Julia Gold Band 57

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DIE GELIEBTE DES KÖNIGS von PORTER, JANE
Energisch stellt Jesslyn ihre Bedingung: Nur wenn König Sharif ihren Schützlingen hilft, wird sie sich einen Sommer lang um seine mutterlosen Töchter kümmern. Für die Mädchen da zu sein, fällt Jesslyn nicht schwer - wohl aber dem faszinierenden Wüstensohn zu widerstehen …

UNSERE INSEL DER LEIDENSCHAFT von SELLERS, ALEXANDRA
Mit wehendem Schleier flieht Prinzessin Noor vor dem Jawort. Und traut ihren Augen nicht: Ausgerechnet der feurige Wüstenprinz Bari, ihr Bräutigam, dem sie entkommen will, hat sich ins Flugzeug geschmuggelt … und nun muss sie mit ihm auf einer einsamen Insel notlanden!

TAUSENDUNDEINE NACHT MIT DIR von WEST, ANNIE
Um Belle zu retten, muss Scheich Rafiq einen hohen Preis zahlen: Die Entführer verlangen die Kette, die der Herrscher von Q’aroum seiner Verlobten schenkt. Wie soll Rafiq erklären, dass er das Kleinod für eine Fremde geopfert hat? Die Lösung: Belle muss ihn heiraten …


  • Erscheinungstag 18.07.2014
  • Bandnummer 0057
  • ISBN / Artikelnummer 9783733704896
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Jane Porter, Alexandra Sellers, Annie West

JULIA GOLD BAND 57

Stolze Söhne der Wüste

JANE PORTER

Die Geliebte des Königs

Wer wird die neue Königin an der Seite des zukünftigen Herrschers von Sadad? Viele Frauen umschwärmen den stolzen Wüstenkönig Sharif Fehz und würden ihm jeden Wunsch erfüllen. Nur nicht die eine, die er begehrt: die junge Engländerin Jesslyn. Weil er allerdings dringend eine Lehrerin für seine Kinder braucht, greift Sharif zu einem raffinierten Trick …

ALEXANDRA SELLERS

Unsere Insel der Leidenschaft

Scheich Bari al Khalid kann seinen glühenden Zorn auf die schöne Noor kaum zügeln. Nicht nur, weil er seiner widerspenstigen Braut, die ihn sitzen ließ, nachjagen musste. Wegen eines heftigen Gewitters strandet er mit ihr auch noch auf einer kleinen Vulkaninsel – und immer stärker brennt das Verlangen in ihm. Wird das Eiland zu ihrem Paradies der Liebe?

ANNIE WEST

Tausendundeine Nacht mit dir

„Ich bin hier, um Sie zu befreien.“ Als Belle ihren Retter sieht, verspürt sie eine unbändige Erleichterung: Wie ein Held aus 1001 Nacht steht er vor ihr und sie verliert ihr Herz an den Regenten des Scheichtums Q’aroum. Obwohl es zwischen ihr und dem Wüstenprinzen knistert, will Rafiq nichts von Gefühlen wissen – stattdessen spricht er von einer Vernunftehe …

PROLOG

Wie bittet ein König um einen Gefallen?

König Sharif Fehz ging gedankenverloren durch den Palastgarten und pflückte eine Rose. Versonnen betrachtete er die halb geöffnete Knospe, deren Blütenblätter gegen seine dunkle Haut blass und zart wirkten. In der sengenden Hitze seines Wüstenstaates war es ausgesprochen schwierig, Rosen zu züchten. Doch genau das machte sie besonders wertvoll.

Also … wie stellte ein König es an, um Hilfe zu bitten?

Wie sollte er vorgehen, um zu bekommen, was er so dringend benötigte?

Behutsam, gab er sich selbst die Antwort. Ganz behutsam …

1. KAPITEL

Beim Verlassen des Sekretariats klapperten die flachen Absätze von Jesslyn Heatons praktischen marineblauen Pumps auf dem Fliesenboden.

Endlich! Der letzte Schultag!

Glücklicherweise waren die Schüler – die dank Muffins und einer knallroten Früchtebowle satt und zufrieden waren – bereits nach Hause gegangen. Jetzt musste sie nur noch ein paar letzte Handgriffe verrichten und ihren Klassenraum endgültig zusperren, dann konnte auch Jesslyn in die Sommerferien starten.

„Wissen Sie schon, wie Sie Ihre Ferien verbringen, Miss Heaton?“, fragte ein schlaksiger Junge. Seine dünne, leicht näselnde Stimme zitterte ein wenig.

Überrascht schaute sie von den Unterlagen auf, die sie kurz zuvor aus ihrem Fach im Sekretariat geholt hatte. „Aaron, du bist noch da? Die Schule ist doch seit Stunden aus.“

Der sommersprossige Teenager errötete heftig. „Ich habe etwas vergessen“, murmelte er. Mit glühenden Wangen zog er ein kleines Päckchen aus seinem Rucksack hervor. Es war in weißes Papier eingeschlagen und mit einer roten Seidenschleife versehen. „Für Sie. Meine Mom hat es ausgesucht, aber es war meine Idee.“

„Ein Geschenk!“ Jesslyn lächelte und klemmte den Stapel Papiere unter den Arm, um das Päckchen entgegenzunehmen. „Das ist sehr lieb von dir, Aaron. Aber das wäre wirklich nicht nötig gewesen. Wir sehen uns doch gleich nach den Sommerferien …“

„Ich komme nicht zurück.“ Er hob die mageren Schultern und setzte umständlich den Rucksack wieder auf den Rücken. „Wir ziehen in den Ferien um. Dad ist zurück in die Staaten versetzt worden.“

Seit sechs Jahren unterrichtete Jesslyn die Mittelstufe einer kleinen Privatschule in den Vereinigten Arabischen Emiraten. Und nicht zum ersten Mal erlebte sie, wie abrupt einer ihrer Schüler aus seinem gewohnten Umfeld gerissen wurde. Diese Kinder kamen und gingen ohne große Vorankündigung. „Das tut mir aufrichtig leid, Aaron“, sagte sie freundlich.

Der Junge senkte den Kopf und schob die Hände in die Hosentaschen. „Können Sie den anderen Bescheid sagen? Und sie vielleicht bitten, mir mal eine E-Mail zu schicken?“

Erneut drohte seine Stimme zu brechen. Er klang so unglücklich. Mit gesenktem Kopf und hängenden Schultern stand er vor Jesslyn. Ihr zog sich bei seinem Anblick das Herz zusammen. Diese Kinder mussten in frühen Jahren schon so viel durchmachen. Durch den Job der Eltern waren sie oft gezwungen umzuziehen. Fremde Länder, fremde Sprachen und Schulen – der ständige Wechsel war die einzige Konstante in ihrem Leben. „Das will ich gerne tun“, versprach sie sanft.

Aaron nickte noch einmal, wandte sich dann ab und eilte den verlassenen Schulkorridor entlang. Jesslyn sah ihm hinterher, bis er um eine Ecke verschwunden war. Mit einem tiefen Seufzen schloss sie die Klasse auf. Schwer zu glauben, dass schon wieder ein Schuljahr vorüber war. Dabei kam es ihr vor, als wäre es erst gestern gewesen, dass sie ihren Schülern einen Berg von Lehrbüchern ausgehändigt und ihre Namen in gestochen scharfer Schrift ins Klassenbuch eingetragen hatte. Jetzt waren alle weg, und vor ihr lagen zwei freie Monate.

Zumindest, wenn sie endlich abgeschlossen hatte. Aber das konnte sie erst, wenn sie die letzte, leidige Pflicht erledigt hatte – die Schultafeln mussten noch sauber gewischt werden.

Zwanzig Minuten später klebte ihr ehemals makelloses marineblaues Kostüm auf der Haut, und das dichte dunkle Haar war im Nacken schweißnass. Seufzend zog Jesslyn die zerknitterte Jacke aus und hängte sie über die Stuhllehne. Was für ein Job, dachte sie und kräuselte missmutig die Nase, während sie den Schwamm im Spülbecken auswusch.

Es klopfte kurz. Dr. Maddox, die Schulleiterin, betrat den Klassenraum. „Miss Heaton, Sie haben Besuch.“

Jesslyn dachte sofort an die Eltern eines Schülers, die vielleicht mit ihr über die Zeugnisnoten ihres Sprösslings sprechen wollten, aber dem war nicht so. Jesslyn erstarrte, als sie Sharif Fehz erblickte.

Prinz Sharif Fehz …

Ihr Herz schlug bis zum Hals. Wie in Trance krampfte sie die Hände um den nassen Schwamm und zuckte unmerklich zusammen, als das Wasser über ihre zitternden Finger rann.

Sharif.

Sharif … hier?

Unmöglich! Aber er war es, ohne Zweifel. Prinz Fehz stand in der offenen Tür – groß, stattlich, real – und schaute sie gelassen an. Jesslyn hatte das Gefühl, ihr Blut hätte sich plötzlich in glühende Lava verwandelt, die sie innerlich zu verbrennen drohte.

Dr. Maddox räusperte sich geräuschvoll. „Miss Heaton, es ist mir eine Ehre, Ihnen unseren größten Gönner vorzustellen … Seine Königliche Hoheit …“

„Sharif …“, flüsterte sie, ehe sie es verhindern konnte.

„Jesslyn“, entgegnete Sharif mit einem kaum merklichen Nicken.

Ihn ihren Namen aussprechen zu hören, dieser dunklen, samtenen Stimme zu lauschen, machte die Jahre, in denen sie sich nicht gesehen hatten, augenblicklich vergessen.

Als sie sich das letzte Mal getroffen hatten, waren sie beide jünger gewesen … viel jünger.

Sie hatte in ihrem ersten Jahr als Lehrerin an einer amerikanischen Schule in London gearbeitet. Und er war der aufregend rebellische arabische Prinz in Jeans, Flipflops und ausgeleiertem Kaschmirpulli gewesen.

Jetzt sah er völlig anders aus. Der Schlabberpulli war verschwunden, die abgewetzten Jeans ersetzte eine dishdasha – ein langes weißes Gewand. Dazu trug er die typische Kopfbedeckung, bestehend aus der gutra, einem weißen, diagonal gefalteten Tuch, und der agal, einer schwarzen Kordel, die das Ganze zusammenhielt.

Er wirkte auf sie wie ein Fremder und dennoch seltsam vertraut. Dieser durchdringende Blick aus den stahlgrauen Augen, die markanten Wangenknochen, das dunkle glänzende Haar …

Verwirrt schaute Dr. Maddox von einem zum anderen. „Sie kennen sich?“

Kennen? Kennen? Sie hatte ihm gehört und er ihr. Sie waren einander so nahe gewesen, dass es ihr beinahe das Herz zerrissen hatte, als sie sich schließlich getrennt hatten.

