der Frau, die ihm gegenüber auf der schattigen Veranda in einem Korbstuhl saß, überhaupt nicht gerecht geworden waren. Nachdem sie ihren Koffer in ihr Zimmer gebracht und sich frisch gemacht hatte, aß sie nun das Schinkensandwich, das er ihr gemacht hatte.

Greta, sein Date für die vergangene Nacht, arbeitete in einem Pub in der Stadt und war inzwischen gegangen. Und es fiel ihm nicht schwer, die beste Freundin seiner Schwester willkommen zu heißen.

„Und, schmeckt es?“

„Das war das leckerste Sandwich überhaupt.“ Grace leckte sich einen Tropfen Barbecuesauce vom Finger. „Jenni hat mir gar nicht erzählt, dass Sie kochen können.“

„Das ist eine kürzlich erworbene Inselbegabung“, erwiderte er grinsend. „Ich musste lernen, den Fisch zu verarbeiten, den ich gefangen habe. Also habe ich mich mit einer Bratpfanne angefreundet.“

„Ah … Ich habe Fotos von Ihrem Boot gesehen. Es ist hübsch. Aus Holz?“

„Es heißt Lassie. Und ja, es ist ein Kabinenkreuzer aus Holz.“

„Haben Sie es getauft?“

„Nein.“

„Hat es Segel oder einen Motor?“

„Beides, aber ich benutze mehr den Motor. Und es ist ein Propellermotor, also ist es nicht so schnell. Aber wer möchte schon über den Sund rasen? Es ist der schönste Platz auf Erden.“

Grace nickte. „Die Fahrt mit der Fähre war schon beeindruckend, aber es ist bestimmt noch viel schöner, wenn man ein eigenes Boot hat. Bestimmt gibt es hier Tausende von kleinen Buchten.“

„Richtig. Und ich habe einen Kollegen, Dan, einen der Anästhesisten, der genauso gern angelt wie ich. Die Lassie ist nicht luxuriös, aber groß genug, dass wir beide darin schlafen und dann schon im Morgengrauen angeln können. Nichts schmeckt so gut wie ein Sandwich mit frischem Schnapper zum Frühstück.“

„Dann haben Sie also auch eine Pfanne an Bord?“

„Ja. Gut, dass Sie mich daran erinnern. Ich muss einiges in der Kombüse aufstocken. Wenn Sie Lust auf einen Spaziergang haben, könnten Sie mit mir zum Yachthafen kommen und sie sich ansehen. Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen auch das Krankenhaus. Es sei denn, Sie wollen erst mal schlafen.“

Sie schüttelte den Kopf. „Das beste Mittel gegen Jetlag soll ja sein, in der neuen Zeitzone bis zur Schlafenszeit wach zu bleiben. Und ich fühle mich gut. Der Taxifahrer hat mir schon das Krankenhaus gezeigt, aber es wäre gut zu wissen, wo ich mich morgen früh melden muss. Und den Yachthafen würde ich mir auch gern ansehen. Selbst aus der Ferne ist er sehr schön.“

Als Grace auf den Yachthafen blickte, nutzte Jock die Gelegenheit, sie zu betrachten.

Sie war der Inbegriff der englischen Rose. Mit der zarten, makellosen Haut, dem goldblonden Haar, das in der Sonne schimmerte, und Augen von der Farbe des Sommerhimmels. Oder vielmehr der Farbe des Meeres heute, die ihn normalerweise an seinem freien Tag veranlasst hätte, mit dem Boot hinauszufahren – und die Ruhe zu genießen, die ihm ein nie gekanntes Glücksgefühl vermittelte.

Schließlich musste Jock sich von ihrem Anblick losreißen. Wahrscheinlich war es gut, dass Jenni ihm die Leviten gelesen und ihn gewarnt hatte, ihre beste Freundin ja nicht anzubaggern.

Allerdings hätte sie es nicht so deutlich sagen müssen. Er hätte es nie mit einer Frau versucht, mit der auch unter einem Dach wohnen würde. Schon vor langer Zeit hatte er die Erfahrung gemacht, wie unangenehm es sein konnte, mit Frauen zusammenzuarbeiten, mit denen er eine Affäre hatte, auch wenn sie selbst nur Spaß gewollt hatten.

„Rühr sie ja nicht an“, hatte Jenni ihm eingeschärft. „Sie hat sich nicht mal mit einem Mann verabredet, seit sie ihre unglückliche Ehe beendet hat, und das liegt schon fünf Jahre zurück. Sie mag ziemlich tough wirken, Jock, aber … man muss sich um sie kümmern, okay? Sei der nette Bruder, der du immer für mich warst …“

Er mochte auf der anderen Seite des Globus leben, doch nichts würde je die Verbindung zwischen ihm und seiner Zwillingsschwester zerstören. Er hatte sie immer beschützt. Und auf ihre beste Freundin aufzupassen, würde ihn daran erinnern, wie er früher auf Jenni aufgepasst hatte. Es war eine Form der Liebe, und es erforderte bedingungsloses Vertrauen – auf beiden Seiten. Vertrauen, das sie von nun an zueinander aufbauen würden.

Also nein … Grace Collins hatte nichts von ihm zu befürchten. Auf keinen Fall wollte er Jenni enttäuschen.

Jock stand auf und streckte die Hand nach ihrem leeren Teller aus. „Ich bringe ihn in die Küche. Was halten Sie davon, wenn Sie jetzt bequeme Schuhe anziehen und wir aufbrechen?“

Picton erinnerte an einen idyllischen Urlaubsort.

Die Menschen wirkten entspannt. Sie trugen Sonnenhüte und Shorts, bummelten durch Geschäfte oder tranken Kaffee in einem der zahlreichen Cafés mit Außenplätzen. Es gab Rasenflächen mit Spielplätzen, einen Eisstand, und über dem Yachthafen, in dem unzählige Boote auf dem Wasser schaukelten, kreischten die Möwen.

„Wenn man ein Boot besitzt, besteht der halbe Spaß darin, daran herumzuwerkeln“, sagte Jock.

