Julia Exklusiv Band 323

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DAS GEHEIMNIS DES PRINZEN von ELIZABETH HARBISON

Amy fällt aus allen Wolken: Der faszinierende Prinz Frederic taucht bei ihr auf und erzählt ihr, sie sei die rechtmäßige Thronerbin von Argonien. Dank seines Charmes und seiner leidenschaftlichen Küsse fühlt sie sich bald wie im Märchen. Bis er sich jäh wieder von ihr abwendet …

UND MORGEN FRÜH KÜSS ICH DICH WACH! von CHRISTY MCKELLEN

Als Connor nachts erschöpft in seinem französischen Landhaus ankommt, liegt eine Fremde in seinem Bett. Nackt! Rasch stellt sich heraus, dass seine Schwester ihr Unterschlupf gewährt hat. Und die sexy Blondine denkt gar nicht daran, das Feld zu räumen - und das Bett auch nicht …

SCHWELENDES FEUER von CATHERINE SPENCER

Ein luxuriöses Leben auf Sizilien erwartet Corinne, als sie den Millionär Raffaello Orsini heiratet. Aber auch ein Leben ohne Liebe. Bis sie auf einer Party mit einem anderen flirtet. Hitzig zieht Raffaello sie ins Bett und beweist ihr: Niemand darf sich nehmen, was ihm allein zusteht …


  • Erscheinungstag 24.04.2020
  • Bandnummer 323
  • ISBN / Artikelnummer 9783733715182
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Elizabeth Harbison, Christy McKellen, Catherine Spencer

JULIA EXKLUSIV BAND 323

PROLOG

Fünfundzwanzig Jahre zurück in die Vergangenheit …

„Wir müssen noch heute Nacht fliehen. Als legitime Erben des Thrones seid ihr in unmittelbarer Gefahr, Amelie und du.“

Prinzessin Lily von Argonien wandte sich ihrem Mann zu und hoffte, dass sich die panische Angst, die sie empfand, nicht in ihren Augen widerspiegelte. „Ich weiß. Ich hasse den Gedanken, mein Land verlassen zu müssen, aber …“ Unter ihren Lidern brannten Tränen. „Wir haben wohl keine Wahl. Vaters Freunde in Washington, D. C. werden uns Obdach gewähren. Bei ihnen sind wir sicher, bis wir ein eigenes Heim gefunden haben.“

Dabei wusste Lily, dass es keinen anderen Platz als Argonien für sie gab, an dem sie sich hätte heimisch fühlen können. Georges legte seine Hand über ihre verkrampften Finger.

„Du wirst wieder glücklich sein, das schwöre ich!“

Lily schenkte ihrem Gatten ein mattes Lächeln. „Solange ich nur bei dir bin …“

Er nickte, allerdings etwas zögernd. „Wir werden einen Neustart wagen, unter anderem Namen und mit einer veränderten Vergangenheit. Wem wird schon eine derartige Chance geboten?“

Die Antwort wussten sie beide: Den Unglücklichen nicht, die befürchten mussten, dass ihr Heim von feindlichen Mächten gestürmt würde, die sie umbrächten, sobald sie ihrer habhaft würden …

„Ja, ich denke, wir dürfen uns wirklich noch glücklich schätzen“, sagte Lily, so als wolle sie sich selbst davon überzeugen. Erst vor wenigen Tagen hatten Maxims Soldaten ihren verwitweten Vater, König Serge, getötet. Und obwohl Maxim versprochen hatte, Prinzessin Lilys Leben zu schonen und ihr einen Landsitz zu überlassen, der seit Jahrhunderten ihrer Familie gehörte, wusste sie, dass man ihm nicht trauen konnte. Im besten Fall würde er sie unter eine Art Hausarrest stellen. Wahrscheinlicher war allerdings, dass er auch sie und ihre Lieben ermorden lassen würde. Und deshalb musste sie mit Mann und Tochter fliehen, solange die gewaltsame Übernahme der Regierung noch nicht abgeschlossen war und damit auch die Flughäfen unter Maxims Kontrolle sein würden.

„Ich bin sicher, die Bevölkerung wird das neue Regime ablehnen. Und ehe wir es uns versehen, können wir auch schon in unsere geliebte Heimat zurückkehren“, behauptete Lily hoffnungsvoll.

„Du musst aber auch mit der Möglichkeit rechnen, dass dieser Tag vielleicht niemals kommen wird“, dämpfte Georges ihren Optimismus.

„Ja, vielleicht …“, murmelte sie tonlos und dachte an den Moment, als ihr Vater das Gleiche prophezeit hatte, während er ihr seinen schweren Diamantring in die Hand gedrückt und das Versprechen abgenommen hatte, mit ihrer kleinen Familie zu fliehen, sollte sich die Lage im Land weiter zuspitzen. Der kostbare Ring war dazu gedacht, den Start in ihr neues Leben zu finanzieren.

„Aber Papa, du kannst mit uns kommen!“, hatte sie angstvoll ausgerufen, doch der alte König hatte nur den Kopf geschüttelt und sie ganz fest in seine Arme geschlossen.

„Nein, Liebes. Ich darf und will mein Land nicht im Stich lassen. Ich habe immer für mein Volk und meine Pflichten ihm gegenüber gelebt und bin bereit, auch dafür zu sterben, wenn es sein muss.“

Er sah den Widerspruch in den Augen seiner Tochter und legte rasch einen Finger über ihre bebenden Lippen. „Nein, für dich ist es nicht dasselbe. Deine Pflichten liegen ganz woanders. Du musst dich und meine Enkeltochter in Sicherheit bringen. Eines Tages wirst du auf den Thron zurückkehren. Doch inzwischen sorge dafür, dass niemand euch finden kann. Man wird versuchen, die rechtmäßigen Erben des Thrones auszulöschen, da darfst du dir nichts vormachen.“

Es war, als habe ihr Vater bereits zu jenem Zeitpunkt gewusst, dass er bald sterben würde.

Lily seufzte leise und wandte sich wieder ihrem Mann zu. „Ich bin mir ganz sicher, dass wir zurückkommen“, sagte sie fest. „Die Gerechtigkeit trägt immer den Sieg davon.“

Georges lächelte schmerzlich. „Meine kleine Idealistin. Kein Wunder, dass ich dich so sehr liebe.“

„Ich liebe dich auch, Georges. Mehr als ich sagen kann.“

Ihre kleine Tochter bewegte sich in ihrem Bettchen. Es waren nur noch zweieinhalb Monate bis zu Amelies drittem Geburtstag. Doch bis dahin würde sich ihre kleine Welt völlig verändert haben. Kein sonnengelbes Kinderparadies mehr mit weichen Kissen und Decken, in denen schon ihre Mutter und Großmutter geschlummert hatten. Nie mehr würde sie vor dem Frühstück in die ausgebreiteten Arme ihres geliebten Großvaters laufen können. Vorbei war es mit einer vorherbestimmten Zukunft voller Sicherheit.

Und Amelie würde auch keine Prinzessin mehr sein …

1. KAPITEL

Amy Scott drehte das Schild an der Tür um, sodass man von draußen „Wir haben geschlossen“ lesen konnte. Zu dieser bitterkalten Jahreszeit interessierten sich nicht besonders viele Menschen in Dentytown – einer reizenden Kleinstadt in Maryland – dafür, ob der Laden geöffnet hatte oder nicht. Während der Wintermonate tätigte Blue Yonder Travel Books die meisten Geschäfte ohnehin übers Internet.

„Glaubst du, dass es noch länger schneien wird?“, fragte Mara Hyatt, Amys Angestellte, während sie zu ihrer Chefin ans Fenster trat.

„Hoffentlich“, gab Amy zurück und schaute verträumt in den weißen Flockenwirbel. Lautlos fallender Schnee vermittelte ihr immer ein Gefühl von Frieden. Unverhofft trieb ein plötzlich aufkommender Wind die dicken Flocken kreiselnd vor sich her und klatschte sie so heftig gegen die Ladenscheibe, dass Amy automatisch zurückwich. Dies war kein gewöhnliches Schneetreiben. Da draußen schien sich etwas zusammenzubrauen. Sie fühlte es mit jeder Faser ihres Körpers. Es war, als bringe der Wind eine Veränderung mit sich, die sie nur noch nicht fassen konnte …

„Hast du schon die bestellten Safaribücher eingepackt?“, fragte Amy und versuchte, das seltsame Gefühl abzuschütteln.

„Liegt alles hier auf dem Tresen.“ Mara wies auf einen Stapel sorgfältig verklebter und beschrifteter Päckchen. „Möchtest du, dass ich noch auf den Kurierdienst warte?“

„Nein, nicht nötig. Du kannst ruhig gehen. Ich habe hier sowieso noch zu tun. Genieße den Schnee.“

„Okay.“ Mara griff nach Mantel und Schal. „Ruf mich an, wenn du mich brauchst.“

Amy lächelte. „Werde ich tun.“

Die Glocke an der Tür bimmelte hell auf, als Mara den Laden verließ, und während Amy ihr hinterherschaute, fröstelte sie unwillkürlich. Sie konnte nicht entscheiden, ob es einfach nur an der Kälte lag oder an ihrer Besorgnis über den aufziehenden Sturm. Doch sie war froh, genügend Arbeit vor sich zu haben, mit der sie sich von ihren seltsamen Empfindungen ablenken konnte.

Amy war fast fertig mit der liegen gebliebenen Buchhaltung, als der Wind unverhofft zunahm. In der nächsten Sekunde begann das Licht zu flackern, und schließlich verlosch es ganz. Lauschend neigte Amy den Kopf. Neben dem Heulen des Sturmes hörte sie das sanfte Gebimmel der Glocken über der Tür, wo der Wind durch die undichten Ritzen pfiff. Wieder fröstelte sie. Doch dann riss sich Amy energisch zusammen und stieß zischend den angehaltenen Atem aus.

Dies war nur ein Stromausfall, also kein Grund zur Panik! In Dentytown gab es immer noch die störungsanfälligen Überlandleitungen, sodass man bei extremen Wetterlagen an derartige Vorfälle gewöhnt war. Wahrscheinlich war durch den Sturm wieder mal ein Baum umgestürzt und hatte die Leitungen zerrissen.

Amy zog eine Schublade auf und holte ein Streichholzheftchen heraus. Sie hatte es aus einem Restaurant, das sie vor Jahren in New York besucht hatte. Erst heute Nachmittag war es ihr zufällig wieder in die Hände gefallen. Amy riss ein Streichholz ab, ließ es aufflammen und zündete damit die beiden Aromakerzen auf ihrem Verkaufstresen an. Mit dem orange flackernden Licht schien der Raum wieder zum Leben zu erwachen. Amy seufzte auf und streckte ihre verkrampften Glieder.

Plötzlich schallten die Glocken über der Ladentür viel lauter als zuvor, und ein heftiger kalter Luftzug sagte ihr, dass jemand die Tür geöffnet hatte.

Amy fuhr herum und sah sich einem hochgewachsenen Fremden gegenüber. Auf seinem mitternachtsschwarzen Haar lagen Schneeflocken, und die dunklen Augen schienen im Kerzenschein zu glühen. Auf den schmalen Wangen lag ein Schatten, und mit dem hochgeschlagenen Mantelkragen wirkte er wie eine Figur aus einem Roman. Doch auf den ersten Blick konnte Amy nicht sagen, ob er eher den Helden oder den Schurken verkörperte.

