Julia Extra Band 486

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GEFANGEN IM FEUER EINER WÜSTENNACHT von ANNIE WEST

Gekidnappt in der Wüste! Doch zum Glück ist die junge Geologin Tori nicht allein: Ein zweiter Gefangener tröstet sie, und aus Angst wird berauschende Leidenschaft. Am nächsten Morgen trennt man sie. Wird Tori den feurigen Fremden jemals wiedersehen?

JE T’AIME HEISST FÜR IMMER von REBECCA WINTERS

Die Suche nach dem Vater ihres kleinen Neffen führt Nathalie auf ein Weingut in der Provence. Dessen Besitzer Dominic Fontesquieu sieht ihrem Neffen verblüffend ähnlich. Und seine Küsse sind so süß wie Wein! Doch hatte Dominic wirklich eine Affäre mit ihrer verstorbenen Schwester?

DIE PRINZESSIN UND DER GRIECHISCHE TYCOON von JULIA JAMES

Prinzessin Elizsaveta bringt ein großes Opfer: Um ihre Familie vor dem Ruin zu retten, heiratet sie den griechischen Milliardär Leon Dukaris. Sie weiß, dass Leon nicht an Liebe glaubt, aber die sinnliche Sehnsucht, die seine Berührung in ihr weckt, lässt sie fast verzweifeln …

CINDERELLAS SKANDALÖSES GEHEIMNIS von MELANIE MILBURNE

Zwei Monate lang dauerte ihre heiße Liaison - dann machte Isla mit dem attraktiven Hotelier Rafe Angeleri Schluss. Zu nah kam er dem skandalösen Geheimnis aus ihrer Vergangenheit! Aber als sie sich jetzt in Edinburgh wiedersehen, kann Isla ein zweites Geheimnis nicht vor ihm verbergen …


  • Erscheinungstag 21.07.2020
  • Bandnummer 486
  • ISBN / Artikelnummer 9783733714864
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Annie West, Rebecca Winters, Julia James, Melanie Milburne

JULIA EXTRA BAND 486

ANNIE WEST

Gefangen im Feuer einer Wüstennacht

Endlich hat er sie aufgespürt! Heißes Verlangen durchfährt Scheich Ashraf, als er die bezaubernde Tori wiedersieht. Wird sie ihm endlich gestehen, dass ihre sinnliche Wüstennacht süße Folgen hatte?

REBECCA WINTERS

Je t’aime heißt für immer

Sie ist hinreißend, aber Dominic spürt auch, dass Nathalie ihn belügt. Warum will die junge Schönheit auf seinem Weingut als Erntehelferin arbeiten? Er beschließt, das Rätsel zu lösen …

JULIA JAMES

Die Prinzessin und der griechische Tycoon

Der griechische Milliardär Leon Dukaris hat einen Plan: Durch die Vernunftehe mit Prinzessin Marika wird er zum Hochadel gehören. Doch dann erblickt er Ellie, Marikas arme, aber betörend schöne Stiefschwester …

MELANIE MILBURNE

Cinderellas skandalöses Geheimnis

„Isla, was machst du hier?“ Rafe ist schockiert, als seine Ex-Geliebte plötzlich wieder vor ihm steht. Von jetzt auf gleich hat sie damals mit ihm Schluss gemacht. Wird er nun erfahren, warum?

1. KAPITEL

Langsam kam Ashraf wieder zu Bewusstsein, in seinem Mund der Geschmack von Sand und Blut.

Er lag mit dem Gesicht nach unten. Sein Kopf und eine Seite seines Brustkorbs schmerzten. Vorsichtig öffnete er die Augen. Er befand sich in einem dämmrigen Raum, nur etwas Mondlicht drang durch ein schmales Fenster.

Gedämpft vernahm er Stimmen, die sich zunehmend entfernten. Drei Männer. Wegen des hämmernden Schmerzes in seinem Schädel musste er sich anstrengen, um sie zu verstehen, doch dann gelang es ihm.

Sie wollten ihn töten. Sobald Qadri eintraf. Und Qadri würde sie für die Entführung großzügig entlohnen.

Als er den Namen seines Erzfeinds vernahm, biss Ashraf wütend die Zähne zusammen.

Natürlich steckte Qadri dahinter. In den letzten Jahren der Regentschaft von Ashrafs Vater hatte sich der Bandenboss in der weit abgelegenen Provinz von Za’daq wie ein Herrscher gebärdet.

Der alte Scheich hatte sich nur selten in die Angelegenheiten der Provinz eingemischt. Und solange sich Qadri nur an seinen eigenen Leuten verging, hatte er ihn gewähren lassen.

Aber Ashraf war nicht wie sein Vater. Der alte Scheich war tot, und Ashraf trieb die Modernisierung in allen Regionen seines Landes voran. Damit wollte er nicht zuletzt dafür sorgen, dass die Macht von Verbrechern wie Qadri schwand.

Doch jetzt war Ashraf gefangen und konnte keine Gnade von seinen Entführern erwarten.

Qadri würde ihn ganz sicher nicht gegen Geld freilassen. Er würde mit nackter Gewalt für seinen Machterhalt kämpfen.

Wenn er den neuen Scheich hinrichten ließ, konnte er die Einwohner der Provinz einschüchtern und ihnen beweisen, dass Modernisierung und Gesetze hier keinen Platz hatten.

Ashraf verfluchte sich selbst, weil er nur mit einem einzigen Leibwächter losgeritten war, um sich über die Fortschritte des neuen Bewässerungssystems zu informieren. Allerdings hatte man ihm vorab versprochen, dass es in diesem Teil seines Reiches inzwischen absolut sicher sei.

Sicher!

Sein Magen verkrampfte sich, als er an seinen Leibwächter dachte. Basim war vom Pferd gefallen, weil die Entführer einen Draht zwischen zwei Felsbrocken gespannt hatten.

Ashraf war sofort vom eigenen Pferd gesprungen, um Basim zur Hilfe zu eilen. Doch die Entführer hatten ihn aus dem Hinterhalt angegriffen und zu Boden gerungen. Dass er ihnen heftigen Widerstand geleistet hatte, war ihm kein Trost.

War Basim noch am Leben? Bei der Vorstellung, dass der treue Diener allein und vielleicht sogar schwer verletzt zurückgeblieben war, wurde Ashraf übel.

Wut stieg in ihm hoch. Aber Wut würde ihm nicht weiterhelfen. Er musste einen kühlen Kopf bewahren und nach einer Fluchtmöglichkeit Ausschau halten. Vermutlich war sein langes Wegbleiben im Palast bereits bemerkt worden, und man hatte einen Suchtrupp nach ihm ausgeschickt.

Ein leises Rascheln riss ihn aus seinen Gedanken.

Er war nicht allein.

Aber er würde nicht einfach nur daliegen und auf den Angriff warten.

Ashraf ignorierte den stechenden Schmerz in seinem Kopf, drehte sich blitzschnell auf die Seite und kam hoch. Die rechte Hand zum Schlag erhoben, machte er ein paar Schritte nach vorne und wurde abrupt zurückgerissen.

Mit einem raschen Schulterblick wurde ihm klar, was ihn am Weitergehen hinderte. Sein linkes Handgelenk steckte in einem schweren Eisenring, der an die Wand gekettet war. Schnell trat er zurück und streckte die rechte Hand kampfbereit vor.

„Zeig dich!“

Keine Bewegung. Kein Geräusch. Nichts.

Plötzlich sah er etwas Helles im Mondschein aufleuchten. Haare.

Sein Bewacher war blond?

Ashraf blinzelte. Doch es war keine Halluzination.

„Wer sind Sie?“ Er wiederholte die Frage auf Französisch, dann auf Englisch. Statt einer Antwort hörte er einen scharfen Atemzug.

Sein Gegenüber verstand also offenbar Englisch.

Die Stille schwoll an und mit ihr seine innere Anspannung.

„Sie wissen es nicht?“

Ashraf erstarrte. Hatte sein Ohr beim Schlag auf den Kopf etwas abbekommen? Die Stimme klang ängstlich – und wie die einer …

„Sie sind eine Frau?“

„Dann gehören Sie nicht zu denen?“, fragte sie.

„Wen meinen Sie?“

„Die Männer, die mich hierhergebracht haben.“ Ihre Stimme zitterte. „Die Männer, die mich entführt haben.“

„Nein. Ich wurde auch entführt.“

Und dafür würden diese Verbrecher teuer bezahlen. Ashraf würde nicht hier sterben, in einer Hirtenhütte, wie er aus dem durchdringenden Tiergeruch schloss. Allerdings legte die schwere Eisenkette an seinem Handgelenk die Vermutung nahe, dass die Hütte auch für schlimme Zwecke genutzt wurde. Er hatte Gerüchte gehört, dass Qadri Menschenschmuggel betrieb. Dass manchmal Frauen verschwanden, die jenseits der Grenze an skrupellose Männer verkauft wurden.

Das bleiche Leuchten kam näher. Jetzt konnte Ashraf die Frau erkennen. Silberblondes Haar, blasse Haut und Augen, die im Schatten seltsam hohl wirkten.

„Sind Sie verletzt?“, fragte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Aber was ist mit Ihnen? Sie bluten stark.“

Ashraf schaute an sich herunter. Sein Hemd war zerrissen, und als er es aufschob, sah er an seinem Brustkorb einen langen, blutigen Schnitt. Die Wunde stammte vermutlich von einem Messer, schien aber zum Glück nicht sehr tief zu sein.

„Ich werd’s überleben“, erwiderte er. „Aber haben Sie wirklich nichts abbekommen?“

Tori starrte den Mann an und wäre fast in Tränen ausgebrochen.

Aber wenn sie jetzt weinte, würde ihr das auch nicht weiterhelfen.

„Nur ein paar Kratzer und blaue Flecken.“ Sie hatte Glück im Unglück gehabt. Ihre Wange schmerzte dort, wo ihr einer der brutalen Männer einen Schlag mit dem Handrücken verpasst hatte. Aber das war auch schon das Schlimmste, was ihr passiert war. Obwohl sie das hungrige Leuchten in den Augen ihrer Entführer gesehen hatte, hatten die Männer ihr bisher nichts weiter angetan, als sie in dieser Hütte einzusperren.

Doch beim Anblick des Verletzten fing sie an zu zittern, weil ihr bewusst wurde, welches Schicksal sie womöglich erwartete.

Als die Entführer den Mann in die Hütte gezerrt und auf den schmutzigen Boden geworfen hatten, war er bewusstlos gewesen.

In ihrer Panik hatte Tori reglos in einer Ecke der Hütte gekauert und bisher noch nicht gewagt, sich die Verletzungen des Mannes genauer anzusehen. Jetzt erkannte sie, wie übel ihn die Männer zugerichtet hatten. Sein Hemd war mit Blut befleckt und an einer Schläfe klaffte eine böse Wunde. Dennoch stand er hoch aufgerichtet vor ihr. Das Hemd hing in Fetzen an seinen breiten Schultern, die staubige Hose klebte an kräftigen Schenkeln. Trotz seiner Verletzungen strahlte er so etwas wie Macht aus. Und unter der blutverkrusteten Schmutzschicht, die auf seinem Gesicht lag, erkannte Tori scharf geschnittene Züge.

Würde sie ihn bei Tageslicht sehen oder würden die Männer vorher zurückkehren und ihn holen? Panische Angst kroch ihr über den Rücken.

„Wissen Sie, wo wir hier sind?“ Der Fremde sprach leise, aber seine samtweiche, tiefe Stimme hatte etwas Beruhigendes.

„Ich schätze, kurz vor dem Grenzgebirge. Sie haben mich hinten in einem Lieferwagen hergebracht, ich konnte nicht nach draußen sehen.“ Sie schlang die Arme um ihren Oberkörper, als sie an die Fahrt zurückdachte und an den finsteren Mann, der ihr die ganze Zeit mit einem gezückten Messer gegenübergesessen hatte.

„Dann gibt es hier eine Straße?“

„Ja. Mehr weiß ich nicht. Vor dem Aussteigen haben sie mir die Augen verbunden, und ich musste das letzte Stück zu Fuß gehen.“

„Steht ein Wachposten vor der Hütte?“

„Ich glaube nicht.“

Sie hatte gehört, wie sich die Männer beim Weggehen unterhalten hatten. Als sie geglaubt hatte, fürs Erste vor ihnen sicher zu sein, war sie zur Tür gekrochen und hatte durch die Ritze zwischen Tür und Rahmen gespäht. Draußen hatte niemand gestanden.

„Ein Stück weiter habe ich ein Lagerfeuer gesehen. Vermutlich sitzen die Entführer dort.“

Warum hätten sie auch eine Wache zurücklassen sollen? Die Tür war verriegelt, der Mann mit einer Eisenkette gefesselt.

Und ich habe ja nicht mal ein Taschenmesser dabei …

Was hätte sie jetzt nicht alles für den Hammer gegeben, den sie als Geologin sonst immer bei sich trug, um Gesteinsproben zu entnehmen! Damit hätte sie vielleicht die Eisenkette um das Handgelenk des Fremden zerschlagen können.

Der Mann drehte sich um, und Tori hörte das Rasseln von Metall.