„Das kann ich gut nachvollziehen.“ Grace schüttelte den Kopf, als er die Hand ausstreckte, um ihr aufs Boot zu helfen. „Das schaffe ich allein, danke. Oh …“ Als sie an Bord ging, blickte sie sich um. „Es ist schön …“

Das Boot war offenbar sehr gepflegt, und das hölzerne Steuerrad, die Reling sowie die Messingteile schimmerten. Jock öffnete einige Schränke, um die Konserven und andere Vorräte, die er besorgt hatte, zu verstauen. Dann zeigte er ihr die Kochutensilien und andere notwendige Dinge, die platzsparend um die Spüle und Kochfläche herum untergebracht waren. Am Bug befanden sich gepolsterte Bänke und noch mehr Stauraum. Durch die kleinen Bullaugen fiel Sonnenlicht.

„Ist das hier ein Erste-Hilfe-Kasten?“

„Ja. Natürlich kann ich hier keine Medikamente deponieren, aber ich möchte zumindest die wichtigsten Utensilien dabeihaben, wenn irgendwo jemand in der Einsamkeit Probleme hat.“

„Ich auch. Vor meiner Ausbildung zur Hebamme habe ich als Rettungssanitäterin gearbeitet.“

„Wirklich? Das wusste ich gar nicht. Warum haben Sie das Fach gewechselt?“

„Ich wurde zu meinem ersten Einsatz bei einer Hochschwangeren geschickt“, erzählte Grace. „Das Baby kam noch im Krankenwagen zur Welt, und … ich schätze, ich habe mich in die Geburtshilfe verliebt.“

Der Einsatz hatte ihr ganzes Leben verändert. Sie hatte dabei eine Stärke entwickelt, die sie bei sich nie vermutet hätte und die ihr einen Ausweg aus dem Leben gewiesen hatte, in dem sie sich für immer gefangen gefühlt geglaubt hatte.

„Es ist magisch, nicht?“ Jock klang sanft. „Wenn man den ersten Schrei hört und beobachtet, wie sie zum ersten Mal in die Welt blicken.“

„Mh.“ Für sie war es der Moment, wenn die Mutter ihr Baby zum ersten Mal in den Armen hielt. Die Erleichterung empfand, in die sich immer die Faszination für ein neues Leben mischte. Denn es verschwand nie ganz, nicht? Zu wissen, wie es war, ihr eigenes Baby in den Armen zu halten, dem die Chance auf den ersten Atemzug verwehrt geblieben war …

Plötzlich erschien ihr die Kabine zu eng, und Grace wandte sich ab, um wieder in die Sonne zu treten. Dabei bemerkte sie ein kleines Schlauchboot, das in den Yachthafen fuhr. Ein Mann vertäute es an einem Poller und sprang auf den Steg.

„Was ist los?“ Jock kam aus der Kabine, als der Mann auf sie zueilte.

„Haben Sie ein Telefon? Mein Akku ist leer, und ich muss einen Krankenwagen rufen.“

„Ich bin Arzt. Was ist passiert? Hatte jemand einen Unfall?“

Der Mann schüttelte den Kopf. „Es ist meine Frau. Sie schafft es nicht aus der Kabine, und ich glaube, das Baby kommt …“

Erschrocken wandte Jock sich an Grace. „Können Sie den Erste-Hilfe-Kasten mitnehmen?“

Während sie den Kasten aus der Kabine holte, hörte sie, wie er dem Mann sagte, er würde sofort kommen, weil er Gynäkologe und sie Hebamme wäre. Als sie die Kabine verließ, hatte er schon einen Anruf getätigt.

„Der Krankenwagen ist unterwegs“, informierte er den Mann. Nachdem er den Kasten entgegengenommen hatte, nahm er ein Paar Handschuhe heraus, das er ihr reichte. „Aber wir sollten nach der werdenden Mutter sehen.“

„Ja, bitte …“, erwiderte dieser. „Wir liegen an einer Boje weiter draußen vor Anker. Ich heiße übrigens Oliver, meine Frau heißt Suzie.“

Während sie Oliver folgten, stellte Jock sich und sie ihm vor.

„Wann ist der Geburtstermin?“, fragte Grace.

„Erst in ein paar Wochen. Wir dachten, wir könnten noch ein ruhiges Wochenende verbringen. Wir sind gestern aus Nelson gekommen und wollten heute Nachmittag wieder zurückfahren.“ Oliver eilte voraus. „Man hat uns gesagt, das erste Kind würde normalerweise später kommen. Und eigentlich kündigen Wehen sich doch an, oder?“

„Nicht immer“, erwiderte sie.

Jock befand sich direkt hinter ihr, als sie die Leiter zum Schlauchboot erreichte. „Gab es irgendwelche Komplikationen in der Schwangerschaft?“

„Nein.“ Oliver startete den Außenbordmotor. „Die Wehen haben ganz plötzlich eingesetzt, und dann konnte Suzie nicht mehr ins Schlauchboot klettern.“ Er blickte über die Schulter. „Ich muss die Sanitäter gleich abholen, ja?“

„Nein, ich sage der Küstenwache Bescheid, sobald ich mehr weiß.“ Jock beschattete die Augen mit der Hand, während sie über das Wasser glitten. „Unser Job ist es, Suzie nach Kräften zu unterstützen.“

Grace betrachtete sein Profil. Nun lernte sie ihren neuen Kollegen von einer ganz anderen Seite kennen, denn er war nicht mehr der lässige, charmante Playboy, sondern Jock McKay, der Arzt. Professionell.

Er hatte alles im Griff.

Mit einer derartigen Situation hätte sie nie gerechnet, doch sie hätte keine bessere Gesellschaft haben können, oder?

Allerdings verlor sie den Mut, als sie sich der schnittigen Yacht von Oliver und Suzie näherten, denn aus der Kabine drang ein gequälter Schrei.

