Julia Extra Band 568

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  • Erscheinungstag 29.04.2025
  • Bandnummer 568
  • ISBN / Artikelnummer 0820250568
  • Seitenanzahl 432

Leseprobe

Millie Adams, Caitlin Crews, JC Harroway, Rachael Stewart

JULIA EXTRA BAND 568

Millie Adams

1. KAPITEL

Ihr Chef war der schlimmste auf der ganzen Welt. Das konnte Polly zwar nicht wissenschaftlich belegen, doch um zwei Uhr morgens in die Höhle seiner Biestlichkeit zitiert zu werden, war ein empirischer Beweis dafür, dass Luca Salvatore wirklich der allerschlimmste Boss war.

Mantraartig wiederholte sie das Wort, während sie erbost durch die Lobby von Lucas Gebäude stapfte. Der Nachtportier fragte nicht einmal.

„Buongiorno, Miss Prescott.“

„Hallo Antonio“, grüßte sie ihn, denn es gab keinen Grund, unhöflich zu Antonio zu sein, nur weil sie Luca hasste.

Sie wurde umgehend eingelassen, vermutlich weil Luca gereizt wäre wie ein Bär, wenn er länger als zwei Sekunden warten müsste. Am liebsten wäre sie extra langsamer gegangen, doch dann würde er die Minuten später auf unerfreulichste Art wieder hereinholen. Sie kannte ihn: vier Jahre, acht Monate, drei Wochen, fünf Tage und drei Stunden. So lange machte sie diesen Job schon. So lange hatte sie schon mit Luca Salvatore zu tun.

Dr. Luca Salvatore.

Der gleich mehrere Doktortitel besaß, weil er so besessen und minutiös war, dass er sowohl in Medizin als auch Naturwissenschaften promoviert hatte, um im innovativen Feld der Medizintechnik arbeiten zu können. Er war brillant. Aber auch ein erstklassiger Quälgeist. Doch da sie diesen Job nur einem glücklichen Zufall verdankte, war ihr der Gedanke, ihn hinzuwerfen, nie gekommen – bis zu dieser Woche.

Sie war von zu Hause weggelaufen, sobald sich ihr die Chance geboten hatte. Sie war an einer Universität in Italien angenommen worden, die amerikanischen Studierenden ein kostenloses Studium ermöglichte, und hatte Indiana umgehend den Rücken gekehrt. Sie hatte nicht vor zurückzukehren. Nicht zur unkontrollierten Grausamkeit ihres Vaters oder den Manipulationen ihrer Mutter. Bei beiden hatte sie nie gewusst, woran sie war, welches Gesicht sie ihr zeigen würden. Dem Schein nach waren sie eine nette Vorstadtfamilie gewesen. Bis auf das, was sich hinter verschlossenen Türen abgespielt hatte. Sie wusste, wie viel jemand über sein wahres Ich verbergen konnte. Sie wollte nie wieder verletzlich sein, weil Verletzlichkeit manipuliert werden konnte. Aus ihren Beobachtungen der Spielchen ihrer Eltern hatte sie eine unüberwindbare Festung um sich errichtet. Sie wollte niemanden verletzen, doch die Lektionen aus ihrer Kindheit sollten nun zu ihrem Vorteil dienen.

Als sie nach Italien kam, achtete sie darauf, nicht verloren oder hilflos zu wirken. Sie tat, als wäre sie schon tausendmal an all den schönen Orten gewesen. Sie wusste, dass es ihr nichts nützen würde, offen und verletzlich auszusehen. So lernte sie Leute an der Uni kennen, schloss Freundschaften. So hatte sie sich ein Praktikum bei Salvatore Medical Technologies verschafft. Dabei war sie nicht an Technik interessiert, sondern an den Abläufen einer Firma dieser Größe. Sie studierte Marketing, weil es sie interessierte, wie Fassaden funktionierten. Und was war Marketing anderes als eine sorgfältig konstruierte Fassade?

Darin war sie Expertin. Außerdem war sie Expertin darin, Menschen einzuschätzen. Als sie aufwuchs, war das eine Frage des emotionalen Überlebens gewesen. Sie konnte Stimmungswechsel bei anderen auf Anhieb erkennen. Zwar wollte sie ihren Erfolg nicht ihren Eltern anrechnen, doch ihre Fähigkeit, Menschen zu lesen, hatte sie weit gebracht. Sie hatte den Klumpen Kohle, in den sie geboren wurde, genommen und in einen Diamanten verwandelt.

Sie erinnerte sich nur noch vage an den ersten Tag bei Salvatore. Woran sie sich aber mit absoluter Klarheit erinnerte, war das erste Mal, als sie Luca Salvatore gesehen hatte. Als er das moderne Gebäude betrat, wirkte er wie ein Hai, der unbarmherzig durch das Wasser schoss. Sein schwarzer Anzug war exquisit geschnitten und betonte seine breiten Schultern und die schmale Taille. Er war groß, weit über eins achtzig. Doch nicht nur seine Statur und Größe unterschieden ihn von jeder anderen Person in seinem Umfeld. Er besaß das Gesicht eines gefallenen Engels. Sein schwarzes Haar war aus der Stirn geschoben, nicht eine Strähne wagte es, sich ihm zu widersetzen. Sein markanter Kiefer schien aus Stein gemeißelt, seine Wangen waren hohl, seine Nase eckig und stolz wie die eines römischen Kaisers. Seine Augen wirkten fast schwarz, und obwohl er sie nicht ansah, hatte sie das Gefühl, dass sein Blick sie glatt in zwei Hälften schneiden würde.

Dann war da noch sein Mund. Sie hatte nie groß auf den Mund eines Mannes geachtet. Doch seiner zog sie in den Bann, fest und kompromisslos. Ihr erster Gedanke war, wie sie ihn wohl zum Lächeln bringen könnte, schließlich war sie Expertin darin, die Stimmungen anderer zu beeinflussen. Jetzt wollte sie seine beeinflussen. Sie hatte sich sofort verliebt, schnell und schmerzhaft. Noch nie hatte sie sich auf Anhieb zu jemandem hingezogen gefühlt. Doch sie hatte auch noch nie jemanden gesehen, der so schön war wie Luca Salvatore.

Allerdings fand sie schnell heraus, dass seine Persönlichkeit sein Aussehen wieder aufwog. Er war der schwierigste Mann, der ihr je begegnet war. Nicht der angsteinflößendste. Luca verletzte andere nicht. Das würde eine Absicht unterstellen. Nein, Luca lebte in seiner eigenen Welt. Und in dieser Welt zählte nichts anderes als sein Ziel. Er glaubte nicht an Nettigkeiten oder Kompromisse. Mit seiner Bereitschaft, Leute willkürlich zu feuern, und seinen fast unmöglichen Ansprüchen zog er eine Schneise des Terrors durch seine Angestellten. So hatte sie auch ihren Job bekommen. Sie hatte neben seiner Assistentin gestanden – der dritten in jenem Monat –, als er sie feuerte. Polly hatte noch nie gesehen, wie jemand gleichzeitig erleichtert und am Boden zerstört aussehen konnte. Bis sie bei Salvatore anfing. Von da an sah sie es häufig.

Dann hatte er Polly zum ersten Mal angesehen. Sie hatte recht gehabt. Es war, als wäre sie zweigeteilt worden. Obwohl sie wusste, was für ein Ungeheuer er war, wie schwierig er sein konnte, war sie von seiner Schönheit wie versteinert gewesen. Die dunklen Brauen zusammengezogen, stand ihm der Ärger deutlich ins Gesicht geschrieben. Kurz hatte sie befürchtet, seiner Laune als Nächstes zum Opfer zu fallen. In diesem Moment wusste sie, dass er sie leicht … zerstören könnte. Dass er sich ihr Leben ganz leicht zurechtbiegen könnte. Deshalb musste sie auf der Hut sein.

„Wie heißen Sie?“

„Polly. Polly Prescott.“

Er hatte sie angesehen. Als würde er sie scannen. Eine Maschine, die ein Objekt analysierte.