„Was haben Sie vor?“, fragte sie leise.

„Ich prüfe die Kette.“ Ein unterdrücktes Stöhnen, ein leiser Fluch.

Sie machte zwei Schritte auf ihn zu. „Ohne Werkzeug kriegen Sie die nicht aus der Wand“, flüsterte sie.

„Sie haben es schon versucht?“ Er straffte die Schultern und drehte sich zu ihr um.

Er war näher, als sie gedacht hatte. Und größer. Tori schnappte nach Luft, und das Geräusch zerriss die Stille.

Er schien ihre Panik zu spüren, denn er trat einen Schritt zurück, als wollte er ihr mehr Raum geben.

Ihr Verstand schaltete sich wieder ein. Natürlich würde dieser Mann ihr nichts antun. Schließlich war er ebenfalls ein Opfer der Entführer.

Tori versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Im dämmrigen Licht trafen sich ihre Blicke, und sie hätte schwören können, dass in seinen Augen Mitgefühl lag. Oder war es gar Mitleid?

Weil er genau wusste, welches Schicksal eine Frau in den Händen dieser skrupellosen Verbrecher erwartete?

Schnell verdrängte Tori das furchtbare Bild, das sie im Geist bereits vor sich sah. Sie musste sich zusammenreißen, durfte noch nicht aufgeben.

„Als ich noch allein war, habe ich versucht, ob ich die Kette aus der Wand reißen und als Waffe benutzen kann.“ Sie schluckte. „Um mich zu verteidigen, wenn die Männer zurückkommen.“

„Sie allein gegen drei Männer?“

„Ich werde mich nicht kampflos ergeben“, sagte sie, nicht ohne einen Anflug von Stolz.

„Es wäre besser für Sie, wenn Sie dann keinen Widerstand leisten.“

Tori wollte widersprechen, ließ ihn dann aber weiterreden.

„Bei drei gegen eine hätten Sie wohl kaum eine Chance. Warten Sie lieber, bis Sie mit einem alleine sind. Spätestens morgen werden die Männer Sie von hier wegbringen.“

„Woher wollen Sie das wissen? Haben die über mich geredet?“ Ihre Stimme klang schrill vor Angst.

„Nein, die haben Sie nicht erwähnt“, beruhigte er sie. „Aber ihr Anführer wird morgen kommen und weitere Befehle erteilen. Bis dahin werden sie uns in Ruhe lassen.“

Toris Knie gaben nach, und sie musste sich an der Wand abstützen. Seit Stunden waren ihre Nerven bis zum Äußersten angespannt gewesen, weil sie die Männer jede Sekunde zurückerwartet hatte.

„Alles okay?“ Er machte einen Schritt auf sie zu, blieb dann aber stehen, als fürchtete er, seine Nähe könnte ihr Angst machen.

Sie nickte. Es war albern, Erleichterung zu empfinden, weil sie wenigstens in dieser Nacht in Sicherheit wäre. Die Gefahr war nicht gebannt, Tori hatte nur einen Tag Galgenfrist bekommen. Doch sie war so erschöpft, dass sie sich nicht länger auf den Beinen halten konnte.

Während sie zu Boden sank, griffen starke Hände nach ihr und dämpften den Aufprall.

Die Hände des Mannes waren überraschend sanft. Tori hörte, wie sich die Eisenkette spannte, dann hockte er vor ihr.

„Tut mir leid.“ Ihre Stimme zitterte. „Ich bin …“ Sie schaute hoch, in dunkle Augen. „Haben Sie eine Ahnung, was die mit mir vorhaben?“

Er schien abzuwägen, wie viel Wahrheit er ihr zumuten konnte. „Vermutlich werden die Männer versuchen, Sie über die Grenze zu schaffen“, sagte er dann ehrlich.

Wie Schmuggelware? Entsetzt biss sie sich auf die Unterlippe. Stimmten die Gerüchte, dass jenseits der Grenze einige Frauen wie Sklaven verkauft worden waren? Ihr wurde übel.

„Vielleicht ergibt sich für mich dabei eine Gelegenheit zur Flucht? Wenn nur einer von ihnen mitkommt, kann ich ihn vielleicht überlisten.“ Sie wusste, sie klammerte sich an einen Strohhalm. Aber das war allemal besser, als die Hoffnung jetzt schon aufzugeben.

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass Ihnen hier nichts geschieht. Der Anführer der Bande ist mein Feind. Er wird sich vermutlich nicht für Sie interessieren, sondern nur für mich.“

Tori meinte, einen Hauch Bitterkeit in seiner tiefen Stimme zu hören. Plötzlich fiel ihr die Geste wieder ein, die einer der Entführer gemacht hatte. Als sie den Verletzten an die Wand gekettet hatten, hatte einer von ihnen grausam gelacht und einen Finger über seine Kehle gezogen. Ein unmissverständliches Zeichen.

Tod.

Sie werden ihn töten.

Ihr wurde klar, dass ihr Mitgefangener es ebenfalls wusste. Das sah sie seiner ernsten Miene an. Aber sie sah ihm auch an, dass er sich zur Wehr setzen würde.

Instinktiv griff Tori nach seiner Hand, und die Wärme seiner Haut umfing ihre kalten Finger, füllte sie mit Leben. „Was sollen wir tun?“

Einen Augenblick lang schaute er sie durchdringend an. „Nach einem Weg hier raus suchen.“

„Das habe ich schon …“

„Sie haben nicht zufällig eine Haarklemme dabei?“

„Um das Schloss an der Handschelle zu öffnen?“ Sie schüttelte den Kopf. „Für den Pferdeschwanz brauche ich die nicht.“

Er schaute zu, wie ihr das zusammengebundene Haar um die Schultern strich. Sein Blick löste ein komisches Gefühl in ihr aus. Angst oder Verzweiflung war es nicht.

Sie hielt in der Bewegung inne.

„Leider habe ich auch keinen Bolzenschneider eingepackt, um die Kette zu knacken.“ Sie lachte trocken auf und schämte sich dann selbst, weil sie in dieser Situation einen Witz gemacht hatte.

„Das Fenster ist selbst für Sie viel zu klein.“ Er überlegte kurz. „Was ist mit dem Dach?“

Er erhob sich mit einer geschmeidigen Bewegung, die seine Kraft verriet. Unglaublich, wenn man bedachte, dass er gerade noch bewusstlos gewesen war. Sie schluckte.

„Kommen Sie.“ Er reichte ihr eine Hand.

Tori ergriff sie und ließ sich von ihm hochziehen. Sie standen so nah voreinander, dass sie einen Hauch Zimt in seinem würzigen Duft wahrnehmen konnte. Doch im nächsten Moment trat er einen Schritt zurück und schaute zum Dach hoch.

„Da.“ Er wies nach oben.

„Was haben Sie vor?“

„Legen Sie Ihre Hände auf meine Schultern, dann hebe ich Sie hoch. Vielleicht entdecken Sie oben eine Luke oder irgendeine Öffnung.“

„Aber Ihnen würde sie nichts nützen.“ Tori blickte zu der schweren Eisenkette.

„Das muss Sie nicht davon abhalten, es zu versuchen.“

Seine warme, weiche Stimme tröstete sie. Und als sie in seine Augen sah, überkam sie eine unerwartete Ruhe.

„Wie heißen Sie?“

Die Frage ließ sie den Atem anhalten. Wie wäre es gewesen, wenn er unter anderen Umständen nach ihrem Namen gefragt hätte? Dieser Mann hatte etwas an sich, das extrem anziehend auf sie wirkte. Aber was war dieses Etwas? Lag es vielleicht an seiner unglaublichen Selbstsicherheit im Angesicht der aussichtslosen Situation, in der sie sich befanden?

Ihr Herz schlug plötzlich schneller.

„Tori. Und Sie?“

„Nennen Sie mich einfach Ash.“

Bevor sie sich fragen konnte, ob das sein echter Name war, plante er schon den nächsten Schritt ihrer Flucht.

„Wenn es Ihnen gelingt, über das Dach zu entkommen, können Sie noch vor Tagesanbruch Hilfe holen.“

Er musste ihr nicht sagen, was passieren würde, sobald der neue Tag herangebrochen war. Die Geste des Entführers hatte Bände gesprochen.

„Aber ich weiß weder, wo wir sind, noch, in welche Richtung ich muss.“

Seine Finger legten sich beruhigend um ihre Hand. „Gehen Sie einfach im sicheren Abstand zum Lagerfeuer um die Hütte herum, bis Sie den Weg finden, auf dem man Sie hergebracht hat. Folgen Sie ihm …“

„… in der Hoffnung, dass ich irgendwann auf eine Straße oder ein Dorf stoße?“

„Haben Sie eine bessere Idee?“

Tori schüttelte den Kopf. Es war ihre einzige Chance.

„Also gut.“ Sie legte die Handflächen auf seine Schultern und hielt den Atem an, als er seine starken Arme um sie legte und sie hochhob.

Eine Viertelstunde später war Ashraf klar, dass Tori über das Dach niemals entkommen würde.

Wegen seiner Fessel hatte sie nur einen kleinen Teil der Decke absuchen können. Keine Luke, keine winzige Öffnung, nichts.

Der stechende Schmerz in seinem Brustkorb war mit jeder Sekunde stärker geworden. Dazu hämmerte es in seinem Schädel. Und seine Muskeln waren angespannt, weil er seine Leidensgefährtin in die Höhe gehalten hatte, während sie sich streckte und drehte, um eine Schwachstelle im Dach zu finden.

Aber Tori in seinen Armen zu halten, war eine andere Form von Folter.

Er musste versuchen, ihre vollen Brüste und die runden Pobacken zu ignorieren. Durfte nicht zu sehr darauf achten, dass sein Gesicht an ihren warmen Bauch gepresst war. Aber obwohl sie sich in dieser lebensbedrohlichen Situation befanden, konnte er nicht anders, als den sanften Schwung ihrer schmalen Taille zu spüren und ihren verführerisch weiblichen Duft tief einzuatmen.

Nachdem Ashraf sie wieder abgesetzt hatte, glitt er an der Wand zu Boden. Jeder Muskel an seinem Körper zitterte. Wegen seiner Verletzungen. Wegen seiner Wut, Qadri in die Falle gegangen zu sein.

Und wegen seiner Erregung.

Es musste am Adrenalin liegen. Sein Körper reagierte auf die Todesgefahr, wie schon bei den Männern in der Steinzeit. Mit dem Verlangen, sich im Trost einer warmen, willigen Frau zu verlieren. Mit dem Wunsch, sich zu vereinigen, in der Hoffnung, dass wenigstens seine Nachkommen überleben würden.

„Alles in Ordnung?“

Tori war seinem Gesicht so nahe, dass er ihren Atem auf seiner Haut spürte.

„Ich hätte es wissen müssen, dass Sie mein Gewicht bei Ihren Verletzungen nicht lange tragen können. Bluten Sie wieder?“

Vorsichtig berührte sie seine Brust knapp über der Wunde.

„Nein!“ Ashraf ergriff ihre Hand und drückte sie an sich. Als er den Blick hob, sah er die Besorgnis in ihren Augen.

Im nächsten Moment traf ihn die Erkenntnis wie ein Schlag.

Sie spürte es auch.

Die Verbundenheit zwischen einem Mann und einer Frau, die zusammen gefangen waren. Das urmenschliche Bedürfnis, im Angesicht des drohenden Todes Trost beim anderen zu finden.

„Regen Sie sich meinetwegen bloß nicht auf. Mir geht’s gut.“ Behutsam zog er ihre Hand wieder von seiner Brust.

Er war wütend auf sich selbst, weil die Männer ihn gefangen hatten. Wütend, weil sein Vater recht behalten sollte und er tatsächlich nichts taugte. Ashraf war nur ein halbes Jahr Scheich von Za’daq gewesen und hatte die großen Pläne für sein Land in dieser Zeit nicht in die Tat umsetzen können.

Er ließ Toris Hand los und schaute weg.

„Ich rege mich nicht Ihretwegen auf.“

Sie schnaubte leise.

„Tut mir leid“, sagte er einlenkend. „Ich blute nicht mehr. Und es ist nett von Ihnen, dass Sie sich Sorgen um mich machen.“

„Nett?“ Sie schluckte, und Ashraf erkannte, dass sie gegen Tränen ankämpfte.

Seinetwegen? Nein, Tori konnte nicht wissen, dass ihn am nächsten Morgen der Tod erwartete. Vermutlich verlor sie aus Angst um sich selbst langsam die Nerven. Dabei war sie bisher so mutig gewesen wie wohl die wenigsten Männer in einer ähnlichen Situation.

„Fürsorglich“, verbesserte er sich.

Sie schüttelte den Kopf, und silberne Haarsträhne lösten sich aus ihrem Pferdeschwanz. Ashraf ballte die Hände, um nicht der Versuchung nachzugeben, das Band aus dem Zopf zu lösen, sodass ihr die schimmernde Masse um die Schultern floss.

„Sie müssen sich ausruhen“, murmelte er. „Ich werde das jetzt auch tun.“

Er legte sich hin. Obwohl die Wunden stark schmerzten, fühlte er sich seltsam gut. Noch war er am Leben. Und er hatte nicht vor, sich seinem Schicksal zu ergeben.