Ollie … Wo bist du? Ich schaffe das nicht …“

Oliver war aschfahl geworden. Er stellte den Motor ab, wirkte dann jedoch hilflos. Jock stand auf, um das Schlauchboot am Heck der Yacht zu stabilisieren. „Können Sie hochklettern?“, fragte er Grace. „Vielleicht sollten Sie zuerst gehen. Ich unterhalte mich kurz mit Oliver und komme dann nach.“

Offenbar wollte er nicht, dass Suzie ihren Ehemann so sah. Grace nickte zustimmend. Falls die Wehen zu weit fortgeschritten waren, würde die werdende Mutter nur eine Hebamme brauchen. Und falls Oliver sich so weit beruhigte, um seine Frau unterstützen zu können, wäre allen Beteiligten sehr geholfen.

Leider war es in der Kabine ziemlich beengt. Die Decke war zu niedrig, als dass man aufrecht stehen konnte, und zwischen den gepolsterten Bänken, die als Betten fungierten, konnte man sich kaum umdrehen.

Grace wirkte jedoch nicht beunruhigt. Offenbar kam ihr zugute, dass sie vorher als Rettungssanitäterin gearbeitet hatte und jede Herausforderung in jeder Umgebung meisterte. Sie hatte ihren Pferdeschwanz hochgebunden und wirkte hochkonzentriert, als sie Suzie untersuchte. Oliver hatte sich auf die gegenüberliegende Bank gezwängt und hielt deren Hand.

Schließlich blickte Grace zu Jock auf. „Das Baby ist in vorderer Hinterhauptslage. Der Muttermund ist vollständig geöffnet. Suzie hat noch keine Presswehen, aber ich spüre schon den Kopf. Fetalposition eins, vielleicht auch zwei …“

Er nickte. Letzteres bedeutete, dass der Kopf des Babys sich schon im Geburtskanal befand. Und dass sie Suzie nicht mehr transportieren konnten.

„Oliver, könnten Sie so viele saubere Handtücher wie möglich raussuchen?“

„Warum?“

„Ich glaube, Ihr Baby möchte unbedingt auf einem Boot zur Welt kommen.“

Oliver schluckte. Dann wand er sich heraus, um Handtücher zu suchen.

„Sie haben nicht zufällig ein tragbares Ultraschallgerät oder ein Fetalstethoskop in Ihrem Erste-Hilfe-Koffer, Jock?“ Grace zog die Handschuhe aus und nahm ein sauberes Paar aus dem Koffer. „Es wäre gut, die Herzfrequenz zu hören.“

„Nein. Aber ich habe ein Stethoskop.“ Jock nahm es aus dem Koffer.

„Oh …“ Suzie stöhnte laut.

„Noch eine Wehe?“ Grace blickte auf die Uhr. „Das sind nur zwei Minuten seit der letzten.“

„Ich muss pressen …“, stieß Suzie hervor. „Oh … Nein …“

„Du machst das toll“, sagte Oliver zu ihr. „Denk ans Atmen …“

Suzie fluchte laut.

Jock hatte das Stethoskop angelegt. Er musste sich an Grace pressen, um die Membran auf Suzies Bauch legen zu können. Die Wehen erschwerten dies, und ihre Schreie übertönten den Herzschlag des Babys.

„Mir ist übel“, stieß sie hervor. „Ich muss zur Toilette … Oh … Das tut so weh …“

„Spar dir deine Kraft fürs Pressen auf“, riet Oliver, woraufhin sie wieder fluchte.

„Herzfrequenz ist normal“, informierte Jock Grace. Sie wechselten einen erleichterten Blick.

Und die Ruhe, die Grace ausstrahlte, lockerte die zunehmend angespannte Atmosphäre. „Das machen Sie ganz toll, Suzie. Ich kann jetzt das Köpfchen sehen … Er ist gleich da …“

Er konnte das Köpfchen ebenfalls erkennen. Und im nächsten Moment verschwand es wieder – ein Indiz dafür, dass die Schultern feststeckten. Das konnte sich zu einem Notfall entwickeln.

Diesmal wechselten sie einen besorgten Blick, doch Jock sprach genauso ruhig wie Grace eben. „Tauschen wir die Plätze?“

Obwohl das wegen der beengten Verhältnisse nur mit Körperkontakt möglich war, wirkte Grace genauso unbefangen wie eben. Vielleicht weil sie sich genauso auf ihre Patientin konzentrierte wie er.

„Suzie? Wir helfen Ihnen jetzt in eine andere Position, damit die nächste Wehe effektiver wird, okay?“ Doch bevor er Grace anweisen konnte, bewegte Suzie sich bereits. „McRoberts?“, brachte sie hervor.

„Ja. Danke … Okay, Suzie, wir helfen Ihnen jetzt, um etwas mehr Platz zu schaffen.“

Zusammen halfen sie Suzie, die Beine eng an den Bauch zu beugen.

„Ich schaffe das nicht“, stieß sie hervor. „Das tut weh …“

„Was ist los?“, fragte Oliver. „Warum machen Sie das?“

Als die nächste Wehe sich ankündigte, stellte Jock fest, dass er den Atem anhielt. Ihnen blieben nur noch wenige Minuten, bis sie ernste Schwierigkeiten bekamen.

„Manchmal steckt das Baby für einen Moment fest“, informierte Grace den werdenden Vater. „So schafft man am besten Platz.“

„Sie könnten Suzies Beine halten, Oliver“, schlug Jock vor.

„Klettern Sie über mich auf die andere Seite“, fügte Grace hinzu.

Als Suzie aufschrie, befolgte Oliver Grace’ Anweisung.

„Halten Sie Ihre Beine unter den Knien fest“, wies Grace Suzie an, als diese sich an ihren Mann lehnte. „Oliver kann die Hände auf Ihre legen und Ihnen dabei helfen, die Beine so weit wie möglich an die Brust zu ziehen. Und nicht pressen, Suzie … nur atmen …“ Grace machte ihr vor, wie sie den Drang zu pressen unterdrücken konnte.

„Grace? Können Sie bitte Druck über dem Schambein ausüben?“, bat Jock.

Erfreut verfolgte er, wie Grace die vordere Schulter des Babys lokalisierte, die Hände dann direkt dahinter verschränkte und in einer Wiegebewegung Druck ausübte. Sie wusste genau, was sie tat. Falls es nicht klappte, würde er einen Dammschnitt machen, um das Baby herauszuziehen. Die Uhr tickte. Die Anspannung verstärkte sich.