„Haben Sie Erfahrung als Assistentin?“

„Ja. Ich bin Praktikantin. Ich helfe, wo ich gebraucht werde.“

„Hervorragend. Sie sind eingestellt.“

„Was?“

„Polly Prescott, Sie sind jetzt meine Assistentin.“

„Ich studiere noch.“

Er hatte gelacht. „Ich werde alle Vorkehrungen treffen, damit Sie Ihr Studium fortsetzen und die Praxiserfahrungen einbinden können, die Sie hier in der Firma sammeln.“

Damals hatte sie zum ersten Mal erlebt, wie weit Luca gehen würde, um seinen Willen zu bekommen. Er kannte keine Grenzen. Ihr Arbeitsvertrag gehörte zu den lächerlichsten Dingen, die sie je gesehen hatte. Sie war keine einfache Vollzeitkraft, sie war auf Abruf tätig. Rund um die Uhr, sieben Tage die Woche. Deshalb stürmte sie nun mitten in der Nacht in Lucas Gebäude. Was nicht selten vorkam.

Sie gab den Code in den Lift ein, der sie in Lucas Penthaus bringen würde. Schon lange imponierte ihr dessen Schönheit nicht mehr. Wenn sie dasselbe nur auch von dem Mann hätte sagen können. Bei seinem Anblick blieb ihr immer noch jedes Mal das Herz stehen, stockte ihr der Atem. Dabei sah sie ihn jeden Tag. Das Gute an Luca war, dass der Umgang mit ihm so schwierig war, dass sie ihre Gefühle für ihn nicht romantisch verklärte. Sie empfand nur Lust. Unangenehm, aber kaum tödlich. Ja, es nahm sie jede Stunde des Tages in Anspruch, ebenso wie er, aber sie war sich dessen bewusst. Deshalb war es … in Ordnung.

Und schon bald möglicherweise nicht mehr ihr Problem.

Aus einer Laune heraus hatte sie sich vor zwei Wochen bei einem großen Mailänder Modehaus um einen Marketingjob beworben. Als sie zurückriefen, war sie schockiert gewesen. Die Tatsache, dass sie seit fünf Jahren Lucas Assistentin war, hatte Interesse geweckt. Anschließend hatte sie drei telefonische Vorstellungsgespräche geführt, und heute Morgen war ihr der Job angeboten worden. Sie war eine vielversprechende Bewerberin, doch zudem war sie länger als irgendjemand zuvor Luca Salvatores persönliche Assistentin gewesen. Luca war berühmt. Seine Firma hatte revolutionäre Fortschritte in der Nanotechnologie für medizinische Anwendungen gemacht. Vieles davon hatte er persönlich erreicht. Er war ein Genie. Außerdem war er bekannt als einer der schwierigsten Mistkerle auf dem Planeten. Das war der Preis der Genialität, schätzte sie. Wenn sie freundlich gesinnt war.

Heute Nacht war sie weniger freundlich gesinnt. Heute hatte sie ein Jobangebot in der Tasche. Endlich könnte sie tun, was sie wirklich wollte, statt nur Luca Salvatores Freitag in Mädchengestalt zu sein. Oder als was immer er sie betrachtete. Sie war praktisch sein Kindermädchen, fungierte als Schaltstelle zwischen ihm und den Personen, die mit ihm zu tun hatten. An manchen Tagen schaffte er es nicht einmal, ein höfliches Wort für die Leute zu erübrigen, mit denen er ein Treffen vereinbart hatte. Oftmals musste sie statt seiner hingehen und die Mitteilung überbringen. Sie war für sein Essen und seine Kleidung zuständig, musste dafür sorgen, dass sein Hotelzimmer seinen Wünschen entsprach. Häufig war sie vor ihm bei großen Veranstaltungen und organisierte seine Unterkunft. Sie managte ein großes Team, doch Luca hatte nur mit ihr zu tun. Nur so, erklärte er ihr oft, könne er sich auf seine wichtige Arbeit konzentrieren. Indem er die unwichtigen Details minimierte und rationalisierte.

Ihr Job bestand komplett aus unwichtigen Details, doch diese sogenannten unwichtigen Details mussten präzise erledigt werden. Weil sonst ihr wahnsinniges Genie von Boss einen Wutanfall bekam, den niemand erleben wollte.

Sie atmete tief durch, als der Fahrstuhl im obersten Stock ankam. Dann trat sie in Lucas makelloses Vorzimmer und öffnete die Tür mit ihrer Schlüsselkarte.

„Ich bin hier, Luca.“

Anfangs hatte sie ihn Dr. Salvatore genannt. Doch nach drei Wochen hatte er ihr erlaubt, ihn Luca zu nennen. Das war seltsam. Weil es ihn menschlich machte. Und nichts an ihm war menschlich.

„Ich bin in meinem Zimmer.“

Sie hörte ihm an, dass er schlecht gelaunt war. Doch wenn er um Mitternacht anrief, war er immer schlecht gelaunt. Sein Tagesablauf war ungewöhnlich. Manchmal fragte sie sich, ob er überhaupt schlief. Wahrscheinlicher schloss er sich am Ende des Tages an eine Steckdose an. Sie durchquerte sein großes Wohnzimmer, wobei ihre Schuhe über den schwarzen Marmorfußboden klackerten, und ging in sein Schlafzimmer.

Als sie eintrat, kam er aus seinem begehbaren Kleiderschrank heraus. In nichts als einer schwarzen Hose, die tief auf seiner Hüfte saß.

Er war ein Roboter, aber als sie ihn sah, bekam ihr Hirn einen Kurzschluss. Diese breiten Schultern, die ebenso breite Brust, seine definierten Brustmuskeln, sein Bauch …

Wenn sie ihn berührte, würde sie vermutlich feststellen, dass er aus Stahl war statt aus Fleisch und Blut. Doch sie hatte ihn noch nie berührt, sodass die Versuchung blieb. Nach all der Zeit sollte es sie kaltlassen, in seinem Schlafzimmer zu sein, ihn ohne Hemd zu sehen. Doch das tat es nicht. Etwas an seiner Brustbehaarung war obszön sexuell. Sie kam nicht darüber hinweg. Er war zehn Jahre älter als sie. Und ihr Chef. Ein Therapeut würde ihr wohl einen Vaterkomplex bescheinigen. Doch sie konnte nicht damit aufhören. Leider war es ihr unmöglich, diese sexuelle Fixierung auszutreiben, da deren Gegenstand ständig ihren Weg kreuzte.

„Was machen Sie da?“, fragte sie.

„Ich muss einen Anzug aussuchen. Für die Rede morgen Abend.“

„Muss das jetzt sein?“

„Ja“, erwiderte er, als wäre sie unvernünftig. „Ich muss die Rede üben. Dazu muss alles so sein wie morgen.“

„Sie können jetzt auch nicht vor Ort üben.“

„Bei mir muss alles gleich sein.“

Sie spürte, wie der letzte Tropfen fiel und das Fass endgültig zum Überlaufen brachte. Die Vorbereitungen auf die Konferenz in Singapur hatten sie enorme Anstrengungen gekostet, und Luca war schlimmer als üblich gewesen. Je hektischer es wurde, desto mehr hatte sie mit dem Gedanken gespielt, den Job zu wechseln.

Doch sie war … unentschlossen. Denn Luca war … Sie hatte gewusst, dass er sie zerstören konnte, und in vielerlei Hinsicht hatte sie ihn gelassen. Ihr Leben drehte sich um ihn. Sie hatte ans Aufhören gedacht, aber der Gedanke an ein Leben ohne ihn hatte sie gelähmt. Doch jetzt …

Sie hatte sich eingeredet, dass es Lust war. Sie hatte sich eingeredet, dass sie wegen ihrer gestörten Kindheit gegen alles gewappnet war. Aber in Wirklichkeit hatte sie sich seinetwegen zurückgehalten. Sie hatte keinen neuen Job angenommen, weil sie es zugelassen hatte, dass sie von ihm besessen war. Oder schlimmer. Ihre Brust schmerzte, wenn sie ihn ansah. Und was genau war das für ein Gefühl? Sie wusste es nicht.

Sie sah ihm an, dass er verärgert war, er erklärte sich nicht gern. Außerdem kümmerte es ihn nicht, ob sie müde war. Es kümmerte ihn nicht, ob sie wütend war. Er dachte nur an sich.