Sie schluckte heftig. „Tut mir leid, aber der Laden ist geschlossen“, sagte sie gepresst und suchte mit der Hand hinter dem Rücken nach dem Brieföffner, der irgendwo auf dem Schreibtisch liegen musste.

„Ich bin nicht hier, um etwas zu kaufen.“ Seine Stimme war sehr tief, und Amy glaubte, einen schwachen Akzent zu hören. „Ich suche jemanden …“

In Amys Kopf überschlugen sich die Gedanken. „Oh, Sie müssen Allens Jagdkumpel sein!“, improvisierte sie. „Er ist hinten und packt seine Jagdwaffen zusammen. Ich hole ihn schnell.“ Amy stieß sich vom Tisch ab und hoffte, dem Fremden würden ihre zitternden Hände und weichen Knie nicht auffallen. Immerhin hatte sie jetzt die Chance, durch die Hintertür zu verschwinden und Hilfe zu holen. Die Polizeistation lag nur zwei Blocks entfernt. Irgendjemand würde sicher Dienst haben und mit ihr hierher zurückkommen.

Sie war schon fast an der Tür, als der Fremde sie zurückhielt. „Ich suche nach Amy Scott.“

Amy zuckte heftig zusammen und wandte sich langsam um. „Warum?“

„Sind Sie Amy Scott?“

Nach einem schnellen, fast sehnsüchtigen Blick in Richtung der Hintertür wandte Amy ihre Aufmerksamkeit wieder dem dunkelhaarigen Mann zu, der immer noch auf dem gleichen Fleck verharrte, seit er den Laden betreten hatte.

„Wer will das wissen?“

Jetzt trat er einen Schritt vor. „Natürlich sind Sie es …“, stellte er mit einem rauen Unterton in der Stimme fest. „Ihr Gesicht … Es hätte mir sofort auffallen müssen.“

Automatisch legte Amy eine Hand an ihre Wange. „Haben wir uns schon einmal getroffen?“, fragte sie verunsichert.

„Nein, das haben wir sicher nicht.“ Sein Mund verzog sich wie zu einem Lächeln, aber es wurde keines. Im flackernden Kerzenschein wirkte der Fremde, wie sich Amy immer Sir Lancelot vorgestellt hatte – ein dunkles attraktives Gesicht, ein sensibler Mund, intelligente Augen und eine Statur, die Kraft und Macht symbolisierte … und das auf eine Art und Weise, die ziemlich einschüchternd wirkte.

Jetzt kam er direkt auf Amy zu und nahm mit einer sanften Geste die Hand von ihrer Wange. „Mein Gott, Sie sind ja noch viel schöner, als ich Sie mir vorgestellt habe …“

Amys Herz hämmerte wie wild in ihrer Brust als Reaktion auf die unerwartete Berührung, während ihr Verstand ihr riet, zu fliehen und die Polizei zu alarmieren.

„Sie haben versucht, sich vorzustellen, wie ich aussehen würde …?“, hörte sie sich selbst fragen.

„Mein ganzes Leben lang.“

Die Ladentür war geschlossen, aber jedes Mal, wenn der Wind sich wieder erhob, hatte Amy das Gefühl, als würden kalte Finger durch ihr Haar fahren und ein eisiger Schauer über ihren Rücken laufen.

„Warum?“, fragte sie tonlos. „Wer sind Sie?“

„Vergeben Sie mir“, bat der Fremde mit einem blitzenden Lächeln, das jedem Hollywoodstar zur Ehre gereicht hätte. „Ich habe mich Ihnen ja noch gar nicht vorgestellt. Ich bin …“ Warum zögerte er? „Mein Name ist Emile Beurghoff. Ich gehöre zum Mitarbeiterstab des Kronprinzen von Argonien.“

„Argonien?“ Erst im letzten Jahr hatte Amy einen ganzen Monat in die Suche nach einem Reiseführer über Argonien investieren müssen. Auftraggeber für die Recherche waren die Bradleys gewesen – ein ortsansässiges Ehepaar, das ungewöhnliche Reiseziele bevorzugte. Amy war es zwar nicht gelungen, ein Buch aufzutreiben, aber übers Internet hatte sie immerhin so viel über den gebirgigen, nördlich von Frankreich liegenden Zwergstaat gefunden, um die Bradleys zufriedenstellen zu können und ihre eigene Neugier zu wecken.

„Sie haben schon von Argonien gehört?“ Der Fremde schien weniger überrascht als interessiert.

„Nur wenig. Wer, sagten Sie, sind Sie noch mal genau …?“

„Der Sekretär des Kronprinzen von Argonien. Auf der Suche nach … nun, Sie würden vielleicht sagen, einer lange verschollenen Verwandten des Königshauses.“

Amy hob erstaunt die fein gezeichneten Brauen. „Dann müssen Sie sich vertan haben. Hier bei uns gibt es keine Mitglieder irgendwelcher Königshäuser.“

„Seien Sie sich nicht zu sicher …“

„Da bin ich mir sogar ganz sicher.“ In dieser Sekunde ging das Licht wieder an, und Amy sandte ein stummes Dankeschön an die Chesapeake Electric Company. „Oh, das ist schon besser!“ Sie blies die Aromakerzen aus und fühlte sich plötzlich viel selbstsicherer. Aber nur, bis sie erneut Emile Beurghoff anschaute und wahrnahm, was der trübe Kerzenschein bisher verborgen hatte.

Dieser geheimnisvolle, vom Schneesturm in ihren kleinen Laden hereingewehte Fremde war unbestritten der attraktivste Mann, den sie in ihrem bisherigen Leben zu Gesicht bekommen hatte. Seine Augen, die sie im Halbschatten für schwarz hielt, funkelten in einem betörenden Seegrün, und das zerzauste Haar war dunkelbraun mit roten Reflexen, was es sicher der gleichen Sonne verdankte, die auch seinen Teint goldbraun getönt hatte.

Er schien jünger zu sein, als sie anfangs vermutete – vielleicht Mitte dreißig. In seinen Augenwinkeln und neben dem hübsch geschwungenen Mund zeigten sich winzige Fältchen, die ihn aber nicht älter, sondern nur interessanter machten.

„Wie ich bereits sagte, ich bin im Auftrag des Prinzen hier, um mit einer verschollenen Verwandten Kontakt aufzunehmen.“

„Eine verschollene Verwandte“, wiederholte Amy langsam. „Von königlichem Geschlecht.“ Sekundenlang starrte sie ihr attraktives Gegenüber gedankenvoll an. „Sind Sie vielleicht ein Schauspieler?“ Das würde zumindest sein gutes Aussehen erklären. Und möglicherweise auch die absurde Story, die ihr der Fremde aufzutischen versuchte.

„Wie bitte?“ Seine Verwirrung schien zumindest echt zu sein.

„Hat vielleicht einer meiner Freunde Sie angeheuert?“ Ja, das musste es sein. Irgendjemand hatte sich an ihr Interesse an dem europäischen Zwergstaat und die vergebliche Suche nach einem Buch über Argonien erinnert und wollte ihr jetzt einen Streich spielen.

„Tut mir leid, aber ich verstehe nicht.“

„Ich auch nicht“, sagte Amy. „Denn bis zu meinem Geburtstag sind es noch gut zwei Monate hin.“

„Das stimmt nicht“, entgegnete er prompt. „Ihr Geburtstag war genau vorgestern.“

Die Pause, die dieser Eröffnung folgte, war nur kurz, sandte Amy aber erneut einen kalten Schauer über den Rücken. „Wovon reden Sie da eigentlich?“, fragte sie scharf. „Mein Geburtstag ist in zwei Monaten. Am einundzwanzigsten Januar.“

Emile Beurghoff nickte flüchtig, als wisse er es besser, halte diesen Umstand aber nicht für wichtig genug, um sich im Moment darüber zu streiten. „Lassen Sie mich Ihnen erklären, warum ich hier bin. Ich kam, um Sie zu sehen.“

„Das haben Sie ja nun.“

Wieder nickte er. „Ja, endlich. Nach einer wirklich sehr, sehr langen Zeit.“

Amy versuchte, ihre zunehmende Irritation abzuschütteln. „Okay, und was wollen Sie nun von mir?“, fragte sie betont forsch.

Er hielt ihrem herausfordernden Blick gelassen stand. „Was ich Ihnen jetzt mitteile, mag Ihnen unglaubwürdig erscheinen, doch es ist die Wahrheit. Und ich bin mir sicher, Sie werden es als gute Nachricht betrachten.“

„Also, worum geht es?“

„Vielleicht sollten Sie sich erst einmal setzen.“

„Das hört sich aber nicht nach positiven Neuigkeiten an.“

Er lächelte. „Auch eine gute Nachricht kann einem die Knie weich werden lassen.“

Und ich wette, du weißt ganz genau, wie du einer Frau weiche Knie machen kannst, dachte Amy in einem Anflug von Verwegenheit und haderte mit ihrer eigenen Reaktion auf sein umwerfendes Lächeln.

„Nun spucken Sie’s endlich aus“, sagte sie brüsk.

„Wie bitte …?“

Jetzt war es an Amy zu lächeln. „Ausspucken – ein Slangausdruck. Eröffnen Sie mir Ihre guten Neuigkeiten, meine ich damit.“

„In Ordnung.“ Emile holte noch einmal tief Luft und heftete seinen Blick fest auf Amys liebliches Gesicht. „Ich bin hier im Auftrag Ihres Landes.“

„Wie komisch, dabei wirken Sie kein bisschen wie Uncle Sam!“

„Ich rede von Argonien, nicht von Amerika.“ Er machte eine Pause, um die ungeheuerliche Eröffnung sich ein wenig setzen zu lassen. „Von dem Land, in dem Sie geboren sind. Dem Land Ihrer Blutsverwandten.“

Amy fühlte, wie eisige Kälte in ihre Glieder kroch. Sie konnte sich nicht rühren, und als sie etwas sagen wollte, gelang ihr auch das nicht. Nie zuvor hatte irgendjemand über ihre leiblichen Eltern und Verwandten geredet. Sie wusste nichts über sie, außer, dass ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen waren, den sie überlebt hatte. Damals war sie gerade drei Jahre alt gewesen.

Man hatte sie ins Kendall County Hospital eingeliefert, wo ihre spätere Adoptivmutter Pamela Scott als Nachtschwester arbeitete. Erfolglos versuchten die Behörden, die Identität ihrer Eltern aufzudecken. Doch es war, als hätten sie nie existiert. Der einzige Hinweis auf den Vornamen des überlebenden Kleinkindes kam von einem der Notärzte, der gehört hatte, wie die sterbende Frau, die Amys Mutter war, ihn mit ihrem letzten Atemzug hauchte.

Pamela Scott hatte sich von der ersten Sekunde an zu Amy hingezogen gefühlt und etliche Sonderschichten eingelegt, um das Leben der kleinen Vollwaise zu retten. Als auch nach intensiver Suche keine weiteren Familienangehörigen gefunden wurden, nahmen sie und ihr Mann Lyle, ein erfolgreicher Anwalt, das Mädchen bei sich auf und adoptierten es ein paar Jahre später.