Das Boot begann zu schaukeln, als mehr Menschen an Bord kamen. Mehr Retter passten nicht in diese Kabine, doch es war auch nicht nötig.

„Das Baby bewegt sich …“, verkündete Grace. „Ich glaube, wir haben es gleich geschafft, Suzie …“

Und nur wenige Sekunden später glitt das Baby in seine Hände. Noch besser, der kleine Junge begann sofort zu schreien, und in diesem kleinen Raum klang es so laut, dass seine Eltern lachten.

Und dann weinten.

Es sah so aus, als hätte auch Grace Tränen in den Augen.

„APGAR-Wert ist acht“, verkündete Jock.

„Ist das gut?“, fragte Oliver.

„Das ist toll“, versicherte Grace den beiden. „Legen wir den Kleinen auf Mums Brust, damit er warm bleibt. Möchte Sie gleich die Nabelschnur durchschneiden, Dad?“

„Absolut.“ Er klang jetzt viel zuversichtlicher.

Grace zögerte jedoch, bevor sie das Baby hochnahm, weil er noch vorsichtig die Schultern abtastete.

„Alles gut“, sagte Jock leise. „Keine Brüche.“

Ja … Sie hatte Tränen in den Augen, doch sie lächelte das Baby an, als sie es ihm abnahm, um es seiner Mutter zu überreichen.

Jock konnte spüren, wie sehr ihr Beruf sie erfüllte. Er konnte ihre Leidenschaft spüren. Er lernte gern Menschen kennen, die sich genauso ihrem Job verschrieben hatten wie er. Er arbeitete gern mit Menschen zusammen, die intelligent und kompetent waren.

Und ja … er konnte nicht leugnen, dass er gern mit schönen Frauen zusammen war. Wie mit der, die ihn anblickte, die Hand auf Suzies Bauch.

Suzie war so fasziniert von ihrem Baby, dass sie die nächste Wehe anscheinend nicht bemerkte. Er konzentrierte sich allerdings auf die Geburt der Plazenta. Zumindest überwiegend.

Gleichzeitig dachte er immer noch an all die positiven Eigenschaften, die er an seiner neuen Kollegin bemerkte, mit der er – zumindest vorerst – zusammenwohnen würde.

Grace Collins mochte für ihn tabu sein, doch sie war möglicherweise die perfekte Frau für ihn. Vielleicht war sie es gerade aus diesem Grund.

Doch so attraktiv sie auch sein mochte, allein bei dem Gedanken daran, dass er darauf reagierte, sah er im Geiste seine Schwester vor sich, die ihm mit dem Finger drohte. Und das genügte, um ihn abzuschrecken. Andererseits bedeutete es, dass er nicht gehen müsste, falls sie sich näherkamen.

Er konnte auf Jenni hören und sich Grace gegenüber wie ein großer Bruder verhalten. Sie aufziehen, wie er Jenni immer aufgezogen hatte. Sich mit ihr unterhalten oder ohne Hintergedanken etwas mit ihr unternehmen.

Ja, das hier war so sicher, wie es nur sein konnte. Und das machte es perfekt.

2. KAPITEL

Als Grace am nächsten Morgen aufwachte, wusste sie zuerst nicht, wo sie war.

Im nächsten Moment hörte sie jemanden leise pfeifen. Es war ein Mann, und das beunruhigte sie noch mehr als die Tatsache, dass sie sich nicht orientieren konnte.

Grace erstarrte und blickte an die hohe Stuckdecke, deren Verzierungen Schatten warfen, weil sie die Gardinen am Abend nicht richtig zugezogen hatte und die Sonne hereinschien. Wegen des Jetlags war sie schon um sieben vor Erschöpfung eingeschlafen.

Als ihr nun einfiel, wo sie sich befand, atmete sie tief ein. Und im nächsten Moment stockte ihr der Atem, weil sie mit einem Mann allein im Haus war. Hatte sie wirklich geglaubt, sie würde damit klarkommen? Langsam atmete sie wieder aus, um sich zu beruhigen. Es war Jock McKay, der pfiff. Der Bruder ihrer besten Freundin.

Der Mann mit den funkelnden Augen und dem schalkhaften Lächeln, der ihr am Vortag keinen schöneren Empfang hätte bereiten können. Zuerst hatte er ihr etwas zu essen angeboten, als hätte er nur auf die Gelegenheit gewartet, sich um sie zu kümmern. Wie konnte die Vorstellung, mit einem Mann wie ihm unter einem Dach zu wohnen, sie nervös machen?

Dies war ein Mann, der wehmütig gewirkt hatte, als er ihr erzählte, dass er es magisch fand, Babys auf die Welt zu helfen, und genau das hochkonzentriert und fachkundig getan hatte. Und vor allem war er Jennis Bruder, und diese hatte ihr erzählt, dass sie bei ihm sicher wäre. Und war die Tatsache, dass sie sich auf ein Wagnis einließ, nicht die Grundlage für diese enorme Veränderung in ihrem Leben?

Trotzdem war Grace natürlich nervös, als sie sich anzog und ins Bad und anschließend in die Küche ging. Dort spülte Jock gerade das Geschirr.

„Morgen, Dornröschen“, begrüßte er sie. „Wie haben Sie geschlafen?“

„Tief und fest“, erwiderte Grace. „Aber offen gestanden, kommt es mir so vor, als würde ich noch träumen.“

Wieder lächelte er jungenhaft, und seine bemerkenswert blauen Augen funkelten warm. Erneut atmete sie tief durch.

Das hier war in Ordnung. Sie konnte damit klarkommen.