„Wir … wir sind zusammen zur Schule gegangen“, stammelte Jesslyn und errötete. Vergeblich versuchte sie, Sharifs Blick auszuweichen. Doch er ließ sie nicht aus den Augen. Ein herausforderndes Lächeln umspielte seine Mundwinkel.

Tatsächlich hatten sie nie zusammen die Schule besucht.

Sie waren nicht einmal zur selben Zeit in der Schule gewesen. Sharif war nicht nur sechs Jahre älter als sie, sondern bereits ein erfolgreicher Finanzexperte gewesen, als sie sich in London kennengelernt hatten. Auch wenn man ihm das nicht angesehen hatte.

Einige Jahre lang waren sie ein Paar, und nachdem Jesslyn ihr Verhältnis beendet hatte, war sie überzeugt gewesen, ihn nie wiederzusehen. Und so war es auch gekommen.

Was natürlich nicht bedeutete, dass sie sich nicht doch gewünscht hätte, Sharif würde ihre Prophezeiung Lügen strafen.

Und das hatte er jetzt getan. Aber warum? Was wollte er von ihr? Ohne triftigen Grund tauchte er bestimmt nicht so einfach hier in einer Privatschule in Schardscha auf.

„Wir gingen in England zur Schule …“, ergänzte Jesslyn. Sie hoffte, möglichst gleichgültig zu klingen, damit niemand bemerkte, wie sehr sein überraschender Besuch sie aus der Fassung brachte. Es gab Beziehungen im Leben, die man einfach hinter sich ließ – und es gab Beziehungen, die einen für immer veränderten.

Die Beziehung zu Sharif hatte Jesslyn für immer verändert. Und jetzt so plötzlich mit ihrer ersten großen Liebe im gleichen Raum zu stehen war beinahe mehr, als sie verkraften konnte. Das Gefühl drohender Gefahr war nahezu überwältigend.

„Tja, die Welt ist ein Dorf …“, murmelte Dr. Maddox und schaute erneut zwischen ihnen hin und her.

„In der Tat“, bestätigte Sharif gelassen.

Jesslyn umklammerte noch immer den Schwamm. Was wollte Sharif?

Was konnte er von ihr wollen?

Sie war noch immer eine einfache Lehrerin und lebte nach wie vor ihr schlichtes Leben. Sie trug sogar ihr kastanienbraunes Haar schulterlang und offen – wie vor neun Jahren. Anders als er hatte sie nicht geheiratet, obwohl der Mann, mit dem sie vor ein paar Jahren zusammen war, sie gebeten hatte, seine Frau zu werden. Sie hatte seinen Antrag abgelehnt, weil sie ihn nicht liebte – jedenfalls nicht so, wie sie Sharif geliebt hatte.

Andererseits würde sie niemals wieder einen Mann so sehr lieben, wie sie Sharif geliebt hatte.

Abrupt wandte Jesslyn sich um, warf den Schwamm ins Spülbecken und wischte sich die Hände an einem Papiertuch ab. „Was kann ich für dich tun, Sharif?“

„Ich denke, ich werde hier nicht mehr gebraucht“, sagte Dr. Maddox mit einem kleinen enttäuschten Seufzer. „Ich muss wieder in mein Büro. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Tag, Eure Hoheit …“ Mit einem höflichen Nicken verließ sie das Klassenzimmer und schloss leise die Tür hinter sich.

Jesslyn hatte kaum mitbekommen, dass die Schulleiterin gegangen war. Als ihr bewusst wurde, dass sie plötzlich allein waren, atmete sie tief durch.

Allein mit Sharif. Nach all den Jahren.

„Nimm doch bitte Platz“, bat er und deutete auf den Stuhl am Lehrerpult. „Du brauchst in meiner Anwesenheit nicht zu stehen.“

Jesslyn schaute zu dem Stuhl hinüber, bezweifelte aber, dass ihre zitternden Beine sie bis dorthin tragen würden – zumindest nicht in diesem Moment. „Möchtest du dich nicht setzen?“

„Ich stehe lieber.“

„Dann bleibe ich auch stehen.“

„Es ist wesentlich bequemer für dich, wenn du sitzt“, beharrte er, ohne die Miene zu verziehen. „Bitte.“

Es war keine Bitte, sondern ein Befehl. Daran ließ sein Tonfall keinen Zweifel. Jesslyn warf Sharif einen neugierigen und überraschten Blick zu. So einen autoritären Ton war sie von ihm aus der Vergangenheit nicht gewohnt. Niemals hatte er seine Stimme erhoben oder ihr gar einen Befehl erteilt. Er war immer charmant, ja unwiderstehlich gewesen, locker und selbstbewusst. Ihr gegenüber hatte er sich nie gebieterisch verhalten, formell oder unpersönlich. Doch momentan wirkte er genau so auf sie.

Jetzt, da sie ihn näher betrachtete, fiel ihr auf, dass sich sein Gesicht doch sehr verändert hatte. In den vergangenen Jahren waren seine Züge markanter geworden, wirkten schärfer konturiert. Der gut aussehende Junge von damals war zu einem ausgesprochen attraktiven Mann gereift.

Und nicht zu irgendeinem Mann, sondern zu einem der einflussreichsten Machthaber im Mittleren Osten.

„Okay“, gab Jesslyn nach und räusperte sich, weil ihre Stimme plötzlich seltsam heiser klang. „Lass mich eben zu Ende aufräumen. Dann werde ich mich gern zu dir setzen.“

Damit wandte sie sich wieder dem Spülbecken zu, verstaute Eimer und Schwamm rasch im Unterschrank und wischte das nasse Becken mit einem Papiertuch trocken, das sie danach in den Mülleimer warf.

„Du musst selbst die Tafeln wischen?“, fragte Sharif erstaunt. Auf dem Weg zum Pult ging Jesslyn vorsichtig an einer Kiste mit Sportsachen und einem Stapel Bücher vorbei, die noch im Schrank verstaut werden mussten.

„Jeder ist für sein eigenes Klassenzimmer verantwortlich.“

„Ich dachte immer, so etwas sei Sache des Hausmeisters.“

„Wir versuchen, so viel wie möglich zu sparen.“

Sie ging in die Knie und nahm ein Taschenbuch vom Bücherstapel, das dort nicht hingehörte.

Inzwischen arbeitete sie seit vier Jahren in der kleinen Privatschule in Schardscha. In ihrem Klassenraum war es immer sehr warm, doch in den Monaten Mai, Juni und September konnte es geradezu unerträglich heiß werden.

„Ist es deshalb auch so furchtbar stickig hier drinnen?“, wollte er unvermittelt wissen.

Jesslyn schnitt eine Grimasse und nickte. Es war ihm also aufgefallen. „Die Klimaanlage läuft. Unglücklicherweise scheint sie nicht besonders effektiv zu sein.“ Sie nahm hinter dem Pult Platz und legte das Buch zur Seite. „Bist du etwa deshalb hierhergekommen? Um zu schauen, was diese Schule gebrauchen könnte, und dann zu spenden?“

„Wenn du bereit bist, mir zu helfen, werde ich gern spenden.“

Endlich war es heraus! Er wollte also ihre Hilfe … aber wobei? Was erwartete Sharif von ihr?

Jesslyn hatte das Gefühl, eine Zentnerlast würde sich auf ihre Brust legen und ihr den Atem rauben. Sie musste sich zwingen, ruhig ein- und auszuatmen.

Bloß nicht in Panik geraten! Ich schulde ihm nichts. Unsere Beziehung ist seit fast zehn Jahren beendet.

Doch als sie Sharifs veränderten Gesichtsausdruck bemerkte, war es mit ihrer erzwungenen Ruhe vorbei. Eindringlich musterte er sie von Kopf bis Fuß.

Errötend sortierte Jesslyn einige Papiere auf ihrem Schreibtisch. „Und wobei brauchst du Hilfe?“

„Bei dem, was du am besten kannst.“ Langsam kam er auf sie zu.

Verzweifelt versuchte sie, sich auf Sharifs Worte zu konzentrieren und nicht auf seine verstörende Nähe. Doch Schritt für Schritt kam er ihr näher und brachte sie damit vollkommen aus der Fassung. „Wie du weißt, bin ich Lehrerin, Sharif“, sagte sie.

„Genau.“ Jetzt stand er direkt vor ihr – groß, beeindruckend.

War er damals eigentlich auch schon so groß gewesen? „Es ist lange her, seit wir uns das letzte Mal gesehen haben“, murmelte sie rau.

„Exakt neun Jahre.“

„Neun …“, wiederholte sie wie betäubt und versuchte, ihren Blick von seinem schönen Gesicht loszureißen. Aus dem charmanten Prinzen von damals war ein Mann geworden. Und er war kein Prinz mehr. Er war Sadads König.

Erfolglos bemühte sich Jesslyn, ihren zerknitterten Rock glatt zu streichen. Plötzlich wurde sie sich schmerzhaft ihrer zwar praktischen, aber wenig aufregenden Garderobe und des langweiligen Haarschnitts bewusst. Sie war nie ein Modepüppchen gewesen – doch vor neun Jahren hatte sie sich noch etwas eleganter und ausgefallener gekleidet.

Sie zwang sich zu einem professionellen Lächeln. „Und was kann ich nach dieser langen Zeit für dich tun?“

„Unterrichten“, entgegnete er schlicht.

Seine Antwort versetzte Jesslyn einen Stich. Doch sie versuchte, den unsinnigen Schmerz zu ignorieren. „Ja, das ist mein Beruf. Ich bin eine Lehrerin, und du bist ein König.“

Sharif wandte seine grauen Augen nicht von ihr. Seine Miene war undurchdringlich. „Du hättest meine Königin werden können.“

„Du hast es nie ernst mit mir gemeint, Sharif.“

Augenblicklich war die Spannung zwischen ihnen fast greifbar. Seine Augen funkelten. „Du auch nicht.“

Und mit einem Mal waren sie Gegner, die auf beiden Seiten einer unüberwindlichen Mauer standen.

„Das ist weder fair noch entspricht es der Wahrheit“, presste Jesslyn zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Wut schnürte ihr die Kehle zu. „Es gab einfach keinen Platz für mich …“ Sie brach ab und biss sich auf die Unterlippe.

Das alles war lange her. Sie wollte nicht mehr über die Zeit von vor neun Jahren sprechen. Inzwischen hatte sich so viel verändert. „Also, was hat dich wirklich zu mir geführt, Eure Hoheit?“, fragte sie bewusst ironisch und sah mit Genugtuung, wie sich Sharifs Miene verfinsterte. Warum sollte nur sie unter dieser unerwünschten Begegnung leiden?

„Das habe ich dir doch gerade erklärt“, gab er kühl zurück. „Ich bin hier, um dir einen Job anzubieten.“

Er meinte es tatsächlich ernst. Es ging schlicht und ergreifend um einen Job. Als Lehrerin.

Jesslyns Herz schlug bis zum Hals. Sie schluckte, sah auf und schenkte ihm ein kühles Lächeln. „Ich habe bereits eine Anstellung.“

„Die offenbar kein Zuckerschlecken ist …“ Mit vielsagendem Blick sah sich Sharif in dem schlichten, etwas schäbig eingerichteten Klassenzimmer um.