Endlich fand Amy ihre Stimme wieder. „Wenn das ein Scherz sein soll, finde ich ihn nicht lustig.“

Emile Beurghoff trat auf Amy zu und legte ihr die Hände auf die Schultern. „Ich versichere Ihnen, dass es kein Scherz ist. Wollen Sie sich nicht endlich setzen, damit ich Ihnen die näheren Umstände erläutern kann?“ Er führte sie zu ihrem Schreibtischstuhl, wo sie wie ein folgsames Kind Platz nahm. „Ich möchte Sie nur bitten, offen zu sein und mir ohne Vorbehalte zuzuhören.“

Amy seufzte. „Okay, ich höre.“

Emile senkte kurz den Kopf, und als er ihn wieder hob, leuchtete in seinen grünen Augen ein seltsames Licht. „Sie sind die Thronerbin von Argonien“, verkündete er mit fester Stimme.

Sekunden verstrichen. „Hat Argonien nicht bereits einen Herrscher?“, fragte Amy schließlich, im Bemühen, sich an ihre Recherche im letzten Jahr zu erinnern.

„Einen Kronprinzen, der sich nichts sehnlicher wünscht, als den Thron dem legitimen Erben zurückzugeben, den seine Eltern vor fast drei Jahrzehnten gestohlen haben“, erklärte er ernst.

„So wie eine gestohlene Geldbörse, ja?“

„Das ist kein Scherz.“

Amy begann zu ahnen, dass er es tatsächlich ernst meinte, und fühlte sich zunehmend verunsichert. „Okay, und was ist jetzt mit diesen Eltern, die den Thron gestohlen haben? Sind sie nicht sauer über die Entscheidung ihres Sohnes?“, rettete sie sich in einen schnoddrigen Tonfall.

In Emiles dunklem Gesicht rührte sich kein Muskel. „Sie sind beide tot. Die Königin ist vor zehn Jahren einem Krebsleiden erlegen, und ihr Gatte, der um vieles älter war als sie, starb vor zwei Jahren eines natürlichen Todes.“

„Oh, tut mir leid, aber ich verstehe immer noch nicht, was das Ganze mit mir zu tun haben soll.“

„Vor fünfundzwanzig Jahren gab es einen politischen Aufstand in Argonien – einen Coup d’État. Ein sehr entfernter Cousin des Herrscherpaares beanspruchte damals den Thron für sich und berief sich darauf, dass er vor Hunderten von Jahren seiner Familie weggenommen wurde, weil der damalige Erbe nicht von Geburt her königlichen Geblüts war.“

„War er adoptiert?“

„Exakt. Obwohl man diesen Ausdruck im sechzehnten Jahrhundert sicherlich noch nicht kannte.“

Amy schüttelte den Kopf. „Damit ich das richtig verstehe … Also entschloss sich dieser Nachfahre eines adoptierten Herrschers aus dem sechzehnten Jahrhundert, sich zurückzuholen, was ihm seiner Meinung nach zustand, da es seinen Vorfahren vor Ewigkeiten gestohlen worden war?“ Wieder gelang es ihr nicht, den ungläubigen und spöttischen Unterton aus ihrer Stimme zu bannen.

„So ist es.“

„Hört sich irgendwie nach Shakespeare an.“

Emile lächelte. „Shakespeare hätte dem Ganzen ein rühmlicheres Ende gegeben.“

„Und wie war das wirkliche Ende?“

„Bei dem erwähnten Aufstand wurde der regierende König Serge vom Thron gestoßen und von übereifrigen Soldaten der Opposition getötet.“

„Und seine Frau?“

„Die war bereits Jahre vorher bei einem Reitunfall ums Leben gekommen. Doch seiner Tochter, Prinzessin Lily, gelang es, zusammen mit ihrem Mann und ihrer kleinen Tochter zu entkommen. Nur sehr wenigen vertrauten Personen war bekannt, wohin sie geflohen waren. Doch über genaue Details wusste niemand etwas – aus Sicherheitsgründen. Trotzdem ist es mir gelungen, ihre Spuren bis hierher in die USA zu verfolgen.“

Amy blieb skeptisch. „Wie war das möglich, wenn sie so sehr darauf bedacht waren, nicht gefunden zu werden?“

„Das politische Klima in Argonien hat sich inzwischen grundlegend geändert. Wir leben jetzt in einer konstitutionellen Monarchie, und die Menschen scheuen sich nicht mehr, preiszugeben, was sie über die Flüchtigen wissen.“

„Es leben tatsächlich noch Menschen, die sie kannten?“

„Ja. Lily und ihre kleine Familie verbrachten die erste Zeit in den USA bei Freunden in Washington, D. C. Danach änderten sie komplett ihre Identität und verließen die Stadt mit unbekanntem Ziel. So wie in einem Zeugenschutzprogramm, Sie verstehen?“ Amy nickte langsam. „Deshalb erwarteten ihre Freunde in Washington auch gar nicht, wieder von ihnen zu hören, und waren nicht im Geringsten beunruhigt.“

„Und sie haben auch nichts von einem tödlichen Verkehrsunfall gehört, dessen Opferbeschreibung auf … Prinzessin Lily und ihren Mann gepasst hätte?“

„Nein. Der Unfall verursachte keine großen Schlagzeilen, weil man damals davon ausging, die Papiere der Beteiligten seien bei der Explosion des Wagens verbrannt. Die Behörden überprüften in den folgenden Monaten und Jahren landesweit die Vermisstenlisten. Leider ohne Erfolg. Aber den Teil der Geschichte kennen Sie sicher besser als ich“, fügte er sanft hinzu.

Amy versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken, doch es wollte ihr nicht gelingen. Sie spürte, wie ihre Unterlippe zu zittern begann, und biss verzweifelt darauf. Auf keinen Fall wollte sie jetzt weinen. Viele Jahre hatte sie damit zugebracht, nicht über die fehlende Erinnerung ihrer ersten Lebensjahre und den Verlust ihrer leiblichen Eltern zu weinen. Das wäre ihr unloyal den Adoptiveltern gegenüber vorgekommen. Und die Tatsache, dass Pamela und Lyle Scott nie mit ihr über diese Zeit sprachen, schien ihr recht zu geben.

So hatte sich Amy seit mehr als zwei Jahrzehnten bemüht, jeden Gedanken an ihre frühe Vergangenheit aus dem Kopf zu verbannen, bis es schließlich tatsächlich nicht mehr als eine verschwommene Erinnerung war.

Und nun tauchte dieser Mann hier auf – ein Fremder – und rührte alle mühsam unterdrückten Emotionen in ihr auf!

Emile sah, wie sehr Amy sich darum bemühte, ihre Fassung zu bewahren. Er zog ein blütenweißes Taschentuch hervor und hielt es ihr hin. „Tut mir leid, so ein sensibles Thema berühren zu müssen, aber wie sonst sollte ich Ihnen klarmachen können, dass Sie nach Argonien gehören?“

Amy fuhr sich mit dem Taschentuch über die feuchten Augen und atmete tief durch. „Hören Sie … Sie müssen sich irren. Ich … ich bin keine Prinzessin.“

„Soweit ich weiß, haben Sie keinerlei Erinnerung an Ihr Leben vor dem Unfall.“

„Wer hat Ihnen das gesagt?“

„Ich habe im Verlauf meiner Recherchen mit einer Menge von Leuten gesprochen.“

„Ich bin mir nicht sicher, ob mir das gefällt.“

Emile zuckte mit den Schultern. „Es war unumgänglich“, sagte er gelassen. „So wie ich es sehe, können Sie kaum behaupten, keine Prinzessin zu sein, wenn Sie sich gar nicht daran erinnern, wer Sie sind, oder?“

„Das entbehrt jeder Logik“, behauptete Amy stur. „Ich führe ein normales Leben, arbeite in einem normalen Beruf und bezahle ganz normal meine Rechnungen …“

„Aber das schließt doch keine königliche Herkunft aus“, hielt er ihr amüsiert entgegen.

Amy seufzte. „Überlegen Sie doch mal selbst – was sollte ein königliches Paar in einem alten Chevy mitten in Dentytown zu suchen haben?“

„Tarnung“, gab er gelassen zurück. „Sie wollten schließlich untertauchen.“

„Aber nach ihrem Unfalltod … Sicher hätte man die DNA meiner Mutter feststellen können bei der …“ Amy schluckte mühsam, ehe sie fortfuhr. „Bei der Autopsie.“

Emile schüttelte den Kopf. „Nicht damals. Das war vor fünfundzwanzig Jahren einfach noch nicht üblich. Heute sieht das ganz anders aus, und um ehrlich zu sein, es ist genau das, was mir auch schon durch den Kopf gegangen ist.“

Unwillkürlich zuckte Amy vor ihm zurück, als befürchte sie, er würde plötzlich eine Giftschlange aus der Tasche zaubern. „Was meinen Sie damit?“, fragte sie heiser.

„Ich möchte, dass Sie mich nach Argonien begleiten, um in einem Bluttest Ihre DNA mit der Ihrer Großeltern vergleichen zu lassen. Das Labor braucht weniger als sieben Tage für das Ergebnis.“

Amy lachte ungläubig auf, doch Emiles Miene veränderte sich nicht. „Sie meinen das wirklich ernst?“

„Absolut.“

Ich soll Sie nach Argonien begleiten? Mein gewohntes Leben einfach so hinter mir lassen und einem völlig Fremden folgen, der mir eine nahezu unglaubliche Geschichte auftischt? Nein, danke!“ Amy stellte sich vor, wie ihre Eltern auf eine derartige Nachricht reagieren würden, und lachte jetzt in echter Erheiterung auf. Sicher brauchten sie keine drei Stunden von ihrem neuen Heim in Florida nach Dentytown! „Niemals.“

„Sind Sie denn kein bisschen neugierig?“

„Nein. Das alles ist total verrückt! Und selbst wenn ich neugierig wäre … ich könnte mir doch genauso gut hier Blut abnehmen und es von meinem Arzt an Ihr Labor oder sonst wohin schicken lassen. Warum um alles in der Welt sollte ich mein Land für eine derartige Routineangelegenheit verlassen müssen?“

„Weil es sich hierbei um keinen simplen Vaterschaftstest handelt“, erklärte Emile geduldig. „Es geht darum, Ihren Anspruch als Thronerbin zu beweisen. Deshalb müssen Zeugen bei dem Test anwesend sein, die vertrauenswürdig sind und bestätigen können, dass die Blutprobe tatsächlich von Ihnen ist.“

Amy war immer noch nicht überzeugt. „Können diese Leute nicht hierherkommen?“

„Erscheint es Ihnen selbst nicht auch praktischer und vernünftiger, mich zu begleiten, anstatt eine Reihe von Zeugen einfliegen zu lassen? Ehrlich gesagt hatte ich nicht erwartet, Sie förmlich überreden zu müssen …“

„Welche Frau, die einigermaßen bei Verstand ist, würde Ihnen auf so eine abstruse Geschichte hin einfach folgen?“, konterte Amy.