Sie hatte sich in genau die Lage gebracht, in der sie nie sein wollte. Luca war nicht manipulativ. In dieser Hinsicht war er nicht wie ihre Eltern, doch im Kern war das Problem dasselbe. Ihr lag etwas an jemandem, dem nichts an ihr lag. Sie hatte sich verbogen, um die Bedürfnisse eines anderen zu erfüllen, obwohl sie sich geschworen hatte, so etwas nie zu tun. Und wenn sie versuchte, etwas Verständnis für den umwerfenden Milliardär aufzubringen, der alles bekam, was er wollte, hätte sie auch anerkennen können, dass es frustrierend für ihn sein musste, seine Gedankenwelt gewöhnlichen Sterblichen zu erklären, die nicht einmal begriffen, was Nanotechnologie war. Geschweige denn, wie sie in medizinischem Kontext funktionierte.

Doch gerade fiel es ihr schwer, dieses Verständnis aufzubringen. Und das musste sie auch nicht. Denn sie hatte ein Jobangebot. Was machte sie also mitten in der Nacht im Schlafzimmer ihres Chefs, der ohne Hemd vor ihr stand und von ihr wissen wollte, welchen Anzug er tragen sollte?

Sie hatte keine Angst vor ihm. Er hatte ihr oft gesagt, dass das zu den Dingen gehörte, die er an ihr schätzte. Sie begegnete seiner kompromisslosen, schroffen Art mit unbeirrbarer Gutmütigkeit, manchmal mit Schärfe, aber immer mit Effizienz. Seine vorherigen Assistentinnen waren unter dem Druck zusammengebrochen.

Er wusste ihr Rückgrat zu schätzen.

Sie bezweifelte, dass er es jetzt schätzen würde.

„Luca, ich kann nicht fassen, dass Sie mich mitten in der Nacht herrufen, um Ihnen zu helfen, einen Anzug auszusuchen, damit Sie Ihre Rede proben können.“

„Warum? Das entspricht allem, was Sie über mich wissen.“

Dem konnte sie nicht widersprechen. Sie tat es trotzdem.

„Ihnen muss doch klar sein, dass es unangemessen ist.“

„Es steht in Ihrem Arbeitsvertrag. Sie sind in Bereitschaft.“

„Kein normaler Arbeitgeber würde so etwas von einem Angestellten verlangen!“

„Wann habe ich je so getan, als wäre ich ein normaler Arbeitgeber? Niemand ist wie ich. Das wissen Sie.“

„Niemand ist wie Sie“, wiederholte sie und sah zur vergoldeten Decke seines Schlafzimmers auf. „Das hoffe ich sehr, weil die Welt keinen anderen Menschen ertragen könnte, der sich so verhält wie Sie.“

„Ehrlichkeit schätze ich, Attitüden sind unnötig.“

„Oh, verzeihen Sie! Ich habe nur zwei Stunden geschlafen, weil Sie mich um zwei Uhr morgens geweckt haben, nachdem ich bis Mitternacht mit Ihnen im Büro war. Ich wollte endlich schlafen, als Sie mich angerufen haben, damit ich in Ihre Privatwohnung komme. Wo Sie halbnackt herumlaufen und meine Hilfe bei etwas wollen, was nach den Maßstäben jedes anderen Menschen schlichtweg nicht dringend ist. Sie sind ein Roboter, Luca. Die letzten fünf Jahre habe ich es unermüdlich mit Ihnen ausgehalten. Jetzt ist Schluss.“

„Wovon reden Sie?“

Auf einmal war alles glasklar. Sie war versucht gewesen, auf dem gewohnten Weg zu bleiben. Einfach bei Luca zu bleiben und sich nicht zu verändern. Sein liebstes Büroutensil zu sein, statt ihre eigenen Träume zu verwirklichen. Ihr eigenes Leben zu leben. Damit musste sie aufhören. Sie musste in ihrem besten Interesse handeln, denn was wäre ihr Leben wert, wenn sie nicht für sich selbst eintrat?

„Ich kündige.“

„Sie scherzen. Niemand kündigt.“

„Nein. Sie feuern Ihre Angestellten. Weil Sie an allen etwas auszusetzen haben und ich die Einzige bin, an der Sie nichts stört. Aber mich stört etwas an Ihnen! Ich kündige! Ich habe die Nase voll. Ich gehe jetzt nach Hause und ins Bett.“

„Sie können nicht kündigen.“

„Das ist Pech, denn ich tue es. Ich habe einen anderen Job und brauche Ihren nicht mehr. Ich wechsle ins Marketing. Ich werde nicht länger Ihr Mädchen für alles sein, das Ihnen jeden Wunsch erfüllt.“

Er sah erzürnt aus. Empört. Diesen Ausdruck hatte sie bei ihm noch nie gesehen. Sie hatte ihn schon wütend erlebt, doch das hier war etwas anderes.

„Wir haben eine große Messe in Singapur nächste Woche.“

„Das ist mir bekannt. Ich habe fast jedes Detail davon geplant, weil ich diejenige bin, die sich um alles kümmert …“

„Sie können nicht vor der Messe kündigen!“

„Ich kann. Und das tue ich.“

„Das tun Sie nicht! Sie werden die zwei Wochen Kündigungsfrist einhalten, so steht es in Ihrem Vertrag.“

Ihn kümmerte nur die Messe. Nicht ihre Verärgerung. Nicht, was er getan hatte. Das befeuerte ihre Wut.

„Sie und Ihr Vertrag können sich zum Teufel scheren.“

Sie drehte sich um und wollte triumphierend aus dem Zimmer gehen. Endlich. Sie ignorierte das Ziehen in ihrer Brust, das Gefühl, an ihn gebunden zu sein. Sie ignorierte das Bedauern, dass sie Luca nie wieder persönlich sehen würde, und wollte gerade über ihren Sieg, ihre Freiheit frohlocken, als er wieder sprach.

„Wenn Sie Ihre Kündigungsfrist nicht einhalten, sorge ich dafür, dass Sie nie wieder irgendwo arbeiten werden.“

Sie drehte sich um. „Ich habe schon einen Job.“

Cara, wenn Sie glauben, ich hätte nicht die Macht, Ihnen diese Stelle wegzunehmen, noch ehe Sie anfangen, dann waren die letzten fünf Jahre umsonst. Weil Sie mich nicht wirklich kennen. Zwei Wochen! Oder Ihre Karriere ist vorbei, ehe sie beginnt.“

2. KAPITEL

Zorn legte sich wie ein roter Schleier über seine Augen. Eine eisige Scharte fuhr durch seine Eingeweide. Eigentlich war es noch schlimmer, weil es ausgerechnet Polly war, die ihn so wütend machte. Dafür war sie nicht da. Sie war seine Assistentin. Effizient, perfekt in jeder Hinsicht. Polly Prescott faszinierte ihn wie keine andere Frau vor ihr.

Sie war neunzehn gewesen, als er sie eingestellt hatte. Ihre Unschuld und Unerfahrenheit in allen Belangen war ihren großen blauen Augen anzusehen. Er hatte nie verstanden, warum andere sie behandelten, als wäre sie älter, erfahrener. Für ihn war offensichtlich, dass sie gerade erst einem Flugzeug entstiegen war, das wahrscheinlich aus irgendeinem Kaff kam. Dass sie noch nie in einer großen Stadt gelebt hatte. Doch sie war hungrig. Das hatte sie zu einer unschätzbaren Assistentin gemacht.

Außerdem war sie furchtlos.

Für ihn musste alles so erledigt werden, wie er es wollte. Er gestattete keine Fehler. Er nahm keine Rücksicht auf die Gefühle anderer. Das schien sie instinktiv zu verstehen. Sie managte alles in seinem Privatleben, was gemanagt werden musste, und das mit Leichtigkeit. Inzwischen musste sie ihn nicht einmal mehr fragen. Jemand anderem beizubringen, was Polly machte, war undenkbar, insbesondere so kurz vor dem Medizintechnikgipfel und der Präsentation seiner neuesten Forschung, die in die klinische Testphase eintrat.

Seine Mutter hatte ihn als Einzige verstanden. Ihn so geliebt, wie er war. Als sie starb, verlor er alles. Er hatte beinahe sich selbst verloren. Während seine Mutter ihn akzeptierte, hatte sein Vater ständig versucht, ihn zu ändern. Zu korrigieren. Luca hatte immer Obsessionen und einen Hyperfokus gehabt. Seine Mutter hatte das gefördert. Sie half ihm, alles über ein Thema zu lernen, das ihn interessierte. Sein Vater hatte es gehasst. Für ihn war es ein Zeichen für einen schwachen Geist, sich mit einem Tunnelblick auf bestimmte Interessen zu konzentrieren. Er fand es peinlich, dass Luca keine Schulfreunde hatte. Dagegen sagte ihm seine Mutter, dass Menschen, die sich nicht einfügten, dazu bestimmt waren, die Welt zu verändern. Das gefiel ihm. Wenn er das Gefühl hatte, anzuecken, stellte er sich vor, wie sich alles um ihn herum veränderte, woraufhin es ihm besser ging.