„Mir gefällt es“, versetzte Jesslyn beinahe trotzig. Sie ärgerte sich über seine zur Schau gestellte Überheblichkeit.

„Würdest du mein Angebot eventuell in Betracht ziehen, wenn ich dir sage, dass es nur für den Sommer ist?“

„Nein.“

„Warum nicht?“

Jesslyn stand kurz davor, Sharif zurechtzuweisen, ihm zu sagen, dass ihn das gar nichts angehe und dass sie ihm auch nicht das Geringste schulde. Doch sie verbiss sich die Worte. Ihre Entscheidung hing nicht in erster Linie mit der Vergangenheit, sondern mit ihrer Zukunft zusammen. Sie hatte Pläne für die Sommerferien – wundervolle, aufregende Pläne, die sie auf eine fast zweimonatige Reise entführen würden. Zunächst würde es an die hellen Sandstrände von Queensland, Australien, gehen. Danach wollte sie Sydney und Melbourne kennenlernen – kulturell, durch Museums- und Theaterbesuche, und auch kulinarisch. Schließlich wollte sie nach Auckland reisen und anschließend weiter zum Skilaufen in die Berge Neuseelands. „Weil … nein.“

„Du wärst rechtzeitig zum Beginn des neuen Schuljahres im September zurück“, versuchte Sharif es jetzt in einem sanft überredenden Ton, der Jesslyn heiße Schauer über den Rücken sandte.

„Weißt du was? Du erinnerst mich an meine Schüler, wenn sie einfach nicht hören wollen.“

Er lächelte leicht. „Du hast nicht einmal eine Sekunde über meinen Vorschlag nachgedacht.“

„Da gibt es nichts nachzudenken. Ich habe Pläne für den Sommer, die ich weder aufschieben kann noch will. Nicht einmal für dich.“

Bei ihren letzten Worten verdüsterte sich seine Miene. Dabei hatte sie es nicht einmal sarkastisch gemeint. Aber die Art, wie er über ihr thronte, als würde er sich hier in seinem Palast befinden und nicht in ihrem Klassenzimmer, machte sie wütend. Sie mochte es nicht, wie er sie drängte. Und dass er sie, ihre Gefühle und Bedürfnisse schlicht überging, reizte sie zum Widerspruch.

„Nett, dass du dabei an mich gedacht hast, Eure Hoheit, aber die Antwort bleibt Nein.“

„Ich zahle dir doppeltes Gehalt.“

„Stopp!“ Wütend schlug sie mit einem schweren Buch auf den Schreibtisch. „Hier geht es nicht ums Geld! Daraus mache ich mir nicht das Geringste. Du könntest mir zweitausend Dollar pro Tag anbieten, und es wäre mir egal! Ich bin nicht interessiert! Nicht interessiert! Hast du mich endlich verstanden?“

Schlagartig herrschte im Klassenzimmer ein angespanntes Schweigen.

Aber es war nicht ihre Schuld, dass sie die Beherrschung verloren hatte. Er hörte ihr einfach nicht zu. „Ich fahre den Sommer über in Urlaub“, teilte sie Sharif so ruhig wie möglich mit. Sie wollte sich nicht einschüchtern lassen und hielt seinem intensiven Blick stand. „Und heute Abend geht es los.“

„Du kannst auch nächsten Sommer in Urlaub fahren“, gab er ernst zurück. „Ich brauche dich jetzt.“

Jesslyn konnte sich ein kurzes bitteres Auflachen nicht verbeißen. „Du brauchst mich? Ein wirklich guter Witz, Eure Hoheit!“

Aber Sharif schien nicht zum Lachen zumute zu sein. „Nenn mir einen Grund, warum du mein Angebot ablehnst“, forderte er.

„Du kannst gleich drei bekommen“, erklärte Jesslyn genervt und stapelte die Lehrbücher auf ihrem Schreibtisch fein säuberlich übereinander. „Erstens habe ich ein anstrengendes Schuljahr hinter mir und brauche unbedingt eine Pause. Zweitens habe ich eine wundervolle Reise nach Australien und Neuseeland geplant, die bereits bezahlt ist. Und der dritte und vielleicht auch wichtigste Grund: Nachdem ich vor langer Zeit mit dir zusammen war, habe ich absolut keine Lust …“

Der Rest ihres leidenschaftlichen Statements wurde vom Schrillen des Feueralarms übertönt.

Der durchdringende Ton ließ Jesslyn für einen Moment erstarren. Für gewöhnlich schnappte sie sich in dieser Situation das Anwesenheitsbuch und führte die Schüler rasch hinaus ins Freie. Jetzt waren keine Schützlinge anwesend, die in Sicherheit gebracht werden mussten.

Plötzlich flog die Tür auf und auf der Schwelle erschienen zwei große Männer in dunkler Kleidung, die beide eine Waffe im Anschlag hielten. Einer sprach laut und aufgeregt zu Sharif, der nur knapp nickte und sich dann Jesslyn zuwandte.

„Passiert so etwas öfter?“, rief er ihr über den Lärm hinweg zu.

Sie schüttelte den Kopf. „Nein“, sagte sie und griff nach ihrer Handtasche und ihrer Büchermappe. Sharifs Leibwächter hatten ihr einen gehörigen Schreck eingejagt, obwohl sie aus Londoner Zeiten an die ständige Anwesenheit von Bodyguards im Umfeld des Prinzen gewöhnt war. „Ich denke, es war falscher Alarm“, fügte sie hinzu. „Wahrscheinlich ein Schülerstreich als krönender Schuljahresabschluss. Trotzdem müssen wir das Gebäude verlassen, bis Entwarnung gegeben wird.“

Sie wollte gerade noch ihren Blazer vom Stuhl nehmen, als die Sprinkleranlage ansprang. Jesslyn erstarrte vor Schreck. Warmer Sprühregen ergoss sich aus den Düsen an der Decke über sie und setzte das Klassenzimmer binnen kürzester Zeit unter Wasser.

Sharif nahm ihr die Handtasche und die Büchermappe ab und rief: „Los! Raus hier!“

Die langen Flure zwischen den Klassenräumen standen bereits unter Wasser, während sie dem Ausgang zustrebten. In der Ferne waren Sirenen und laute Rufe auf Arabisch zu hören.

Als sie endlich vor dem Gebäude standen, fuhren die ersten Feuerwehrwagen vor. Und auch der Rest von Sharifs Sicherheitstruppe – weitere sechs Männer, die sich draußen postiert hatten – befand sich in höchster Alarmbereitschaft. Die Männer steuerten auf Sharif zu, aber der hielt sie mit einer energischen Handbewegung zurück.

Dr. Maddox, die nervös vor dem Eingang der Schule auf und ab gegangen war, kam auf sie zugeeilt. „Das ist mir schrecklich peinlich. Es tut mir unendlich leid!“, stieß sie betreten hervor. „Wir waren so stolz, dass Sie unsere Schule persönlich aufgesucht haben, und jetzt sind Sie bis auf die Haut durchnässt, Eure Hoheit!“

„Wir sind alle klatschnass“, korrigierte er sie ungerührt. „Aber das wird schnell wieder trocknen.“ Während Sharif sprach, folgte er mit den Augen den Feuerwehrmännern, die ausschwärmten, um sicherzugehen, dass auch wirklich keine Brandgefahr drohte. „Miss Heatons Klassenzimmer ist völlig durchnässt. Wie steht es mit den anderen Räumen?“

„Ich befürchte, dort sieht es ganz genauso aus“, teilte Dr. Maddox, die inzwischen ihre Fassung zurückerlangt hatte, bedauernd mit. „Es ist eine nagelneue Sprinkleranlage, die …“, sie schob sich eine graue Locke aus der Stirn, „… ein bisschen zu gut funktioniert.“

„Wichtig ist doch, dass sie in einem echten Notfall Menschenleben retten kann“, stellte Jesslyn fest und nahm Sharif ihre Sachen ab. „Bücher und Einrichtungsgegenstände können ohne Weiteres ersetzt werden. Glücklicherweise gibt es für derartige Fälle Versicherungen. Und da die Sommerferien gerade erst beginnen, ist auch genug Zeit, um alles wieder in Ordnung zu bringen.“

„Soll ich das als Angebot verstehen, Miss Heaton?“, fragte Dr. Maddox irritiert. „Denn wenn die Reparaturen in diesem Zeitraum stattfinden sollen, muss jemand vor Ort sein, um die Arbeiten zu überwachen.“

„Ich befürchte, Miss Heaton hat bereits eigene Pläne“, sprang Sharif ein, wobei er der Schulleiterin demonstrativ den Rücken zukehrte und die völlig überrumpelte Jesslyn keine Sekunde aus den Augen ließ. „Komm, ich bringe dich zu deinem Wagen.“

„Ich habe keinen Wagen“, erklärte Jesslyn knapp und schulterte ihre Tasche. „Ich nehme mir ein Taxi.“

Sharif runzelte die Stirn. „Aber du besitzt doch einen Führerschein.“

„Autos sind teuer, und ich fahre gern Taxi. Dann werde ich wenigstens nicht belästigt.“ Nicht in Schardscha.

Jesslyn gefiel ihre neue Wahlheimat. Natürlich gab es in Schardscha kein glamouröses Nachtleben wie beispielsweise in Dubai oder in anderen Weltmetropolen. Aber dafür erstrahlte die Wüstenstadt in schlichter Eleganz und verfügte über einen ganz speziellen Charme, den man in Dubai mit all den Wolkenkratzern und der künstlichen Insellandschaft vergeblich suchte.

Die Stadt war ruhiger, kleiner, weniger pompös. Jesslyn liebte die von Palmen gesäumten Flaniermeilen und die moderne Architektur der Innenstadt. Sie schätzte es, dass sie mit dem Taxi oder zu Fuß alles erreichte, was sie brauchte. Und sie musste sich keine Gedanken über einen Parkplatz machen. Sie fühlte sich hier willkommen und gut aufgehoben.

„Dann fahre ich dich nach Hause“, beschloss Sharif. Er nickte seinen Bodyguards zu – das Zeichen zum Aufbruch. „Mein Wagen steht gleich hier.“

Jesslyn hatte die schwere dunkle Limousine und die zwei schwarzen Begleitfahrzeuge längst gesehen, doch sie hatte nicht die Absicht, sie zu benutzen. „Ich ziehe es vor, mit dem Taxi zu fahren“, informierte sie Sharif mit einem schnellen Blick auf ihre Armbanduhr. „Wenn ich mich beeile, komme ich nicht einmal in den Feierabendverkehr.“

Sie geht einfach weg und lässt mich hier stehen …

Ungläubig starrte König Sharif Fehz sie an. Er biss sich auf die Zunge, um jetzt nicht etwas zu sagen, das er später garantiert bereuen würde. Denn am liebsten hätte er Jesslyn auf der Stelle mit ein paar energischen Worten auf ihren Platz verwiesen!