„Eine, die etwas von offensichtlichen Fakten hält und vielleicht erfahren möchte, wo ihre Wurzeln liegen …?“

Eins zu null für ihn. „Nun, das würde ich tatsächlich gern wissen“, gab Amy zu. „Aber ich bin nicht darauf vorbereitet, deshalb gleich in ein fremdes Land zu jetten und mich dort als lang verschollene Prinzessin zu präsentieren. Ich weiß ja nicht einmal, was die Landessprache von Argonien ist.“

„Französisch.“

„Na, wunderbar! Ich spreche kein Wort Französisch! Wie soll ich dann dieses Land regieren können?“

„Ihr Geburtsrecht hat nicht das Mindeste mit Ihrer Sprache zu tun. Sie haben ein Vierteljahrhundert in den USA zugebracht. Da ist es doch nur natürlich, wenn ein Großteil Ihrer Erinnerungen und Erbanlagen verschüttet worden ist.“

„Erbanlagen? Verschüttet …?“, wiederholte Amy dumpf und überlegte, was ihr pragmatisch denkender Vater wohl dazu sagen würde. Plötzlich kam ihr ein ganz anderer Gedanke. „Also, ehrlich gesagt bin ich mir über Ihre Erbanlagen noch nicht ganz im Klaren“, sagte sie gedehnt. „Haben Sie überhaupt irgendeinen Beweis dafür, dass Sie der sind, der Sie zu sein behaupten?“ Das hätte sie ihn bereits in dem Moment fragen müssen, als er ihren Laden betrat!

„Selbstverständlich.“ Mit einer unnachahmlich lässigen Geste zog Emile Beurghoff eine Brieftasche aus der Innentasche seines dunklen Kaschmirmantels, schlug sie auf und reichte sie Amy. Mit gerunzelter Stirn betrachtete sie den Ausweis mit dem genannten Namen und den persönlichen Daten. Darunter fand sie eine Karte, die ihn offenbar als legitimen Sekretär seiner Königlichen Hoheit, des Prinzen Frederic von Argonien, auswies.

Amy hätte nicht einmal eine im Staat Arizona ausgestellte Fahrlizenz als echt identifizieren können, und noch viel weniger die Identifikationspapiere angeblicher Sekretäre ausländischer Prinzen. Sosehr sie es auch versuchte, es gelang ihr nicht, ein Kichern zu unterdrücken. „Haben Sie die in irgendeiner Tombola gewonnen?“, brachte sie erstickt hervor.

„Nein, das habe ich nicht“, kam es todernst zurück.

Amy gab die Brieftasche mit einem verlegenen Schulterzucken zurück. „Tja, tut mir leid, aber das überzeugt mich irgendwie immer noch nicht.“

„Und wenn ich Ihnen weitere unumstößliche Beweise meiner Integrität liefern würde?“ Er schaute sie dabei so offen und ernsthaft an, dass Amys Widerstand ins Wanken geriet.

„Dann würde ich mich vielleicht – aber auch nur vielleicht – überreden lassen, Ihrem verrückten Plan zuzustimmen. Aber das müssten schon außerordentliche Beweise sein.“

Emile zwinkerte amüsiert mit den Augen. „Sie sind Ihrer Mutter sehr ähnlich, Amelie.“

„Amy“, korrigierte sie ihn automatisch.

„Oh nein. Amelie ist schon richtig. Prinzessin Amelie Louise Mathilde von Argonien.“ Er lächelte traurig. „Obwohl … Ihre Eltern haben Sie immer nur Aimée genannt.“

„Aimée …“, wiederholte sie tonlos. Der Klang des fremden Namens löste ein verschwommenes Echo in ihr aus. Aimée … Amy …

Plötzlich war ihr klar, warum der Notarzt damals zu hören glaubte, dass die Sterbende Amy geflüstert hatte.

Was sie selbst betraf, war Amy nach dem Unfall völlig verstummt. Fünf lange Monate sprach sie kein einziges Wort. Nachdem die behandelnden Ärzte und Psychologen Taubheit und Autismus ausgeschlossen hatten, führten sie ihre Sprachlosigkeit auf den Unfallschock zurück.

Doch wenn Emile Beurghoff tatsächlich die Wahrheit sagte, konnte es auch daran gelegen haben, dass sie die fremde Sprache einfach nicht verstanden hatte.

Aber das war unmöglich!

War es das wirklich …?

„Alles in Ordnung mit Ihnen?“, fragte Emile besorgt. „Soll ich ein Glas Wasser holen? Oder haben Sie einen Brandy hier?“

Trotz des Schocks musste Amy lächeln bei der Vorstellung, sie hätte eine Flasche Brandy unter ihrem Tresen versteckt. „Nein, das habe ich nicht, und mir geht es gut. Es ist nur … das Ganze verwirrt mich irgendwie. Nicht, dass ich bereit wäre, Ihnen Glauben zu schenken“, fügte sie hastig hinzu. „Aber ich werde Ihnen weiter zuhören, falls Sie mir noch etwas zu sagen haben …“

„Und ob ich das habe“, gab er fast grimmig zurück. „Aber nicht jetzt und nicht hier. Sie wirken schrecklich müde.“

Nun, da er es erwähnte, spürte Amy, wie erschöpft sie tatsächlich war. Dieses unerwartete Gespräch hatte sie jeden Funken Energie gekostet. Außerdem sehnte sie sich danach, mit ihren Eltern zu telefonieren, um ihre Meinung und ihre Ratschläge bezüglich der verwirrenden Neuigkeiten einzuholen. Es war zwar schon ziemlich spät, aber sie würde die beiden auf jeden Fall heute noch anrufen.

„Könnten Sie vielleicht morgen wiederkommen? Natürlich mit den versprochenen schlagenden Beweisen?“

„Natürlich, aber jetzt bringe ich Sie erst einmal nach Hause. Mein Wagen parkt direkt vor dem Laden.“ Er wies mit dem Kopf zur Schaufensterscheibe, durch die Amy bei genauerem Hinsehen eine lang gestreckte schwarze Limousine erspähte.

„Nein, vielen Dank. Ich wohne nur ein paar Blocks von hier entfernt. Und ehrlich gesagt, kann ich einen Spaziergang an der frischen Luft ganz gut gebrauchen.“

„Aber es ist immer noch ausgesprochen unfreundlich da draußen“, gab er zu bedenken.

Amy schaute in den dicht fallenden Schnee hinaus, der immer wieder durch einen unverhofften Windstoß aus seiner Flugbahn gebracht wurde. „Dann sollten Sie erst recht von hier verschwinden, solange es noch möglich ist“, sagte sie gelassen. „Morgen werde ich ab zehn bis mindestens fünf oder sechs Uhr hier anzutreffen sein.“

„Ich komme so früh wie möglich und hoffe aufrichtig, dass Sie sich bis dahin entschlossen haben, mich zu begleiten – natürlich nur, wenn meine Beweise Sie überzeugen“, fügte er rasch hinzu, da er an ihrem Gesicht ablesen konnte, dass Amy schon wieder einen Einwand parat hatte.

„Okay“, sagte sie ergeben. „Wir werden sehen. Aber garantieren kann ich nichts.“

„Schon verstanden.“ Er deutete eine flüchtige Verbeugung an. „Dann bis morgen.“ Mit einem letzten eindringlichen Blick verließ Emile Beurghoff den Laden. Draußen sprang sein Chauffeur sofort dienstbeflissen aus der dunklen Limousine, doch Emile wedelte ihn mit einer ungeduldigen Geste fort und öffnete selbst die Beifahrertür. Dann drehte er sich noch einmal kurz um, ehe er im Inneren des Wagens verschwand.

Amy blieb noch minutenlang auf dem gleichen Fleck stehen und versuchte zu entscheiden, ob das Ganze ein Traum gewesen war oder nicht. Dann erhob sich der eisige Wind ganz plötzlich wieder und ließ die Ladentür auffliegen. Amy rannte hinüber und drückte sie ins Schloss. Die vereinzelten kalten Schneeflocken, die auf ihrem Gesicht gelandet waren, überzeugten sie schließlich davon, dass sie nicht geträumt hatte. Kopfschüttelnd drehte sie den Schlüssel zweimal um und wünschte, sie hätte das gleich nach Maras Weggang getan. Vielleicht wäre ihr dann all dies erspart geblieben.

Mit geschlossenen Augen lehnte sie sich an die Tür und versuchte, sich zu vergegenwärtigen, was in der letzten Stunde in diesem Raum passiert war.

Was sie am meisten irritierte und störte, war diese Königsgeschichte. Hätte ihr fremder attraktiver Besucher behauptet, Verwandte von ihr in Cleveland aufgetrieben zu haben, wäre sie sicher begeistert gewesen. Aber so siedelte sich das Ganze für Amy im Land der Märchen und Sagen an und machte es ihr unmöglich, daran zu glauben.

Aber was, wenn Emile Beurghoff die Wahrheit sprach? Was, wenn der eisige Wind tatsächlich etwas Magisches in ihr Leben geweht hatte?

Einen umwerfend attraktiven Fremden – und ihre eigene Vergangenheit …

2. KAPITEL

Emile Beurghoff, der von seinen Freunden Ric genannt wurde, trat hinaus in die kalte Schneeluft, atmete ein paar Mal tief durch und stieg dann in die wartende Limousine. Eigentlich hatte er gehofft, sich zu diesem Zeitpunkt bereits erleichtert fühlen zu können, obwohl ihm von Anfang an bewusst war, dass er ebenso gut auch mit einer Enttäuschung rechnen musste.

Doch das war absolut nicht der Fall gewesen, als er Amy Scott, alias Prinzessin Amelie von Argonien, zum ersten Mal sah. Bei allem was er bis dahin über sie in Erfahrung gebracht hatte – und das war eine ganze Menge –, hatte er ebenfalls damit rechnen müssen, dass ihre Intelligenz sie seiner Geschichte gegenüber nicht nur skeptisch, sondern regelrecht zynisch reagieren lassen würde.

Was ihn allerdings ganz unvorbereitet traf, war seine eigene Reaktion auf sie … Amy Scott. Von der ersten Sekunde an hatte die schöne junge Frau ihn in ihren Bann gezogen. Die ganze Nacht über hätte er in dem kleinen Buchladen bleiben können, um das Aufblitzen in den wundervollen Augen zu beobachten, wenn sie sprach, ihre geschmeidigen Bewegungen und die faszinierende Art und Weise, wie die schlichte Kleidung ihre weiblichen Kurven geradezu aufreizend betonte.

Doch es war nicht allein ihre Schönheit, die ihn anzog. In seinem Umfeld gab es so viele attraktive Frauen, dass er ihrer längst müde war. Sie schienen irgendwie alle austauschbar zu sein. Amy war völlig anders. Obwohl sie ihn mit ihrem typischen hellen Teint und den feinen Wangenknochen an die Frauen in seiner Heimat erinnerte, unterschied sie sich dennoch von ihnen. Sie hatte etwas Spezielles, Unnachahmliches an sich. Eine fast magische Anziehung, die man nur spüren, aber nicht in Worte fassen konnte.

Hoffentlich gelang es ihm, sie davon zu überzeugen, dass die zugegebenermaßen abenteuerliche Geschichte, die er ihr erzählt hatte, absolut der Wahrheit entsprach. Amy Scott musste ihn einfach nach Argonien begleiten. Sie war die perfekte Thronanwärterin. Ihre lebhafte Intelligenz in Verbindung mit ihrer zarten Schönheit prädestinierte sie geradezu für diese Rolle.

