Julia Saison Band 71

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

VERFÜHRT VON EINEM ENGEL von MARY ANN WILSON
Mit einem ganz besonderen Auftrag wird Engel Angelina zur Erde gesandt. Doch Engel sind auch nur Menschen, und so kommt es, dass Angelina sich in den attraktiven Dennis verliebt. Am Valentinstag entscheidet sich ihr Schicksal ...

HERZKLOPFEN AM VALENTINSTAG von KAREN TEMPLETON
Mercys Herz schlägt höher: Ihre große Jugendliebe Ben ist nach zehn Jahren plötzlich zurückgekehrt in die Heimat. Sofort fühlt sie sich wieder zu ihm hingezogen. Doch was empfindet er für sie? Wird er ihr am Valentinstag endlich seine Liebe gestehen?

BEI KUMMER – DIESE NUMMER von JULIE KISTLER
Radiomoderatorin Nell soll ihren Hörern am Valentinstag ein Blind Date vermitteln. Der erste Anrufer ist „John Jones“. Die Stimme kommt Nell bekannt vor: Das muss ihr neuer Chef Griffin sein. Und mit ihm hat sie etwas ganz Besonderes vor!


  • Erscheinungstag 06.01.2023
  • Bandnummer 71
  • ISBN / Artikelnummer 8091230071
  • Seitenanzahl 400

Leseprobe

Mary Ann Wilson, Karen Templeton, Julie Kistler

JULIA SAISON BAND 71

PROLOG

12. Februar, vier Uhr morgens, Santa Barbara, Kalifornien.

Wieder erschien sie in seinen Träumen, aber dieses Mal war die süße Schwere des Tiefschlafs bereits verflogen. Unaufhaltsam kam sie näher und näher, und ihre Gegenwart hielt ihn so sehr in seinem Traum gefangen, dass er unfähig war, sich zu bewegen. Und er konnte nicht aufwachen. Doch im Grunde wollte er es auch gar nicht. Er wartete einfach nur auf sie.

Sie kam so lange näher, bis ihre nebulöse Erscheinung vor seinen Augen fast greifbar wurde. Trotzdem vermochte er sie nicht wirklich zu sehen. Er spürte sie vielmehr. Er spürte ihre Zartheit und ihre Sanftheit. Er spürte eine Glut, die ihm tief ins Herz drang. Ihr Duft rief eine undeutliche Erinnerung in ihm wach, aber es gelang ihm nicht, sie beim Namen zu nennen.

Dennoch wusste er, dass er sie brauchte. Und dass er sie begehrte. Es war, als ob sie einen Teil seiner Seele besaß. Obwohl er ihre Gesichtszüge nur verschwommen erkennen konnte, wusste er, dass ihre Erscheinung einen Hauch von Leidenschaft ausstrahlte. Alles an ihr schien Freude und Glück, Verlangen und Erfüllung.

Ihre Erscheinung stürzte ihn in einen Wirbel der Sinne, auch wenn sie unerreichbar war. Seine innere Anspannung wuchs, er streckte die Hand aus und wollte nach ihr greifen, aber er griff ins Leere. Sie verschwand aus seinem Traum und war verloren.

Wie oft hatte sie dieses grausame Spiel in den vergangenen Monaten mit ihm gespielt!

Einen Augenblick später wachte er auf. Wieder mal stellte er fest, dass er immer noch in seinem eigenen Bett lag. Es stand im Schlafzimmer seines Hauses, das auf den Klippen der kalifornischen Pazifikküste errichtet worden war. Und er empfand einen schmerzhaften Verlust in sich, das seltsame Gefühl einer Leere, die sich jeglicher Erklärung entzog.

Dennis Benning atmete tief durch. Regungslos lag er auf dem Bett und spürte den Erschütterungen nach, die der Traum in seinem Inneren verursacht hatte. Er lockerte die verkrampften Fäuste, legte die flachen Hände auf das Bettlaken und hoffte inständig, dass die schmerzhafte Anspannung langsam weichen würde. Wenn die Frau seiner Träume aus Fleisch und Blut gewesen wäre, wenn sie in dieser milden Nacht das Bett mit ihm geteilt hätte, dann hätte er auf der Stelle mit ihr geschlafen. Zweifellos.

Leise stöhnte er auf. Der Gedanke verstärkte sein Unbehagen erheblich.