„Ich bestehe darauf, dich nach Hause zu fahren“, wiederholte er und lächelte – doch trotz dieses Lächelns war klar, dass er keinen Widerspruch duldete.

Jesslyn blickte auf. Ihre Augen sprühten Funken. Sie beugte sich vor und sprach so leise, dass nur er sie verstehen konnte. „Weder arbeite ich für dich, Eure Hoheit, noch bin ich eine deiner Leibeigenen. Also ist es mir egal, worauf du bestehst.“

Wieder sagte sie Nein zu ihm. Erneut wies sie ihn einfach ab.

Es war Jahre her, dass jemand es gewagt hatte, sich ihm derart zu widersetzen.

Stumm musterte Sharif ihr blasses ovales Gesicht. Von den fein geschwungenen dunklen Brauen, über die unerschrocken funkelnden Augen, bis hinunter zu ihrem beinahe trotzig vorgeschobenen Kinn. Wieso war ihm bisher nie aufgefallen, wie mutig sie war?

Als er Jesslyn das erste Mal sah, war sie ein gebrochenes Mädchen gewesen – im wörtlichen Sinn „gebrochen“, denn nur knapp hatte sie einen schlimmen Unfall überlebt, bei dem seine beiden Schwestern ums Leben gekommen waren. Damals hatte sie im Krankenhaus gelegen, von Kopf bis Fuß mit Verbänden und Bandagen und Pflastern bedeckt.

Jetzt war sie genesen … und stark.

„Du kannst mich nicht ausstehen“, stellte er fast amüsiert fest. Einerseits ärgerte sich Sharif über ihre kühle, ablehnende Haltung – auf der anderen Seite war er einfach überrascht und fasziniert, was für ihn eine absolut neue Erfahrung bedeutete.

Als Regent eines Landes im Mittleren Osten, in dem dank seines diplomatischen Geschicks und Finanzgenies seit zehn Jahren Frieden und wirtschaftliche Stabilität herrschten, konnte ihn kaum noch etwas überraschen – und faszinieren schon gar nicht.

Jesslyn betrachtete ihn aufmerksam und offensichtlich mit gemischten Gefühlen. „Vielleicht verstehst du mich besser, wenn ich dir sage, dass ich dir nicht vertraue.“

„Warum, um alles in der Welt, solltest du mir nicht trauen?“, fragte er völlig verblüfft.

Jesslyn rückte ihre Tasche auf der Schulter zurecht. „Du bist nicht mehr der Sharif, den ich kenne. Du bist jetzt König Fehz.“

„Jesslyn.“ Der zurückgenommene, schmeichelnde Ton in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. „Offensichtlich habe ich dich beleidigt. Das lag nicht in meiner Absicht. Ich bin wirklich gekommen, um dich um deine Hilfe zu bitten. Lass es mich dir wenigstens erklären.“

Zweifelnd schaute sie zur Limousine und den wartenden Leibwächtern hinüber, deren Augen hinter dunklen Brillen versteckt waren. „Ich habe für heute Abend einen Last-Minute-Flug gebucht, den ich auf jeden Fall antreten werde.“

„Also darf ich dich nun doch nach Hause fahren?“

Jesslyn seufzte und sah Sharif fest in die Augen. „Ich werde auf jeden Fall fliegen“, wiederholte sie.

Es gefiel ihm, wie ihr feuchtes dunkles Haar in wilden Locken ihr blasses Gesicht umrahmte. Er liebte den entschlossenen Zug um den sinnlichen Mund und ihr beinahe kämpferisch vorgeschobenes Kinn. „Dann lass uns fahren.“

2. KAPITEL

Nachdem sie Sharifs Chauffeur ihre Adresse gegeben hatte, verstaute Jesslyn ihre Büchermappe und die Handtasche im Fußraum der Limousine, legte ihre durchweichte Kostümjacke auf ihren Schoß und versuchte, Sharifs beunruhigende Nähe so gut wie möglich zu ignorieren.

Unglücklicherweise erwies sich das als unmöglich. Er war der Typ Mann, der einen Raum durch seine bloße Anwesenheit beherrschte. Ganz mühelos zog er alle Aufmerksamkeit auf sich und stand ohne sein Zutun automatisch im Rampenlicht. Und so dicht neben ihm zu sitzen, dass sie seine Wärme spürte und den vertrauten Duft seines herben Aftershaves wahrnehmen konnte, weckte verbotene Erinnerungen und machte alles nur noch schlimmer.

Jesslyns Herz klopfte bis zum Hals, während sie den dünnen Stoff ihrer Jacke umklammerte. Eine Woge widerstreitender Gefühle durchströmte sie.

Angst … Kummer … Verlangen … Reue …

„Warum wendest du dich von mir ab?“

Warum wohl?

Ihn anzuschauen wäre unerträglich für sie, weil es ihr nur wieder in Erinnerung rufen würde, wie dumm es von ihr gewesen war, ihn zu verlassen. Eigentlich hatte Jesslyn damals gar nicht wirklich gehen wollen – jedenfalls nicht für immer. Stattdessen hatte sie insgeheim gehofft, er würde ihr nachkommen, würde versuchen, sie zur Rückkehr zu bewegen. Sie hatte gehofft, er würde sie anflehen zurückzukommen und ihr ewige Liebe schwören.

„Wenn eine Beziehung endet, ist es immer schrecklich. So war es damals, und so ist es heute noch …“, murmelte sie rau.

„Aber du bist jetzt glücklicher. Schau dich an. Du lebst deinen Traum.“

Ihr Traum! Jesslyn atmete tief durch. Ganz sicher hatte sie nie davon geträumt, in ihrem Alter noch Single zu sein. Sie hatte davon geträumt, eine eigene Familie zu haben. Nach dem Tod ihrer Eltern, die im Abstand von drei Jahren verstorben waren, war sie von einer Tante großgezogen worden. In jener Zeit war ihr bewusst geworden, wie sehr sie Menschen brauchte, die sie lieben konnte und die sie liebten. Doch sie lebte immer noch als Single und unterrichtete die Kinder anderer glücklicher Paare.

„Ja“, sagte sie leise. Sie versuchte, den Schmerz zu verbergen, den seine Worte ihr bereitet hatten. „Es ist einfach wundervoll.“

„Ich freue mich für dich. Du bist auch viel … selbstbewusster als früher.“

Jesslyn schaute aus dem Fenster. Wagen für Wagen rückte die Feuerwehr unverrichteter Dinge wieder ab und machte ihnen damit den Weg frei. Endlich konnte die königliche Limousine den Parkplatz verlassen und bog auf die Straße. „Es erscheint mir inzwischen ganz natürlich, stark und selbstbewusst zu sein“, sagte sie an Sharif gewandt. „Damals war ich ein ganz anderer Mensch.“

Er wusste sofort, worauf sie anspielte. Ein Schatten huschte über sein Gesicht. „Es war ein grauenhaftes Unglück.“

Sie nickte. Und plötzlich war der Unfall, obwohl elf Jahre her, wieder ganz nah und das Verlustgefühl so frisch und schmerzhaft wie damals. „Manchmal träume ich noch davon“, gestand sie leise. Unwillkürlich ballte sie die Hände so fest zu Fäusten, dass ihre zarten Knöchel weiß hervortraten. „Ich schrecke immer im Augenblick des Aufpralls hoch. Ich wache auf, bevor ich weiß, was passiert ist.“

Sharif schwieg, und Jesslyn kämpfte gegen das beklemmende Gefühl an, das ihr die Kehle zuschnürte. „Doch sobald ich richtig wach bin, kehrt die Erinnerung zurück.“

„Du hast nicht am Steuer gesessen.“

„Ich weiß, aber Jamila hat nichts falsch gemacht. Niemand im Wagen hat einen Fehler begangen.“

„Deshalb nennt man es auch Unfall.“

Tragödie, schoss es ihr durch den Kopf.

„Du hast unglaubliches Glück gehabt und bist wieder gesund.“

Anders als seine beiden Schwestern …

Heiße Tränen brannten in ihren Augen. Jesslyn wandte den Kopf ab, um sie fortzuwischen, ehe sie über ihre Wangen rollen konnten. Egal, wie lange der Unfall zurücklag, der Schmerz und die Trauer wollten nicht weichen.

Sharifs Schwestern, Jamila und Aman, waren ihre besten Freundinnen gewesen. Mit zehn Jahren hatte sie die beiden kennengelernt, und von da an waren sie unzertrennlich gewesen.

Es ist nicht gut, ständig in der Vergangenheit zu leben, ermahnte Jesslyn sich nun und versuchte, sich auf die Gegenwart zu konzentrieren.

„Du hast dich auch sehr verändert“, sagte sie rau. „Aber wahrscheinlich war das zwangsläufig, weil du …“ Sie verstummte.

„Weil ich …“, hakte er nach, als sie schwieg, ohne den Satz zu beenden.

Jesslyn hob verlegen die Schultern. „Na, du weißt schon.“

„Nein, keine Ahnung. Warum sagst du es mir nicht einfach?“

„Du musst doch selbst gespürt haben, dass du dich verändert hast“, entgegnete sie ausweichend. Verstohlen musterte sie Sharif. Er war so anders – viel härter, entschlossener, stolzer.

„Was du siehst, scheint dir nicht zu gefallen“, bemerkte er.

Erneut zuckte Jesslyn die Achseln. „Ich kenne dich doch gar nicht mehr.“

„Ich bin immer noch derselbe wie damals.“

Vielleicht glaubte Sharif das tatsächlich, aber es stimmte nicht. Er war nicht mehr der Mann, den sie gekannt und geliebt hatte. Er war größer, mächtiger und schien sich dieser Macht auch absolut bewusst zu sein. „Wenn ich dich anschaue, sehe ich nicht mehr den Mann, sondern den König“, stellte sie nachdenklich fest. Sie sah, wie sich seine Miene verfinsterte – ihm schien ihre Feststellung nicht zu gefallen. „Es ist ganz klar, dass du dich verändert hast“, fügte sie hastig hinzu. „Du bist nicht mehr der junge Mann von damals. Wie alt bist du jetzt? Achtunddreißig … neununddreißig?“

„Siebenunddreißig, Miss Heaton“, stellte er richtig. „Und du bist einunddreißig.“

Der seltsame Unterton in seiner Stimme ließ sie aufhorchen. Sie sah auf. Und sie blickte in diese erstaunlich silbergrauen Augen, die einmal die Welt für sie bedeutet hatten.

Augen, die ihr auch jetzt mitten ins Herz zu schauen schienen.

Jesslyn stockte der Atem.

Es war vorbei!

Ihr Prinz war jetzt König! Er hatte geheiratet und war inzwischen Witwer. Und sie hatte ein eigenes Leben begonnen, das sie auch fortführen wollte.