Ashraf hatte sein Leben lang gekämpft. Hatte alles gegeben, um seinem Vater zu beweisen, dass ihn dessen Verachtung nicht kümmerte. Und er hatte sich einen Ruf als vergnügungssüchtiger Playboy aufgebaut, weil er wusste, dass es den alten Mann wie eine Ohrfeige treffen würde.

Doch nun war er nach Za’daq zurückgekehrt und hatte sein Leben komplett umgekrempelt. Das war er vor allem seinem Bruder Karim schuldig, der ein großes Opfer für das Land gebracht hatte. Bei dem Gedanken an Karim zog sich etwas in seiner Brust zusammen.

„Ich würde mir vorher gern Ihre Verletzungen anschauen.“ Tori kniete sich neben ihn. Jetzt war sie ihm so nahe, dass er nur die Hand ausstrecken musste, um ihr Gesicht und ihre Brüste zu berühren. Viel zu nah für einen Mann, dessen Erregung mit jeder Sekunde wuchs.

„Bei diesem Licht werden Sie nichts für mich tun können. Es sei denn, Sie haben irgendwo eine Taschenlampe und einen Erste-Hilfe-Koffer versteckt.“

Sie verzog den Mund und wandte den Kopf ab.

Sofort bereute er seine blöde Bemerkung. „Tut mir leid.“ Nun hatte er sich schon zum zweiten Mal bei ihr entschuldigt. „Ein ziemlich unnötiger Witz. Und Sie haben recht, ich habe Schmerzen, aber es ist nicht so schlimm, wie es aussieht.“ Er überlegte kurz. „Tatsächlich gibt es etwas, das Sie tun können.“

„Nämlich?“

„Schlafen. Wir müssen Kräfte sammeln.“ Er streckte sich auf dem Boden aus und unterdrückte einen Schmerzensschrei.

Nach langem Schweigen legte Tori sich nicht weit von ihm ebenfalls hin.

Ashraf schlief nicht. Stattdessen dachte er an den nächsten Morgen und fragte sich, ob sein Sicherheitsteam ihn finden würde, bevor es zu spät war.

Plötzlich hörte er ein leises Geräusch. Klapperte Tori etwa mit den Zähnen? Sie waren mitten in der Wüste, und die Nacht war eiskalt.

„Rutschen Sie zu mir, Tori. Wenn wir zusammen liegen, wird uns wärmer.“

Sie hob den Kopf. „Aber Ihre Verletzungen …“

Er streckte den freien Arm nach ihr aus. „Sie können sich an mich kuscheln.“

Als sie das Angebot annahm, musste er sich auf die Zunge beißen, damit ihm kein zufriedener Seufzer entfuhr.

„Legen Sie Ihren Kopf auf meine Schulter.“ Sie tat es, und er spürte den Hauch ihres Atems durch sein zerrissenes Hemd. Ihre weichen Kurven schmiegten sich an seine Flanke, seidige Haarsträhnen kitzelten seinen Hals, während ihre Hand warm auf seiner Taille lag.

Ashraf strich ihr übers Haar. Es war tatsächlich so seidenweich, wie er es sich vorgestellt hatte.

Er hielt den Atem an, weil sich etwas in seinen Lenden regte.

„Bin ich zu schwer?“

Tori wollte von ihm abrücken, aber er hielt sie zurück und nahm ihr Knie zwischen seine.

„Entspannen Sie sich. Sie tun mir nicht weh.“

Das entsprach nicht ganz der Wahrheit. Etwas tat ihm weh. Aber es waren nicht die Wunden. Es war die Anstrengung seines Körpers, gegen die wachsende Lust anzukämpfen.

Aber dann siegte sein Ehrgefühl über die Versuchung.

Sekunden später hörte er, wie sich Toris Atem beruhigte. Sie bewegte die Hüften, als wollte sie es sich bequemer machen, und die Berührung war für ihn die reinste Folter. Aber diese Art von Folter ertrug er gern.

Bis sie den Arm bewegte und zufällig über den deutlichen Beweis seiner Erregung strich.

Sie erstarrte.

Eine Sekunde später fing sein Blut wieder an, in seine Lenden zu pumpen – heiß und drängend. Ashraf musste sich extrem zusammenreißen, um die Hüfte nicht vorzuschieben, damit er ihre Hand noch einmal auf seiner Männlichkeit spürte.

„Bei mir sind Sie in Sicherheit, Tori“, stieß er hervor. „Hier wird Ihnen nichts passieren.“

Stille. Er erwartete schon, dass sie wieder von ihm abrückte.

Doch dann sagte sie nur: „Vielleicht möchte ich ja, dass mir hier bei Ihnen etwas passiert.“

2. KAPITEL

Tori war die anzügliche Bemerkung herausgerutscht, ohne vorher groß nachzudenken. Sie hörte, wie Ash den Atem laut einsog. Aber sie hatte keine Lust, sich schüchtern zu geben. Nicht, wenn dies womöglich die letzte Nacht ihres Lebens war.

Den ganzen Nachmittag hatte sie versucht, nicht darüber nachzudenken, welches Schicksal ihr drohte. Schmerz. Vergewaltigung. Sklaverei.

Vor ein paar Stunden hätte sie es noch für unmöglich gehalten, in dieser schlimmen Situation so etwas wie Verlangen zu verspüren. Aber das war gewesen, bevor die Männer Ash in die Hütte geschleift hatten. Bevor Ash und sie nach einer Fluchtmöglichkeit gesucht hatten. Bevor die tröstende Berührung seiner Hand und das Mitgefühl in seiner Stimme ihr den Eindruck vermittelt hatten, sie würden einander nahestehen. Bevor sie den Funken der Lust gespürt hatte, der sich nun langsam zu einer Flamme ausweitete.

Ihr war klar, dass das Gefühl von Verbundenheit der Situation geschuldet war. Doch das war nicht der einzige Grund. Dieser Mann hatte etwas, das sie auf einer sinnlichen Ebene ansprach.

Noch nie hatte sie sich einem Mann so nahe gefühlt.

Noch nie hatte sie ein solches Verlangen nach einem Mann gespürt.

Noch nie hatte sie so genau gewusst, was sie wollte.

„Tori?“

Seine tiefe Stimme klang geschockt. Oder war es nicht Schock, sondern Erregung, was sie darin hörte?

Verführerisch langsam ließ sie eine Hand über seinen flachen Bauch wandern, widerstand aber der Versuchung, sie weiter nach unten gleiten zu lassen. Bei der Berührung zuckten seine eisenharten Muskeln, und ein Zittern ging durch seinen starken Körper.

Toris Herz zog sich zusammen. Dieser Mann strotzte vor Lebenskraft. Und sie konnte den Gedanken nicht ertragen, dass er morgen …

Seine Finger strichen ihr eine Haarsträhne aus dem Gesicht. Dann wischte er mit dem Daumen eine Träne von ihrer Wange. Tori hatte nicht einmal gemerkt, wie sich diese aus ihrem Auge gelöst hatte.

„Ach, habibti.“

Sie hörte das Rasseln der Eisenkette, dann legte Ash einen Arm um sie und zog sie an sich. Er flüsterte etwas in seiner Sprache und drückte die Lippen auf ihre Augenlider, ihre Wange, ihr Haar.

Gierig sog Tori den Klang seiner Stimme in sich auf und genoss die zarten Berührungen. Mit geschlossenen Augen suchte sie Ashs Lippen, während sie gleichzeitig ein Bein über seine Schenkel schob.

„Tori, ich gebe dir mein Wort. Wenn es eine Chance gibt, dich zu retten …“

Sie schlug die Augen auf und legte ihm einen Finger auf die Lippen. „Psst. Reden wir nicht von morgen. Ich will nur an heute Nacht denken.“

Im Dämmerlicht sah sie das Spiel der Muskeln in seinen Wangen. Im schönen Kontrast zu seinen scharf geschnittenen Gesichtszügen waren die Konturen seiner Lippen verführerisch und weich. Aber die Falten, die sich um seine Mundwinkel gegraben hatten, deuteten darauf hin, dass ihn Sorgen umtrieben.

Tori schluckte. Auch wenn er sichtlich erregt war, hieß das nicht, dass er sie wollte. Vielleicht war es nur die unwillkürliche Reaktion seines Körpers im Angesicht der Todesgefahr. Vielleicht war dieser Mann gar verheiratet …

Sie wollte von ihm abrücken.

Seine starken Arme hielten sie fest.

„Ich …“, flüsterte sie. „Ich will …“

„Ich weiß, was du willst, habibti. Und ich will es auch. Sehr sogar.“

Seine dunkle Stimme ging ihr durch und durch. Vorfreudige Spannung ergriff von ihrem Körper Besitz. Tori spürte, wie sie ganz warm und weich wurde, und drückte das Becken gierig an seins.

Flammen schossen ihr in die Wangen, als sich zwei starke Hände fest um ihre Pobacken schlossen. Sämtliche Gedanken lösten sich auf, als das sinnliche Feuer immer stärker zu lodern begann.

„I… ich …“, stammelte sie.

Ash nahm ihr Kinn zwischen Daumen und Zeigefinger und zog ihr Gesicht zu sich herunter. „Bist du sicher, dass du es wirklich möchtest?“, fragte er, als sie ihm in die Augen schaute.

Tori wollte ihn so sehr, dass sie vor Begierde erzitterte.

„Bist du verheiratet?“ Ihre Stimme klang atemlos. „Gibt es jemanden …?“

„Nein. Bei dir?“

Sie schüttelte den Kopf.

Ash lächelte sie an, und dieses atemberaubende Lächeln trieb ihren Puls in die Höhe.

Er legte seine Hand um ihren Hinterkopf. Halb zog er sie zu sich, halb sank sie ihm entgegen, bis sich ihre Lippen zu einem Kuss fanden, der ihr jeden Zweifel nahm. Feuer breitete sich von ihren Lippen aus, hin zu ihren Brüsten und weiter bis zu ihrem Schoß.

Tori öffnete die Lippen, um seine Zunge zu begrüßen, und versuchte noch nicht einmal, ein lustvolles Stöhnen zu unterdrücken, als er in ihren Mund eindrang.

Sie küssten sich, immer gieriger, um das Feuer zwischen ihnen weiter zu entfachen. Bis seine Hand eine ihrer Brüste umfasste und Tori sich ruckartig aufrichtete. Nicht, weil sie die Berührung nicht mochte, sondern weil das Gefühl so aufregend war.

Nach Luft schnappend, legte sie den Kopf in den Nacken. Dann senkte sie ihn wieder und sah das Funkeln in Ashs Augen, die im Halbdunkeln an schwarze Obsidiane erinnerten.

Ash erstarrte. Offenbar hatte er ihre Körpersprache falsch gedeutet.

Sie konnte diesen Mann nur bewundern, der trotz seines verzweifelten Verlangens Rücksicht auf sie nahm.

Tori beugte sich nach unten, bis ihre Lippen sein Ohr berührten. „Ich will dich. Aber ich habe Angst, dir wehzutun.“

Er lachte auf. „Lass das ruhig meine Sorge sein.“

Im nächsten Moment drehte er sie auf den Rücken, nur um eine Sekunde später in der Bewegung innezuhalten. Erst jetzt fiel ihr wieder ein, dass sein Arm in der schweren Eisenkette hing.

Doch statt sich davon entmutigen zu lassen, flüsterte Ash: „Ich hab mich auch schon geschmeidiger bewegt.“

Sein trockener Humor war einmalig. Tori musste lächeln, während sie gemeinsam über den Boden rutschten, bis sie einen Platz gefunden hatten, an dem Ash beide Arme bewegen konnte.

„Besser“, flüsterte er. „Viel besser.“

Seine breiten Schultern verdeckten das hereinströmende Mondlicht, als er sich über Tori beugte und sie verlangend auf den Mund küsste. Und als alles in ihr nach mehr schrie, stützte er sich auf seinen freien Arm und suchte mit der anderen Hand nach dem Reißverschluss ihrer Hose.

„Warte. Ich mache es selbst, dann geht es schneller.“

Während er sich aus der eigenen Hose schälte, streifte Tori ihre Stiefel ab und schlüpfte aus Hose und Slip.

„Behalte die Bluse an.“ Ash drückte sie sanft nach hinten. „Sie schützt dich vor dem harten Boden.“

Sein Hemd hing ihm in Fetzen von den Schultern und enthüllte eine breite, muskulöse Brust. Gierig wanderte ihr Blick über seinen Oberkörper und blieb an der Wunde über seinen Rippen hängen. Ihr Magen verkrampfte sich.

Plötzlich dachte sie nicht mehr an Sex, sondern wieder an das Schicksal, das Ash am nächsten Morgen erwartete.

„Hast du es dir anders überlegt?“

Sie betrachtete seinen aufregenden Körper, und jeder Gedanke an Morgen verschwand.

Lebe für den Augenblick! Dieses Motto war ihr noch nie passender vorgekommen.