Doch sie war offenbar nicht so leicht zu überzeugen, wie er geglaubt hatte. Trotz des finanziellen Engpasses, von dem er wusste, widerstand sie der Versuchung, ihren Problemen auf dem Weg zu entfliehen, den er ihr vorgeschlagen hatte. Hoffentlich gelang es ihm, sie mittels der Dokumente zu überzeugen, die er ihr morgen präsentieren würde. Wenn nicht, wäre das ein schwerer Schlag für ihn. Deshalb wollte er auch gar nicht erst über diese Möglichkeit nachdenken. Immerhin hing seine eigene Zukunft davon ab.

Das Erste, was Amy tat, nachdem Emile Beurghoff ihren Laden verlassen hatte, war, ihre Eltern anzurufen. Über eine halbe Stunde diskutierte sie mit ihnen über die mehr als seltsame Geschichte. Was Amy allerdings überraschte, war die Tatsache, dass es ihren Eltern offenbar leichter fiel als ihr, sich mit der absurden Eröffnung abzufinden, dass sie eine Prinzessin sein könnte.

Ihre Mutter war sogar nur zu bereit, diesen Umstand zu akzeptieren. „Das würde wenigstens erklären, warum du es schon immer für unter deiner Würde gehalten hast, dein Zimmer aufzuräumen oder mit im Haushalt zu helfen“, erklärte sie lachend. „Erinnerst du dich nicht daran, dass ich es immer den Königinnenkomplex genannt habe? Na ja, eine Prinzessin tut es aber auch, denke ich.“

Amy war dankbar für die Ungezwungenheit und Leichtigkeit, mit der ihre Eltern die Neuigkeit aufnahmen. Am Ende stimmten sie alle drei darin überein, dass Amy am nächsten Morgen die angeblichen Beweise Emile Beurghoffs gründlich begutachten sollte, während ihr Vater sich bemühen würde, über die argonische Botschaft die Identität des königlichen Sekretärs bestätigen zu lassen. Danach wollten sie erneut miteinander telefonieren und entscheiden, wie Amy weiter vorgehen sollte.

Nach dem Gespräch mit ihren Eltern fühlte sie sich schon viel besser und verbrachte den Rest der Nacht damit, im Internet nach Informationen über Argonien zu suchen.

Zunächst durchforschte sie ihre Verlagsdateien nach Büchern, in denen das Königreich erwähnt wurde – egal, in welchem Zusammenhang. Da es nur ein sehr kleines Land war und ihm das internationale Flair fehlte, wie es zum Beispiel Monaco anhaftete, war die Ausbeute nicht besonders groß. In einigen Büchern über Frankreich und Belgien wurde es zwar erwähnt, allerdings nur in Form einer Art Fußnote. Doch in einem Bildband aus dieser Region fand sie tatsächlich ein kleines Kapitel, das sich mit der Geschichte Argoniens befasste. Das Buch war Ende der Vierzigerjahre verfasst worden und enthielt keinerlei Informationen über den Coup d’État, den Emile Beurghoff erwähnt hatte. Dafür ging es doch noch etwas näher auf die königliche Familie ein – König Serge, Prinzessin Lily und ihre Tochter, Prinzessin Amelie.

Die kleine Prinzessin war zusammen mit einem Welpen auf einem Foto zu sehen. Ihre Gesichtszüge waren nur undeutlich zu erkennen, und als Amy glaubte, eine Ähnlichkeit mit sich – natürlich als Kind – feststellen zu können, schrieb sie es rasch ihrer lebhaften Fantasie zu.

Trotzdem sog sie gierig Seite für Seite in sich auf und kehrte immer wieder zu dem Bild von dem kleinen Mädchen zurück.

Dann versuchte sie es im Internet. Dort fand sie die Geschichte von dem Aufstand vor fünfundzwanzig Jahren, allerdings ohne Bilder. Daneben gab es noch offiziell aussehende Dokumente in französischer Sprache und einige Reisetagebücher von Urlaubern, die zumeist der Zufall oder die Begeisterung fürs Bergwandern in den versteckten Zwergstaat geführt hatten. Aber das war auch schon alles und reichte Amy nicht, um sie von Emile Beurghoffs abenteuerlicher Geschichte restlos zu überzeugen.

Trotzdem rührten die neuen Informationen eine ganz bestimmte Saite in ihrem Inneren an. Es war wie eine unbestimmte, nicht fassbare Sehnsucht. Was konnte einem Mädchen, das sich ein Leben lang gefragt hatte, wohin es eigentlich gehörte, Besseres passieren, als sich plötzlich mit einer Familie konfrontiert zu sehen, die über einen beeindruckenden Stammbaum verfügte, an dem auch noch goldene Äpfel hingen?

Bis in die frühen Morgenstunden konnte Amy sich nicht von ihrem PC losreißen und stand nur ab und zu auf, um ihre Kaffeetasse nachzufüllen oder einen kurzen Blick auf den immer noch unablässig fallenden Schnee zu werfen. Sie hatte kaltes Wetter immer den heißen Sommern vorgezogen. Ein weiterer möglicher Hinweis auf ihre Herkunft?

Energisch schüttelte Amy den Kopf und setzte sich wieder an ihren Computer. Doch die Buchstaben verschwammen vor ihren Augen wie die wirbelnden Schneeflocken im Schein der Straßenlaternen. Ohne es zu bemerken, ließ sie ihren Kopf auf die Tastatur sinken und fiel in den tiefen Schlaf der Erschöpfung.

Es hatte aufgehört zu schneien, und die Sonne stand bereits hoch am Himmel, als Amy aufwachte und gerade rechtzeitig die Augen aufbekam, um eine dunkle Stretchlimousine vor dem Ladenfenster anhalten zu sehen. Hastig sprang sie von ihrem Stuhl hoch, fuhr sich mit einer Hand durchs wirre Haar und steckte sich einen Kaugummi in den Mund, da ihr auf keinen Fall genügend Zeit blieb, um eine Zahnbürste zu benutzen. Noch ehe sie das Einwickelpapier in den Müll werfen konnte, klopfte es bereits an der Ladentür.

Amy atmete ein paar Mal tief durch, bevor sie öffnete und ihren frühen Besucher hereinbat.

„Guten Morgen, hoffentlich habe ich Sie nicht geweckt“, sagte er und erwiderte ihr, wie sie hoffte, unverbindliches Lächeln voller Wärme.

Amy heuchelte nun Überraschung. „Was? Mich? Natürlich nicht!“

„Oh, gut. Ich dachte nur, weil man auf ihrer Wange noch den Abdruck einer Computertastatur sehen kann …“

„Wie bitte?“ Unwillkürlich flog ihre Hand zum Gesicht hoch.

„Und Sie haben Ihre Kleider seit gestern nicht gewechselt. Während der Recherchen über Argonien eingeschlafen?“, fragte er neckend.

„Hmm. Sie müssen doch damit gerechnet haben, dass ich den Wahrheitsgehalt Ihrer Geschichte überprüfen würde?“

„Doch, natürlich. Deshalb habe ich Ihnen ja auch diese Dokumente mitgebracht.“ Emile Beurghoff legte einen Aktenkoffer auf Amys Schreibtisch ab, zog seine weichen Lederhandschuhe aus und steckte sie in die Taschen seines Kaschmirmantels.

„Warum haben Sie mir die nicht schon gestern gezeigt?“

„Weil ich erst davon überzeugt sein musste, dass Sie überhaupt die Person sind, nach der ich suche. Allerdings habe ich nicht damit gerechnet, dass Sie so schwer zu überzeugen sind“, sagte er mit einem grimmigen Unterton.

„Wir werden sehen“, entgegnete Amy zurückhaltend.

Emile öffnete den ledernen Koffer, nahm einen Stapel Dokumente und Fotos heraus und breitete sie auf dem Schreibtisch aus. „Bitte sehr.“ Dann trat er hinter Amy und schaute ihr über die Schulter. „Falls ich noch etwas erklären muss“, murmelte er. „Das hier ist zum Beispiel die Fluchtroute, die Prinzessin Lily und ihr Gatte Georges damals zusammen mit Ihnen genommen haben.“

Amy starrte auf eine Art Reiseplan, wie man ihn vielleicht vor Beginn einer Auslandsreise entwarf, um die einzelnen Etappenziele aufzulisten.

„Das nächste Dokument ist eine eidesstattliche Erklärung des Botschafters Whisle und seiner Frau, die Prinzessin Lily, Georges und Aimée damals vorübergehend in ihrem Heim in Washington, D. C. aufgenommen haben.“

Entschlossen, alle Schriftstücke auf Herz und Nieren zu prüfen, nahm Amy sie in die Hand und las sorgfältig jede einzelne Zeile, während Emile seine Erklärungen abgab. Seine beunruhigende Nähe und der herbe Duft seines Rasierwassers machten es ihr allerdings zunehmend schwerer, sich zu konzentrieren.

„Amelie?“

„Ja …“, antwortete sie abwesend und zuckte heftig zusammen, als sie ihren Fauxpas bemerkte. „Sprechen Sie mit mir?“, fügte sie verspätet hinzu.

Emile lachte. „Natürlich, hier gibt es schließlich nur eine Amelie.“

„Vielleicht nicht einmal das“, knurrte Amy.

Emile hob die Brauen und schüttelte missbilligend den Kopf. „Ich wollte Sie eigentlich nur fragen, ob Sie vielleicht Hunger haben. Ich könnte meinen Fahrer bitten, uns ein Frühstück zu besorgen.“

„Nein, danke.“ Amy dachte an die vielen Tassen Kaffee und den Kaugummi, die ihre einzige Nahrung in den letzten zwölf Stunden waren. „Es sei denn, Sie schicken ihn ohnehin los …“

Emile belohnte sie mit seinem umwerfenden Lächeln und hob einen Finger. „Bin sofort wieder da“, versprach er und eilte zur Ladentür. Sie beobachtete ihn, wie er ohne Mantel in der Kälte stand, seinem Fahrer durchs geöffnete Fenster Anweisungen gab und die Limousine dann mit zwei mutwilligen Klapsen auf den hinteren Kotflügel auf den Weg schickte.

Amy konnte gerade noch den Blick auf die Papiere in ihrer Hand senken, ehe er auch schon wieder bei ihr war. „Wenn Sie damit fertig sind, können Sie sich mal die Quittung über den Mietwagen anschauen, den Ihre Eltern an dem Nachmittag geordert haben, als sie das Anwesen des Botschafters verließen. Die Beschreibung des Wagens passt exakt auf die des Unfallwagens“, erklärte er nüchtern.

Amy lauschte stumm seinen Erklärungen und starrte auf das Schriftstück in ihrer Hand, während sich ihre Gedanken selbstständig machten. Erst als Emile sich offenbar ihren persönlichen Daten zuwandte, hatte er wieder ihre volle Aufmerksamkeit.