Er hatte Spannungen zwischen seinen Eltern verursacht. Als er neun war, wurde seine Mutter krank, es wurde Krebs im fortgeschrittenen Stadium diagnostiziert, bei dem keine Hoffnung auf Heilung bestand. Ihre Ärzte hatten die Symptome ignoriert, und als die Krankheit entdeckt wurde, war es zu spät.

Es hatte sein Leben zerstört. Bis er einen neuen Fokus fand. Ein neues Ziel. Medizin. Bei Krankheiten, vor allem Krankheiten von Frauen, war die medizinische Gemeinschaft zu lange nachlässig gewesen. Er hatte sich daran gemacht, alles zu lernen, was er konnte, über Technik und den menschlichen Körper. Darüber, wie beides einander helfen konnte.

Im Laufe der Jahre hatte es viele Durchbrüche gegeben. Doch noch nicht den einen, den er sich erhoffte. Nun stand er kurz davor, das zu finden, was nötig war, um Eierstockkrebs frühzeitig mit einfacher, präziser Technik zu erkennen. Damit wäre es möglich, die Krankheit im ersten Stadium zu entdecken, sie im Rahmen einer jährlichen Untersuchung festzustellen. Diese Art von Technik hätte seine Mutter am Leben gehalten. Obwohl sich diese Dinge von selbst verkauften und Unterstützer und Forschende anziehen würden, war es komplizierter, neue Medizintechnik universell verfügbar zu machen. Deshalb der Gipfel.

Aber für den Gipfel brauchte er Polly. Was danach geschah, konnte er dann klären, doch er würde alles in seiner Macht Stehende tun, um sie jetzt bei sich zu halten.

„Es ist unglaublich schlimm, das zu jemandem zu sagen, der fünf Jahre lang loyal für Sie gearbeitet hat!“

„Eine Kündigung kurz vor etwas so Wichtigem ist für jemanden, für den Sie fünf Jahre lang gearbeitet haben, unglaublich verantwortungslos. Ich hätte Besseres von Ihnen erwartet.“

„Ich lasse mir von Ihnen keine Schuldgefühle mehr einreden. In den letzten Jahren habe ich alles getan, was Sie von mir verlangt haben.“

„Und wieso hat gerade dieser Tropfen das Fass zum Überlaufen gebracht?“

„Weil ich anderswohin gehen kann. An jedem Tag in den vergangenen fünf Jahren waren Sie unvernünftig, unnachgiebig, ein Ungeheuer, könnte man sagen. Doch ich wusste, dass ich hier am besten Erfahrungen für das sammeln konnte, was ich später machen will.“

„Und ich werde eine unschätzbare Referenz für den Rest Ihres Berufslebens sein, wenn Sie einfach tun, worum ich Sie jetzt bitte.“

Ja, er war unnachgiebig. Das war seine Art, sein innerstes Wesen. Niemand konnte Forschung auf seinem Niveau betreiben und gleichzeitig sein Mäntelchen nach dem Wind hängen. Seine Arbeit erforderte Fokus, Zielstrebigkeit, ein gewisses Maß an Egoismus. Zum Glück hatte er diese Eigenschaften immer besessen. Sein Vater fand ihn irritierend. Frustrierend. Ja, er war ein schwieriges Kind gewesen. Nie zufrieden. Immer besessen. Irgendwann war sein Vater gezwungen gewesen, allein mit ihm fertig zu werden, und das war nicht gut gegangen.

Einmal hatte sein Vater ihm gesagt, dass er es nie zu etwas bringen werde, weil niemand, der so seltsam sei, in der Welt zurechtkäme. Also hatte Luca es zu etwas gebracht. Nicht nur das. Mit seiner Arbeit veränderte er die Welt. Und seinen Erfolg verdankte er eben jenen Eigenschaften, die sein Vater abgelehnt hatte.

Luca hatte erkannt, dass er andere dafür bezahlen konnte, sich um Dinge zu kümmern, die ihm oder seiner Arbeit nicht dienten. Das reichte. Er musste sich nicht ändern. Er musste einfach nur einflussreich genug sein, um sein Umfeld ändern zu können. Er akzeptierte keine Kritik an seiner Persönlichkeit. Denn seine Persönlichkeit war irrelevant.

„Habe ich etwas von Ihnen verlangt, was nicht explizit in Ihrem Vertrag aufgeführt war?“

„In Ihrem Vertrag stand nicht, dass ich zu Ihnen nach Hause gerufen werden könnte, um mit Ihnen zu reden, wenn Sie mit nacktem Oberkörper dastehen.“

„Das scheint Sie zu verstören.“

Er bemerkte, wie ihre Wangen rosig anliefen. Seine Nacktheit machte sie betroffen, wie ihm mit Schrecken klar wurde. Sie war seine Assistentin. Sie war tabu für ihn. Dazu hatte er sie gemacht, als ihm auffiel, dass sie schön war. Es war ihm nicht sofort aufgefallen. Als er sie einstellte, wollte er nur eine inkompetente Person mit der nächsten ersetzen, wie es ihm zur Gewohnheit geworden war. Doch Polly hatte den Kreislauf durchbrochen. Sie war ein Ein-Personen-Managementteam geworden. Das Schweizer Taschenmesser unter den Assistentinnen.

Dann, am vierundzwanzigsten Mai vor vier Jahren, er erinnerte sich noch genau, hatte das Licht in seinem Büro einzelne Strähnen ihres Haares golden schimmern lassen, als sie ihm seinen Espresso reichte. Damals hatte ihn ein Hunger erfasst, wie er ihn noch nie zuvor verspürt hatte.

Sex war ein Appetit wie jeder andere. Er vergaß ihn manchmal, wie er vergaß zu essen, wenn er beschäftigt war. Doch irgendwann musste er gestillt werden, so hatte er es immer betrachtet. Eine Notwendigkeit. Deshalb fiel es ihm leicht, die Regeln einzuhalten. Und eine Regel lautete, dass man Untergebenen gegenüber keine sexuellen Annäherungsversuche unternahm. Polly war seine Untergebene, und eine äußerst wichtige dazu. Deshalb musste dieser Hunger unterdrückt werden.

Was er getan hatte. Nur wenige Dinge konnten sich ihm widersetzen, Polly tat es. Darum sollte es ihn nicht überraschen, dass die Stärke seines Verlangens nach ihr sich ebenfalls gelegentlich seinen Regeln widersetzte. Doch dem würde er nie nachgeben.

Zum ersten Mal erkannte er, dass sie dasselbe empfand. Sie wirkte stets aufgeweckt, effizient und pragmatisch. Obwohl er sich zu ihr hingezogen fühlte, hatte er nie über ihre Wünsche und Bedürfnisse nachgedacht. Er hatte nie von ihr als Person gedacht. Sie war ein Werkzeug. Ein hübsches. Aber sie war ihm nie als vollwertige Person erschienen. Warum auch? Das war weder vernünftig noch praktisch.

Nun stand sie vor ihm, errötete liebreizend und forderte, dass er ihre Gefühle bei der Arbeit berücksichtigte.

„Sie werden Ihren Job weitermachen. Keine Diskussion.“

„Zwei Wochen“, sagte sie, wobei ihre blauen Augen blitzten. Ihre Gesichtsfarbe nahm zu, vor Zorn, vermutete er. „Ich gebe Ihnen zwei Wochen. Und keinen Tag länger! Am Tag nach dem Gipfel kehre ich nach Italien zurück und werde Sie nicht wiedersehen.“

„Dann müssen Sie wohl per Linienflug reisen. Wie schön für Sie.“

Sie lachte. „Das habe ich vorher überlebt und werde es wieder tun.“

„Da bin ich mir nicht so sicher. Sie haben wohl vergessen, was ich Ihnen gegeben habe, weil Sie so an Ihrer eigenen Geschichte hängen. Wir wissen beide, dass Sie keine Person von Welt sind, wie Sie vorgeben. Als ich Sie traf, hatten Sie keinerlei Berufserfahrung.“

„Ich war noch in der Ausbildung.“

„Und die haben Sie bekommen. Aber viele Leute haben Abschlüsse. Was Sie von denen unterscheidet, ist Ihre ganz spezielle Berufserfahrung.“

Sie sah empört aus. Weil er recht hatte. Das wusste er.