„Sie brauchen Kaffee“, erklärte er. „Ich würde Ihnen ja gern welchen machen, aber ich muss noch mal meine Patientinnen sehen, bevor ich ab acht im OP stehe.“

„Sie müssen sich nicht um mich kümmern, Jock.“

„Oh, ich tue es trotzdem. Sonst reißt Jenni mir den Kopf ab.“

Grace lachte. „Ich bin durchaus in der Lage, mir selbst Kaffee zu kochen.“

„Es gibt jede Menge Brot. Marmelade finden Sie im selben Schrank wie den Kaffee.“ Jock ging zur Küchentür. „Kommen Sie heute ins Krankenhaus?“

„Ja, ich habe heute die Führung und die Einarbeitung, damit ich gleich loslegen kann, wenn ich Mittwoch offiziell anfange.“

„Vielleicht sehen wir uns dann noch. Wenn Sie später die Gegend erkunden wollen, können Sie gern meinen Wagen nehmen. Die Schlüssel liegen auf meinem Nachttisch.“

„Danke. Aber ich werde keinen Wagen brauchen.“

Nun zog er die Brauen hoch. „Sie können doch fahren, oder?“

„Natürlich. Früher habe ich sogar einen Krankenwagen gefahren. Aber die Klinik ist ja nicht weit von hier.“

„Stimmt, aber Sie müssen auch Hausbesuche machen. Da ist man manchmal eine Stunde oder noch länger unterwegs. Vielleicht möchten Sie die Straßen hier kennenlernen.“

„Ich glaube, für die Hausbesuche darf ich einen Wagen aus dem Fuhrpark benutzen, aber Sie haben recht – ich muss mir bald ein eigenes Auto kaufen, damit ich Neuseeland erkunden kann.“

Dabei könnte ich Ihnen helfen. Ich kenne jemanden in einem der Autohäuser hier. Am besten begleite ich Sie dann, damit Sie den besten Preis bekommen.“

„Wie spät ist es bei dir?“

„Kurz vor siebzehn Uhr. Und bei dir?“ Jenni schien auf das Display ihres Telefons zu blicken. „Sieht so aus, als würdest du gerade frühstücken.“

„Ja, hier ist es sechs Uhr morgens. Es wird ein herrlicher Tag. Sieh mal …“ Grace, die auf der Veranda saß, schwenkte ihr Telefon herum. „Siehst du, wie blau der Himmel jetzt schon ist?“

„Das will ich gar nicht wissen“, grummelte Jenni. „Hier schneit es schon den ganzen Tag. Oder es sind vielmehr Graupelschauer. Und es friert …“

„Erzähl mehr.“ Lächelnd nahm Grace ihren Kaffeebecher in die Hand.

„Nein. Du bist sowieso zu glücklich. Ich bin wahnsinnig neidisch auf dich.“

„Hast du dir schon ein Flugticket gekauft?“

„Ich spare noch. Es ist nicht gerade billig. Und Fergus möchte, dass ich mit ihm übers Wochenende nach Portugal fliege.“

„Ist Fergus nicht der Typ, den du kurz vor meiner Abreise kennengelernt hast?“

„Genau der.“

Grace lachte. „Dann würde ich nicht Portugal buchen.“

„Warum nicht?“

„Das ist fast drei Wochen her. Du brichst deinen eigenen Rekord, wenn es länger als einen Monat dauert.“

„Das klingt ein bisschen harsch.“

„Du bist genauso schlimm wie Jock. Er gilt hier quasi als Playboy, obwohl ihn deshalb niemand weniger zu mögen scheint. Er ist ziemlich beliebt, dein Bruder.“

„Deshalb sollte man die Dinge zwanglos halten. Wenn offensichtlich ist, dass nie etwas Ernstes daraus wird, wird niemand verletzt, und man kann es einfach nur genießen.“

Um darauf nicht antworten zu müssen, biss Grace von ihrem Toast ab. Vielleicht war sie anders als Gleichaltrige, aber unverbindlicher Sex war noch nie ihr Ding gewesen.

Und nun … war es der Stoff, aus dem Albträume gemacht waren, nicht?

„Aber du hast recht“, fuhr Jenni fort. „Ich spare das Geld lieber für mein Flugticket nach Neuseeland. Und wenn Fergus deshalb mit mir Schluss macht, ist es eben so. Was hast du heute vor?“

„Meine erste Patientin heute ist eine werdende Mutter, die schon fast in der zweiundvierzigsten Woche ist. Es kann also gut sein, dass sie später noch gebärt. Und heute Nachmittag habe ich Vorsorgesprechstunde. Wenn es auch nur annähernd so läuft wie bisher, werde ich keine freie Minute haben. Aber wenigstens finde ich mich jetzt in der Klinik zu recht. Meine Nervosität lässt allmählich nach.“

„Aber du liebst den Job, nicht?“

„Ja …“ Grace blickte auf die Uhr. „Apropos … Ich muss mich jetzt fertig machen. Ich kann hier nicht in der Sonne sitzen und die Boote im Hafen betrachten. Habe ich dir erzählt, dass Jock mich mitnehmen will, wenn er das nächste Mal mit seinem Freund Dan angeln fährt? Mit etwas Glück kann ich dann sogar mit Delphinen schwimmen.“

„Oh hör auf …“ Doch Jenni lachte. „Ist er in der Nähe? Ich könnte ihn ein bisschen ärgern, bis Fergus mich abholt.“

„Nein … Er joggt gerade. Oder spielt er Squash? Ich komme bei seinem Fitnessprogramm nicht mit. Vielleicht ist es ähnlich wie mit seinem Liebesleben. Viel Abwechslung und immer etwas am Laufen.“

Jenni lachte wieder. „Aber du bist im Haus keinen halb nackten Frauen mehr begegnet, oder?“

„Nein. Ich glaube, er agiert jetzt im Untergrund. Er ist nur ein paarmal nachts sehr spät nach Hause gekommen.“ Grace nahm das letzte Stück Brot vom Teller, als sie aufstand.

„Ist es so schlimm, wie du dachtest, mit einem Mann unter einem Dach zu wohnen? Willst du dir immer noch eine eigene Wohnung suchen?“

Grace gab ihr mit einer Geste zu verstehen, dass sie gerade nicht antworten konnte, weil sie aß. So konnte sie einen Moment über die Frage nachdenken. Zu ihrer Überraschung wurde ihr klar, dass sie ihren ursprünglichen Plan fast vergessen hatte. Und dass die Vorstellung, mit einem Mann zusammenzuleben – auch wenn es sich um Jennis Bruder handelte und es nur vorübergehend war –, sie fast davon abgehalten hätte, nach Neuseeland zu gehen.