„Wäre es bei deinen Verletzungen nicht besser, ich würde oben liegen?“

Er lachte auf. „Wahrscheinlich. Nenne mich altmodisch, aber ich möchte zwischen deinen wunderschönen Beinen liegen, wenn ich uns beide ins Paradies führe.“

Sein Versprechen war wie Öl im Feuer ihrer Erregung. Und es loderte heiß auf, als er die Knöpfe ihrer Bluse öffnete und den Vorderverschluss ihres BHs aufriss. Dann schob er beide Hälfte zur Seite und betrachtete fast andachtsvoll ihren Körper.

Toris Herz hämmerte gegen ihre Rippen, die kalte Nachtluft strich über ihre aufgerichteten Brustwarzen, während sie sehnsüchtig darauf wartete, dass Ash den nächsten Schritt tat. Er lächelte sie an. Und sein Lächeln raubte ihr den Atem.

Langsam streichelte er ihre Brüste und ließ die rauen Hände dann über ihren Bauch und die Hüften wandern.

Einen Augenblick später legte er sich auf sie, und sie hätte beinahe lustvoll aufgeschrien, so richtig fühlte es sich an. Seine kräftigen Schenkel zwischen ihren. Seine breiten Schultern über ihr. Und diese Hitze … überall diese Hitze.

Tori hob die Knie bis auf Höhe seiner Hüfte und hörte ihn zufrieden aufstöhnen. Im nächsten Moment strich er mit seinen Händen über ihren Bauch und weiter nach unten, hin zu ihrem empfindlichsten Punkt. Als ein Finger ihre Knospe sanft umkreiste, bäumte sie sich vor Erregung auf. Ash streichelte und liebkoste sie, erst sanft, dann fester und wieder sanft, weiter und weiter und …

Sie griff nach seiner Hand und hielt sie fest. „Nein, nicht so. Ich will dich.“

Sie war so kurz davor, dass sie Angst hatte, bei der nächsten Berührung den Höhepunkt zu erreichen. Aber sie wollte mehr als nur seine Hand spüren. Sie wollte ihn in sich haben.

Ash ließ sich Zeit und betrachtete ihr Gesicht, als wollte er es sich für immer einprägen. Sein Blick wanderte über ihre Stirn, die Wangen, die Lippen. Dann strich er ihr sanft eine Haarsträhne aus dem Gesicht.

„Dein Haar ist wie Seide“, flüsterte er.

Tori hob selbst eine Hand und umfasste sein Kinn. Unter der Wärme seiner Haut spürte sie das wilde Pochen seines Blutes. Ihre Hand wanderte höher, durch das dichte Haar, das sich überraschend weich anfühlte. Als sie die unverletzte Seite seiner Kopfhaut massierte, schloss er die Augen.

Verlangend drückte er ihr den Unterkörper entgegen. Sie antwortete, indem sie das Becken hob. Seine Erektion pulsierte an ihrem Zentrum, dann drang er langsam in sie ein. Ihre Augen weiteten sich, während seine sich halb schlossen. Zentimeter um Zentimeter wagte er sich weiter vor, bis er mit einer letzten Bewegung ganz in ihr war. Ein Zittern breitete sich in Toris Mitte aus und bebte dann durch ihren ganzen Körper. Und auch seine breiten Schultern und starken Arme schienen zu zittern.

Im nächsten Moment zog er sich kurz zurück, und die Reibung war so berauschend, dass sich Tori auf die Lippe beißen musste, um nicht laut aufzustöhnen. Ash spannte das Kinn an, als hätte er Schmerzen. Aber Tori wusste, es war nur ein Zeichen, wie sehr er sich zusammenriss, um nicht die Beherrschung zu verlieren.

„Bitte.“ Sie presste die Finger in seinen Rücken. „Ich brauche dich. Jetzt.“

Ashs Mund bedeckte ihren. Mit seinen starken Arme hielt er sie fest, als er seine Zurückhaltung aufgab und hart und schnell in sie stieß, sie ganz ausfüllte, bis sie eins wurden in ihrer gemeinsamen Leidenschaft. Ihre Lust entlud sich in einem Flächenbrand, so heiß, dass die Luft um sie herum vor Hitze zu vibrieren schien.

Tori wurde von Gefühlen übermannt, die so intensiv waren, dass sie sie nicht hätte in Worte fassen können.

Die Welt erbebte. Ihre Sinne explodierten. Das Blut rauschte in ihren Ohren. Und die ganze Zeit blieben sie vereint, ihre Lippen und Körper wie miteinander verschmolzen.

Als die Vernunft langsam wieder Einzug hielt, rollte Ash sich auf den Rücken und zog Tori mit sich, die noch immer von den abklingenden Wellen ihres Höhepunkts geschüttelt wurde.

Ein rauer Schmerzensschrei erinnerte sie an Ashs Verletzungen. Sofort wollte sie sich aus seiner Umarmung lösen, um ihn von ihrem Gewicht zu befreien.

„Bleib“, befahl er heiser, und sie konnte der Aufforderung nicht widerstehen.

Sie küsste ihn auf die Stelle, wo sein Hals in die Schultern überging. Er erzitterte und zog sie fester in seine Arme.

Nie zuvor hatte Tori sich mit einem Mann derart verbunden gefühlt. Gemeinsam hatten sie sich der Lust hingegeben, aber da war noch mehr. Etwas Unerklärliches, das ihre Sinne erfüllte.

Sie schmiegte den Kopf an seine Brust und lauschte dem beruhigenden Pochen seines Herzens. Sie wartete, bis sich ihr Puls einigermaßen beruhigt hatte. Und versuchte zu ergründen, warum sie sich mit einem Mal so verändert fühlte. Doch sie konnte den Grund beim besten Willen nicht benennen.

Und das war für Stunden ihr letzter vernünftiger Gedanke.

„Tori.“

Die tiefe Stimme drang verführerisch an ihr Ohr. Ash strich über ihren Körper, und Tori streckte sich ihm entgegen.

Verdutzt hielt sie in der Bewegung inne. Er streichelte sie nicht, er …

„Du musst aufwachen.“ Er war dabei, die Knöpfe ihrer Bluse zu schließen.

„Ash?“ Als sie die Augen öffnete, sah sie blasses Tageslicht durch das Fenster oben in der Wand hereinfallen.

Er hatte sich bereits angezogen und das zerrissene Hemd so gut es ging in die staubige Hose gesteckt. Doch dann fiel Tori wieder ein, dass sie sich wegen der Kälte noch in der Nacht angezogen hatten.

Jetzt stieg eine Kälte in ihr hoch, die nicht von der Temperatur herrührte. Im Tageslicht sah sie Ash deutlicher als in der Nacht. Seine Gesichtszüge waren sehr markant. Ein ausgesprochen attraktiver Mann. Jede Frau hätte sich nach ihm umgeblickt. Aber Tori sah auch das getrocknete Blut in seinen Haaren. Auch auf seiner Kleidung waren dunkelrote Flecken, und die Eisenkette um sein Handgelenk wirkte unglaublich schwer.

Die grausame Realität traf sie mit voller Wucht. Übelkeit stieg in ihr hoch. Ihr Puls beschleunigte panisch. Nachts, in Ashs Armen, hatte sie die drohende Gefahr ganz vergessen. Jetzt wurde sie ihr nur allzu deutlich bewusst.

Tori griff nach seiner Hand, und er schaute ihr in die Augen, bevor er ihre Hände in seine nahm. Langsam, als hätte er alle Zeit der Welt, hob er ihre linke Handfläche an seine Lippen und drückte einen warmen Kuss darauf. Er wiederholte die Geste mit der Rechten. Ein Prickeln wanderte über ihre Brüste und hinunter zu ihrer Mitte.

Ash flüsterte ein paar Worte an ihrer Hand, die sie nicht verstand. Aber das Leuchten in seinen Augen brauchte keine Sprache.

„Danke, habibti.“ Er senkte den Kopf. „Du hast mir letzte Nacht eine große Ehre erwiesen. Dieses Geschenk werde ich immer bei mir tragen.“

Tori wollte etwas erwidern, als sich seine Miene verhärtete. Er riss den Kopf in Richtung Tür herum, als hätte er draußen ein Geräusch gehört.

„Schnell.“ Er hob ihre Stiefel auf und half ihr dabei, sie anzuziehen.

„Was ist denn?“

Aber im selben Moment hörte sie schon Schritte und Stimmen vor der Tür.

„Denk immer an meinen Rat“, sagte er schnell. „Wehre dich nicht, solange du nicht mit einem von ihnen alleine bist. Dann hast du eine bessere Chance.“

Tori nickte. „Du …?“ Sie konnte nicht weitersprechen, weil sich ihre Kehle zuschnürte.

„Mir passiert schon nichts. Jetzt, wo die Sonne aufgegangen ist, wird der Suchtrupp die Hütte bald finden.“

Keiner von ihnen sprach aus, dass der Suchtrupp vielleicht zu spät eintreffen würde.

Die Stimmen draußen wurden lauter. Ash nahm ihre Hände noch einmal fest in seine. „Wenn du entkommst“, flüsterte er, „dann versuche, die Straße wiederzufinden und …“

Weiter kam er nicht, weil im selben Moment die Tür aufgerissen wurde. Tori blinzelte gegen das grelle Tageslicht an und spürte, wie Ash ihre Hände losließ. Kampfbereit baute er sich vor den drei Männern auf.

Was dann geschah, war wie ein furchtbarer Alptraum. Brutal wurde Tori an den Armen hochgezogen. Jemand verpasste ihr eine Ohrfeige, als sie versuchte, sich loszureißen. Noch schlimmer aber war, mit ansehen zu müssen, wie Ash vergeblich versuchte, den Mann von ihr wegzuzerren. Im nächsten Moment waren die beiden anderen Entführer über ihm. Da er mit der Eisenkette gefesselt war, gelang es ihnen, Ash unter massivem Einsatz heftiger Schläge auf seinen verletzten Kopf und den Brustkorb zu überwältigen.

Tori sah nur noch, wie er auf die Knie sank und zur Seite fiel, während frisches Blut aus seinen Wunden lief und den schmutzigen Boden rot färbte.

Dann wurde sie in die kalte Morgenluft gezerrt und hatte noch lange den metallischen Geruch des Bluts in der Nase.

3. KAPITEL

Tori starrte auf den Computer und wünschte sich, ihre Konzentrationsschwäche läge nur an einem nachmittäglichen Tief. Sie drückte die Schultern durch, lehnte sich im Stuhl zurück und schaute durch das Fenster auf den in der Sonne glitzernden Swan River.

Der Umzug von Sydney nach Perth war ihr nicht leichtgefallen. Sie hatte sich ein neues Zuhause, einen neuen Job, neue Freunde suchen, sich im Prinzip ein völlig neues Leben aufbauen müssen. Und das, obwohl sie die traumatischen Erlebnisse in Za’daq noch immer nicht ganz verdaut hatte.

Hätte ihr Vater ihr bloß ein wenig unter die Arme gegriffen, hätte sie in Sydney bleiben können. War eine Familie nicht da, um einen in schweren Zeiten zu unterstützen?

Bei dem Gedanken an die letzte Begegnung mit ihrem Vater lief Tori ein Schauer über den Rücken. Dass er sich nicht um sie kümmerte, war keine Überraschung gewesen, im Gegenteil. Sie hatte nichts anderes erwartet. Aber dass er sie nach allem, was sie durchgemacht hatte, auch noch mit kalter Verachtung strafte, ließ sie ihre Mutter, die sie immer liebevoll unterstützt hatte, noch mehr vermissen als ohnehin schon. In ihrer momentanen Situation hätte Tori auch nur einen Hauch von der bedingungslosen Liebe, die vor Jahren mit ihrer Mutter gestorben war, gebrauchen können.

Doch die Wut auf ihren Vater war nicht der einzige Grund, warum sie sich nicht konzentrieren konnte. Und es lag auch nicht daran, dass ihr Schlaf in der letzten Nacht oft unterbrochen worden war. Inzwischen hatte sie sich an die andauernde Müdigkeit gewöhnt.

Nein, es lag am Datum. Auf den Tag genau vor fünfzehn Monaten war sie in Za’daq entführt worden.

Sie war die Letzte in dem geologischen Camp an der Grenze zwischen Za’daq und Assara gewesen und hatte eigentlich am nächsten Morgen aufbrechen wollen. Ihre Kollegen waren schon abgereist, doch sie hatte am Vortag eine Gesteinsprobe entnommen, die auf Diamantenvorkommen in der Gegend schließen ließ, und ihren Fund noch einmal überprüfen wollen.

Dann war sie plötzlich von bewaffneten Männern umzingelt gewesen.

Es war fünfzehn Monate her, seit sie Ash zuletzt gesehen hatte.

Fünfzehn Monate, seit das Rattern von Schüssen durch die Wüste gehallt war.

Dieses Geräusch würde sie niemals vergessen.

Ebenso wie das höhnische Gelächter des Entführers, der sie aus der Hütte und zu einem Bergpfad geschleift hatte, während seine Kollegen sich Ash vorgenommen hatten.