„Was mich unterscheidet, ist mein unvernünftiger Chef.“

„Welcher Chef würde es einer Angestellten erlauben, vor so etwas Wichtigem einfach zu gehen?“ Er neigte nicht dazu, seine persönliche Geschichte mit aller Welt zu teilen. Dass seine Mutter an Krebs gestorben war, konnte jeder selbst herausfinden. Doch er sprach nicht darüber. Es wäre für jeden ersichtlich, dass seine Arbeit auf persönlicher Erfahrung beruhte. Er wusste nicht, ob Polly das wusste. Und er hatte nicht vor, es ihr zu sagen. Es sollte keinen Unterschied machen.

„Es geht nicht darum, ob es erlaubt ist. Für gewöhnlich gehört eine Angestellte ihrem Vorgesetzten nicht. Aber Sie behandeln mich so.“

„Ich erinnere Sie erneut an den Vertrag …“

„Mehr bin ich nicht für Sie, oder? Ich bin ein Vertrag. Was Sie verlangen, muss nicht vernünftig oder menschlich sein, es muss nur im Vertrag stehen. Es kümmert Sie nicht, warum ich gehen will.“

„Sie haben es selbst gesagt. Sie haben nicht den Wunsch, für immer Assistentin zu sein.“

„Stimmt. Aber vor allem habe ich nicht den Wunsch, für immer Ihre Assistentin zu sein.“

Er lächelte. „Soll mich das jetzt verletzen? Glauben Sie, Sie sind die Erste, die mir sagt, ich sei schwierig? Unangenehm? Ich weiß das. Es ist mir egal. Wichtig ist nur, dass ich das schaffe, was ich mir vorgenommen habe. Ich will keine Freunde. Ich will keine Ehefrau. Ich will keine Kinder. Ich will keines der Dinge, für die ich die Art von Persönlichkeit entwickeln müsste, die andere Menschen angenehm finden. Ich will Leben retten. Das mache ich. Wenn Sie mich unter diesen Vorzeichen für gefühllos halten, muss ich das akzeptieren.“

Sie wirkte unentschlossen. Doch sie erhob keine Einwände. „Sie haben Ihre zwei Wochen. Aber erwarten Sie nicht, dass ich mich darüber freue.“

„Ich benötige Ihre Freude nicht, cara. Nur Ihre Vertragstreue.“

3. KAPITEL

In der folgenden Woche musste Polly alles an Willensstärke aufbieten, was sie besaß. Zum Glück besaß sie reichlich davon. Es war beinahe so, als legte Luca es darauf an, schwierig zu sein, um sie dafür zu bestrafen, dass sie es wagte, ihn zu verlassen. Bei jedem anderen hätte sie das geglaubt. Doch Luca machte nichts einfach so, und sie hatte ihn nicht einmal kleinlich erlebt. Er machte nur, was notwendig war. Zumindest, was er für notwendig hielt. Das Problem war, dass das, was er für notwendig hielt, anderen nicht immer notwendig erschien. Sie eingeschlossen. Deshalb der Streit über seine nächtliche Anzugauswahl.

Wo ein anderer vielleicht versucht hätte, besonders entgegenkommend zu sein, um sie zu überzeugen, dass sie einen Fehler beging, oder sich bemüht hätte, ihre letzte Woche besonders miserabel zu machen, war Luca einfach Luca. Vor dem Gipfel war er nur mehr er selbst als sonst – eine besondere Form von schwierig, die fast eine eigene Kategorie verdiente. Der Luca-Salvatore-Effekt. Vielleicht sollte sie nach ihrer Kündigung medizinische Studien an ihrem Gehirn vornehmen lassen. Dann würde es eventuell als Krankheit anerkannt. Was mit einer Person geschah, die über lange Zeit Luca ausgesetzt war. Dann würde sich Luca eventuell dafür interessieren und mehr darüber lernen. Vielleicht war das der Weg zu persönlicher Weiterentwicklung für ihn. Bei dem Gedanken musste sie lächeln. Sie unterdrückte es.

Sie war erschöpft. Sie war fest entschlossen, zu gehen. Sie träumte von dem neuen Job. Von der Freiheit, die sie dort hätte. Von der Freiheit normaler Arbeitszeiten, statt rund um die Uhr auf Abruf bereitzustehen. Von der Freiheit, ihren Arbeitsplatz zu verlassen und nicht an ihren Chef zu denken. Ständig. Ununterbrochen. Jeden Moment des Tages. Sogar jetzt, in ihrer Wohnung, während sie telefonisch die Einzelheiten mit dem Hotel in Singapur besprach, dachte sie an Luca. Daran, sein Zimmer vorzubereiten. Daran, dass seine Laune nach ihrer Ankunft noch starrer werden würde, weil er an die Rede dachte und nicht in seinem Element wäre, ein notwendiges Übel, für das er seine Forschung unterbrechen musste.

Dann wandten sich ihre Gedanken der Nacht zu, in der sie gekündigt hatte. Seine nackte Brust. Der Ärger in seinen Augen. Diese verwirrende Kombination ging ihr nicht aus dem Sinn. Das war das Problem. Es war nicht nur ein Job. Anfangs war es ums Überleben gegangen, dann darum, ihre Träume zu verwirklichen, und irgendwann … um ihre Gefühle für Luca. Er war der allerschlimmste. Sie wusste das. Er war unvernünftig. Er tat Dinge, die kein normaler Mensch tun würde, und er erwartete von ihr, Dinge zu tun, die kein zurechnungsfähiger Mensch von seinen Angestellten erwarten würde. Dennoch kam sie seinen Launen im Voraus nach. Sie empfand sogar den seltsamen Wunsch, sich schützend vor ihn zu stellen.

Hinzu kam, dass er verdammt heiß war. Was sie davon abhielt, sich einem anderen Mann zuzuwenden. Deshalb steckte sie nun in einem Haufen unangenehmer Gefühle fest, die sie nicht haben wollte. In den letzten fünf Jahren hatte sich ihr Leben nur um ihn gedreht. Vielleicht war das ja das Problem. Es gab sonst nichts und niemanden. Sie hatte sich zu sehr darauf konzentriert, ihr Leben zu ändern, sich etwas Besseres aufzubauen. Deshalb hatte sie ihren Job allumfassend werden lassen. Sie wollte verzweifelt dem entfliehen, was sie gewesen war. Nie in das Leben zurückkehren, das sie mit ihren Eltern geführt hatte. Kontrolle haben.

So merkwürdig es auch war, obwohl Luca ein Tyrann war, kontrollierte sie sein Leben. Sie kümmerte sich um alle Aspekte seines täglichen Lebens. Sie hatte das Steuer in der Hand. Vielleicht war das ihr Problem. Sie stand kurz vor einer Veränderung. Niemand mochte Veränderung. Selbst wenn man sie wollte, wenn sie unvermeidlich schien, war sie angsteinflößend. Sie würde aus Rom wegziehen. Es war die letzten fünf Jahre ihr Zuhause gewesen. Sie hatte die USA zum ersten Mal verlassen und nicht vermisst. Sie war nicht zurückgekehrt. Zwar war sie gereist, aber das hier war ihre Heimat gewesen. Seit drei Jahre wohnte sie in derselben Wohnung. Sie ließ alles hinter sich, was sie kannte. Deshalb fühlte sich alles so unsicher an. Es ging nicht um Luca. Weil sie nicht glauben wollte, dass sie wärmere Gefühle für Luca hegte. Wo er doch der unvernünftigste Mensch auf Erden war.

Und doch. Sie war unwichtig für ihn. Dass sich sein Verhalten in der letzten Woche in keinster Weise geändert hatte, bewies das. Ihr Weggang bedeutete ihm nichts. Anfangs hatte es ihn zwar verstört, weil er keine Kontrolle über diese Änderung hatte. Luca war ein Meister darin, Veränderungen nicht zu mögen. Doch es hatte nichts mit ihr zu tun. Nichts damit, dass er sie in der Nähe haben wollte oder sie irgendwie gern hatte. Dasselbe galt für sie. Sie hatte ihn nicht gern. Sie hing nur an ihrer Lebensweise. Das war alles.