Vielleicht hatte die Tatsache, dass Greta bei ihrer Ankunft hier gewesen war, die Situation entschärft. Oder dass Jock sie ebenso lässig wie herzlich aufgenommen und somit ihren Schutzwall durchbrochen hatte, wozu vermutlich auch ihr Jetlag beigetragen hatte.

Vielleicht war es aber auch die unerwartete Zusammenarbeit auf der Yacht gewesen. Oder ihre Witze auf dem Rückweg über die Wassergeburt, bei der niemand nass geworden war. Denn bevor sie an dem Abend in Tiefschlaf gefallen war, war ihr klar geworden, dass Jock seit dem Ende ihrer Ehe der erste Mann war, der sie zum Lachen gebracht hatte.

Doch vermutlich waren es eher ihre Gefühle gewesen, als man sie ins kalte Wasser geworfen und sie mit Jock zusammengearbeitet hatte. Sie hatten sich blind aufeinander verlassen können.

Sie spielte nicht mehr mit dem Gedanken, in die günstige Mitarbeiterunterkunft zu ziehen, denn sie fühlte sich sicher.

Okay, in den ersten Tagen war sie einige Male erstarrt, genau wie an jenem ersten Morgen, als sie nicht gewusst hatte, wo sie sich befand. Es war auch einige Tage später passiert, als sie ihr Zimmer verließ und Jock, der sich nur ein Handtuch um die Hüften geschlungen hatte, aus dem Bad kommen sah. Das Gefühl, das sie bei seinem Anblick verspürt hatte, hatte ihr den Atem genommen. Und als sie in der Küche gesessen und die Tür gehört hatte, als er nach Hause kam und ihr wieder jener vertraute kalte Schauer über den Rücken lief.

Doch nun hatte Grace das Gefühl, dass sie nie wieder so überreagieren würde. „Er ist wirklich brillant“, sagte sie zu Jenni. „Er hat mir einen tollen Preis ausgehandelt, als ich letzte Woche das Auto gekauft habe. Er hat mich zur Probefahrt begleitet und danach mit dem Verkäufer verhandelt.“

Und das war auch eine Probe gewesen, nicht? Sie hatte in einem kleinen Wagen neben Jock gesessen. Dicht genug, dass er sie ohne Weiteres hätte berühren können, und … sie hatte sich trotzdem sicher gefühlt.

Sie hatte die neidischen Blicke der Sekretärin bemerkt, als sie den Kaufvertrag für das kleine blaue Auto unterschrieb – die besagten, dass sie sich glücklich schätzen konnte, weil sie so einen süßen Freund hatte, der ihr beim Autokauf half. Und ehrlicherweise musste Grace sich eingestehen, dass es ihr gefallen hatte.

Allerdings würde sie das niemals Jenni erzählen.

„Er ist ein richtig guter Koch“, fuhr sie schnell fort. „Er macht die besten Schinkensandwiches der Welt, und manchmal denkt er sogar daran, die Klobrille runterzuklappen.“

Grace versuchte, nicht zu sehr zu strahlen. Sie wollte Jenni kein ungutes Gefühl vermitteln, weil sie sich so schnell an ihr neues Leben gewöhnte. Sich so viel sicherer fühlte, weil sie Schottland – und ihre Vergangenheit – hinter sich gelassen hatte. Weil sie glücklicher war als … je zuvor?

„Ich habe mir immer einen Bruder gewünscht, und jetzt kommt es mir so vor, als hätte ich einen“, fügte Grace ernsthaft hinzu. „Und er sieht dir so ähnlich, dass es mir dabei hilft, dich nicht allzu sehr zu vermissen.“

„Ach …“ Jenni machte ein trauriges Gesicht. „Jetzt fühle ich mich wirklich ausgeschlossen. Und ich vermisse dich schrecklich. Grüß Jock von mir.“

Als Grace Jock später an dem Morgen sah, hatte sie keine Zeit, ihn von seiner Schwester zu grüßen.

Ihre Patientin Melissa, die ihr erstes Kind erwartete und überfällig war, hatte eigentlich zur Einleitung der Geburt in die Klinik kommen sollen. Doch sie war kurz nach ihr schon mit Wehen und geöffnetem Muttermund erschienen. Jocks Angelfreund Dan legte ihr eine Spinalanästhesie. Er war ein großer, ernst wirkender Mann und sagte kaum etwas, nachdem er sich nach den Werten der Mutter und des Babys erkundigt hatte. Grace half ihm dabei, Melissa in die richtige Position auf der Bettkante zu setzen, und hielt ihre Schultern, während er den Zugang legte und das Mittel spritzte.

Als die Wehen jedoch einige Stunden später nachließen und der Muttermund sich nicht weiter geöffnet hatte, machte Melissa sich Sorgen, zudem die Herztöne des Babys sich unter den Wehen verschlechterten und immer länger brauchten, um sich zu normalisieren. Als die Fruchtblase platzte, benachrichtigte Grace Jock über den Pager, weil er Bereitschaft hatte. Als er kurz darauf erschien, stellte sie ihn Melissa und deren Partner Jason vor.

„Mel ist vierunddreißig, und es ist ihre erste Schwangerschaft“, fügte sie hinzu. „Bisher gab es keine Komplikationen, aber sie ist in der einundvierzigsten Woche, fünf Tage nach dem errechneten Geburtstermin. Heute Morgen sollten die Wehen eingeleitet werden, weil das Baby sich gestern weniger bewegt hat.“

„Hallo, Mel.“ Jock trug hellblaue Krankenhauskleidung, und um seinen Hals hing ein Stethoskop. Während Grace sprach, überflog er schnell die Daten. Dann blickte er auf und lächelte Melissa an. „Sie haben heute Morgen also beschlossen, die Dinge zu überstürzen und die Wehen selbst einzuleiten. Das ist gut.“

Es war das erste Mal, dass Grace Melissa nach deren Ankunft lächeln sah, und sie konnte es nachvollziehen. Sie war auch beruhigt, wenn Jock neben ihr stand und Melissa das Gefühl vermittelte, dass er stolz auf sie war und ihr nach Kräften helfen würde. Als wäre alles in Ordnung und er würde sich nur auf sie konzentrieren. Auf eine erschöpfte, besorgte Mutter, die ihr erstes Kind bekam – und ihren sichtlich nervösen Ehemann –, musste er wie der edle Ritter wirken.