„Du bist offensichtlich enttäuscht von mir, und ich empfinde genau das Gegenteil“, murmelte Sharif mit verführerisch sanfter Stimme. „Du bist so anders als damals. Schöner, selbstsicherer … einfach umwerfend.“

Ihr Herz schnürte sich zusammen. Das durfte nicht sein. Wenn sie ihm weiter zuhörte, war sie verloren.

Er erinnerte sie an alte, längst vergangene Zeiten, die sich nicht wieder zurückholen ließen.

Und trotzdem hätte sie im Moment alles dafür gegeben, die letzten neun Jahre noch einmal leben und anders gestalten zu können.

Jahre, in denen sie sich hinter ihrer Arbeit verschanzt, in denen sie sich in Fortbildungen, Sommer- und Abendschulkurse gestürzt hatte. Alles nur, um sich selbst daran zu hindern, nachzudenken oder zu fühlen.

Und um die Reue nicht zuzulassen …

Prinz Sharif Fehz, ihr Prinz, ihr erster Liebhaber, ihre einzige Liebe, hatte nur wenige Monate nach ihrer Trennung eine andere geheiratet!

Jesslyn rutschte unbehaglich auf dem Sitz hin und her und starrte angestrengt aus dem Seitenfenster. Erleichtert stellte sie fest, dass sie nur noch knapp eine Meile von ihrem Apartment entfernt waren.

Bald würde Sharif sie absetzen und wieder aus ihrem Leben verschwinden.

Bald würde sie wieder Herr über ihre Gefühle sein.

Noch immer ruhte Sharifs Blick auf ihr. „Erzähle mir mehr über die Schule und deinen augenblicklichen Job. Bist du dort glücklich? Was unterrichtest du?“

Endlich mal eine Frage, die sie leicht beantworteten konnte. „Ich bin Lehrerin mit Leib und Seele! Ich hänge an jedem einzelnen meiner Schüler! Und ihnen Literatur und Geschichte näherzubringen, fordert mich immer wieder heraus und macht mir unheimlich viel Spaß.“ Sie sah ihn an. „Diese Schule unterscheidet sich schon sehr von der amerikanischen Schule in London und der Schule in Dubai, an der ich vorher ein Jahr lang unterrichtet habe. Doch hier gesteht man mir größere Freiheiten zu, was die Gestaltung meines Lehrplanes betrifft. Außerdem habe ich viel mehr Zeit für meine Kinder – und das habe ich mir immer gewünscht.“

Deine Kinder“, wiederholte er gedehnt.

Jesslyn lächelte. Inzwischen hatte sie sich ein wenig entspannt. Über ihr Lieblingsthema zu sprechen tat ihr gut und gab ihr das vorübergehend verloren gegangene Selbstbewusstsein zurück. „So sehe ich sie eben.“

„Warum hast du keine eigenen Kinder, wenn du sie so sehr liebst?“, wollte Sharif wissen.

Augenblicklich fühlte Jesslyn sich wieder verunsichert. Sie senkte den Blick.

Hat seine Mutter nicht mit ihm gesprochen? Kann es sein, dass er es noch immer nicht weiß?

Sie ballte die Hände zu Fäusten. Lang unterdrückte Wut durchströmte sie. Wut auf seine gefühlskalte, manipulative Mutter und Wut auf Sharif. Sharif hätte sie lieben müssen. Sharif hätte damals zu ihr stehen müssen.

„Ich habe einfach noch nicht den Richtigen gefunden“, behauptete sie und sah ihn an.

Dieses Gesicht …

Diese Augen …

Nach der Hitze, die sie durchströmt hatte, schien ihr Blut mit einem Mal zu Eis zu gefrieren. Sie hätte niemals seine Frau werden können. Sie war nicht die Richtige für ihn. Wie hatte seine Mutter es noch so treffend formuliert? Jesslyn war nicht mehr als ein Zeitvertreib und keine Frau, mit der ein Mann eine ernsthafte Beziehung führen wollte.

„Du hast nie geheiratet?“

„Nein.“

„Das wundert mich. Als du damals gegangen bist, war ich sicher, dass du auf der Suche nach etwas Bestimmtem … oder jemand ganz Bestimmtem warst.“

Nein, so war es nicht gewesen. Außer Sharif hatte sie sich nichts und niemanden gewünscht. Aber damals war sie noch sehr jung gewesen und hatte nicht gewusst, wie man kämpfte. Hatte nicht gewusst, wie man das, was man liebte, festhielt und beschützte. „Wir sind gleich bei meinem Apartment“, murmelte sie und deutete aus dem Seitenfenster.

„Meine Mädchen brauchen den Sommer über eine Lehrerin“, erklärte Sharif unvermittelt. „Sie sind aus dem Internat nach Hause gekommen und liegen im Unterrichtsstoff zurück.“

Gleich würden sie ihr Apartment erreichen. Nur noch eine Kurve, dann könnte sie aussteigen, weglaufen, flüchten …

„Ich zahle dir dein dreifaches Jahresgehalt“, fuhr er ruhig fort. „In zehn Wochen könntest du dreimal so viel verdienen, wie sonst in zwölf Monaten.“

Am liebsten hätte Jesslyn sich die Ohren zugehalten. Sie wollte nichts über dieses Jobangebot, wollte nichts über seine Kinder hören. Kinder, die ihm seine wunderschöne und unermesslich reiche Prinzessin geschenkt hatte. „Ich fahre in Urlaub, Sharif. Und zwar noch heute Abend.“

Er blieb beharrlich. „Ich dachte, dir liegt so viel an Kindern. Ich glaube, verstanden zu haben, dass du immer nur ihr Bestes willst.“

Aber es waren nicht ihre Kinder, und sie wollte sich nicht in diese Angelegenheit hineinziehen lassen. „Ich habe Pläne“, wiederholte sie.

„Die kannst du ändern“, sagte Sharif so freundlich, dass Jesslyn unwillkürlich ein wohliger Schauer über den Rücken rieselte. Sie erinnerte sich an diesen Tonfall, und sie traute ihm nicht.

Sie traute Sharif nicht.

Vielleicht, weil sie den wahren Sharif gar nicht kannte.

Der Sharif, in den sie vor neun Jahren bis über beide Ohren verliebt gewesen war, den sie angebetet hatte, hätte ihr das alles nicht angetan. Er hätte nie so einfach eine reiche Prinzessin aus Dubai geheiratet, nur um seine Karriere und sein Königreich abzusichern. Und schon gar nicht so kurz nach ihrer Trennung.

Aber er hatte es getan. Die Bilder seiner pompösen Hochzeit hatten die Titelseiten nahezu aller Hochglanzillustrierten Europas geziert. In den zahllosen Artikeln hatte man nachlesen können, dass Prinz Sharif Fehz die wunderschöne Prinzessin Zulima von Dubai nach einer jahrelangen Verlobungszeit endlich zu seiner Frau gemacht hatte.

Jahrelange Verlobungszeit?

Unmöglich! Ein halbes Jahr vor der Hochzeit waren Sharif und sie noch ein Paar gewesen!

Die schwere Limousine hielt an, und Jesslyn wartete erst gar nicht auf den Fahrer. Rasch raffte sie ihre Sachen zusammen und öffnete die Tür. „Viel Glück, Sharif“, murmelte sie, während sie ihre schlanken Beine aus dem Wagen schwang. Sie würde ihm keine Chance geben. „Leb wohl.“

In ihrem Apartment versuchte Jesslyn, sich aufs Packen zu konzentrieren. Sie würde nicht an Sharif denken – nicht mehr. Außerdem gab es Wichtigeres, um das sie sich im Augenblick kümmern musste. Wo war zum Beispiel ihr Pass? Und hatte sie Sonnenmilch und Ersatzbatterien für ihre Digitalkamera eingepackt?

Auf dem Bett hatten sich bereits viel mehr Sachen angesammelt, als sie für gewöhnlich in die Ferien mitnahm. Doch zehn Wochen in unterschiedlichen Klimazonen erforderten das volle Programm – von Bikinis und Shorts für Queensland, über elegante Cityoutfits für Sydney, Melbourne und Auckland, bis hin zu Daunenjacke und gefütterten Boots für das Skilaufen in Neuseeland.

Jesslyn zog gerade den Reißverschluss ihres großen Koffers zu, als das Telefon klingelte.

„Hallo?“, meldete sie sich, klemmte den Hörer zwischen Wange und Schulter und zerrte den Koffer vom Bett und in den Flur.

Es war Sharif. „Es gibt Neuigkeiten, die dich sicher interessieren werden.“

Sie richtete sich auf und ließ den Koffer an der Eingangstür stehen. „Ich habe noch so viel zu erledigen, bevor ich fliege …“

„Vielleicht solltest du dich lieber setzen“, riet er unbeeindruckt.

„Warum?“

„Es geht um einen von deinen Schülern.“

„Was ist passiert?“, fragte Jesslyn alarmiert.

„Ich bekam eben einen Anruf von Mahir, dem Chef meiner Sicherheitstruppe. Er ist jetzt auf dem Weg zur Polizeistation in Schardscha. Man hat einen deiner Schüler festgenommen – er steht unter dem dringenden Verdacht, für den Schaden in der Schule heute Nachmittag verantwortlich zu sein. Sie haben mich gefragt, ob ich Anzeige gegen ihn erstatten will.“

Jesslyn ging stirnrunzelnd in ihr Wohnzimmer und lehnte sich gegen das Rückenteil ihrer Couch. „Und, wirst du es tun?“

„Mahir erledigt das.“

„Und was genau soll das heißen?“

„Das bedeutet, dass er sich um derartige Angelegenheiten kümmert. Er ist für meine Sicherheit verantwortlich.“

Jesslyns Hand begann zu zittern. „Um welchen Schüler handelt es sich?“

„Aaron.“

„Aaron?“

Das musste ein Irrtum sein! Es sah ihm überhaupt nicht ähnlich. Er war ein eher schüchterner, wohlerzogener Junge und spielte anderen Menschen keine Streiche. „Er war es nicht“, erklärte sie entschieden. Sie schlang ihren freien Arm um ihren Bauch, um das eisige Schwächegefühl zu vertreiben, das mit einem Mal von ihr Besitz ergriffen hatte. „Aaron würde niemals den Feueralarm auslösen.“

„Man hat ihn aber vom Tatort wegrennen sehen.“

„Es ist … nein, er kann es nicht gewesen sein!“, wiederholte sie bestimmt. „Es passt so gar nicht …“ Jesslyn unterbrach sich, als ihr das kleine Geschenk einfiel, das Aaron ihr nach Unterrichtsschluss überreicht hatte. Als die Sprinkleranlage losging, hatte sie das Päckchen mit der roten Schleife vor Aufregung auf dem Schreibtisch liegen lassen. „Jetzt fällt es mir wieder ein … er war tatsächlich nach Schulschluss noch auf dem Gelände“, erklärte sie. „Aber nur, um mir ein Abschiedsgeschenk zu überreichen. Seine Familie kehrt in die Staaten zurück.“

„Was möglicherweise die Erklärung für seine Aktion ist“, entgegnete Sharif trocken. „Ich bin zwar inzwischen über dreißig, kann mich aber noch sehr gut daran erinnern, wie man sich als Teenager fühlt. Und Kinder stellen einiges an, um Aufmerksamkeit zu erregen …“

„Dann wirst du ihn verschonen?“, fragte sie schnell.