Als die Reise zum Gipfel schließlich anstand, hatte sie das Gefühl, dass jeden Moment eine Guillotine herabfallen würde. Denn es war so weit. Der Weg war zu Ende. Vielleicht hätte sie noch etwas länger in Singapur bleiben sollen. Ein wenig Zeit zwischen dem Ende eines Jobs und dem Beginn eines anderen. Zeit, um einen Teil der Welt zu erkunden, den sie nicht kannte, und vielleicht etwas Neues zu erleben. Kurz stellte sie sich vor, vollkommen loszulassen. Sich zu vergessen. Einen Mann zu finden – der nicht Luca war – und sich in ein wildes Abenteuer zu stürzen. Alles in ihr sträubte sich gegen diesen Gedanken. So war sie nicht. Sie war nicht aus Prinzip noch Jungfrau. Es war nur … Er beschäftigt dich. War das der einzige Grund? Ja, er war sexy. Umwerfend wie kein anderer Mann in ihren Augen, aber sie hegte keine Gefühle für ihn. Unmögliche Anziehung konnte nicht der einzige Grund sein, aus dem sie nie einen Liebhaber hatte. Sie schob den Gedanken beiseite, da Luca jeden Moment eintreffen würde.

Prüfend ging sie durch das Privatflugzeug, um sicherzustellen, dass alles in Ordnung war. „Ich sehe keine drei Notizbücher“, sagte sie.

Die Stewardess runzelte die Stirn. „Sind da nicht zwei?“

„Dr. Salvatore hat drei verlangt. Das ist Standard auf Flügen über drei Stunden.“

„Kann er kein eigenes mitbringen?“

Ihre Nackenhaare stellten sich auf. „Dr. Salvatore bezahlt nicht Personal dafür, alles vorzubereiten, um seine wertvolle Zeit darauf zu verwenden, über die Anzahl seiner Notizbücher nachzudenken.“

Da war sie wieder. Die Entrüstung, die sie in seinem Namen verspürte, wenn nicht alles so war, wie er es verlangte. Sie hatte diesen Job nicht all die Jahre gemacht, ohne eine gewisse Indoktrination zu erleben. Der Mann heilte Krebs. Das wog es irgendwie auf, dass er ein Arschloch war. Das hieß nicht, dass sie ewig für ihn arbeiten konnte oder wollte, aber es war nicht so, als könnte sie beweisen, dass seine exzentrischen Ansichten nicht gerechtfertigt waren. Die Frau sah Polly schief an, und Polly kam sich … entblößt vor. Als würde die Flugbegleiterin dahinter etwas anderes vermuten als Professionalität, und das gefiel Polly nicht.

„Sie müssen neu sein“, sagte Polly und sah die andere Frau schneidend an. Sie klammerte sich an ihre hochmütige Assistentinnenfassade, weil es besser war, als durchschaut zu werden. In diesem Moment hörte sie Schritte hinter sich. Als sie sich umdrehte, stand Luca da. Ihre körperliche Reaktion bei seinem Anblick war ihr unerklärlich. Immerhin hatte sie ihn erst gestern gesehen. Doch hatte sie nicht die letzte Woche versucht zu entwirren, warum ihre Gefühle für ihn, für ihren Abschied, nicht so eindeutig waren, wie sie sollten?

„Es gibt ein Problem mit den Notizbüchern“, sagte Polly langsam. „Aber es wird geklärt.“

Sein Blick blieb unverwandt auf sie gerichtet. „Gut.“

Polly rief den Concierge-Service am Flughafen an. „Könnten Sie in den nächsten fünfzehn Minuten ein Notizbuch zum Flugzeug von Dr. Salvatore bringen? Ja.“ Sie gab die Einzelheiten durch und legte auf. „Alles wird bereit sein“, sagte sie. Er nickte einmal und verschwand im Schlafzimmer am Heck des Fliegers.

Sie atmete auf, und die Stewardess sah sie an. „Haben Sie Angst vor ihm? Sorgen Sie sich deshalb so um seine Notizbücher?“

Die Frau dachte, Polly hätte Angst? Sie runzelte die Stirn. „Ich habe keine Angst vor ihm. Aber Dr. Salvatore ist ein Genie. Er benötigt gewisse Dinge, damit er den Kopf frei hat, um über Medizin nachzudenken. Ich höre bald auf, aber …“

„Ach, dann mögen Sie es nicht. Oder ihn.“

Plötzlich herrschte ein seltsamer Meinungskrieg zwischen ihr und der anderen Frau. Als wollte sie Polly dazu bringen, zuzugeben, dass Luca unvernünftig war. Dem stimmte Polly zwar zu, aber sie konnte ihn einordnen. Und das würde sie der anderen Frau nicht erzählen.

„Falls Sie ein Problem mit Dr. Salvatore und seiner Arbeitsweise haben, sollte dies vielleicht Ihr erster und letzter Flug mit ihm sein“, erklärte sie bissig.

Luca wählte diesen Moment, um aus dem Schlafzimmer zu kommen. „Es gibt keinen Grund, mich zu verteidigen, Polly. Obwohl ich es schätze. Mir war nicht bewusst, dass Ihnen mein Image so wichtig ist. Andererseits ist es mir egal, ob mich die Flugbegleiterin vernünftig findet oder nicht.“ Er wandte sich der anderen Frau zu. „Sie muss lediglich ihre Arbeit machen. Ist das möglich?“ Die Flugbegleiterin nickte so eingeschüchtert, wie es Polly längst nicht mehr war.

Nachdem das Notizbuch gebracht worden war, konnten sie abheben. Polly versuchte, das Geschehene vom Standpunkt einer Frau zu bewerten, die Luca noch nie begegnet war. Dann analysierte sie ihre eigene Reaktion. Es war unvernünftig zu denken, dass Luca drei Notizbücher brauchte. Luca mochte das glauben, aber das war nur … eine seiner speziellen Gewohnheiten. Sie fragte sich, wann sie diesen Gewohnheiten gegenüber so verständnisvoll geworden war. Sie würde gern glauben, dass sie es nicht war, dass sie nur ihren Job so gut machte wie immer, bis zuletzt. Schließlich war sie wütend geworden, weil er sie um Mitternacht in seine Wohnung gerufen hatte. Aber lag das an der Lächerlichkeit der Forderung, der Uhrzeit oder der Art und Weise, wie sie sich bei seinem halbnackten Anblick gefühlt hatte?

Du braucht es nicht zu wissen. Weil du bald einen neuen Job hast. Sie fühlte sich erleichtert. Zum ersten Mal diese Woche. Vielleicht zum ersten Mal seit fünf Jahren. Sie musste die Antwort auf die Frage nach Luca nicht wissen. Weil sie kein Teil seines Lebens mehr sein würde. Du warst nie Teil seines Lebens. Du könntest genauso gut ein Briefbeschwerer sein. Ein Briefbeschwerer, den er wirklich mochte, aber trotzdem ein Briefbeschwerer.

Sie hatte sich daran gewöhnt, im Privatjet zu fliegen. Doch sie brauchte keinen Luxus. Sie wollte wichtig sein. Eine Hauptfigur in ihrem Leben. Das war sie in ihrer Kindheit nie gewesen. Für ihre Eltern hatte sie nur eine Nebenrolle gespielt, und sie war es leid. Mit Luca war es dasselbe. Er kannte nur eine Sichtweise, und zwar seine. Alles andere gehörte zu den unbedeutenden Extras.

Wie üblich, redeten sie auf einem langen Flug nicht. Sie hatte ein Buch dabei, und Luca füllte alle Notizbücher. Manchmal fragte sie sich, ob er das tat, weil er beweisen wollte, dass seine exzentrischen Anweisungen notwendig waren. Vielleicht wusste er aber auch nur, dass ein langer Flug drei Notizbücher voller Gedanken ergeben würde.

„Sie könnten Ihre Notizen digitalisieren.“ Sie wusste nicht, warum sie das sagte. Nachdem sie ihm stundenlang gegenüber gesessen hatte, bettelte dieser Kommentar förmlich darum, gemacht zu werden. Obwohl sie es besser wusste.