„Beruhige dich“, murmelte er halblaut zu sich selbst. „Schließlich ist es nur ein Traum. Nichts, als ein verdammter Traum.“ Langsam öffnete er die Augen. Am Fußende des Bettes schien das fahle Mondlicht durch die verglasten Balkontüren. Wieder sah er sie. Dieses Mal bestand ihre Erscheinung nur in der Andeutung eines Körpers. Es war die Illusion von einer Frau, die nur aus einer flüchtigen Nebelwolke zu bestehen schien. Er sah eine schlanke Figur in einem langen, fließenden Gewand. Das lockige Haar fiel ihr bis auf die Schultern. Aber das Gesicht blieb verschwommen. Je länger er hinsah, desto höher schwebte die Erscheinung, bis sie schließlich durch die Schatten der Zimmerdecke ins Nichts zu entschwinden schien.

Nur das Wispern eines Luftzugs machte sich leise bemerkbar, und einen Herzschlag lang war er überzeugt, dass ihm der Duft von Blumen in die Nase gestiegen war. Nein, nicht der Duft von Blumen, sondern die süße Würze einer wild wuchernden, sommerlichen Blumenwiese. Aber sofort war auch der Duft wieder verschwunden. Er ließ sich wieder in die Kissen sinken. Das Bettlaken war feucht von seinem Schweiß. Was für ein verrückter Traum, dachte er. Verrückter als je zuvor. Aber jetzt war er vorüber.

Nichts war übrig geblieben. Dunkle Nacht umhüllte ihn. Draußen schlugen die Wellen des pazifischen Ozeans dumpf an die Klippen. Es gab keine Frau in seinem Zimmer. Nichts. Er war vollkommen allein.

Er kniff die Augen zusammen und war fest entschlossen, sich zu entspannen. Schließlich wusste er genau, dass der Traum in dieser Nacht nicht wiederkommen würde. Niemals kam er zwei Mal in derselben Nacht. Noch nicht mal jede Nacht kam er. Er tauchte stets unerwartet auf, immer dann, wenn Dennis überzeugt war, dass er ihn endgültig verloren hatte. Dann aber überwältigte ihn der Traum jedes Mal mit sanfter Macht, bis er sich vollkommen in ihm verloren hatte.

Verrückt, dachte er wieder. Verrückt, sich danach zu sehnen, dass ein Traum wiederkehrt. Als der Schlaf ihn wieder überkam, hatte er einen noch verrückteren Gedanken. Er bildete sich ein, dass er die Frau kannte. Er kannte sie sogar sehr gut. Obwohl er ihr noch niemals begegnet war.

1. KAPITEL

12. Februar, sieben Uhr abends.

„Zwangsneurotisch“, murmelte Angelina kaum hörbar. Zwar hatte sie nicht genau begriffen, was dieser komische Ausdruck der menschlichen Sprache zu bedeuten hatte, aber irgendwie passte er hervorragend zu dem Verhalten, das sie Dennis Benning gegenüber an den Tag legte.

Sie verstand nur, dass sie sich in den vergangenen Monaten immer wieder gezwungen gefühlt hatte, nach ihm zu sehen. Es war ihr wichtig zu wissen, dass es ihm gut ging, und sie hatte ihr Verhalten damit gerechtfertigt, dass er im letzten halben Jahr eine Menge durchgemacht hatte. Zwei Mal hatte er sich von einer Geliebten getrennt. Zum ersten Mal in seinem Leben war er seinem Halbbruder begegnet. Bisher hatte er von dessen Existenz nicht die geringste Ahnung gehabt. Also schaute sie hin und wieder nach ihm.

Meistens hatten ihre heimlichen Besuche in den frühen Morgenstunden stattgefunden, wenn er noch schlief. Jedes Mal hatte sie sich überzeugen können, dass es ihm an nichts fehlte. Warum also hatte sie ihn wieder aufgesucht? Sie hatte es einfach getan, wieder und wieder. Und dieses Mal hatte sie nicht auf die Nachtstunden gewartet.

Abends um sieben entdeckte sie ihn in seinem Büro im zehnten Stock eines alten Hochhauses in der Innenstadt.

„Du siehst müde aus.“ Sam, sein Halbbruder, musterte ihn aufmerksam. „Was ist los?“

Angelina beobachtete Dennis genau, während sie unsichtbar über ihm schwebte. Müde? Ja, tatsächlich. Er wirkte müde. Wie hatte ihr das nur entgehen können?

Sam beugte sich vor und stützte die Handflächen fest auf die dicken Wälzer von Gesetzestexten, die auf dem Schreibtisch seines Bruders herumlagen. Eindringlich schaute er Dennis an. Die beiden Männer sahen einander sehr ähnlich.