„Wenn er nur den Feueralarm ausgelöst hätte, wäre er vielleicht so davongekommen. Aber … so ist es leider nicht. Offenbar ist er auch in das Büro der Schulleiterin eingebrochen und hat Examensunterlagen aus einem Aktenschrank gestohlen. Und Dr. Maddox ist fest entschlossen, ihm diese Sache nicht ungestraft durchgehen zu lassen.“ Er machte eine Pause. „Und sie hat mich ebenfalls aufgefordert, Anzeige zu erstatten.“

„Bitte nicht …“, flüsterte Jesslyn.

„Das hängt nicht allein von mir ab. Die Polizei ist bereits eingeschaltet. Diebstahl ist ein ernstes Verbrechen.“

Jesslyn versuchte, den Kloß in ihrem Hals herunterzuschlucken. Es war absolut unmöglich, dass Aaron getan hatte, was ihm vorgeworfen wurde. „Sharif, der Junge hat nichts gestohlen. Er hat mir ein Geschenk gebracht. Es muss noch auf dem Pult in meinem Klassenzimmer liegen. Wir könnten zur Schule gehen, es holen und …“

„Der Hausmeister hat den Jungen flüchten sehen.“

„Er ist nach Hause und nicht weggelaufen!“

„Jesslyn, mach dir nichts vor! Wir können dem Jungen nicht helfen.“

Sie schüttelte den Kopf. Sie würde die schlimme Anschuldigung nicht glauben, ehe sie es nicht selbst von Aaron hörte. „Ich muss ihn sehen.“

„Das wird nicht gehen. Sie haben seine Eltern benachrichtigt, aber vorher will ihn die Polizei verhören.“

Jesslyn schloss die Augen und atmete ein paarmal tief durch. „Du behauptest ernsthaft, sie lassen mich nicht zu ihm? Auch nicht, wenn Scheich Sharif Fehz verlangt, den Jungen zu sehen?“

Er seufzte. „Jesslyn.“

Ihr Herz schlug bis zum Hals. „Du kannst mir helfen, zu Aaron vorgelassen zu werden.“

Das Schweigen am anderen Ende der Leitung zerrte an Jesslyns Nerven.

„Ich weiß ja, wie sehr du dich für deine Schüler engagierst, aber …“

„Sharif … bitte …“ Ihre Stimme brach. „Bitte.“

Erneutes Schweigen, bis Sharif endlich tief seufzte. „Ich schicke dir meinen Wagen, laeela, aber stell dir das Ganze nicht zu einfach vor. Mach dir bitte klar, dass er quasi überführt ist.“

In weniger als einer Stunde erschien Sharifs Wagen vor der Tür. Während Jesslyn auf dem Rücksitz der schwarzen Limousine saß, spielte sie die Szene vom Nachmittag wieder und wieder in Gedanken durch.

Aaron hatte sehr aufgeregt gewirkt, als er ihr das Geschenk übergeben hatte. Seine ungewohnte Sentimentalität hatte sie gerührt. Aber war das bloß gespielt gewesen? Oder ein Trick? Und das Päckchen nur ein Täuschungsmanöver, um sie von seinem eigentlichen Vorhaben abzulenken?

Jesslyn war noch zu keinem Schluss gekommen, als der Wagen vor der Polizeistation hielt. Sharif, der schon vor ihr eingetroffen war, kam ihr entgegen.

Während sie auf den Fahrer gewartet hatte, hatte Jesslyn sich rasch umgezogen. Da hierzulande Männer wie Frauen ihre Figur traditionell eher verhüllten, hatte sie ein konservatives schokofarbenes Leinenensemble mit weit geschnittener Jacke und geradem, langem Rock gewählt. Auch Sharif hatte die Kleidung gewechselt.

Er hielt ihr die Hand entgegen, als sie aus dem Auto stieg – eine Geste, die sie angesichts der vielen Zuschauer um sie herum schlecht ignorieren konnte.

Widerwillig legte sie ihre Hand in die seine und fühlte, wie sich seine Finger um ihre Hand schlossen.

„Dir ist kalt“, stellte er fest, als sie nebeneinander die wenigen Stufen zur Polizeiwache hinaufgingen.

„Ich bin nur nervös“, gestand sie. Besorgt schaute sie zum Himmel empor, bevor sie durch die Tür ging. Es wurde bereits langsam dunkel. In knapp drei Stunden musste sie an Bord ihres Fliegers sein.

„Dann glaubst du inzwischen auch an seine Schuld?“, fragte Sharif.

„Nein, niemals!“, gab sie zurück. „Ich sorge mich einfach um ihn. Wenn man seine Eltern tatsächlich herbestellt hat, müssen sie ziemlich aufgebracht sein. Und er ebenso. Oh, ich wünschte, das alles wäre nie passiert!“

Umringt von Sharifs Leibwächtern betraten sie die Polizeistation. Der ganze Rummel machte Jesslyn zu schaffen. Überall traf man heute auf seine Sicherheitsleute.

Möglicherweise war es aber auch Sharif selbst, der sie aus der Fassung brachte, weil er so dicht neben ihr ging.

Sharif wurde von den Beamten mit größtem Respekt behandelt. Der gesamte Stab – von den diensthabenden Polizisten, über die Kriminalbeamten, bis hin zum Polizeichef – war zur offiziellen Begrüßung angetreten. Und nach einem mindestens zehnminütigen Austausch von Höflichkeiten zogen der Polizeichef und Sharif sich zu einem Gespräch unter vier Augen zurück.

Ängstlich und angespannt wartete Jesslyn auf ihre Rückkehr und betete stumm, dass es Sharif gelang, ihr ein Treffen mit Aaron zu ermöglichen. Endlich öffnete sich die Tür, und sie wurde hereingerufen. „Wir haben die Genehmigung erhalten, mit deinem Schüler zu reden. Du darfst ihn fragen, was du willst. Aber es spricht wirklich einiges gegen ihn.“ Sharif blickte sie eindringlich an. „Wenn sich der Verdacht bestätigt … Jesslyn, die Konsequenzen wären sehr unangenehm.“

Genau das war es, was sie befürchtete.

Schardscha war für Jesslyn so etwas wie eine zweite Heimat geworden. Es lag ihr fern, hiesige Gepflogenheiten kritisieren zu wollen, zumal Regierung und Polizei wirklich ihr Bestes taten, um allen gerecht zu werden – westlichen Besuchern und Arbeitnehmern ebenso wie der arabischen Bevölkerung. Trotzdem konnte es hier auch gefährlich werden, besonders für leichtsinnige oder unbesonnene amerikanische Teenager, die die Gesetze missachteten.

Zum Glück wurden Jugendliche für Diebstahl oder Zerstörung fremden Eigentums in der Regel nicht gleich ins Gefängnis gesperrt. Doch die Strafe war empfindlich und konnte für einen Jungen in Aarons Alter einen ziemlichen Schock bedeuten.

„Ich verstehe …“, flüsterte sie.

Sie wurden in einen kleinen Raum geführt, wo sie auf Aaron warteten. Jesslyn drehte nervös an dem Ring, den ihr ihre Großmutter zum achtzehnten Geburtstag geschenkt hatte. Sie nannte ihn immer ihren „Glücksring“. Und während sie mit ihm spielte, hoffte sie inständig, dass er ihr auch diesmal Glück bringen würde.

Endlich öffnete sich die Tür, und der Polizeichef brachte Aaron herein.

Jesslyn erschrak, als sie die Handschellen bemerkte, mit denen Aaron gefesselt war. Aber ehe sie etwas sagen konnte, nahm der Polizeichef ihm die Handschellen ab und zog einen Stuhl für ihn heran.

Wie betäubt setzte Aaron sich auf den bereitstehenden Stuhl und ließ den Kopf hängen.

„Aaron …“, sagte Jesslyn behutsam.

Der Junge blickte zögernd auf. Jesslyn konnte sehen, dass er geweint hatte. Seine Wangen waren noch feucht, die Nase rot und geschwollen. „Miss Heaton …“, stieß er hervor.

Ihr Herz zog sich zusammen. Aaron war immer einer ihrer Lieblingsschüler gewesen, und ihn so zu sehen, machte ihr schwer zu schaffen. Jesslyn wusste kaum, was sie sagen sollte.

Als hätte er ihre Gedanken erraten, schüttelte Aaron den Kopf. „Ich war es nicht, Miss Heaton. Das schwöre ich!“, versicherte er mit rauer Stimme. „Ich war es nicht!“

Sie hätte ihn so gern getröstet. Doch sie wusste nicht wie. Denn Aaron zu versprechen, dass alles gut werden würde, war unmöglich – jedenfalls im Moment. „Sie sagen, sie hätten dich nach Unterrichtsschluss auf dem Schulgelände erwischt.“

Er stöhnte auf. „Ich bin noch geblieben, weil ich Ihnen das Geschenk geben wollte!“

„Aber warum bist du weggerannt?“

„Ich wollte nicht wegrennen, sondern den Schulbus noch erwischen. Ich war viel zu spät dran.“

Jesslyn biss sich auf die Unterlippe, um ihre Emotionen unter Kontrolle zu halten. „Offenbar hat dich jemand aus dem Büro der Schulleiterin kommen sehen.“

„Das war ich nicht!“ Er hielt ihrem Blick stand. In seinen Augen schimmerten Tränen. „Wer auch immer die Papiere gestohlen hat – ich war es nicht!“

„Was weißt du von den Papieren?“, fragte Sharif.

Aaron presste die Kiefer aufeinander. Schmerz stand in seinem Blick. „Das kann ich nicht sagen.“

„Warum nicht?“

Seine mageren Schultern sanken nach vorn, und er ließ den Kopf wieder hängen. „Ich kann nicht …“, murmelte er verzweifelt.

Jesslyn rutschte auf ihrem Stuhl nach vorn. „Aaron, wenn du sagst, wer es war, kannst du dir einigen Ärger ersparen.“

„Und wenn ich es Ihnen sage, kommt er in Schwierigkeiten, und das kann ich nicht zulassen. Seine Mom liegt doch schon im Sterben, und …“ Aaron brach erstickt ab. Eine Träne fiel auf den Boden.

Jesslyn atmete tief ein. Sie wusste genau, von wem er gesprochen hatte. Es gab nur einen Jungen in den oberen Klassen, dessen Mutter todkrank war – und das war Will. Will McInnes. Seine Mutter war erst vor Kurzem in ein Sterbehospiz eingeliefert worden. Wills Vater, der die schreckliche Situation nicht verkraftete, trank viel zu viel und terrorisierte die Kinder.