„Ich sehe keinen Grund, etwas zu ändern, was funktioniert“, erwiderte er, ohne aufzusehen.

„Sie haben endlose Stapel Notizbücher.“

„Ja. Ich habe auch den Platz dafür.“

„Wenn sie digitalisiert wären, könnten sie durchsucht werden.“

Er sah sie an, als wäre ihr ein zweiter Kopf gewachsen. „Ich weiß, was in jedem Notizbuch steht.“

Seine Ernsthaftigkeit erinnerte sie daran, warum es manchmal leichtfiel, ihn zu verteidigen. Er war nicht absichtlich schwierig oder eigensinnig. Er verstand wirklich nicht, warum sie so etwas vorschlug. Sie fragte sich, wie seine Kindheit mit solch einem Gehirn gewesen sein musste. Hatten die Leute schon damals Ehrfurcht vor ihm?

„Waren Sie schon immer so?“, fragte sie unwillkürlich. Warum auch nicht? Sie hörte auf.

„Wie so?“

„Sie sind so penibel. Bei allem. Und überzeugt. Obwohl Ihre Überzeugungen für gewöhnlich begründet sind.“

„Sie arbeiten seit fünf Jahren für mich, und erst jetzt fragen Sie sich das?“

„Ich höre bald auf. Vielleicht frage ich deshalb.“ Ihr wurde bewusst, dass hierbei die Uhr lief. Sie würde sich oder ihr Leben in den letzten fünf Jahren nie verstehen, wenn sie ihn nicht verstand. Plötzlich erschien es dringend.

„Ich weiß nicht, wie ich die Frage beantworten soll. Ich war schon immer ich. Hatten Sie schon immer Ihr durchschnittliches Erinnerungsvermögen?“

„Ja. Ich war schon immer so.“

„Ich auch. Auch wenn ich nicht immer an Medizin interessiert war. Meine Mutter starb, als ich zehn war. Das hat mein Leben verändert.“

Er sprach sachlich, doch in seinem Ton lag eine Intensität, die sie erkannte. Sie tauchte bei bestimmten medizinischen Entdeckungen auf.

„Das tut mir leid.“ Sie hatte nie über Lucas Eltern nachgedacht. Für sie war er als erwachsener Mann aus dem Boden geschossen. Es war unmöglich, ihn sich als Kind vorzustellen. Und nun stellte sie ihn sich als verletztes Kind vor.

„Ich beschloss herauszufinden, was getan werden konnte. Um zu verhindern, dass andere so starben wie sie. Ich wollte es wieder in Ordnung bringen. Natürlich geht das nicht. Ich kann vielleicht verhindern, dass andere sterben, aber ich kann sie nicht zurückbringen. Doch daran dachte ich nicht als Kind. Ich war getrieben, das zurückzuholen, was ich verloren hatte.“ Er zuckte eine Schulter. „Jetzt bin ich nur getrieben.“

Viele seiner Angestellten hielten ihn für gefühllos. Doch sie hatte immer gewusst, dass das nicht stimmte. Er hatte sehr viele Gefühle im Hinblick darauf, was er wollte und brauchte. Er konnte fordernd, aufbrausend und schlecht gelaunt sein. Was sie nicht erlebt hatte, waren … sanftere Empfindungen. Doch nun sah sie sich gezwungen, ihn sich als kleinen Jungen vorzustellen. Der seine Mutter vermisste. Der glaubte, sie mithilfe seines erstaunlichen Gehirns zurückbringen zu können.

„Woran haben Sie vorher gedacht?“, fragte sie.

„Spielzeugautos.“

„Spielzeugautos?“

„Alle Autos. Aber ich hatte eine große Sammlung an Spielzeugen.“

„Haben Ihre Eltern Ihnen die gekauft?“

„Meine Mutter. Mein Vater fand es seltsam. Etwas so obsessiv zu sammeln und sämtliche Details darüber zu wissen.“ Er verzog den Mund. Beinahe ein Lächeln und auch wieder nicht. „Es ist seltsam. Er hatte recht.“

Ihr Mitgefühl überraschte sie. Als sie in sein unbewegliches, schönes Gesicht sah, während er von Verlust erzählte, von Schmerz. Dem Gefühl, anders zu sein. Ein Außenseiter. Das kannte sie nur zu gut. Sie hatte sich immer außen vor gefühlt. Nie konnte sie Freunde mit nach Hause bringen, weil ihre Eltern so unberechenbar waren. Sie schuf sich eine Maske der Leichtigkeit. Sie lernte, sich in eine nette Version von jemandem zu verwandeln, dessen Leben und Kindheit ganz normal verliefen. Sie lernte, sich zu verschließen, um sich vor den Beleidigungen ihrer Mutter und den verbalen Wutausbrüchen ihres Vaters zu schützen, dem nichts zu gemein war, um eine Reaktion zu bewirken. Als wäre es die ultimative Quelle der Macht, andere zum Weinen zu bringen. Sie war zu einer emotionslosen Hülle geworden. Sie beobachtete, zog ihre Schlüsse, doch nie gab sie die verborgenen, echten Teile von sich preis, weil sie sich damit dem Schmerz öffnen würde. Sie hatte gedacht, dass sie das gegen Luca wappnen würde. Doch er war nicht manipulativ. Luca konnte nur Luca sein. Vielleicht war es diese fehlende Fassade, die ihre Schutzmauern schließlich durchbrochen hatte.

„Ich finde es nicht so seltsam“, sagte sie leise. „Und überhaupt, warum sollte man seinem Kind das Gefühl geben, seltsam zu sein?“

„Er wollte nicht, dass ich es war. Mein Vater war ziemlich erfolgreich. Er wollte, dass ich so war wie er. Doch dazu glaubte er, dass ich mich anders benehmen müsste. Er war ein Verkäufer. Bei ihm drehte sich alles um Beziehungen. Ich war schlecht darin. Doch ich bin auf meine Weise erfolgreich geworden. Ich muss nicht die Dinge lernen, die er für wichtig hielt. Ich muss mich nur auf meine Stärken stützen.“ Er blickte auf seine Notizbücher und dann wieder zu ihr. „Und das bedeutet, drei echte Notizbücher auf einem Langstreckenflug auszufüllen.“

Sie seufzte. „Dagegen kann ich wohl nichts einwenden.“

„Das könnten Sie“, gab er zurück.

Ja, aber das wäre, als würde sie gegen eine Mauer rennen. „Ich muss es nicht.“

Sie beschloss, etwas zu schlafen. Als sie landeten, war sie ausgeruht. Ein Auto holte sie vom Flugzeug ab, und sie tat ihr Bestes, nicht über ihr Gespräch nachzugrübeln. Nicht sentimental zu werden. Warum hatte sie ihm bloß diese Fragen gestellt? Sie konnte ihn sich vorstellen – ein kleiner Junge, dem nur ein Elternteil geblieben war, der ihn nicht verstand. Es versetzte ihr einen Stich. Natürlich war Luca jetzt ein genialer Milliardär, und wenn die Leute ihn nicht verstanden, sagten sie meist nichts. Doch es war Teil seines Lebens. Ein Aspekt seiner Persönlichkeit. Er musste immer noch damit zurechtkommen.

Er war ein furchtbarer Chef, unflexibel und stur. Doch er war in keinster Weise wie ihre Eltern. Vielleicht verspürte sie deshalb, gegen ihren Willen, Zuneigung zu ihm. Oder etwas, was an Zuneigung grenzte. Die Erkenntnis ließ ihr Herz höher schlagen, und sie fing an, ihre Umgebung zu katalogisieren. Die schönen Gebäude, die makellose Sauberkeit. Es war einer der spektakulärsten Orte, die sie je gesehen hatte, wo natürliche Pracht auf menschengemachte Innovationen traf. Sie verstand, warum er diesen Ort gewählt hatte, um neue Fortschritte in der Medizin zu präsentieren. Dieser Ort fühlte sich wie die Zukunft an.

Luca war brillant in allem, was seine Arbeit betraf. Und das genaue Gegenteil in jeder anderen Hinsicht. Doch er war ehrlich. Bei ihm wusste man immer, woran man war. Vielleicht hatte sie deshalb keine Angst vor ihm. Vielleicht war sie deshalb nicht von ihm eingeschüchtert wie viele andere. Sie wusste gern, wo sie stand. Auch wenn der Boden rutschig war.