Er vermittelte ihr Hoffnung, dass das Schlimmste geschafft wäre.

Grace beobachtete, wie Melissa und Jason erleichtert aufatmeten. Es war nicht so, dass sie ihr als Hebamme nicht vertrauten, sondern als würde Jock ihnen das Gefühl vermitteln, dass sie hier richtig seien und die bestmögliche medizinische Betreuung erhielten.

Und wer würde Josh McKay nicht vertrauen?

Seine lockere, nette und vertrauenerweckende Art war so echt. Melissa und ihr Partner konnten nicht wissen, wie gut Jock als Arzt war, doch vielleicht spürten sie, wie viel Respekt man ihm hier entgegenbrachte. Ebenso wie sie vermutlich spürten, dass die werdenden Eltern und ihre Babys ihm am Herzen lagen. Genauso wie diese ihr am Herzen lagen.

Und das gefiel ihr sehr an ihm.

Nachdem er Melissa ebenso sanft wie gründlich untersucht hatte, kündigte sich die nächste Wehe an. Und sie verfolgten alle am CTG, wie der Herzschlag des Babys sich erneut verlangsamte. Wenige Sekunden später erschien der Ausdruck.

Jock stützte sich mit der Hüfte gegen das Bett, um mit Melissa auf Augenhöhe zu sein, während sie einige Papiertücher von ihrem Mann entgegennahm und sich die Tränen von den Wangen wischte. Grace saß auf der anderen Seite des Betts und nahm die Hand, die Melissa ihr entgegenstreckte.

„Sie machen das ganz toll“, versicherte Jock leise. „Aber die Geburt steht jetzt ein bisschen zu lange still, und ich glaube, Ihr Baby wird auch allmählich müde. Die sicherste Option für Sie beide wäre ein Kaiserschnitt.“

Melissa nickte. Grace hatte schon mit ihr darüber gesprochen. „Ich möchte es nur noch hinter mich bringen“, sagte sie. „Damit wir wissen, dass es ihr gutgeht …“

„Und genau das wollen wir auch“, bekräftigte er. „Grace bereitet Sie vor, und wir sehen uns dann gleich im OP. Da Sie schon eine Spinalanästhesie haben, können wir gleich anfangen. Dan, unseren Anästhesisten, kennen Sie ja schon. Er wird auch dabei sein.“ Dann lächelte er auch Jason an. „Sie werden Ihr Baby bald kennenlernen. Haben Sie noch Fragen?“

Melissa unterdrückte ein Schluchzen. „Darf Jason die ganze Zeit dabei sein?“

„Klar. Grace, würden Sie die Krankenhauskleidung für Jason organisieren?“

„Ja. Ich besorge alles, was er braucht.“

„Sie dürfen am Kopfende neben Melissa sitzen“, informierte er Jason. „Da wir einen Sichtschutz aufstellen, werden Sie den Eingriff nicht sehen, aber Sie können mit Ihrer Frau reden und ihre Hand halten. Dan wird all Ihre Fragen beantworten.“

„Aber Grace wird auch dabei sein?“

„Sie ist Ihre Hebamme.“ Jock lächelte Grace an. „Diesmal hole ich das Baby, aber sie möchte bestimmt dabei sein.“

„Richtig“, bestätigte sie. „Wir werden alle dabei sein, um Sie und das Baby bestmöglich zu versorgen, Mel.“

Jock hatte richtiggelegen. Es hatte Grace immer Spaß gemacht, während eines Kaiserschnitts dabei zu sein. Sie liebte es, ihre Patientinnen auf den Eingriff vorzubereiten und dafür zu sorgen, dass im OP alles bereitlag. Sie liebte es, sich und den werdenden Vater mit OP-Kleidung auszustatten und sowohl die Mutter als auch ihn zu beruhigen.

Sie liebte es, den Eingriff aus einigem Abstand zu verfolgen und das Baby entgegenzunehmen, falls dieser komplikationslos verlief. Es den Eltern zu zeigen und es dann nach nebenan zu bringen, um es zu untersuchen. Und da es sich um einen Notkaiserschnitt handelte, würde eine Kinderärztin oder ein Kinderarzt dabei sein. Doch vorerst kam sie allein zurecht.

Mit angehaltenem Atem verfolgte sie, wie Jock begann. Obwohl sie schon unzählige Eingriffe verfolgt hatte, war es jedes Mal etwas anders.

Schließlich war er so weit.

„Ich spüre etwas …“ Melissa klang alarmiert.

„Sie sollten etwas Druck spüren“, erwiderte Jock ruhig. „Aber es darf nicht wehtun.“

„Sie haben keine Schmerzen, oder?“ Dan beugte sich vor, damit Melissa sein Gesicht sehen konnte.

„Nein … Es fühlt sich nur … komisch an …“

„Gleich haben Sie es geschafft“, sagte Jock.

Im nächsten Moment war das Köpfchen des Babys zu sehen, und die OP-Schwester saugte schnell die Atemwege ab. Grace trat näher an den Tisch, ein steriles Handtuch in den Händen, während Jock die Schultern zutage förderte.

„So, fertig …“ Die Hände unter den Achseln, hielt er die Kleine hoch und stützte dabei den Kopf, sodass die Eltern sie über den Sichtschutz hinweg sehen konnten. Die kleinen Beine waren immer noch angewinkelt, dazwischen hing die Nabelschnur.

„Sie ist toll“, verkündete er.