Sie wandte sich an Sharif. „Ich muss mit dir reden … allein!“ Gemeinsam verließen sie den kleinen Raum.

Draußen auf dem Flur erzählte sie ihm die ganze Geschichte. Von der Freundschaft zwischen Aaron und Will. Und davon, dass Aarons Eltern ihr Bestes getan hatten, um Will in ihr Familienleben mit einzubeziehen, als sie von seiner Mutter gehört hatten. „Will … Er hat ein furchtbares Jahr hinter sich. Und der einzige Mensch, der sich um ihn gekümmert hat, war Aaron. Und jetzt muss er ihn verlassen.“

„Aber warum der Diebstahl?“, fragte Sharif. „Und warum hat er den Feueralarm ausgelöst? Er ist dafür verantwortlich, dass die Schule geflutet und fast jeder Klassenraum ruiniert worden ist. Für diese Dummheit wird er als vorbestraft gelten. Und außerdem wird seine Familie für den Schaden aufkommen müssen – einen Schaden, der in die Tausende geht.“

„Dann dürfen wir niemandem sagen, dass es Will war. Wir müssen uns selbst darum kümmern.“

„Wir?“, wiederholte Sharif.

„Ja, wir! Sein Dad ist extrem jähzornig. Ich mag mir gar nicht vorstellen, was er Will antut, wenn er von heute Nachmittag erfährt.“

„Dann willst du also Aaron, der offenbar unschuldig ist, für die Tat seines Freundes büßen lassen?“

Aarons gequältes, aschgraues Gesicht tauchte vor Jesslyns innerem Auge auf. Sie schüttelte heftig den Kopf. „Nein, wir werden Aaron hier rausholen“, verkündete sie entschlossen.

„Jesslyn.“

Sie zuckte die Schultern. „Er hat es nicht getan! Also kann er auch nicht bestraft werden! Es war Will.“

„Also sollte er bestraft werden.“

„Er ist doch noch ein Kind, Sharif! Und zwar eines, das gerade seine Mutter verliert! Sie wird den nächsten Monat nicht überleben. Kannst du dir überhaupt vorstellen, wie Will sich fühlen muss? Wie hilflos und wütend?“

Sharif schaute sie nur stumm an.

Oh ja, er konnte sich sogar sehr gut vorstellen, was der Junge gerade durchmachte. Es waren die gleiche Trauer, der gleiche Schmerz, die gleiche Wut, die seine Kinder erlitten hatten, als sie vor drei Jahren ihre Mutter verloren …

Anders als in Wills Fall war Zulimas Tod vollkommen überraschend gekommen. Ihnen war nicht einmal Zeit geblieben, um Abschied zu nehmen. Gerade hatte sie noch ruhig in ihrem Krankenhausbett gelegen, um sich von einem Kaiserschnitt zu erholen, und im nächsten Moment war sie tot. Ein kleines Blutgerinnsel war schuld gewesen.

„Meine Kinder haben ihre Mutter ebenfalls verloren“, sagte er rau. „Es ist nicht fair, doch so etwas passiert.“

„Aber wenn man etwas tun kann … wenn wir helfen können, ihnen ihr Schicksal zu erleichtern …“

„Das können wir nicht.“

„Doch, das können wir!“, beharrte sie. Sie ergriff seine Hand und sah ihn flehentlich an. „Bitte, Sharif. Bitte, hilf mir, diese Kinder zu retten! Hilf mir, Aaron zu befreien und Will zu finden, damit ich mit ihm reden kann. Vielleicht können wir die gestohlenen Papiere einfach zurückgeben.“

„Du bittest um ein Wunder.“

Jesslyn drückte seine Hand. „Dann mach, dass dieses Wunder geschieht, Sharif! Wenn irgendjemand es kann, dann du. Du hast doch immer alles fertiggebracht …“

Fasziniert betrachtete er ihre geröteten Wangen und schaute in ihre leuchtenden Augen. In ihnen stand Zuversicht und ein unerschütterlicher Glaube an seine Fähigkeiten, seine Macht.

Sie war sich so sicher, dass er es schaffen könnte, dass er es tun würde …

Jesslyns uneingeschränktes Vertrauen und ihre Leidenschaft berührten ihn. In all den Jahren ihrer Ehe hatte Zulima ihn nicht einmal so angeschaut.

„Dafür muss ich eine ganze Reihe Fäden ziehen“, murmelte er schließlich. Innerlich spielte er bereits alle Möglichkeiten durch, um den beiden Jungen so schnell wie möglich zu helfen. Es würde nicht einfach werden, aber er hatte einen gewissen Einfluss und kannte die richtigen Leute …

„Dann tu es!“, forderte Jesslyn leidenschaftlich.

„Das geht nicht so einfach mit einem Fingerschnippen.“

Diese neue Jesslyn Heaton, die hier vor ihm stand, beeindruckte ihn. Diese Frau war keineswegs naiv oder hilflos. Tatsächlich war Jesslyn Heaton eine Kämpferin geworden, eine Fürsprecherin der ihr anvertrauten Kinder.

„Das ist mir klar, aber ich liebe diese Kinder und kenne sie sehr gut. Seit Jahren unterrichte ich sie. Will ist ausgerastet, und Aaron versucht, ihn zu beschützen. Doch letztlich sind es Jungs. Eigentlich noch Kinder.“

Sharif hatte keine andere Frau je mit so viel Gefühl sprechen hören – aber so war Jesslyn schon immer gewesen. So hatte er sie kennengelernt. Sie trug ihr Herz auf der Zunge. Und heute, elf Jahre später, stellte er fest, dass sie sich zumindest in dieser Hinsicht kein bisschen geändert hatte.

Aus einem Impuls heraus streckte er die Hand aus und fuhr sanft über ihre Wange. Ihre Haut war warm und samtweich. Rasch ließ er die Hand wieder sinken und bemühte sich, nicht auf ihr Flehen einzugehen. „Meiner Ansicht nach wäre es besser, wenn die Jungen die Konsequenzen ihres Handelns ausbaden müssten. Daraus könnten sie eine Menge lernen.“

„Mag sein“, erwiderte Jesslyn ruhig. „Unter anderen Umständen wäre ich auch deiner Meinung. Aber nicht in diesem Fall. Will verliert gerade seine Mutter, und Aaron muss seinen Freund und seine neu gewonnene Heimat aufgeben.“ Sie sah ihm offen und fest in die Augen. „Tu es für mich, Sharif. Dafür werde ich für dich tun, was in meiner Macht steht.“

Sein Pulsschlag beschleunigte sich. „Wie soll deine Hilfe aussehen?“

Ein Schatten huschte über ihr Gesicht. Doch dann straffte Jesslyn die Schultern und schüttelte den Kopf, als wollte sie damit auch alle Zweifel und Ängste abschütteln. „Du hast gesagt, du brauchst mich“, sagte sie fest. „Du bist heute zu mir gekommen, weil du für den Sommer meine Unterstützung brauchst. Also …“ Ihre Stimme zitterte ein wenig, als sie fortfuhr. „Hilf mir mit den Jungen, und ich stehe dir zwei Wochen lang zur Verfügung …“

„Nein. Nicht für zwei Wochen. Für den ganzen Sommer“, korrigierte er.

Erneut flog ein Schatten über ihr Gesicht. „Aber die Reise. Meine Reise …“

„Woran liegt dir nun mehr? An deiner Reise oder daran, den Jungen zu helfen?“

Mit zusammengepressten Lippen starrte sie ihn an. Sharif konnte förmlich sehen, wie es in ihr arbeitete. Er spürte ihre Enttäuschung und ihren Ärger, ebenso wie die Erkenntnis, dass nur er tun konnte, was sie verlangte.

„Du liebst doch Kinder“, fügte er leise hinzu. Überrascht stellte er fest, dass er ein bisschen Angst vor ihrer Entscheidung, vor ihrem möglichen Nein hatte … „Meine Kinder brauchen dich … ebenso sehr wie diese beiden.“

Immer noch blickte Jesslyn ihm forschend in die Augen und rang mit sich. Er sah es und spürte es. Sie vertraute ihm nicht. Dabei war sie es gewesen, die ihn betrogen und verlassen hatte – nicht umgekehrt.

Eigentlich wartete er noch immer auf eine Entschuldigung. Und vor allem auf eine Erklärung. Doch diese Erklärung würde er bekommen! Koste es, was es wolle …

Jesslyn fuhr sich mit der Zungenspitze über die Unterlippe. „Wenn ich dir also den Sommer über zur Verfügung stehe, wirst du mir doch helfen?“, vergewisserte sie sich noch einmal.

„Den ganzen Sommer“, stellte Sharif eindeutig klar.

Sie versuchte, ihr Unbehagen zu verbergen. Stattdessen schob sie energisch ihr Kinn vor. „Gut, dann haben wir also einen Deal?“

Er ließ seinen Blick über ihr Gesicht gleiten. „Du willst es also wirklich durchziehen?“ Er hielt inne und betrachtete sie. „Gut. Ich weiß zwar nicht, ob es fair ist – aber ich gehe den Deal ein.“

3. KAPITEL

Anderthalb Stunden später stand Sharif im Schatten von Will McInnes’ Elternhaus und lauschte fasziniert, wie der arme Will von Jesslyn die Strafpredigt seines Lebens zu hören bekam.

Hätte Sharif die Standpauke nicht selbst mit angehört, hätte er es nicht für möglich gehalten, dass Jesslyn überhaupt so streng sein konnte. Doch offensichtlich kannte er noch längst nicht alle Seiten dieser unglaublichen Frau. Unmissverständlich führte sie dem armen Will vor Augen, dass sie wusste, was er getan hatte und dass er in ziemlichen Schwierigkeiten steckte.

Nicht nur, dass sie die gestohlenen Unterlagen zurückforderte – und zwar unverzüglich –, nein, sie machte Will klar, dass er ab sofort sozusagen auf Bewährung war: Sollte er sich in der nächsten Zeit noch eine Verfehlung leisten, würde sie nicht zögern, zu tun, was getan werden musste. Und das bedeutete, dass sie seinen Vater doch noch über die Vorfälle informierte.

Zwanzig Minuten später stieg Jesslyn mit einem Stapel Papiere unter dem Arm zu Sharif in den Wagen. Sie reichte ihm die Unterlagen. „Hier, sie gehören dir. Mission erfolgreich beendet!“ Die Erleichterung in ihrer Stimme war nicht zu überhören.

„Du bist nicht sehr zartfühlend mit Will umgegangen“, stellte Sharif fest.

Jesslyn seufzte und fuhr sich mit der Hand über den verspannten Nacken. Ihr Kopf schmerzte fürchterlich. Dieser anstrengende Tag schien einfach kein Ende nehmen zu wollen. „Nein, das bin ich wirklich nicht. Ich war verärgert und enttäuscht, und das sollte er auch wissen.“

Einer der Bodyguards schloss die Wagentür hinter ihr.