„… Wie Ihre Mutter haben Sie sich auf dem College in Literatur hervorgetan, zeigten aber Schwächen im Bereich der Mathematik und …“

„Moment mal …“, unterbrach Amy seinen Redefluss. „Das stimmt doch gar nicht! Erstens hat Professor Tanner eine Hausarbeit von mir verbummelt, die ein Drittel meiner Gesamtnote ausgemacht hätte, dann hat er mich auch noch für seine eigene Verfehlung bestraft, und zweitens geht Sie das gar nichts an!“

„Professor Tanner behauptet nach wie vor, dass Sie diese Hausarbeit niemals abgegeben haben.“

„Sie … Sie haben persönlich mit ihm gesprochen?“, fragte sie entgeistert. „Sie ziehen mich auf, oder?“

Emile schmunzelte und zwinkerte mit den Augen. „Stimmt. Ich entschuldige mich dafür.“ Doch seine Miene zeigte ihr, dass es ihm kein bisschen leidtat. „Nach dem College waren Sie mit einem … Ben Singer verlobt.“

„Der mich wegen einer anderen Frau verlassen hat, weil er mich als emotional unzugänglich empfand“, ergänzte sie in ätzendem Ton. „Steht das etwa nicht in Ihren Akten?“

Emile hob den Kopf und warf Amy einen forschenden Blick zu. „Nein. Hat er denn recht?“

„Nein!“ Amy verzichtete darauf, zu erwähnen, dass ihre Beziehungen zu Männern nach dieser Erfahrung nie länger als einen Monat gehalten hatten und dass ihre Freundinnen daraufhin beschlossen, keinen ihrer Verehrer auch nur wahrzunehmen, der nicht den einunddreißigsten Tag überlebte. „Ich bin absolut im Vollbesitz meiner Gefühle.“

Emile lachte. „Persönliche Fragen scheinen Sie nicht zu mögen.“

„Vielleicht weil ich glaube, dass sie mit Ihrem Anliegen nicht das Geringste zu tun haben?“

„Oh, das Gegenteil ist der Fall!“, korrigierte Emile sie. „Ihr Privatleben hat eine Menge mit Ihrer zukünftigen Stellung zu tun. Genauer gesagt, mit Ihren königlichen Pflichten.“

Amy schüttelte vehement den Kopf. „Was mich betrifft, ist es absolut übereilt, jetzt schon von königlichen Pflichten oder Ähnlichem zu sprechen. Ich bin immer noch nicht davon überzeugt, dass meine Eltern das waren, was Sie behaupten. Es will mir einfach nicht in den Kopf, dass eine königliche Laufbahn in einem Nest wie Dentytown geendet haben soll.“

Emile seufzte. „Also weiter …“ Damit hielt er ihr ein Foto entgegen, das er zunächst umdrehte. Prinzessin Lily von Argonien stand in krakeliger Schrift auf der Rückseite zu lesen. „Soweit bekannt ist, handelt es sich hierbei um das letzte Bild Ihrer Mutter.“

Amy nahm die Fotografie mit zitternden Fingern entgegen. Ihre erste Reaktion war Ungläubigkeit und das Gefühl, dass ihre Augen ihr einen Streich spielten. Sie glaubte zu träumen. Denn diese junge Frau mit den langen kastanienbraunen Haaren, den hellblauen Augen und der kleinen Kerbe im Kinn hätte sie selbst sein können …

„Okay, noch mal von vorn“, forderte Mara ihre Chefin auf. „Du gehst mit wem wohin?“ In ihrem ungläubigen Gesicht sah Amy genau die gleiche Verwirrung und Skepsis, die sie in dem Moment überfallen hatte, als Emile Beurghoff zum ersten Mal in ihrem Buchladen aufgetaucht war.

Es war nicht so, dass all ihre Zweifel inzwischen völlig ausgeräumt waren, doch in dem Moment, als sie das Foto von Prinzessin Lily in der Hand hielt, hatte Amy beschlossen, dieser seltsamen Geschichte auf den Grund zu gehen.

„Und was sagen deine Eltern zu deinen Plänen?“, wollte Mara wissen.

„Wir haben eine ganze Nacht lang darüber diskutiert, und sie stehen auf meiner Seite.“

„Ehrlich gesagt, glaube ich, ihr habt alle den Verstand verloren!“

„Mag sein, aber völlig verrückt sind wir nicht. Mein Vater hat sich von der Botschaft bestätigen lassen, dass Emile Beurghoff tatsächlich der Privatsekretär des Prinzen von Argonien ist.“

„Na, was für eine Erleichterung!“

„Ach Mara!“, sagte Amy schmunzelnd. „Hör endlich auf, dir Sorgen zu machen. Egal, was dabei herauskommt, du kannst nicht leugnen, dass es eine spannende Geschichte ist.“ Während sie versuchte, ihre Angestellte zu beruhigen, heftete Amy letzte Anweisungen an ihre Pinnwand. „Stell dir nur vor, was für eine Reklame das für Blue Yonder sein wird. Vielleicht reicht es sogar für eine Titelstory in Coastal Life oder einem anderen Magazin – Prinzessin für einen Tag …“

Mara runzelte skeptisch die dunklen Brauen. „Und es kann nicht passieren, dass du als Hochstaplerin verhaftet wirst?“, vergewisserte sie sich.

„Niemals!“, erklärte Amy vehement. „Im schlimmsten Fall stellt sich heraus, dass das Ganze ein Irrtum war.“

„Und was ist, wenn die Geschichte stimmt?“, fragte Mara mit dünner Stimme.

„Wenn ich tatsächlich eine Prinzessin bin?“

Mara nickte heftig. „Kannst du dir das überhaupt vorstellen?“

Amy seufzte. „Nein, das kann ich nicht“, sagte sie nach einer Pause. „Aber es könnte mir gefallen …“

Sie hätte es wissen müssen, dass sie in einem Privatjet fliegen würden. Immerhin arbeitete Emile Beurghoff für einen echten Prinzen und brachte die für eine lange Zeit verschollene Prinzessin von Argonien zurück in ihr Heimatland. Wenn das nicht den Einsatz eines Lear Jets rechtfertigte …

Amy lehnte sich im cremefarbenen Ledersitz zurück, schloss die Augen und versuchte, sich der sanften Musik hinzugeben, die aus den Bordlautsprechern erklang. Emiles dunkle Stimme riss sie aus ihrer Versunkenheit.

„Sind Sie ein ängstlicher Fluggast?“

Amy öffnete die Augen, nahm eine aufrechte Sitzposition ein und schloss Emiles Beispiel folgend ihren Sicherheitsgurt. „Nein, warum?“, fragte sie kühl.

„Sie wirken nervös.“

Na, großartig! Warum musste auch ausgerechnet er der erste scharfsinnige Mann sein, der ihr begegnete? „Vielleicht liegt das an dem Kaffee, den ich heute Morgen getrunken habe.“

„Ah …“ Er nickte. „Dann werden Sie möglicherweise gar nicht den Cappuccino genießen können, den Annabelle uns später servieren wird?“

„Annabelle?“

Emile wies mit dem Kopf in Richtung Heck. „Sie ist die Chefstewardess.“

Amy lächelte erleichtert. Zum Glück war also noch jemand an Bord außer Emile Beurghoff, dem Piloten und ihr selbst. „Warum leistet sie uns nicht Gesellschaft?“, fragte sie unbefangen.

Emile warf ihr einen verblüfften Blick zu. „Hier?“

„Aber ja, wir haben doch genug Platz.“

Nach einer kaum merklichen Pause schüttelte er nun den Kopf. „Ich glaube kaum, dass sie sich dabei wohlfühlen würde.“

„Und warum nicht?“

„In erster Linie, weil sie an Bord ist, um zu arbeiten. Zudem gehört es nicht zu ihren Aufgaben, sich zu den Passagieren zu gesellen und zu plaudern“, erklärte er steif. „Sie haben doch auch nicht das Verlangen, Ihre Kunden auf einem Trip nach Nepal zu begleiten, nur weil Sie ihnen einen Reiseführer über die Gegend verkauft haben, oder?“

„Ich bitte Sie! Das kann man doch nicht vergleichen!“

Emile bedachte seine Reisegefährtin mit einem forschenden Blick. „Mache ich Sie eigentlich nervös, Amelie?“

Nervös war wohl nicht ganz der richtige Ausdruck. Tatsächlich brachte er es fertig, jeden Nerv in ihrem Körper erzittern zu lassen. Amy fühlte sich wie ein Schulmädchen vor dem ersten Rendezvous.

„Ich wünschte, Sie würden mich nicht so nennen.“

„Okay. Also … Amy. Darf ich Ihnen vielleicht einen Schluck Champagner anbieten, um Ihre Nervosität zu überwinden?“

Die Flugzeugmotoren begannen zu vibrieren, und dann setzte sich die Maschine in Gang. Amy schluckte trocken. Nicht, dass sie tatsächlich Flugangst hatte, aber wirklich wohl fühlte sie sich auch nicht. Misstrauisch beäugte sie die Champagnerflasche in dem silbernen Kübel.

„Nein, danke. Es ist wohl besser, wenn ich versuche, meine fünf Sinne beisammenzuhalten.“

„Wir haben einen langen Flug vor uns. Ihre Sinne könnten vielleicht zwischendurch eine Ruhepause vertragen, denken Sie nicht?“

Darüber musste Amy lachen. „Kümmern Sie sich nur um Ihre, ich kümmere mich um meine“, sagte sie leichthin.

Das Flugzeug hob sich in die Luft, und Amy betrachtete fasziniert die immer kleiner werdenden Gebäude unter sich. Es dauerte nicht lange, da durchbrachen sie die Wolkendecke, und über ihnen erstrahlte ein leuchtend blauer Himmel. Plötzlich verspürte Amy ein berauschendes Gefühl von Freiheit. Es war das erste Mal, dass sie ihr Land verließ … zumindest, soweit sie sich erinnern konnte.

Dabei hatte sie sich bereits vor fünf Jahren einen Pass ausstellen lassen. Nur so, für alle Fälle. Doch wer hätte gedacht, dass für alle Fälle bedeutete, als angebliche Prinzessin mit einem attraktiven Fremden in ein fernes Land zu reisen? Wie hätte sie damit rechnen können?

Nachdem eine gut aussehende schlanke Blondine mit einem Servierwagen aufgetaucht war und sie mit Kaffee und köstlichen Plätzchen versorgt hatte, begann Amy, sich langsam zu entspannen.

„Sie scheint nett zu sein und an ihrem Job wirklich Spaß zu haben“, stellte sie einigermaßen überrascht fest.

„Und nebenbei macht sie die köstlichsten Chocolat Éclairs der Welt“, verriet Emile ihr mit einem genießerischen Gesichtsausdruck. „Die müssen Sie unbedingt probieren. Sie sind der einzige Lichtblick, der mir das Fliegen einigermaßen erträglich macht. Und am besten schmecken sie zu Champagner.“

„Leiden Sie etwa unter Flugangst?“, fragte Amy verblüfft.

Emile schien mit der Antwort zu zögern. „Das zu leugnen hat ja wohl wenig Zweck“, bekannte er mit einem schiefen Lächeln. „Früher oder später würde ich mich doch verraten.“

„Aha, deshalb auch der Champagner …“ Amy stellte überrascht fest, dass diese kleine Schwäche Emile Beurghoff in ihren Augen nur noch begehrenswerter machte.

„Er hilft … ein bisschen“, gab er kleinlaut zu.

„Na, Gott sei Dank!“, sagte Amy aus vollem Herzen.