Und bevor die Nabelschnur abgeklemmt und durchtrennt wurde, wandte er den Kopf, um das Baby zu betrachten – als würde er den Blickkontakt suchen, um sich zu vergewissern, dass alles in Ordnung war. Es hatte die Augen geöffnet und schien seinen Blick zu erwidern.

Und da war er wieder. Der Moment, der für Grace nie ganz zu vergehen schien.

Das Echo jener schrecklichen Stille, wenn man wusste, dass nicht alles in Ordnung war. Dass es nie wieder in Ordnung sein würde. Wenn die Zukunft – und die Welt, wie man sie kannte – in einer Katastrophe endeten.

Die Erinnerung daran war inzwischen nur noch flüchtig. Doch was als Nächstes geschah, hätte Grace beinah zum Weinen gebracht.

Jock lächelte das Baby an.

Sie konnte seinen Mund unter der Maske nicht sehen, doch in seinen Augen bildeten sich Lachfältchen, und seine ganze Körpersprache verriet, dass er dieses kleine Wesen willkommen hieß.

Ihr Herz krampfte sich so schmerzhaft zusammen, dass Grace beinah gestöhnt hätte. Wahrscheinlich würde er sein Baby irgendwann auch so anlächeln, oder?

So, wie sie es damals für eine Sekunde nach der Geburt ihres Babys getan hatte. Bevor ihr bewusst geworden war, was die Stille um sie herum bedeutete. Dass das Baby keinen ersten Atemzug tun würde …

Die Erinnerung verflog im selben Moment, als ihr etwas einfiel, das Jenni an jenem Tag gesagt hatte, als ihr Leben eine Wendung genommen hatte – dass die einzige langfristige Beziehung, die Jock McKay je eingehen würde, die zu seinem Boot wäre. Also würde er wahrscheinlich niemals stumm nach dessen Geburt mit seinem eigenen Baby kommunizieren würde. Seltsamerweise schien es ihr jedoch, als würde dadurch eine engere Bindung zwischen Jock und ihr bestehen.

Die Kleine verzog nun das Gesicht und begann, laut zu schreien. Nachdem die OP-Schwester die Nabelschnur abgeklemmt und durchtrennt hatte, überreichte sie sie ihr. Und bevor Grace sie zur Untersuchung nach nebenan brachte, zeigte sie sie den stolzen Eltern.

Nachdem die Kinderärztin die Kleine untersucht hatte, konnte Grace sie in ein Handtuch wickeln und dem stolzen Vater in die Arme legen. Dieser saß nach wie vor neben Melissa, während Jock den Eingriff beendete.

Und so konnte sie ihn noch einmal betrachten. Und sich an das Telefonat mit Jenni am Morgen erinnern, während dessen ihr bewusst gewesen war, wie glücklich sie über ihre Entscheidung war, ihr altes Leben hinter sich zu lassen. Denn inzwischen schien es ihr wirklich, als wären mehr als nur drei Wochen vergangen.

Fast schien es ihr, als würde jene Erinnerung an damals nie wieder so wehtun.

Dass ein Lächeln ihre Lippen umspielte, merkte Grace erst, als sie sich wieder an Melissa wandte und dabei Dans Blick begegnete. Oh nein … Glaubte er etwa, sie würde ihn anlächeln?

Ihr Herz setzte einen Schlag aus, um dann umso schneller zu pochen – vor Panik. Sofort wurde sie ernst. Sie versuchte nicht, die Aufmerksamkeit irgendwelcher Männer zu erregen. Tatsächlich hatte sie einige Strategien entwickelt, um sicherzugehen, dass sie es nicht tat.

Offenbar gab es noch Dinge in ihrer Vergangenheit, die nicht weit genug hinter ihr lagen. Und es vielleicht auch nie tun würden.

Jock, der gerade den Schnitt verschloss, hob den Kopf und sah sie an, als hätte er etwas gespürt. Es war nur ein Blick, doch es genügte.

Was immer ihren Seelenfrieden in diesem Moment bedroht hatte, war verflogen. Ja … Jock war hier, und … sie fühlte sich wieder sicher.

3. KAPITEL

„Stella Watson?“

Die Frau, die schweigend in der Ecke des Wartezimmers der Ambulanz saß und starr aus dem Fenster blickte, zuckte sichtlich zusammen, als Grace sie aufrief.

„Tut mir leid, dass Sie so lange warten mussten, Stella. Manchmal geht es hier etwas hektisch zu. Ich bin Grace, eine der Hebammen. Kommen Sie mit …“

Und an diesem Tag ging es besonders hektisch zu. Ihre Kolleginnen und Kollegen halfen ihr nach Kräften. Doch dies war die erste Vorsorgesprechstunde, die Grace allein leitete, und das nicht nur in einer ganz neuen Umgebung, sondern auch in einem fremden Land. Und sie war immer noch dabei, sich mit den Abläufen hier vertraut zu machen.

Sie war den ganzen Nachmittag mit Vorsorgeuntersuchungen beschäftigt gewesen. Sie hatte Ultraschalltermine vereinbart, Blutuntersuchungen angeordnet, über Symptome oder Beschwerden gesprochen, Rat gegeben und alles Notwendige für die nächsten Termine besprochen. Sie hatte die Spielsachen eingesammelt, die die Kleinkinder einiger Mütter in ihrem Besprechungszimmer durch die Gegend geworfen hatten, alle Werte notiert und sich Notizen gemacht, um später die Berichte schreiben zu können. Und da alle Termine zu knapp bemessen waren, war sie immer mehr in Verzug geraten. Sie war frustriert, weil ihr nicht mehr Zeit blieb, um ihre Patientinnen besser kennenzulernen.

Wie zum Beispiel Maureen Petersen, e...

Autor

Tina Beckett
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Jc Harroway
<p>JC Harroway beschreibt sich selbst als "liebesromansüchtig". Für ihre Autorinnenkarriere gab sie sogar ihren Job im medizinischen Bereich auf. Und sie hat es nie bereut. Sie ist geradezu besessen von Happy Ends und dem Endorphinrausch, den sie verursachen. Die Autorin lebt und schreibt in Neuseeland.</p>
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