Es war derselbe Mann gewesen, den Ash angegriffen hatte, weil er sie vom Boden hochgerissen und eine Hand unter ihre Bluse geschoben hatte. Als die Schüsse aus dem Lager der Banditen ertönten, hatte der Mann gelacht und mit der Hand eine eindeutige Geste über seiner Kehle gemacht. Er hatte ein paar Wörter ausgespuckt, die Tori zwar nicht verstanden hatte, deren Bedeutung ihr aber nur allzu klar gewesen war.

Ash war tot.

Selbst jetzt noch wurde ihr bei dem Gedanken übel. Sie atmete tief durch und wandte sich wieder der Tabelle auf ihrem Tablet zu.

Sie hatte gerade eine nicht ganz stimmige Zahl darin entdeckt, als der beißende Geruch eines übertrieben aufgetragenen Aftershaves an ihre Nase drang.

„Mal wieder fleißig, Victoria? Schön, dass du in der Zeit, die du tatsächlich im Büro verbringst, so eifrig bist.“

Tori unterdrückte einen Seufzer. Es war ihr Kollege Steve Bates, der nicht müde wurde, darauf herumzuhacken, dass sie als Einzige aus dem Team nur halbtags arbeitete. Aber das hielt ihn nie davon ab, sie anzusehen, als könnte sein Röntgenblick durch ihre Kleidung dringen.

Sie musste ihn unbedingt zur Rede stellen. Aber heute war sie für eine Auseinandersetzung viel zu niedergeschlagen. Außerdem hatte sie weit Schlimmeres überlebt, als Steve sich in seiner Hinterhältigkeit jemals ausdenken konnte.

Der Gedanke gab ihr neue Kraft.

Sie wirbelte auf ihrem Stuhl herum. Wie immer gaffte er ihren Körper unverhohlen an. Sie richtete sich auf ihrem Stuhl auf, und sein Blick wanderte nach oben.

„Bist du wegen der Tabelle hier? Ich muss noch einmal nachrechnen, aber dann …“

Mit einer abschätzigen Geste schnitt er ihr das Wort ab. „Deswegen bin ich nicht hier.“ Sein Röntgenblick konzentrierte sich auf ihr Gesicht. „Du steckst wohl voller Überraschungen, was?“

Tori runzelte die Stirn. „Wie bitte?“

Steve grinste. „Hatte ja keine Ahnung, dass du über so gute Beziehungen verfügst. Kein Wunder, dass der Boss dich unbedingt einstellen wollte. Aber am Ende geht es ja immer nur darum, wen man kennt, und nicht darum, ob man gute Arbeit abliefert.“

„Soll ich dir mal was verraten?“ Wütend sprang sie vom Stuhl auf. Sie konnte es nicht leiden, wenn Leute ihr unterstellten, sie würde ihren beruflichen Erfolg nur dem Einfluss ihres Vaters verdanken. „Ich habe den Job bekommen, weil ich ihn verdiene. So einfach ist das.“

Die Vorstellung, ihr Vater hätte sich für sie eingesetzt, war lächerlich. In der Öffentlichkeit mochte Jack Nilsson behaupten, dass er die Karriere seiner Tochter guthieß. Aber sich für sie einsetzen? Das kam nur infrage, wenn er sich davon ein positives Echo in den Medien versprach.

„Na, wenn du das sagst …“ Steve hob abwehrend die Hände, grinste sie aber immer noch wissend an.

Tori zwang sich zu einem sachlichen Tonfall. „War sonst was Wichtiges? Oder bist du nur vorbeigekommen, um ein kleines Schwätzchen zu halten?“

Er ließ den Blick durch das leere Großraumbüro schweifen. „Du wirst im großen Konferenzraum erwartet.“ Seine Stimme klang schneidend. „Sofort.“

Damit drehte er sich um und verschwand. Tori runzelte die Stirn. Sie hatte keine Ahnung, wer sie sprechen wollte. Es fand auch kein größeres Meeting statt.

Sie strich sich das Haar glatt und steckte ihr Handy ein, bevor sie die Tabelle auf ihrem Tablet abspeicherte und das Gerät in die Handtasche steckte. Nachdem sie einmal tief Luft geholt hatte, ging sie zum Fahrstuhl und drückte auf den Knopf.

In der Etage mit den Konferenzsälen stieg sie aus. Die Firma, für die sie arbeitete, gehörte zu den angesehensten in der Branche, und die Chefetage war ein Traum aus flauschigen Teppichen, teuren Kunstwerken und edler Holzverschalung.

Ein junger Mann im Nadelstreifenanzug trat auf sie zu.

„Miss Nilsson?“, fragte er höflich.

„Ja. Mir wurde gesagt, ich soll in den großen Konferenzsaal kommen …“

„Ja, bitte folgen Sie mir.“

Der Mann führte sie an einem großen Fenster mit Panoramablick vorbei zu einer breiten Doppeltür, vor der ein anderer Mann in schwarzem Anzug postierte. Die Hände vor dem Bauch gefaltet, stand er leicht breitbeinig da.

Ein Bodyguard. Tori hatte genügend von ihnen gesehen, um sie an der Haltung zu erkennen.

Nervös umklammerte sie ihre Handtasche. Es war ungewöhnlich, dass einer der Vorstandsvorsitzenden einen Bodyguard mitbrachte. Doch dann fiel ihr wieder ein, was Steve gesagt hatte: Aber am Ende geht es ja immer nur darum, wen man kennt.

Das konnte nur bedeuten, dass ihr Vater im Konferenzraum saß. Aber warum hatte er einen Bodyguard dabei? Und warum hatte er sie nicht informiert, dass er nach Perth kommen wollte?

„Wenn Sie bitte eintreten wollen, Miss Nilsson.“ Ihr Begleiter öffnete die rechte Tür.

Sie folgte der Aufforderung. Es gab kein Meeting. Am langen Tisch saß niemand.

Tori blinzelte und wollte den Raum gerade wieder verlassen, als sich im hinteren Teil ein Schatten von der Wand löste.

Ein Mann. Groß, breite Schultern, kerzengerade Haltung. Er trat mit dem Rücken vor das große Fenster, und Tori konnte im Gegenlicht nur die Silhouette erkennen. Langsam kam er auf sie zu. Irgendetwas an ihm wirkte vertraut.

Tori beschlich eine Vorahnung. Eine wachsende Gewissheit, dass sie den Mann kannte.

Sie wollte etwas zur Begrüßung sagen, aber dann war er plötzlich so nah, dass sie seine Gesichtszüge erkennen konnte. Ihr stockte der Atem.

Bronzefarbene Haut spannte sich über hohe Wangenknochen. Sinnliche Lippen saßen über einem markanten Kinn. Die Augen waren tiefschwarz. Eine klassisch gebogene Nase, die dem Ideal eines schönen Männergesichts einen Ausdruck von Macht verlieh. Und das volle kohlrabenschwarze Haar war wunderbar weich, wie Tori aus eigener Erfahrung wusste.

Während die Erinnerungen auf sie einprasselten, zuckten ihre Hände vor Verlangen, dieses Haar zu berühren.

Hitze durchströmte sie, als sie in die glühenden Augen schaute, und ihr Puls begann zu rasen. Doch dann lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken, weil andere Erinnerungen sie heimsuchten.

Die Entführer. Schüsse.

Ihre Augen fingen an zu brennen, und sie blinzelte gegen aufsteigende Tränen an. Der Boden schien zu beben, es war, als würden die Wände sich auf den Mann zubewegen, der sie intensiv musterte. Tori griff nach der Lehne eines Ledersessels und hielt sich stützend daran fest.

In seinem Gesicht waren keine Narben zu erkennen. Nichts deutete darauf hin, dass man ihn brutal zusammengeschlagen oder auf ihn geschossen hatte. Er trug einen grauen Anzug, der die Hand eines geübten Schneiders verriet. Das weiße Hemd bildete einen schönen Kontrast zu der braun gebrannten Haut, die perfekt gebundene Seidenkrawatte rundete das Bild weltmännischer Gewandtheit ab.

Es konnte unmöglich Ash sein. Und doch …

„Ich dachte, du wärst tot.“

Seine Augen weiteten sich, und ein irritierter Ausdruck wanderte über sein Gesicht.

„Ah, das erklärt einiges.“

Diese Stimme! So tief und weich wie Samt. Tori konnte sich gut an sie erinnern. Wie oft war sie aus einem Alptraum oder einer ihrer seltenen erotischen Fantasien erwacht und hatte seine Stimme in ihrem Kopf gehört?

„Bist du es wirklich?“

Sie wollte ihn berühren. Wollte sich vergewissern, dass ihr der Verstand keinen Streich spielte. Aber ihre Arme und Beine fühlten sich an wie aus Stein. Sie konnte nichts anderes tun, als ihn anzustarren.

„Ja, ich bin es, Tori.“

Ashraf schaute in ihr schönes Gesicht und spürte, wie eine Welle von Emotionen durch ihn ging.

So lange hatte er nach ihr gesucht und auch nicht aufgegeben, als ihm die Privatdetektive dazu geraten hatten. Er konnte sich genau an den Moment erinnern, als er erfahren hatte, dass sie noch lebte. Er war so erleichtert gewesen, dass es ihm für einen Augenblick den Atem geraubt hatte.

Eigentlich war er auf das Wiedersehen gut vorbereitet gewesen. Doch die Erinnerung reichte an die Wirklichkeit bei Weitem nicht heran.

Tori leibhaftig vor sich zu sehen, brachte ihn gehörig durcheinander.

Vielleicht lag es an ihren Augen. All die Monate hatte er sich gefragt, welche Farbe sie haben mochten. Jetzt wusste er es. Hellblau. Wie die zarten Wildblumen, die in den Tälern von Za’daq blühten. Ihre Augen hielten seinem Blick stand, und Ashraf spürte, wie sich seine Lenden vor Begierde regten.

In Za’daq hatte er Tori für ihren Mut und ihre Stärke bewundert. Nicht eine Sekunde hatte sie sich von ihrer Panik überwältigen lassen. Und sie hatte ihm mit ihrem herrlichen Körper Trost gespendet.

Aber er hatte nicht damit gerechnet, dass er nach der langen Zeit so intensiv auf ihre Gegenwart reagieren würde. Denn damals hatte er geglaubt, die Anziehungskraft sei nur der drohenden Todesgefahr geschuldet gewesen.

Ashraf merkte, wie sein Herzschlag sich beschleunigte. Er wollte sie berühren. Und noch mehr. Er wollte sie …

Schnell verdrängte er den Gedanken. Schließlich war er aus einem wichtigen Grund hergekommen. Er wollte Tori endlich so beschützen, wie er es vor fünfzehn Monaten nicht vermocht hatte.

Sein schlechtes Gewissen meldete sich zurück. Aber dieses Mal mischten sich andere Gefühle darunter. Begehren. Der Wunsch, sie ganz für sich zu haben …

Ashraf schob die geballten Hände in seine Hosentaschen.

„Bitte setz dich. Du stehst unter Schock.“ Er nickte in Richtung des Ledersessels, auf den sie sich stützte. Tori folgte der Aufforderung und blickte zu ihm hoch.

Sie sah aus wie auf den Fotos, die ihm die Privatdetektive geschickt hatten. Und doch anders.

Ebenmäßige Gesichtszüge. Schöne Lippen. Noch schönere Augen. Selbst der leichte Anflug von Müdigkeit schmälerte ihre Attraktivität nicht. Das platinblonde Haar, an das er sich so gut erinnerte, war zu einem eleganten Knoten hochgesteckt, sodass ihre herrlichen Wangenknochen noch besser zur Geltung kamen. Bei dieser Frau hätte jeder Mann zweimal hingeschaut.

Selbst in schlichter weißer Bluse und schwarzer Hose sah Tori Nilsson umwerfen aus.

Einen kurzen Moment lang blieb sein Blick an ihren Brüsten hängen, die sich unter der Bluse hoben und senkten. Sie wirkten runder, als er sie in Erinnerung hatte …

„Würdest du dich bitte hinsetzen, statt von oben auf mich herabzuschauen?“

Ashraf musste ein Lachen unterdrücken. Das war die Frau aus seiner Erinnerung. Unerschütterlich und pragmatisch.

Er zog einen Stuhl heran und setzte sich vor sie, sodass sich ihre Knie fast berührten.

„Du bist es wirklich.“

Schlanke Finger strichen zitternd über seine Wange.

„Ja.“ Er nahm ihre Hand, spürte den schnellen Pulsschlag im Handgelenk. Und er nahm ihren Duft wahr. Süß und betörend. In Gedanken wanderte er in jene Nacht zurück, als sie zusammen in der Hütte gefangen gewesen waren. Wieder dachte er daran, wie nah sie dem Tod gewesen waren, und wie er in den Armen dieser Frau die Gefahr vergessen hatte.

Er ließ Toris Hand los und strich über ihre Wange. Die samtweiche Haut erzitterte unter der Berührung und sorgte dafür, dass sein Blut in Wallung geriet.

Aber er war nicht wegen Sex hier.

Ashraf ließ die Hand sinken und lehnte sich auf seinem Stuhl zurück.

„Wie bist du entkommen? Ich hatte Schüsse gehört. Und dachte …“ Tori hörte das Beben in ihrer Stimme und biss sich auf die Unterlippe. Dass sie Ash wiedersah, war ein Wunder.