„Hat er deshalb geweint, als er dir die gestohlenen Papiere überreichte?“

Sie schürzte die Lippen. „Nein. Er hat geweint, weil ich ihm angedroht habe, du würdest ihn ins Gefängnis werfen lassen, sollte er jemals wieder etwas so Dummes anstellen. Und ich habe ihn gefragt, was dann aus seiner Familie werden würde …“

Sharif hob die Brauen. „Das hast du nicht.“

„Und ob!“, versetzte Jesslyn, kräuselte die Nase und schien angestrengt nachzudenken. „War das so schlimm?“

„Nicht, wenn es ihn davon abhält, jemals wieder straffällig zu werden“, gab er zu.

„Das dachte ich auch.“ Damit wandte sie den Kopf und schaute aus dem Seitenfenster. Die schwere Limousine setzte sich in Bewegung – aber sie fuhr nicht in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Diese Straße führte eindeutig nach Dubai. „Bringst du mich nicht in mein Apartment?“, fragte Jesslyn.

„Nein, wir übernachten heute in einem Hotel in Dubai, und morgen früh fliegen wir weiter.“

„Aber meine Sachen …“

„Das ist bereits erledigt. Ein Kurier hat deinen Koffer und die Reisetasche abgeholt, die du neben die Eingangstür gestellt hattest.“

Jesslyn warf Sharif einen kühlen Blick zu. „Du überlässt nichts dem Zufall, nicht wahr?“

„Ich versuche es zumindest.“

Missmutig blickte sie aus dem Fenster. So, das war es also! Vorbei der Traum von wundervollen, abenteuerlichen Sommerferien. Stattdessen … zurück an die Arbeit.

Wütend versuchte Jesslyn, die aufsteigenden Tränen zurückzudrängen. Oh nein, sie würde vor Sharif keine Schwäche zeigen! Sie hatte die richtige Entscheidung getroffen, dessen war sie sich ganz sicher. Wie hätte sie auch sonst ihren Urlaub genießen können? Wie hätte sie entspannen können, wenn sie doch wusste, was den beiden Jungen ohne ihre Einmischung – und Sharifs Hilfe – gedroht hätte?

„Du musst ziemlich hungrig sein“, sagte Sharif. „Es ist bereits nach elf, und seit heute Mittag hast du bestimmt keinen Bissen mehr zu dir genommen.“

„Nein, aber Hunger habe ich trotzdem nicht.“ Jesslyn ließ sich in den unglaublich weichen Ledersitz zurücksinken. „Zu viel Aufregung …“ Sie war müde, durstig und völlig ausgelaugt von dem anstrengenden Tag, der ihr wie eine Achterbahn der Gefühle vorgekommen war.

Als sie heute Morgen erwachte, war sie noch davon ausgegangen, am Abend nach Brisbane zu fliegen. Doch der Flieger war inzwischen längst ohne sie gestartet, und ihr stand ein langer Sommer in Sadad bevor.

Der Gedanke ließ Panik in ihr aufsteigen.

Wie hatte sie sich nur dazu überreden lassen können? Sie konnte unmöglich zehn Wochen mit Sharif und seiner Familie zusammenleben! Der Umstand, dass er inzwischen Witwer war, änderte daran nicht das Geringste.

„Ich weiß eigentlich gar nichts über diesen Job, den ich antreten soll“, überlegte sie laut und wandte sich an Sharif. „Du musst mir mehr über deine Kinder erzählen. Wie viele sind es, wie heißen sie, wie alt sind sie … Und außerdem muss ich wissen, was deine Zielvorstellungen sind.“

„Das werden wir alles noch besprechen“, bremste er sie. „Aber zuerst musst du etwas essen. Ich kenne dich – du musst essen. Sobald du dich in irgendetwas hineinstürzt, vergisst du das nämlich einfach. Und das geht nach hinten los. Du bist dann unglaublich gereizt.“

„Bin ich überhaupt nicht!“

Sharif lächelte. „Siehst du? Es geht schon los. Du solltest dein Gesicht sehen. Du bist total ausgehungert und erschöpft.“

Jesslyn verbiss sich eine rüde Bemerkung. Es würde sie nicht weiterbringen, jetzt einen unsinnigen Streit mit Sharif vom Zaun zu brechen. Sie war nun einmal gezwungen, die nächsten Wochen mit ihm und seiner Familie zu verbringen. Deshalb war es besser, gut mit ihm auszukommen. „Okay, dann lenk mich von meinem Hunger ab. Erzähl mir etwas über deine Familie. Wie viele Kinder habe ich zu unterrichten?“

„Drei.“

„Jungen und Mädchen? Oder alles Jungen?“

„Alles Mädchen.“ Sein Gesichtsausdruck blieb gelassen, aber Jesslyn nahm die Anspannung in seiner Stimme wahr.

„Sind sie mehrsprachig aufgewachsen?“, wollte sie im Hinblick auf ihre mehr als dürftigen Kenntnisse der arabischen Sprache wissen.

„Ja, aber das wirst du alles selbst herausfinden, wenn wir morgen zu Hause sind.“

Zu Hause. Sein Zuhause. Sadad. Sie war nur ein einziges Mal dort gewesen, und auch da nur sehr kurz, um an Amans Beerdigung teilzunehmen. Sie war noch am selben Tag wieder zurückgeflogen. Damals war sie so in ihrer Trauer verhaftet gewesen, dass sie sich an kaum etwas erinnerte. Nur die Hitze war ihr im Gedächtnis geblieben. Es war Sommer gewesen und heiß, so heiß.

Aber noch waren sie nicht in Sadad, sondern auf dem Weg nach Dubai.

Die zweihundert Jahre alte Stadt, die einst Piraten und Schmuggler bevölkert hatten, war heute eine florierende Metropole. Durch die Entdeckung und Erschließung von riesigen Erdölvorkommen war Dubai quasi über Nacht aufgeblüht und zu unfassbarem Reichtum gelangt.

Der Fahrer lenkte die Limousine zielstrebig in Richtung Jumeirah Beach, dem Tummelplatz der Schönen und Reichen.

Obwohl sie bereits seit sechs Jahren in den Vereinigten Arabischen Emiraten lebte, hatte Jesslyn das exklusive Hafengebiet von Jumeirah Beach nicht mehr als ein oder zwei Mal aufgesucht. Zum einen fühlte sie sich zwischen all den vornehmen Besuchern nicht wohl, zum anderen durfte man die Hotels hier nur als Gast betreten. Und sich auch nur für eine Nacht im Burj Al Arab, dem exklusivsten Hotel der Welt, einzumieten, lag weit außerhalb ihres Budgets. Für das günstigste Zimmer bezahlte man schon 1.280 $ pro Nacht! Doch offensichtlich war das für einen reichen Mann wie Sharif kein Problem.

„Werden wir hier essen?“, fragte sie, als die Limousine vor dem Privateingang für VIPs hielt.

„Und übernachten. Ich bewohne hier eine Suite, die nur zu meiner privaten Nutzung zur Verfügung steht.“

„Wie nett.“

Sharif verzog amüsiert die Lippen. Es war das Lächeln eines Königs, der es gewohnt war, alles zu bekommen, was er wollte.

Als sie aus dem Wagen stiegen, fühlte Jesslyn sich wie im Märchen Tausend und eine Nacht. Vergoldete Türen öffneten sich wie von Zauberhand, sobald sie sich ihnen näherten, kristallene Deckenleuchten dimmten automatisch ihren hellen Schein, und ein wahrer Dschungel von üppigen grünen Palmwedeln schien sich wie von selbst vor ihnen zu teilen.

Uniformierte Hotelangestellte standen bereit, um Sharif zu dienen. Und obwohl Jesslyn wusste, wie außergewöhnlich zuvorkommend das Hotelpersonal in Dubai war, fand sie diese Aufmerksamkeit doch beinahe überwältigend. Zu viele Leute, zu viele Verbeugungen, zu viel von allem …

„Du hast eine eigene Suite“, erklärte Sharif. „Und der Hotelmanager hat versprochen, persönlich dafür zu sorgen, dass du alles bekommst, was du brauchst.“

Jesslyn sah sich um. „Mein Gepäck …“

„Ist bereits in Ihrer Suite, Ma’am.“ Der Hotelchef nickte ihr lächelnd zu.

Während Sharif in einem Lift verschwand, stieg sie mit dem Manager und einer jungen Frau in einem eleganten Gewand mit Schleier in einen anderen Fahrstuhl. Während der Aufzug lautlos nach oben schwebte, machte der Manager sie mit dem Hotel vertraut, erklärte ihr die zahlreichen Annehmlichkeiten, inklusive der zahlreichen Restaurants und Lounges. „Selbstverständlich haben Sie Ihre eigene Dienerin“, informierte er sie und wies auf die verschleierte junge Frau an seiner Seite. „Sie wird Ihnen zur Verfügung stehen und sich um Ihre Angelegenheiten kümmern. In dreißig Minuten werden Sie mit Seiner Hoheit speisen. Meena wird Sie zum Restaurant begleiten, wo Sie Scheich Fehz treffen.“

Jesslyn blieb kaum Zeit. Sie nahm ein kurzes Erfrischungsbad und schlüpfte anschließend in einen schlichten schwarzen Rock und eine silbergraue Seidenbluse. Eilig fuhr sie sich noch ein paarmal mit der Bürste durchs Haar. Dann war es Zeit zu gehen.

Sie folgte der Frau zurück zum Lift, mit dem sie auf eine der unteren Etagen fuhren. Dort stiegen sie in einen anderen Aufzug, der sie direkt in die oberste Etage brachte, wo sich das Restaurant befand.

Jesslyn passierte eine Gruppe Araber in traditionellen Gewändern, die in eine lebhafte Diskussion vertieft waren. Sie unterhielten sich so lautstark, dass Jesslyn nicht umhinkam, einige Brocken aufzuschnappen. Offenkundig sprachen sie über Sharif. Wenn Jesslyn sie richtig verstand, hatten zwei von ihnen Töchter im heiratsfähigen Alter und stritten sich darum, welche von ihnen König Fehz im September zur Frau nehmen würde.

Jesslyn erstarrte. Sie hatte das Gefühl, nicht mehr richtig atmen zu können.

Sharif wollte wieder heiraten? Und wieder eine Prinzessin aus Dubai?

Gepeinigt schloss sie die Augen und presste kurz ihre Handballen gegen die Schläfen. Ihr Kopf schmerzte mit einem Mal fürchterlich.

Das konnte doch alles nicht wahr sein! In was war sie da nur hineingeraten?

Tragischerweise konnte sie niemanden dafür verantwortlich machen. Sie selbst hatte sich bereit erklärt, Sharifs Wunsch nachzukommen – und nun musste sie sich dieser Aufgabe auch stellen und sie erfüllen.

Schuld waren allein ihre überzogenen Ansichten über Ehre und Moral! Und ihr Helfersyndrom!

Autor

Alexandra Sellers

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