Angelina dachte, dass eine irdische Frau Dennis vermutlich für attraktiv halten musste. Sam sicher auch, aber trotz der Ähnlichkeit der beiden Brüder bemerkte sie doch eine Reihe von Unterschieden in ihrem Aussehen.

Sam wirkte rauer als Dennis, irgendwie unvollkommener. Sam war die Zwischenstation, Dennis das makellose Endprodukt. Groß, blond, schlank, die Haut ein wenig gebräunt. Die Gesichtszüge waren bemerkenswert glatt, die Augen strahlten in durchdringendem Blau. Oh, ganz bestimmt hatte er sich seit ihrer ersten Begegnung sehr verändert. Das helle Haar war inzwischen länger. Jetzt reichte es ihm fast bis auf den Kragen des Hemdes. Sogar das Hemd und die bequeme Jeans waren neu. Vorher hatte er stets unbequeme dreiteilige Anzüge mit zugeknöpfter Weste getragen.

Er war Anwalt in der renommiertesten Kanzlei von Santa Barbara gewesen und hatte sich kürzlich selbstständig gemacht. Im Augenblick war Sam sein wichtigster Mandant. Dennis überwachte dessen Verträge mit der Filmindustrie, half ihm bei den Verhandlungen, beriet ihn bei Investitionen und in Steuerangelegenheiten. Obwohl die beiden Männer sich erst vor zwei Monaten kennen gelernt hatten, waren sie einander sehr nahe. Was für ein Glück, dachte Angelina, ganz besonders jetzt, wo die wichtigste Phase in Dennis’ Leben beginnt. Oder schon begonnen hatte.

Es gefiel Angelina, dass er sich von der fixen Idee gelöst hatte, ein „Benning“ zu sein. Er gehörte zu einer der einflussreichsten Familien in der High Society von Santa Barbara und hatte sich nach und nach von dieser schweren Bürde befreit.

„Ich schlafe nicht viel“, murmelte Dennis und lächelte trocken. „Ich habe wieder diese Träume.“

„Träume?“, wiederholte Sam.

Dennis zuckte die Schultern. „Verrückt, nicht wahr? Ich kann mich nicht erinnern, früher geträumt zu haben. Jedenfalls nicht wirklich.“

„Was für Träume? Von Monstern, die dich jagen? Oder von Clowns im Zirkus, die dich verfolgen?“

Dennis lehnte sich zurück. „Nein, keine Clowns. Die Träume sind …“ Er seufzte auf, verschränkte die Hände hinter dem Kopf und warf seinem Bruder einen schrägen Blick zu. „Man nennt das wohl erotische Träume.“

„Erotische Träume?“

„Nein, nicht wirklich. Aber die Träume könnten sehr erotisch werden, wenn sie nicht immer so plötzlich enden würden“, erklärte Dennis.

„Und deshalb bist du so erledigt?“

„Es sind keine harmonischen Träume“, stellte Dennis richtig. „Sie sind unglaublich frustrierend.“

„Aha. Die Lady frustriert dich also. Mach dir nichts draus. Ich verstehe dich sehr gut. Francine, nicht wahr?“

„Da verstehst du offenbar mehr als ich. Nein, nicht Francine. Ich kenne die Frau meiner Träume irgendwie, und gleichzeitig kenne ich sie nicht“, seufzte Dennis und lehnte sich wieder in seinem Sessel zurück.

„Glaub mir, diese Clark-Schwestern rauben einem manchmal schier den Verstand. Und sie sind unglaublich sexy.“

„Ja, das stimmt wohl“, meinte Dennis. „Aber jetzt erzähl doch mal, warum du mich heute besuchst, noch dazu ohne deine neue Braut?“

„Melanie ist mit Reggie und dem Baby zu Mutter gefahren. Ich hole sie dort ab, und dann fahren wir ins Restaurant“, erklärte er. „Und da ich schon auf dem Weg war, wollte ich kurz anhalten und nachsehen, ob du noch arbeitest. Vielleicht willst du uns begleiten. Wir könnten bei Francine vorbeifahren und sie abholen.“

„Du liebe Güte, das Dinner. Das hab ich vollkommen vergessen.“ Entsetzt schaute Dennis auf die Armbanduhr. „Ich habe mich vollkommen in die Arbeit vergraben. Würdest du vielleicht auch allein …?“

„Nein, auf keinen Fall. Du brauchst dringend eine Pause. Und warum verbringst du sie nicht mit einer Traumfrau?“