Ihr Reisebegleiter runzelte die Stirn. „Was dachten Sie denn, wozu er bestimmt war?“

Amy fühlte, wie sie rot wurde. „Ich weiß nicht …“

„Dachten Sie etwa, dass ich Sie mit dem Champagner willig machen und während des Fluges verführen wollte?“, fragte er amüsiert.

„Sie wären nicht der erste Mann, der es auf diese Tour versucht!“, trumpfte Amy auf.

„Da bin ich mir sogar sicher“, murmelte er erstickt, und Amy argwöhnte, dass er sich nur mit Mühe ein Schmunzeln verkniff.

„Ich meine natürlich nicht bei mir, sondern bei Frauen generell“, beeilte sie sich klarzustellen.

„Amy!“, rief Emile in gespielter Verzweiflung aus. „Aimée! Was soll ich nur tun, damit Sie mir glauben, dass ich nicht die leiseste Absicht habe, Sie zu verführen?“

Verdrossen senkte sie den Blick und musste sich anstrengen, ihm nicht wegen seines offenherzigen Bekenntnisses böse zu sein.

„Was soll ich denn sonst denken?“, verteidigte sie sich. „Bei Ihrem regen Interesse an meiner Person … Immerhin sind Sie der erste Mann, der mein Leben wie seine eigene Westentasche kennt. Ich glaube ernsthaft, dass es nichts gibt, was Sie nicht über mich wissen.“

„Testen Sie mich.“

„Damit würde ich Sie sicher nur langweilen.“

„Nichts, was mit Ihnen zu tun hat, könnte mich langweilen …“

Amy spürte, wie sich die Härchen in ihrem Nacken aufstellten und ihr Pulsschlag sich verdoppelte. Trotzdem zögerte sie, sich auf ein Spiel einzulassen, in dem sie nur verlieren konnte. Ihre spärlichen romantischen Erfahrungen mussten einen Mann wie Emile Beurghoff unweigerlich langweilen!

„Sie sind ja ein ganz schöner Schwerenöter, wissen Sie das?“

„Ich bin nur aufrichtig.“

Sie lachte. „Umso schlimmer. Ich denke, ich werde jetzt ein wenig lesen.“ Amy griff in ihre Tasche und zog eine europäische Zeitschrift hervor, die sie kurz vor dem Abflug am Flughafen erstanden hatte.

„Was ist das?“, wollte Emile wissen.

„Irgendein europäisches Klatschblatt. Sicher gibt es das auch in Argonien“, sagte sie leichthin, doch Emiles Miene blieb völlig ernst.

„Wenn Sie hoffen, auf diesem Weg etwas über Ihre Heimat zu erfahren, werden Sie sicher enttäuscht werden.“

„Oh, das glaube ich nicht. Der Verkäufer im Zeitschriftenladen hat mir ausdrücklich versichert, dass dies die ultimative Informationsquelle ist, was die europäischen Königshäuser angeht. Wer weiß? Vielleicht habe ich ja Glück?“

„Wollen Sie nicht doch lieber ein Glas Champagner mit mir trinken?“

„Was bringt mich nur auf den Verdacht, dass Sie unbedingt zu verhindern versuchen, dass ich diese Illustrierte lese?“, fragte sie neckend.

„Können Sie es wirklich mit Ihrem Gewissen vereinbaren, mich ganz allein trinken zu lassen?“, konterte Emile im gleichen Ton.

Amy lachte und nahm das Glas entgegen, das er ihr hinhielt. „Also, zum Wohl …“ Sie trank einen winzigen Schluck und stellte dann ihr Glas zur Seite. „Darf ich jetzt endlich meine Zeitschrift lesen?“

„Kein Problem.“

„Na, dann ist es ja gut.“

„Trotzdem sollten Sie nicht alles glauben, was in diesen Klatschblättern steht.“

Amy warf ihrem Gegenüber einen bedeutungsvollen Blick zu, ehe sie sich in ihre Lektüre vertiefte. Sie hatte das Journal fast bis zu Ende durchgeblättert, als ihr Blick auf ein Bild fiel, das ihre Aufmerksamkeit weckte. Rasch überflog sie die dazugehörige Überschrift: Prinz Frederic De Burgesse verzichtet auf den Thron!

Das Foto, das direkt darunter abgebildet war, zeigte den Mann, der ihr gegenübersaß.

Prinz Frederic von Argonien, der sich ihr als Emile Beurghoff vorgestellt hatte.

3. KAPITEL

Amys erster Impuls war es, ihm mit der zusammengerollten Zeitschrift auf den Kopf zu schlagen. Doch sie unterdrückte diese unweibliche Regung und hielt einfach still, um zu sehen, wie lange Emile Beurghoff, alias Prinz Frederic, seine alberne Scharade noch aufrechtzuerhalten gedachte.

Als er sich nicht rührte, machte sie ein regelrechtes Schauspiel daraus, das Magazin zu glätten und in ihrer geräumigen Handtasche zu verstauen. Dann streckte sie sich genüsslich und unterdrückte ein herzhaftes Gähnen.

Emile beobachtete sie dabei hinter vorgehaltener Zeitung. Amy spürte seinen intensiven Blick wie kleine elektrische Schläge auf ihrer empfindlichen Haut – selbst wenn sie nicht in seine Richtung schaute.

„So“, sagte sie nach einer Weile energisch und lehnte sich bequem zurück. „Dann erzählen Sie mir mal alles über Ihren Prinzen.“

Emile senkte die Zeitung und warf ihr einen langen Blick zu. „Über Prinz Frederic?“

„Über wen sonst?“

„Was wollen Sie denn wissen?“ Der wachsame Ausdruck in seinen Augen brachte Amy auf den Gedanken, dass er in seiner Position sicher darauf achten musste, was er an Personen weitergab, die er nicht besonders gut kannte. Armer Kerl, dachte sie flüchtig. Immer auf der Hut sein zu müssen …

„Nun, bis auf einen kleinen Artikel, den ich heute Morgen im Internet gefunden habe, weiß ich eigentlich nichts über ihn. Und das, was ich in Erfahrung gebracht habe, ist nicht besonders schmeichelhaft. Es wird behauptet …“ Sie brach ab. „Vielleicht sollte ich es lieber nicht wiederholen. Ich möchte Sie oder Ihren Arbeitgeber nicht beleidigen.“

Seine stoische Miene gab nichts preis. „Wie Sie denken.“

„Andererseits geht es mich schon etwas an, wenn diese Behauptungen stimmen, oder? Besonders, wenn er wirklich so schrecklich ist, wie man sagt.“

Auf seiner Wange begann ein Muskel zu zucken. „Warum sagen Sie mir nicht einfach, was Ihnen durch den Kopf geht?“

„Okay. Ist Prinz Frederic wirklich so ein gnadenloser Tyrann, wie behauptet wird?“

„Es war mir gar nicht bewusst, dass er so gesehen werden könnte“, kam es gedehnt zurück.

„Oh ja. Diesem Artikel nach zu urteilen, entwickelt er haarsträubende Pläne, was die Steuern und die Überwachung der Bevölkerung betrifft.“

„Das ist nicht wahr!“

„Nein? Aber so steht es in dem Magazin, auf das im Internet Bezug genommen wird.“

„Trotzdem entspricht es nicht der Wahrheit.“ In seiner tiefen Stimme schwang eindeutig Ärger mit. „Diese verflixten Schmierblätter schrecken wirklich vor nichts zurück, um ihre Auflage zu erhöhen. Der Prinz will nur das Beste für sein Land. Deshalb hat er mich auch beauftragt, Sie nach Argonien zurückzuholen.“

„Ist das tatsächlich so?“

„Wie können Sie das bezweifeln?“

„Weil … nun, eigentlich genau meinetwegen. Weil Sie in seinem Auftrag in die USA geflogen sind, um eine unbedeutende Buchhändlerin aus einer unbedeutenden Kleinstadt nach Argonien zu entführen, damit sie seinen Job übernimmt. Für mich hört sich das sehr danach an, als wenn Ihr Prinz keine Lust hätte, sich noch länger für sein Volk einzusetzen, und den Thron lieber an den Erstbesten weitergibt.“

„Nein“, erwiderte er steif. „In Argonien ist der Monarch nur so etwas wie eine Symbolfigur. Er hat eigentlich gar keine politische Macht. Die einzige Gefahr, in die er geraten kann – wenn man es überhaupt so bezeichnen will –, ist, dass er sein Land auf irgendeine Art und Weise in Verlegenheit bringt. Doch angesichts unserer geringen Größe und der Seltenheit, mit der wir überhaupt in internationalen Nachrichten beachtet werden, ist auch das ziemlich unwahrscheinlich.“

Amy fühlte sich plötzlich schrecklich ernüchtert. „Sie suchen also nur jemanden, der so etwas wie eine Theaterrolle spielt? Warum muss es dann eine echte Prinzessin sein? Täte es nicht auch eine Schauspielerin?“

„Nein, diese Stellung kann nur eine Prinzessin einnehmen.“

„Egal, ob sie sich dafür eignet oder nicht?“

„Sie haben königliches Blut in den Adern.“ Er machte eine kurze Pause, um sich zu sammeln. „Sie brauchen keine weiteren Qualifikationen.“

Amy stieß ein spöttisches Lachen aus. „Ich frage mich nur, ob die Bevölkerung von Argonien mit Ihnen einer Meinung ist.“

„Das argonische Volk wünscht sich nichts mehr, als Sie auf dem Thron zu sehen“, führte er mit erzwungener Ruhe an. „Die Menschen brauchen die moralische Unterstützung und den Auftrieb, der ihnen dadurch gegeben würde. Es wäre sehr selbstsüchtig von Ihnen, Ihrem Volk das zu versagen.“

„Selbstsüchtig? Von mir?“, fragte Amy fassungslos.

Er nickte steif. „Ja, denn es ist nicht nur Ihr Geburtsrecht, sondern auch Ihre Pflicht.“ Sein harter Ton war für Amy wie ein Schlag ins Gesicht.

„Pflicht …“, echote sie ungläubig. „Auf jeden Fall scheint es Ihrem Prinzen damit nicht besonders ernst zu sein.“

„Er nimmt sein Amt sogar sehr ernst. Sie wissen doch gar nichts von ihm, wie Sie selbst bereits zugegeben haben.“

„Oh, vielleicht weiß ich doch mehr als Sie denken. Zum Beispiel, dass er ein Lügner ist.“

„Ein Lügner?“

„Ja. Er macht den Menschen etwas vor – über sich und seine Absichten.“

„Das ist eine sehr harte Anschuldigung.“

Amy zuckte gleichgültig mit den Schultern. „Wem der Schuh passt, soll ihn sich ruhig anziehen … Prinz Frederic von Argonien.“

Plötzlich herrschte Totenstille zwischen ihnen.

„Ich bin nicht …“

„Geben Sie sich keine Mühe mehr. Ich weiß genau, wer Sie sind, Hoheit. Und jetzt weiß ich auch, warum Ihr Land diesen … wie nannten Sie es noch? Oh ja, diesen moralischen Auftrieb braucht, von dem Sie eben so pathetisch gesprochen haben. Allein deshalb, weil Sie einfach keine Lust mehr auf den Thron haben und sich verdrücken wollen.“

„Ich …“

„Ja, Sie.“ Amy zog die Illustrierte wieder aus ihrer Tasche, schlug sie auf der richtigen Seite auf und warf sie ihrem Gegenüber auf den Schoß. „Wie lange dachten Sie denn, das vor mir geheim halten zu können?“

„Ich will mich nicht vor der Verantwortung drücken“, kam es nach einer ziemlich langen Pause zurück.