Als sie am Hotel ankamen, war sie kurz sprachlos von dessen Pracht. Auf ihren Reisen mit Luca hatte sie einiges an Luxus erlebt, doch das hier übertraf ihre Erwartungen. Das Hotel war ein rechteckiger Turm mit großen offenen Bereichen, die mehrere Stockwerke umfassten und von beleuchteten und berankten Säulen getragen wurden. Eine prachtvolle Darstellung der Natur inmitten der Stadt. In der modernen Lobby stand eine große Glassäule, in der wie in einem Gewächshaus ein echter Dschungel wuchs.

Luca würdigte seine Umgebung kaum eines Blickes. Stattdessen ging er auf sein Zimmer und überließ Polly alles Weitere. Es störte sie nicht. Das würde sie ablenken. Solche Veranstaltungen mochte sie am meisten an ihrer Arbeit. Dabei musste sie seine interpersonellen Fähigkeiten in gewissem Grade ausgleichen, was ihr gefiel. In vielerlei Hinsicht war sie Lucas Vermarkterin. Seine Arbeit verkaufte sich von selbst, aber er …

Es war fast Zeit für die Eröffnungsrede. Natürlich würde Luca sie halten. Als Redner war er sehr überzeugend. Was ihm an Fähigkeiten fehlte, Kontakte im Saal zu knüpfen, machte er auf der Bühne mehr als wett. Er war magnetisch. So gut aussehend. So faszinierend. Vielleicht war sie voreingenommen. Das glaubte sie nicht. Bis letzte Woche war sie überzeugt gewesen, dass sie sich nichts aus ihm machte, doch nun, da ihr Abschied bevorstand, nahmen ihre Gedanken eine andere Wendung.

Mit ihrer Schlüsselkarte für sein Zimmer ließ sie sich ein. Und blieb wie angewurzelt stehen, als er mit nichts als einem Handtuch um die Hüften aus dem Bad kam. Wassertropfen glitten über seine breite, muskulöse Brust, und Verlangen traf sie wie ein Pfeil zwischen ihren Schenkel. Warum war sie dazu verdammt, ihn so oft halb bekleidet anzutreffen?

„Tut mir leid.“ Sie spürte, wie ihr Gesicht sie verriet. Es fühlte sich so heiß an, dass es knallrot sein musste.

„Das macht nichts“, erwiderte er, als wäre ihm nichts aufgefallen.

Obwohl er von seiner Arbeit besessen schien, wusste sie, dass er Geliebte hatte. Sie gehörten zu ihren Aufgaben, wenn er zu beschäftigt war, sich um sie zu kümmern. Wenn er mit ihnen fertig war, war er fertig. Doch ihr war er immer so leidenschaftslos erschienen. Es war unmöglich, sich vorzustellen, wie er war, wenn er mit einer Frau zusammen war. Wenn er … Vielleicht sollten Jungfrauen keinen Fantasien darüber nachhängen, wie ihre Vorgesetzten Liebe machten. Zweifellos machte Luca keine Liebe. Vermutlich wäre er der Erste, der das zugeben würde. Dafür konnte sie ihn nicht einmal hassen. Er war ehrlich. Vielleicht verdiente das Anerkennung. Doch gerade war es nicht seine Ehrlichkeit, die sie anerkannte.

„Es ist nicht professionell“, erklärte sie.

„Richtig“, sagte er. Kurz wirkte er reumütig. Ihr wurde klar, dass er dachte, sie hätte ihn gemeint.

„Ich meinte mich“, sagte sie. „Ich hätte anklopfen sollen.“

„Sie haben aus gutem Grund einen Schlüssel für mein Zimmer. Sie sollen mir assistieren, ohne zu unterbrechen.“

„Trotzdem. Vielleicht hätte ich mich vergewissern sollen, dass Sie nicht unbekleidet sind.“

„Ich bin keine Jungfrau.“

„War das ein Scherz?“

„Ja und nein. Es stimmt. Aber es war auch witzig gemeint.“

Unwillkürlich musste sie lachen. Nicht jeder Moment in den letzten fünf Jahren war schrecklich gewesen. Dieser hier war es bestimmt nicht.

„Amüsant.“ Plötzlich spürte sie eine Spannung zwischen ihnen und wandte sich ab. „Ich mache mich jetzt fertig und treffe Sie dann im Ballsaal.“

„Wie Sie wünschen.“

4. KAPITEL

Luca ging Pollys Gesichtsausdruck nicht aus dem Sinn. Sie hatte seinen Körper angesehen. Und das nicht zum ersten Mal. Das hatte sie auch in seiner Wohnung getan, als sie gekündigt hatte. Sie nahm ihn körperlich wahr. Zudem war sie fast nicht mehr seine Assistentin, was seine Selbstbeherrschung ins Wanken brachte. Er durfte sie nicht begehren. Und doch.

Er mochte klare Regeln, und er mochte es, sie zu befolgen. Er verbrachte so viel Zeit damit, über die Mysterien der Menschheit nachzusinnen. Die Wissenschaft. Den menschlichen Körper und was Menschen erreichen konnten, wenn sie diesen Körper studierten. In seinem Leben gab es keinen Platz für Grauzonen. Polly hatte ihm zum ersten Mal den Blick dafür geöffnet, welche Verlockung es war, nach etwas zu greifen, was man nicht berühren sollte.

Besessenheit nannte er es. Mit Besessenheit kannte er sich aus, und das musste nichts Sexuelles sein. Es war ihm nicht verboten, ihre Kleidung und ihre Eigenheiten zu katalogisieren oder die Art, wie sich ihr Haar bewegte, wenn sie den Kopf schüttelte. Und wie es sich änderte, je nachdem, ob sie amüsiert, genervt oder verärgert war. Besessenheit, weil es nicht mehr sein konnte. Weil sie seine Assistentin war und er seine Machtposition nie ausnutzen würde, um sie zu verführen. Er dachte daran, dass sie ihn verlassen würde, und wieder überkam ihn Wut. Doch etwas an dieser Wut fachte das Feuer dieses verbotenen Verlangens noch mehr an.

Diese Art von Anziehung kannte er nicht. Er fühlte sich zu Frauen hingezogen. Ihre runden Körper, ihre Weichheit. Er hatte keine besonderen Vorlieben hinsichtlich Figur oder Aussehen. Ihm gefiel das Gesamtbild von Weiblichkeit. Weiche Haut, blumige Düfte. Wenn er seinem Verlangen nachgab, schätzte er jeden Aspekt davon. Doch es war nie wie jetzt. Diese schmerzliche Anziehungskraft, die er seit jener Nacht letzte Woche verspürte. Dass sie ihn im Flugzeug verteidigt hatte, fügte dem Ganzen noch eine seltsame Empfindung hinzu. Er mochte nichts Neues. Er war sich gern sicher. Bei seiner Arbeit hatte er es mit dem Wundersamen und Rätselhaften zu tun. Davon brauchte er nicht noch mehr. Dennoch faszinierte ihn ihr neues und verstörendes Verhalten. Und so leicht verstörte ihn nichts.

„Bereiten Sie sich vor“, sagte er.

Sie nickte und verließ eilig das Zimmer, so effizient wie immer. Er blieb zurück, um sich vorzubereiten. Seine gesamte Kleidung war ausgewählt und geordnet, damit er den passenden Anzug für jede Rede finden konnte. Ihm war es egal, ob andere das verstanden, aber für ihn griff jedes Detail ins andere. Das w...

Autor

Caitlin Crews
<p>Caitlin Crews wuchs in der Nähe von New York auf. Seit sie mit 12 Jahren ihren ersten Liebesroman las, ist sie dem Genre mit Haut und Haaren verfallen und von den Helden absolut hingerissen. Ihren Lieblingsfilm „Stolz und Vorurteil“ mit Keira Knightly hat sie sich mindestens achtmal im Kino angeschaut....
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Jc Harroway
<p>JC Harroway beschreibt sich selbst als "liebesromansüchtig". Für ihre Autorinnenkarriere gab sie sogar ihren Job im medizinischen Bereich auf. Und sie hat es nie bereut. Sie ist geradezu besessen von Happy Ends und dem Endorphinrausch, den sie verursachen. Die Autorin lebt und schreibt in Neuseeland.</p>
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Rachael Stewart
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