„Du hast geglaubt, sie hätten mich erschossen?“ Er zog die Augenbrauen hoch und nickte dann. „Was du gehört hast, waren meine Sicherheitsleute. Sie haben das Versteck der Banditen gestürmt. Qadri, der Anführer, war gerade angekommen. Er wurde beim Angriff getötet, ebenso ein paar seiner Leute. Die anderen sitzen im Gefängnis.“

„I… ich dachte, du bist tot. Ich …“ Ungläubig starrte sie ihn an. „Was machst du hier? Ist das ein Zufall?“

„Nein, Tori. Ich habe seit Monaten nach dir gesucht.“ Seine tiefe Stimme hatte eine beruhigende Wirkung.

„Wirklich?“

„Natürlich! Hast du gedacht, ich hätte dich vergessen und dich deinem Schicksal überlassen?“

„Aber es ist fünfzehn Monate her!“

„Es tut mir leid, dass es so lange gedauert hat.“ Ash schüttelte den Kopf. Tori begriff, dass er wirklich geglaubt hatte, die Entführer hätten sie in die Sklaverei verkauft.

Sie legte die Hand über seine Faust auf seinem Schenkel. „Das sollte kein Vorwurf sein. Ich bin nur so … überrascht.“ Nicht einmal im Traum hätte sie damit gerechnet, ihn jemals wiederzusehen. „Wie hast du mich gefunden?“

Er zuckte die Achseln. „Mithilfe von Privatdetektiven, Ausdauer und einer Menge Glück.“

Privatdetektive, die fünfzehn Monate nach ihr gesucht hatten? Das musste ein Vermögen gekostet haben.

Ihr Blick wanderte über den wunderschön gearbeiteten Anzug. Ash war nicht übertrieben kostspielig angezogen, aber er verströmte eine Aura des Wohlstands und der Macht.

„Ganz einfach war die Suche nicht“, gestand er nach kurzem Schweigen. „Wie bist du entkommen? Meine Leute haben Za’daq und das Grenzgebiet zu Assara abgesucht. Keine Spur von dir.“

Meine Leute. Er sagte es so, als hätte er eine eigene Armee.

Erst in diesem Moment ging Tori auf, dass sie immer noch die Hand auf seiner liegen hatte. Schnell zog sie sie weg – und redete sich ein, dass das plötzliche Aufwallen von Hitze nichts mit der Berührung zu tun hatte.

Aber dass er sie monatelang gesucht hatte, öffnete eine Tür in ihrem Herzen, die seit der schrecklichen Entführung fest verschlossen gewesen war. Und beim Blick in seine dunklen Augen wurde ihr ganz komisch zumute. Tief atmete sie ein.

„Tori?“

Sie schüttelte den Kopf. „Verzeihung. Ich war einen Moment in Gedanken. Ich … ich bin immer noch ziemlich durcheinander.“

„Willst du mir erzählen, wie du den Entführern entkommen bist? Wenn du nicht möchtest, habe ich dafür auch Verständnis.“

„Wir sind zu dritt von dem Versteck weggeritten“, begann sie nach kurzem Zögern. „Ich, der Mann, der dich niedergeschlagen hatte, und ein Junge, vielleicht vierzehn Jahre alt. Als wir die Schüsse hörten, hat der Mann gejubelt.“ Tori musste schlucken, weil sie an das Entsetzen über die Freude des Mannes zurückdachte. „Als aber weitere Schüsse fielen, hat er etwas zu dem Jungen gesagt und ist zurückgeritten.“

„Wahrscheinlich ist ihm klar geworden, dass für eine Hinrichtung zu viele Schüsse gefallen waren.“

Tori nickte langsam. Daran hatte sie nie gedacht. Stattdessen hatte sie geglaubt, das Erschießungskommando hätte zur Feier seiner „Heldentat“ ein paar Schüsse in den Himmel abgefeuert.

„Der Junge und ich sind weitergeritten, aber er bekam es mit der Angst zu tun. Vielleicht hat er auch ein paar Brocken Englisch verstanden. Ich hab ihm nämlich gedroht, was man mit ihm machen würde, wenn man ihn erwischt. Vielleicht habe ich dabei etwas übertrieben, aber …“

„Gute Idee.“ Ash warf ihr einen anerkennenden Blick zu.

„Was hatte ich schon zu verlieren? Außerdem hatte ich ebenfalls Angst.“

Das war eine ziemliche Untertreibung. Sie hatte Todesangst ausgestanden.

„Was ist dann passiert?“

Sie spreizte die Hände. „Mich zu befreien, war nicht schwer. Erst später ist mir aufgegangen, dass er mich absichtlich hat entkommen lassen.“

Ash nickte. „Wahrscheinlich ist ihm klar geworden, dass irgendetwas schiefgelaufen war und er richtig Ärger kriegen würde, wenn man ihn mit dir erwischt.“

„Bei einer Rast bin ich weggelaufen. Das Seil, mit dem sie mich gefesselt hatten, saß ein bisschen locker, und irgendwann hatte ich es abgestreift. Zuerst hatte ich Angst, er würde mich verfolgen, aber ich habe ihn nie wiedergesehen.“

Schweigen trat ein.

Tori ballte die Hände zu Fäusten und öffnete sie wieder. „Irgendwann habe ich im Sand Reifenspuren entdeckt. Ein ausländisches Ehepaar hatte mit einem Jeep einen Ausflug in die Wüste gemacht und befand sich auf dem Rückweg zu seiner Jacht. Sie haben mich mitgenommen und zur nächsten Insel gebracht. Dort habe ich dann bei der australischen Botschaft angerufen.“

„Du bist von Za’daq über die Grenze nach Assara gekommen“, sagte Ash. „Es hat eine Ewigkeit gedauert, bis wir einen Zeugen gefunden haben. Ein Mann hatte gehört, dass wir nach dir suchen. Ein Fischer, der gesehen hat, wie drei Fremde in einer einsamen Bucht auf einer Jacht davongesegelt sind.“

„Und durch diese vage Auskunft hast du mich hier aufgespürt?“ Es war wirklich erstaunlich, wie viel Glück sie gehabt hatte.

„Der Fischer hat die Jacht ziemlich gut beschrieben, und wir konnten ihren Kurs nachverfolgen. Auf der Insel hat jemand mit angehört, wie du telefoniert hast. Es war ziemlich leicht, herauszufinden, dass du dich an die australische Botschaft gewandt hast. Danach war es ein Kinderspiel.“

„Ich freue mich sehr, dass du mich gefunden hast“, sagte sie aufrichtig.

„Ich mich auch, Tori.“ Er schaute sie durchdringend an.

Sein Blick machte sie nervös. Je länger sie vor ihm saß, umso klarer wurde ihr, wie wenig sie über ihn wusste. Es schien Lichtjahre her zu sein, dass sie in der Hütte Lust und Leidenschaft geteilt hatten.

Sie konnte sich nicht mal mehr vorstellen, wie …

Nein, das stimmte nicht. Sie konnte sich nur zu gut vorstellen, wie es gewesen war. Und wie es sein würde, wenn sie der Versuchung erneut nachgab. Bei der Erkenntnis stieg Hitze in ihr hoch.

Aber das war nicht der Grund, warum sich ihre Nerven immer stärker anspannten. Sie hatte nämlich keine Ahnung, wie er reagieren würde, wenn sie ihm erzählte, was er wissen musste.

Sie benetzte die Lippen, suchte nach den richtigen Worten. Aber Ash kam ihr zuvor.

„Also, Tori. Oder soll ich lieber Victoria sagen?“ Er lehnte sich vor, und seine nachtschwarzen Augen durchbohrten sie förmlich. „Willst du mir nicht endlich von meinem Sohn erzählen?“

4. KAPITEL

Falls Ashraf noch irgendwelche Zweifel gehabt hatte, ob das Kind wirklich von ihm war, dann wurden sie durch Toris Reaktion endgültig ausgelöscht.

Die Röte in ihrem Gesicht verschwand, ihre Wangen wurden bleich. Sie sog die Luft scharf ein. Das Geräusch füllte die Stille im Raum.

Seine Privatdetektive hatten eine Mappe zu Victoria Miranda Nilsson angelegt. Darin war auch ein Foto von Tori, wie sie ein Baby mit dunklem Haar und schwarzen Augen auf dem Arm trug.

Jetzt war Ashraf sich ganz sicher. Es war sein Kind.

Adrenalin rauschte durch seine Adern. Er musste sich extrem zusammenreißen, um nicht aufzuspringen und durchs Zimmer zu tigern. Aber er hatte schon in der Kindheit gelernt, seine Gefühle zu beherrschen. Das hatte ihm sein strenger Vater eingebläut.

Aber jetzt war nicht der richtige Zeitpunkt, um an seinen Vater zu denken. Jetzt war er selbst Vater.

„Ich wollte es dir gerade erzählen, Ash. Aber ich war einfach …“ Sie hob die Hände.

Er hatte gedacht, sie hätte ihm absichtlich die Neuigkeit vorenthalten, dass sie ein Kind von ihm hatte. Wie sehr er sich doch geirrt hatte.

Er war froh, dass sich der erste Eindruck, den er damals von ihr gewonnen hatte, letztendlich doch bestätigt hatte. Er hatte Tori für mutig und ehrlich gehalten. Und er hatte sich gewundert, warum sie ihn nicht von der Geburt des Kindes in Kenntnis gesetzt hatte. Jetzt kannte er den Grund.

„Du stehst noch unter Schock. Weil du mich für tot gehalten hast.“

„Ja“, erwiderte sie schwach.

„Ich glaube dir.“

„Aber?“

Ashraf hob die Hände. „Wegen meines Jobs bin ich oft im Fernsehen zu sehen. Und ich hatte gedacht, du hättest mich dort irgendwann sicher entdeckt.“

„Dann musst du ein wichtiger Mann sein.“

Als er nur mit den Achseln zuckte, lachte sie auf.

„Mein Vater ist Politiker“, erklärte sie dann. „Weil bei uns zu Hause immer nur über Politik geredet wurde, schaue ich mir keine Nachrichten an. Vor allem keine aus Za’daq.“ Sie machte eine ausladende Geste. „Nach allem, was dort passiert ist, konnte ich Nachrichten aus diesem Teil der Welt nicht mehr ertragen.“

Erst jetzt sah er es in ihren Augen. Das Trauma der Entführung hatte bei ihr Narben hinterlassen.

Er nahm Toris Hand und drückte sie.

„Außerdem gibt es für frisch gebackene Mütter Wichtigeres, als Nachrichten zum Weltgeschehen zu verfolgen.“

Das Baby. Sein Baby. Das stand für sie an erster Stelle.

Und so würde es ab sofort auch für ihn sein. Er würde alle Hebel in Bewegung setzen, damit sein Sohn das Leben führen konnte, das er verdiente.

„Erzähl mir von ihm.“

Tori schaute auf ihre Hand in seiner und wieder hoch. „Er ist das Wichtigste in meinem Leben.“

„Und das wird er in meinem auch sein“, versprach er.

Etwas funkelte in ihren Augen. War es Angst?

Dann blickte sie auf den Boden. Zog die Hand aus seiner, platzierte sie in ihrem Schoß und legte die andere schützend darüber.

Tori schaute in seine glühenden Augen, und ihr Herz setzte einen Schlag aus. Seit Monaten hatte sie sich gefragt, wie es wohl gewesen wäre, wenn Ash nicht ermordet worden wäre. Wenn er während der Schwangerschaft und der Geburt von Oliver an ihrer Seite gewesen wäre. Jedes Mal, wenn ihr alles über den Kopf gewachsen war, hatte sie in diesem Gedanken Zuflucht gesucht.

Jetzt musste sie feststellen, dass ihre Fantasien nicht an die Wirklichkeit heranreichten. Ihr Körper reagierte allein schon auf seine Nähe. Aber sie musste einen kühlen Kopf bewahren. Ash war nicht die Verkörperung ihrer Tagträume, sondern ein Mann mit eigenen Plänen.

Tori hatte das Gefühl, nicht genug Luft zu bekommen, und senkte den Blick.

Fünfzehn Monate zuvor hatte Ash bereits diese Wirkung auf sie gehabt – er hatte ihr den Atem geraubt und die Sinne. Jetzt machte er dasselbe mit ihr, ohne sie dafür auch nur berühren zu müssen.

Sie steckte in der Klemme. Wenn sie eins in jener kurzen Nacht über ihn gelernt hatte, dann das: Sobald er sich etwas in den Kopf setzte, gab er alles, um sein Ziel zu erreichen.

Und jetzt würde er Anspruch auf seinen Sohn erheben.

Auf ihren Sohn.

Würde er von ihr erwarten, dass sie Oliver aufgab? Sie wusste wenig über die Kultur des Nahen Ostens, vermutete aber, dass Väter dort mehr Macht über die Kinder hatten als Mütter.

Tief atmete sie durch. Ihre Panik war übertrieben. Ash war kein Tyrann. Er war …

Tori hatte keine Ahnung, wer er war.

„Du möchtest ihn sicher kennenlernen.“

Als sie es aussprach, hatte sie das Gefühl, einen Drahtseilakt zu vollführen. Ein falscher Schritt, und sie würde ins Bodenlose fallen.