„Machen Sie mir doch nichts vor! In dem Moment, in dem Sie einen geeigneten Ersatz haben, sind Sie weg. Und dabei ist es Ihnen völlig egal, wen Sie auf den Thron hieven!“

„Das stimmt nicht. Ich will nur Sie.“

Irgendetwas in seinem Ton sandte ihr einen wohligen Schauer über den Rücken, doch Amy bemühte sich, ihren Ärger aufrechtzuerhalten. „Ich verstehe das einfach nicht!“, stieß sie entnervt hervor. „Warum ich?“

„Das habe ich Ihnen doch bereits gesagt. Weil Sie die legitime Thronerbin sind.“

„Selbst wenn es so wäre, und das auch noch durch genetische Untersuchungen belegt würde, muss ich doch nicht automatisch die Richtige für diesen Posten sein“, führte sie fast verzweifelt an. „Blutsbande zählen doch heute nichts mehr.“

„Sie bedeuten alles“, gab er ernst zurück. „Genau sie sind es, die Sie von einer gewöhnlichen Buchverkäuferin unterscheiden.“

„Aber ich bin eine gewöhnliche Buchverkäuferin!“, beharrte Amy störrisch. „Und anders als Sie habe ich kein Problem mit dem, was ich tue. Und ebenso wenig mit meiner Identität.“

„Das ist nicht fair. Ich habe Ihnen bisher nicht gesagt, wer ich bin, weil mir sehr wohl bewusst war, wie unglaubwürdig meine Geschichte in Ihren Ohren klingen musste. Und dass es Ihnen noch schwerer fallen würde, mir zu glauben, wenn ich mich gleich als Prinz vorgestellt hätte.“

„Na, darauf können Sie wetten!“, entfuhr es Amy spontan.

„Sehen Sie?“ Das klang fast triumphierend.

Doch so leicht gab Amy sich nicht geschlagen. „Aber Sie hätten mir doch dies hier zeigen können.“ Sie tippte mit dem Finger auf sein Foto in der Illustrierten.

„Und Sie hätten mich darauf sicher einen Hochstapler genannt und behauptet, ich wäre nur ein Doppelgänger, den Ihre Freunde als Geburtstagsgag engagiert hätten.“

Genau das hätte sie vermutlich gedacht. „Woher wollen Sie wissen, was ich denke?“, fragte Amy defensiv.

Er lächelte schwach. „Ich habe meine Schularbeiten sehr gründlich gemacht. Monatelang habe ich Ihr Leben studiert – Ihren Werdegang, die Entscheidungen, die Sie getroffen haben. Ich habe überlegt, welche Gründe Sie dazu bewogen haben könnten, dies oder jenes zu tun – und alles nur, um herauszufinden, was für eine Art Mensch Sie sind.“

Als er jetzt ihren Blick suchte, stand in seinen grünen Augen ein überraschend sanfter, fast zärtlicher Ausdruck. „Sie haben bisher noch nichts über mich gehört, deshalb ist all dies ganz neu für Sie, aber ich denke seit Langem Tag und Nacht an Sie, Amelie.“

Amy stockte förmlich der Atem. Dieser Frederic war unleugbar ein umwerfend charmanter Mann. Das war ihr auch schon bewusst gewesen, ehe sie ihm in dieses Flugzeug gefolgt war. Doch so leicht wollte sie sich nicht einfangen lassen.

„Sie können mich gar nicht kennen“, behauptete sie spröde.

„Nein?“

„Nein.“

„Ich weiß zum Beispiel, dass Sie niemand sind, der seine Pflichten auf die leichte Schulter nimmt.“ Um seinen gut geschnittenen Mund spielte ein leichtes Lächeln. „Immerhin waren Sie Präsidentin und Kassenwartin der Oberstufe Ihrer Highschool.“

„Niemand sonst wollte den Posten haben“, erinnerte Amy sich.

Frederic lachte leise. „Sie wollten Ihre Leute nicht im Stich lassen. Ihre Klassenkameradinnen, meine ich.“

Ihre Blicke kreuzten sich. „Ich wollte einfach nur, dass der Skiurlaub der Oberstufe nicht wegen mangelnder Organisation ins Wasser fällt, also habe ich absolut selbstsüchtig gehandelt.“

„Das nehme ich Ihnen nicht ab.“

„Außerdem ist das kaum ein Kriterium, um mir eine Krone aufs Haupt zu setzen“, spottete Amy. „Europa strotzt geradezu vor altem Adel. Da muss doch jemand zu finden sein, der sich geradezu nach dem Thron verzehrt, den Sie anzubieten haben.“

„Niemand von ihnen könnte das Problem lösen“, sagte Frederic nach einer langen Pause.

„Welches Problem?“

„Das Problem meiner … Schuld“, erklärte er mit einem tiefen Seufzer.

Das hatte Amy nicht erwartet. Es dauerte einen Moment, ehe sie sich zu einer Antwort zwingen konnte. „Sie fühlen sich schuldig, weil Sie nicht länger auf dem Thron bleiben wollen?“

„Das ist es nicht.“ Frederic verzog gepeinigt das Gesicht. „Der Aufstand vor fünfundzwanzig Jahren ging nicht ohne Blutvergießen vonstatten“, sagte er gepresst. „Niemand hat ihn überlebt – außer Ihnen.“

Amy schwieg eine ganze Weile und schüttelte dann den Kopf. „Trotzdem bin ich die falsche Frau“, sagte sie eindringlich. „Sehen Sie, ich kann es im Moment nicht beweisen, aber ich weiß, dass ich nicht die Person bin, nach der Sie suchen. Ich bin keine Prinzessin.“

„Oh doch, das sind Sie. Und noch viel edler und nobler, als ich gedacht habe“, gab er rau zurück und legte eine Hand auf ihre Wange. Nur mit Mühe widerstand Amy der Versuchung, sich in die warme Wölbung seiner Handfläche zu schmiegen und die Augen zu schließen.

„Ich … ich bin wie jeder andere Mensch.“

Frederic schenkt ihr sein unnachahmliches Lächeln. „Prinzessin Amelie, Sie sind viel zu bescheiden“, murmelte er heiser und zog seine Hand dabei nicht zurück. Und Amy rührte keinen Muskel, aus Angst, er könnte es tun.

„Und Sie sind viel freundlicher, als ich es verdiene, Hoheit“, wisperte sie.

„Ich glaube kaum, dass das möglich ist …“, murmelte Frederic und zog Amy unmerklich immer dichter zu sich heran. „Ich kenne keine andere Frau, die meinem verlockenden Angebot so lange standhalten würde wie Sie.“

Amys Mund wurde trocken. Ihre Gesichter waren nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt. Eine winzige Turbulenz, und sie würde unweigerlich auf seinem Schoß landen. „Haben Sie diese Offerte denn schon vielen Frauen gemacht?“

Frederic hob den Kopf und schaute amüsiert in ihr leicht erhitztes Gesicht. „Das war es nicht, was ich meinte, und das wissen Sie auch genau.“

Amy versuchte eine Gelassenheit zur Schau zu stellen, die sie absolut nicht empfand. „Offenbar kenne ich Sie bei Weitem nicht so gut, wie Sie glauben mich zu kennen“, murmelte sie herausfordernd.

„Möchten Sie das denn?“

„Ich … ich weiß nicht.“

„Und, sind Sie leicht zu überzeugen?“ Sein Mund war so dicht vor ihrem, dass sie seinen Atem auf ihren Lippen spürte. Ihm jetzt vorzuspielen, dass sie schwer zu erobern war, nachdem sie ihm schon ins Flugzeug gefolgt war, würde wohl wenig überzeugend wirken.

„An jedem 1. Januar nehme ich mir ernsthaft vor, an meiner Willenskraft zu arbeiten …“

Frederic hob eine Braue, sagte aber nichts.

„Und jedes Jahr, so um den 10. Januar herum, gebe ich jeglichen Versuch in dieser Richtung auf.“

Er lachte. „Wie schön für mich. Willensstärke ist auch nur bedingt eine positive Charaktereigenschaft. Du hast viel wertvollere aufzubieten, Aimée …“

Amy schluckte mühsam. „Habe ich das?“

Er nickte. „Oh ja!“ Und bevor sie noch einen klaren Gedanken fassen konnte, küsste er sie … zunächst tastend, dann hungrig und voll unterdrückter Leidenschaft. Amys Körper reagierte darauf, ehe ihr Verstand auch nur einen Einwand formulieren konnte.

Natürlich war sie auch vorher schon geküsst worden, aber als Frederic seine Lippen auf ihre legte, war es wie das erste Mal. So, als seien alle Küsse zuvor nur stümperhafte Versuche gewesen, die plötzlich wie ein ferner romantischer Jungmädchentraum verblassten.

Dies hier war die Realität.

Ihr Herz schlug so heftig gegen den Rippenbogen, dass Amy Angst hatte, es könnte zerspringen. Es war einfach wundervoll!

Er war wundervoll – berauschend, warm, stark und unwiderstehlich …

Mit letzter Kraft stemmte sie sich gegen Frederics Brust und legte den Kopf in den Nacken, um ihn anschauen zu können. „Was … was machst du mit mir?“, fragte sie mit belegter Stimme. In ihrem Inneren ging immer noch alles drunter und drüber, und wenn Frederic sie jetzt einfach wieder an sich ziehen würde, könnte sie ihm sicher nicht widerstehen.

Aber er tat es nicht. Stattdessen wirkte er aufreizend gelassen. „Ist das in Amerika nicht üblich?“

„Doch“, gab Amy gedehnt zurück und suchte verzweifelt nach einer witzigen Erwiderung. „Allerdings nur unter Leuten, die sich auch kennen.“

Frederics Mund verzog sich zu einem Lächeln. „Habe ich mich dir noch gar nicht vorgestellt?“

„Ehrlich gesagt, Hoheit …“ Amy machte eine wirkungsvolle Pause. „Eigentlich nicht. Jedenfalls nicht mit dem richtigen Namen.“

Frederic deutete eine kleine Verbeugung an. „Dann möchte ich das jetzt dringend nachholen. Ich bin Frederic De Burgesse.“ Er umfasste Amys Hand und zog sie an seine Lippen. „Und alsbald ehemaliger Kronprinz von Argonien. Du kannst mich Ric nennen.“

Ihre Hand lag warm in seiner, und obwohl Amy wusste, dass sie sie eigentlich zurückziehen müsste, brachte sie es nicht über sich. „Ric, ja?“ Ihre Stimme zitterte vor Erregung, obwohl sie sich alle Mühe gab, normal zu klingen. „Das gefällt mir schon viel besser als Emile.“

„Emile wird sehr traurig sein, das zu hören.“

„Dann gibt es also wirklich einen Emile?“

Frederic nickte. „Er ist mein Sekretär.“

Amy legte den Kopf schief. „Sekretär eines Prinzen, der seinen Thron gar nicht will? Also weißt du, diesen Teil deiner Geschichte zu glauben, fällt mir besonders schwer.“

Autor

Catherine Spencer

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