Er senkte den Kopf. „Natürlich.“

„Deshalb bist du hier.“

Weshalb auch sonst? Wenn er Privatdetektive mit der Suche nach ihr beauftragt hatte, dann hatte er erfahren, dass sie mit einem Baby nach Perth gezogen war.

Tori schlang die Arme schützend um ihren Oberkörper.

Ash zog eine Augenbraue hoch. „Ich habe nach dir gesucht, Tori. Und als ich erfahren habe, dass du neun Monate nach unserer gemeinsamen Nacht ein Kind zur Welt gebracht hast …“ Seine breiten Schultern hoben sich. „Da wollte ich mich natürlich selbst vergewissern. Und eine Erklärung von dir hören.“

Eine Erklärung? Als hätte sie etwas verbrochen – ihm das Kind mutwillig vorenthalten. War er hier, um sie deswegen zu bestrafen? Indem er ihr Oliver wegnahm?

Nein, die Vermutung war aus der Luft gegriffen. Der Ash, den sie vor fünfzehn Monaten kennengelernt hatte, war ein Ehrenmann gewesen. Bei dem Gedanken legte sich ihre nervöse Anspannung ein wenig.

„Hätte ich gewusst, dass du noch am Leben bist, hätte ich Kontakt zu dir aufgenommen und dir von Olivers Geburt erzählt.“

„Oliver …“ Er sprach den Namen langsam auf, als würde er auf der Zunge den Geschmack spüren wollen.

„Oliver Ashal Nilsson.“

„Ashal?“ Er zog beide Augenbrauen hoch. „Ein arabischer Name?“

„Ja, ich wollte …“ Sie blickte auf ihre Hände im Schoß. „Ich wollte ihm etwas von dir mitgeben. Deshalb habe ich einen Zweitnamen ausgesucht, der ähnlich klingt wie deiner.“

Als sie aufsah, merkte sie, wie er schluckte. Bildete sie es sich ein oder rührte ihn die Namenswahl?

„Ein schöner Name“, sagte er langsam. „Und es war sehr nett von dir, ihm einen Namen zu geben, der meine Herkunft würdigt.“

Etwas ging zwischen ihnen hin und her. Eine Art gegenseitiges Verständnis, wie es Eltern aufbringen, wenn sie über ihre Kinder reden. Das Gefühl wirkte beruhigend auf Tori.

„Und wie heißt du wirklich? Ash? Oder ist das eine Abkürzung?“

„Eine Abkürzung für Ashraf.“

„Ashraf“, wiederholte sie. Der Klang gefiel ihr.

„Ashraf ibn Kahul al Rashid.“

Er musterte sie, als würde er eine Reaktion erwarten. Und Tori hatte den Eindruck, den Namen tatsächlich schon einmal gehört zu haben, wusste aber nicht, in welchem Zusammenhang.

Weil sie nur nickte, fügte er hinzu: „Der Scheich von Za’daq.“

„Scheich?“ Gab es die nicht nur in Romanen?

„König. Herrscher. Wenn du so willst …“

Toris Mund wurde trocken. Sie schluckte und leckte sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. „Du bist der Herrscher von Za’daq?“

Zum zweiten Mal innerhalb weniger Minuten verschwamm die Welt um sie herum. Ihr wurde schwindelig, und sie stützte sich auf die Armlehne des Ledersessels.

Olivers Vater war ein König?

„Das erklärt den Bodyguard.“

„Basim? Er ist der Chef meiner Personenschützer.“

„Haben es denn viele Menschen auf deinen Tod abgesehen?“ Tori war in Gedanken bei ihrem kleinen Sohn und seiner Sicherheit.

„Nein, nicht mehr. Za’daq ist inzwischen ein friedliches Land, das seine Gesetze hochhält. Trotzdem überlasse ich, wenn es um meine Sicherheit geht, nichts dem Zufall. Außerdem erwartet man von einem Staatsoberhaupt, auf Reisen immer eigene Personenschützer dabei zu haben.“

Staatsoberhaupt. Bei diesem Wort wurde ihr erneut schwindelig.

„Tief durchatmen.“

Starke Hände griffen nach ihren. Ein Hauch von Gewürzen umfing sie, betörte sie.

Tori schaute hoch in unergründlich schwarze Augen, die sie an Ebenholz erinnerten. Augen, die denen von Oliver so ähnlich waren.

„Ich atme. Du kannst mich loslassen.“

Trotzdem dauerte es zwei, drei Schläge ihres Herzens, bis Ashraf ihre Hände freigab. Bildete sie es sich ein, oder wanderte ein Ausdruck des Bedauerns über sein Gesicht?

„Ich weiß, nach unserer Entführung kann man sich das nur schwer vorstellen. Aber heute könntest du in der Gegend bedenkenlos reisen.“

„Du hast damals gesagt, dieser Mann sei dein Feind?“, sagte Tori leise. „Qadri – hieß er nicht so? Wenn man in Australien von seinem politischen Feind spricht, meint man in der Regel niemanden, der einen im Morgengrauen erschießen lassen will.“

Ohne den glühenden Blick von ihr zu nehmen, lehnte Ashraf sich im Stuhl zurück.

„Qadri war ein Relikt aus der Vergangenheit. Ein Verbrecher, der sich in den Bergen verschanzt hatte.“ Ashraf kniff die Lippen zusammen. „Mein Vater, der letzte Scheich, hatte kein Interesse daran, sich um unangenehme Probleme zu kümmern. Und Qadri lebte zu weit von der Hauptstadt entfernt, als dass er sich die Mühe gemacht hätte, ihn unerbittlich zu verfolgen.“

Ashraf und sein Vater waren also nicht einer Meinung gewesen? Tori wusste aus eigener Erfahrung, wie das war.

„Aber du hast ihn verfolgen und erschießen lassen?“

Er lachte auf. „Nein, Za’daq ist ein Land, in dem Gesetz und Ordnung gelten. Auch der Scheich hat sich daran zu halten.“

„Was hast du dann mit ihm gemacht?“

„Ich habe ihm seine Machtbasis entzogen. Indem ich dafür gesorgt habe, dass in der Provinz endlich Fortschritt einzieht. Ich habe die Wasser- und Stromversorgung verbessert, Schulen gegründet und neue Arbeitsplätze geschaffen.“ Er schüttelte den Kopf. „Als wir uns kennenlernten, war ich erst seit einem halben Jahr Scheich, und die Modernisierungsprojekte steckten noch in ihren Kinderschuhen. Aber es ließen sich schon erste Erfolge verbuchen. Und Qadri war klar geworden, dass die Leute aus der Gegend sich bald nicht mehr von ihm tyrannisieren lassen würden.“

„Deshalb hat er dich entführen lassen?“

„Leider war ich unvorsichtig und bin nur mit Basim als Begleitung in die abgelegene Provinz geritten, um mir ein neues Projekt anzusehen. Das war überaus unvernünftig.“ Seine Mundwinkel zuckten. „Aber heute ist es überall in Za’daq sicher. So sicher wie in deinem Land.“

Wollte er ihr damit zu verstehen geben, dass Oliver bei ihm nichts zu befürchten hatte? Wollte er ihr den Jungen wegnehmen?

Tori kämpfte gegen die aufsteigende Panik an. Nein, sie reagierte überempfindlich. Niemand wollte ihr das Kind wegnehmen. Es gab Gesetze, die das Sorgerecht regelten. Und Ashraf hatte ihr gerade zu verstehen gegeben, dass er sich an die Gesetze halten würde.

Trotzdem, die ganze Geschichte war einfach zu viel für sie.

„Entschuldigung.“ Tori sprang auf und ging zum großen Panoramafenster. Er folgte ihr.

„Ich kann verstehen, dass du das erst einmal verdauen musst.“

Sie nickte. Es kam ihr vor, als hätte sie eine neue Welt betreten.

„Aber stell dir bitte auch vor, wie ich mich gefühlt habe, als ich erfahren habe, dass du noch lebst. Und ein Kind von mir hast.“

In der Scheibe sah sie Ashrafs Spiegelbild. Sein Gesicht wirkte ernst. Tori wurde klar, dass sie nicht die Einzige war, die einen Schock verdauen musste.

Sie drehte sich zu ihm um. „Und wie sollen wir jetzt damit umgehen?“

„Ich möchte Oliver sehen. So schnell wie möglich.“

Natürlich wollte er das. Sie schaute auf ihre Uhr. Es wurde langsam spät. „Ich muss hier noch etwas erledigen. Aber das sollte in einer Stunde fertig sein.“

Ashraf musterte sie nachdenklich.

War er beleidigt, weil sie für ihn nicht sofort alles stehen und liegen ließ?

Aber dann nickte er nur. „Okay, in einer Stunde.“

Zwei Stunden später tigerte Ashraf ungeduldig durch das Wohnzimmer in Toris kleinem Haus.

Oliver hatte die Heimfahrt von der Kinderkrippe verschlafen und zu zappeln begonnen, sobald sie das Haus betreten hatten. Der Anblick seines kleinen Sohnes hatte gemischte Gefühle in ihm ausgelöst: Einerseits hatte er ihn im Arm halten wollen, andererseits hatte er Angst davor, weil er keinerlei Erfahrungen mit Babys besaß.

Oliver – Ashraf hatte sich schnell an den Namen gewöhnt – gab ihm das Gefühl, viel zu groß und schwerfällig zu sein, weshalb er es nicht wagte, den Jungen anzufassen.

Trotzdem hatte er bei der ersten Begegnung eine seltsame Vertrautheit verspürt. Er hatte eine kleine Faust und zwei glühend schwarze Augen gesehen, und sein Herz hatte so schnell geschlagen, als wollte es platzen.

Mein Sohn. Mein Fleisch und Blut.

Ashraf hatte so viel verpasst. Toris Schwangerschaft. Die ersten sechs Monate im Leben seines Kindes. Diese wertvolle Zeit war für immer verloren. Jetzt galt es, jede Menge nachzuholen. Jede Menge Neues zu lernen. Und seinem Sohn etwas zu schenken. Denn Ashraf war fest entschlossen, ihm das zu geben, was er in seinem Leben nie gehabt hatte. Väterliche Liebe. Vertrauen. Zuspruch.

Er würde am Leben seines Sohnes teilnehmen.

Ihm ging auf, wie viel sein eigener Vater verpasst hatte, als er sich von seinem jüngeren Sohn distanziert hatte. Als er Hass und Misstrauen gewählt hatte, statt Liebe und Vertrauen.

Aber sein Vater hatte noch Ashrafs älteren Bruder Karim gehabt. Auch wenn er Karim genauso wenig geliebt hatte. Ashraf bezweifelte, dass sein Vater überhaupt zur Liebe fähig gewesen war. Dennoch hatte er sich für Karim immerhin interessiert und an seinen Erfolgen Anteil genommen.

Ein schrilles Weinen schnitt durch Ashrafs Gedanken. Stimmte etwas mit Oliver nicht?

Eine Viertelstunde zuvor hatte Tori den Jungen in ein Zimmer mit einem Babybett, einem Schaukelstuhl und einem kleinen Regal mit Stofftieren und Bilderbüchern gebracht.

Ashraf hatte sich noch nie so fehl am Platz gefühlt. Vor allem, als Tori ihren Sohn hochgehalten hatte und ihm aufgefallen war, wie winzig das Kind ohne seine Decke war. Zwei Minuten später hatte Tori ihm einen Blick über die Schulter zugeworfen und ihm vorgeschlagen, er solle es sich im Wohnzimmer bequem machen, während sie Olivers Windel wechselte.

Ashraf war ihrem Vorschlag ohne Widerrede gefolgt, weil er wusste, dass Tori erst einmal Zeit für sich brauchte.

Jetzt runzelte er die Stirn. War es zu viel gewesen, dass er erwartet hatte, sie würde sich über seinen Besuch freuen?

Ihm hatte ein Blick auf sie genügt, um sofort Hunger nach mehr zu verspüren. Die Anziehungskraft, die in jener Nacht zwischen ihnen geherrscht hatte, war noch immer da und wurde mit jeder Minute stärker.

Er dachte daran, wie Tori den Atem angehalten hatte, als er ihre Hand ergriff. Wie verräterisch die langen Wimpern über ihren hellblauen Augen gezittert hatten. Vielleicht sträubte sie sich innerlich dagegen, aber sie fühlte sich zu ihm genauso hingezogen, wie er zu ihr. Das wusste er einfach.

Er schaute auf seine Uhr. Wie lange dauerte es bloß, eine Windel zu wechseln? Es gab so viel zu besprechen. Und er wollte endlich seinen Sohn kennenlernen.

Ashraf ging in den Flur, klopfte an die Tür des Kinderzimmers und trat ein.

Große Augen so klar wie Sternenlicht schauten ihn an. Dann erst nahm Ashraf den Rest der Szene wahr. Tori im Schaukelstuhl, das Baby in ihren Armen. Ein Kloß bildete sich in Ashrafs Hals. Ihre Bluse war halb aufgeknöpft. Ein kleiner dunkler Kopf lag an ihrer nackten Brust.

„Wir sind gleich fertig“, sagte sie und zog hastig die Bluse ein Stück zu. Als ihr Blick dabei auf Oliver fiel, wurde er weicher.

Und in diesem Moment wurde Ashraf eins klar: Trotz aller Verantwortung, die er als Scheich trug, würde ihm nie etwas wichtiger sein als das hier.

Sein Sohn.

Seine Frau.

Bisher war er zu beschäftigt gewesen, in die Rolle des Scheichs hineinzuwachsen, um daran zu denken, dass er sich eine Frau suchen musste.

Und suchen musste er nicht mehr, das wusste er jetzt.

Zufriedenheit überkam ihn. Er lächelte Tori an.

Zaghaft lächelte sie zurück.

Er spürte das Lächeln überall. Er wollte sie lächeln sehen. Wollte sie lachen hören. Wollte sie anschauen, während sich ihre Körper im strahlenden Sonnenlicht vereinigten. Und nicht in der schmutzigen Dunkelheit einer nach Angst stinkenden Hütte!

„Ashraf?“, riss sie ihn aus seinen Gedanken.

Er lehnte sich an den Türpfosten und steckte die Hände in die Hosentaschen.

„Keine Eile. Lass ihn trinken.“

Ob es reiner Zufall war oder es an Ashrafs Stimme lag, Oliver jedenfalls wählte diesen Moment, um mit dem Trinken aufzuhören. Ashraf sah eine rosige Brustwarze aufblitzen, bevor Tori die Bluse hastig wieder zuzog. Oliver drehte den kleinen dunklen Kopf in Ashrafs Richtung und sah ihn mit dunklen Augen groß an.

Nur wenige Schritte und Ashraf war bei ihnen.

„Würdest du ihn gern mal halten?“, fragte Tori.

„Zeigst du mir, wie es geht?“

Sie nahm Oliver hoch, legte ihn über ihre Schulter und massierte sanft seinen Rücken. „Wenn er großen Hunger hat, schluckt er beim Trinken manchmal sehr viel Luft. Das hilft dagegen.“ Sie blickte zu Ashraf auf. „Willst du es mal versuchen?“

Sie hob ihm Oliver entgegen, aber als Ashraf auf das winzige Wesen blickte, war er sich mit einem Mal nicht mehr so sicher, ob er es wirklich versuchen wollte.

Tori bemerkte Ashrafs Unsicherheit und musste ein Lächeln unterdrücken. Bisher hatte sie ihn als Mann kennengelernt, der vor Selbstbewusstsein nur so strotzte.

Doch jetzt sah sie das Zögern in seinen Augen und so etwas wie … Erstaunen? Aber warum sollte ihr Sohn für Ashraf nicht ein ebenso großes Wunder sein wie für sie selbst? Vorsichtig legte sie ihm das Baby in den Arm und wartete ab, bis er sich an das Gewicht des Jungen gewöhnt hatte.

„Dah“, machte Oliver und schaute in das ernste Gesicht über ihm. „Dah-dah.“

„Hallo, Oliver Ashal.“

Seine Stimme klang leicht heiser, und Toris Magen vollführte einen kleinen Salto. Als Ashraf in Arabisch weitersprach, sank sie auf den Schaukelstuhl zurück, fasziniert vom Klang der Sprache und dem Bild des großen und des kleinen Mannes, die sich in die Augen schauten.

Plötzlich fiel ihr siedend heiß ein, dass sie obenrum fast nackt war. Schnell schloss sie den BH und knöpfte die Bluse zu. Sie und Ashraf hatten jede Menge zu besprechen. Durch seine Rückkehr von den Toten änderte sich alles.

Sie schaute wieder hoch. Ashraf hielt Oliver inzwischen so, als hätte er seit der Geburt des Babys nichts anderes getan. Und das strahlende Lächeln, mit dem er seinen Sohn bedachte, ließ Toris Herz schneller schlagen.

Sie fasste Mut und stellte die Frage, die sie seit fast zwei Stunden umtrieb. „Was willst du, Ashraf?“

„Was ich will?“

„Von mir – von uns.“

„Meinem Sohn ein guter Vater sein.“

„Das bedarf vor allem guter Planung, schließlich wohnen wir in Australien und du in Za’daq“, wagte sie sich vor.

Ashraf blickte sie aus dunklen Augen an. „Aber das muss ja nicht so bleiben. Du könntest auch in Za’daq leben. Heirate mich, damit unser Sohn das Leben führen kann, das er verdient.“

5. KAPITEL

Den Blick zur Decke gerichtet, lag Ashraf auf dem Rücken und ärgerte sich über seine Ungeduld. Als Scheich wartete er eigentlich immer auf den richtigen Zeitpunkt, um Menschen zu einer Sache zu überreden, statt sie dazu zu zwingen.

Aber als Tori ihn gefragt hatte, was er von ihr und dem Kind wollte, war er nicht der geduldige Herrscher gewesen. Er hatte seinen Sohn zum ersten Mal in den Armen gehalten und war von einem Glücksgefühl überwältigt worden, auf das er nicht vorbereitet gewesen war. In diesem Moment hatte er Oliver nie wieder hergeben wollen.

Und dann war da noch Tori gewesen, in der schlichten weißen Bluse, die sie in der Eile schief zugeknöpft hatte, und mit dem mondblassen Haar, das sich um ihr bildhübsches Gesicht gelegt hatte. Ashrafs Herz hatte vor Verlangen heftig geschlagen.

In der Sekunde, in der ihre Gesichtszüge erstarrt waren, hatte er seinen Fehler bemerkt. Er hatte Tori mit dem Vorschlag, ihn zu heiraten und nach Za’daq zu ziehen, völlig überrumpelt.

Jetzt lag er hier und konnte nicht schlafen, weil er fieberhaft nach einem Argument suchte, das ihre Zweifel beseitigen und sie davon überzeugen würde, seinen Vorschlag anzunehmen. Denn das wäre für ihren gemeinsamen Sohn das Beste.

Unruhig rollte er sich auf die Seite. In diesem Moment hätte er in seiner Suite, die im teuersten Hotel von Perth die gesamte obere Etage einnahm, im weichen King-Size-Bett liegen können. Stattdessen lag er in Olivers Zimmer auf dem Teppich.

Ashraf entfuhr ein Stöhnen. Das alles hatte er sich selbst eingebrockt, weil er nicht behutsamer vorgegangen war. Am Abend hatten sie seinen Vorschlag noch einmal besprochen. Aber obwohl sich Tori große Mühe gegeben hatte, gelassen zu wirken, hatte er ihre innere Anspannung deutlich gespürt.

Als er ihr angesehen hatte, wie müde sie war, hatte er sie schlafen geschickt. Aber Ashraf hatte es nicht übers Herz gebracht, in das Luxushotel zu fahren. Er hatte Oliver und Tori gerade erst gefunden, und etwas in seinem Inneren hatte sich dagegen gesträubt, sie jetzt schon wieder allein zu lassen.

Er hatte vorgeschlagen, auf ihrem Sofa zu schlafen, und Tori hatte irgendwann klein beigegeben. Vermutlich war ihr aufgegangen, dass er sich nicht würde wegschicken lassen. Außerdem bekam Oliver Zähne, und Tori hatte zugegeben, dass sie schon seit Langem keine Nacht mehr durchgeschlafen hatte.

Nachdem sie ein letztes Mal nach Oliver gesehen und Decke und Kopfkissen bereitgelegt hatte, war sie in ihrem Zimmer verschwunden. Ashraf hatte das Bettzeug genommen und sich neben dem Kinderbett auf den Boden gelegt.

Jetzt ertönte aus dem Bettchen ein Schrei. Ashraf schoss in die Höhe. Er schaltete die Lampe an und sah, dass Olivers kleines Gesicht rot angelaufen war.

Ashraf schob eine Hand unter seinen strampelnden Sohn und hob ihn an seine Brust. Inzwischen fühlte sich das Baby fast schon vertraut an, aber die feinen Glieder erinnerten ihn daran, wie zart und zerbrechlich dieses Wesen war.

Er sog Olivers Duft ein und dachte mit Ehrfurcht daran, was für ein Wunder sein Sohn war. Vor ihm lag noch ein ganzes, hoffentlich erfülltes Leben. Und Ashraf war wild entschlossen, ein fester Bestandteil dieses Lebens zu sein.

Er ging im Zimmer auf und ab, wiegte seinen Sohn sanft und versuchte, ihn mit leisen Wörtern aus seiner Muttersprache zu beruhigen. Inständig hoffte er, dass Tori vom Weinen des Babys nicht wach werden würde. Die dunklen Ringe unter ihren Augen hatten Bände gesprochen. Sie musste sich unbedingt ausruhen. Wenn sie doch nur auf ihn hören und mit ihm nach Za’daq kommen würde.

Denn dass Tori in die Heirat einwilligte und mit ihm und Oliver eine richtige Familie gründen würde, war für Ashraf das Wichtigste. Dann würde der Junge in dem Land aufwachsen, das er eines Tages als Scheich regieren würde. Ashrafs Erfahrungen als ungeliebtes Kind machten ihn umso entschlossener, Oliver das Gefühl zu geben, irgendwo hinzugehören. Er sollte immer wissen, dass er von seinen Eltern akzeptiert und nach Kräften unterstützt wurde.

Und weil ein Leben in Za’daq für Oliver das Beste wäre, würde Ashraf alles tun, um Tori von der Heirat zu überzeugen.

Tori öffnete die Tür und blieb mit offenem Mund stehen. Als sie Olivers Schreien gehört hatte, hatte sie im Halbschlaf die Decke weggeschoben und war aus ihrem Bett gestiegen. Jetzt war sie hellwach und starrte auf die Szene im Kinderzimmer.

Ashraf füllte mit seinem athletischen Körper den kleinen Raum fast aus. Seine breiten Schultern und der bloße Rücken waren eine Sinfonie aus Muskeln. Toris Kehle schnürte sich zu, als ihr Blick über seinen Rücken wanderte, an den langen, muskulösen Beinen hängenblieb und wieder zurückglitt zu einer engen Boxershorts, die sich an wohlgeformte Pobacken schmiegte. Schnell senkte sie den Blick und entdeckte das Kissen und die Decke, die sie eigentlich für Ashraf aufs Sofa gelegt hatte.

Stattdessen hatte er in Olivers Zimmer auf dem Boden geschlafen.

Noch dazu wiegte er den Jungen jetzt sanft in den Armen und sang ein Schlaflied in seiner Muttersprache. Auf Oliver schien das Lied kaum Wirkung zu haben, denn er zappelte unruhig hin und her. Aber auf Tori wirkte der Zauber, und sie musste sich am Türrahmen abstützen. Diese Mischung aus männlicher Attraktivität und atemberaubender Zärtlichkeit war so überwältigend, dass etwas in ihrem Inneren ganz weich wurde.

Einen gefährlichen Moment lang stellte sie sich vor, wie es sein würde, wenn sie eine echte Familie wären – und zwar nicht, weil Ashraf eine Heirat gelegen kam, sondern weil sie sich beide aufrichtig liebten …

Nein. Daran durfte sie nicht einmal denken. Sie hatte sich an das Leben einer alleinerziehenden Mutter inzwischen gewöhnt und würde auch weiterhin allein für ihren Sohn sorgen. Träume waren schön und gut, aber sie durfte sie nicht mit der Wirklichkeit verwechseln.

„Ich glaube, ich übernehme jetzt besser.“

Ashraf drehte sich abrupt zu ihr um. Und in Tori stieg eine gänzlich andere Empfindung auf – Erregung. Er war ein äußerst attraktiver Mann, und das Bild, wie ihr kleiner Sohn sicher an seiner breiten Brust lag, ließ die Emotionen in ihr hochkochen.

Ashraf wusste zwar erst seit wenigen Stunden, wie es war, Vater eines kleinen Sohns zu sein, aber das bedeutete nicht, dass seine Gefühle für Oliver weniger zählten als ihre eigenen.

Und sprach es nicht Bände, dass dieser Mann, der sonst vermutlich in einem goldenen Bett mit seidenen Laken schlief, sich heute Nacht neben seinem Kind auf den harten Fußboden gelegt hatte?

„Tori! Alles okay?“ Mit wenigen Schritten war Ashraf bei ihr und legte ihr die freie Hand auf den Arm. „Du siehst aus, als wäre dir schwindelig.“

Sie schüttelte den Kopf. „Alles okay.“

Trotzdem hakte er sich bei ihr unter und führte sie zu dem Schaukelstuhl. Als sie sich gesetzt hatte und er sich über sie beugte, um ihr den Jungen zu geben, nahm sie den verführerischen Duft von würzigem Zimt wahr. Ihre Brustwarzen zogen sich sehnsüchtig zusammen, und sie spürte das verräterische Pulsieren in ihrer Mitte.

Tori zitterte und nahm das Baby fest in den Arm.

„Ist dir kalt?“

Nein, ganz und gar nicht. Vielmehr hatte sie den Eindruck, innerlich zu verbrennen.

Als könnte sie auf Ashrafs Gegenwart gar nicht anders reagieren. Schnell verdrängte sie den verstörenden Gedanken.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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