„Ich wusste, dass ich dir nichts hätte verraten dürfen.“ Dennis stand auf und schaute seinen Bruder an. „Wer kommt denn noch zu unserem Abendessen?“

„Ben, Reggie, Mel und ich. Und natürlich du und Francine.“

„Mutter und Vater sind also nicht eingeladen?“

Sam schüttelte den Kopf. „Nein. Ich habe heute Nachmittag bei ihnen vorbeigeschaut. Deine Mutter hatte sich in ihr Schlafzimmer zurückgezogen, weil sie wieder an einer plötzlichen Migräneattacke litt. Offenbar konnte sie es nicht ertragen, dass du dich mit Francine zum Dinner triffst.“ Sam schlug Dennis freundschaftlich auf die Schulter.

Angelina erschauerte, als sie das verbissene Lächeln auf Dennis’ Lippen sah. „Ja, Mutter ist schon ein Fall für sich. So viel ist sicher.“

„Unser Vater sagte mal, dass sie überzeugt sei, die Bennings würden sich zum Gespött der High Society von Santa Barbara machen, wenn sie sich mit einer Familie verschwägern, die sich wie die Kaninchen vermehren.“

Dennis ließ den Verschluss einer Aktentasche aufschnappen und legte einige Papiere hinein. „Eins wirst du noch lernen müssen, wenn du zu unserer Familie gehören willst. Mutter überlebt immer.“ Er ließ den Verschluss wieder zuschnappen und wandte sich an Sam. „Sie ist zäh wie Leder, wenn man mal von den Kopfschmerz-Attacken absieht, die sie immer wieder überfallen. Aber sie kann sie auch nach Belieben hervorzaubern. Die Frau hält alles durch.“

Angelina hatte gar nicht bemerkt, dass sie sich ihm immer mehr angenähert hatte. Plötzlich nahm sie den Duft seines Rasierwassers wahr. Nein, das durfte sie nicht. Schließlich war sie auf Beobachtung eingestellt und nicht darauf, menschliche Erfahrungen nachzuahmen.

Dennis fuhr sich mit der Hand durchs Haar. Unwillkürlich streckte sie ebenfalls die Hand aus, um sanft über sein Haar zu streichen. Sie war schockiert. Noch dazu war es ein dummer Impuls, denn mit ihrer Hand konnte sie keinerlei Kontakt zu ihm aufnehmen. Sie fuhr einfach durch seinen Körper hindurch und verursachte keinerlei Regungen bei ihm. Wenn sie sich auf ihrem Beobachtungsposten über ihm befand, besaß ihr Körper keine Substanz. Kontakt kam also nicht infrage.

„Du hast vollkommen Recht, was deine Mutter angeht“, murmelte Sam.

Sie schob die Hände hinter den Rücken und versteckte sie schließlich in den Falten ihres weißen Kleides. So ein dummer Fehler sollte ihr kein zweites Mal passieren. Vergiss nicht, wer du bist, mahnte sie sich. Sie war eine gute Fee. Ein Wesen, dass unmögliche Dinge zwischen den Menschen möglich werden ließ. Sie half den Menschen, die echte Liebe zu finden. Die große Liebe, die jeder Mensch sich so sehnlich herbeiwünschte.

„Lass uns um Himmels willen von hier verschwinden.“ Dennis drehte sich abrupt um und eilte zur Tür.

Alles ging rasend schnell. Erst als es vorbei war, wurde ihr bewusst, was eigentlich geschehen war. Er schritt durch ihren Nebel hindurch und stoppte. Sie erschrak zutiefst, als sie bemerkte, dass er sie direkt anschaute. Einen Moment lang fragte sie sich, ob sie sich durch den Schock vielleicht unbemerkt materialisiert hatte.

In letzter Zeit war ihr das zwei Mal passiert, beide Male im Haus von Dennis. Aber ein Blick genügte, um festzustellen, dass sie immer noch unsichtbar war. Jedenfalls für Menschen. Trotzdem starrte Dennis unablässig auf die Stelle in der Luft, wo sie schwebte. Besorgt runzelte er die Stirn.

„Hast du das gerochen?“, fragte er.

„Was gerochen?“, fragte Sam und öffnete die Tür. „Ich rieche nur den würzigen Duft von Audrys Shampoo vermischt mit dem Toner aus dem Kopierer.“ Er hielt inne. „Was ist los?“

„Einen kurzen Augenblick lang duftete es nach einer Wiese … nach Sommerblumen.“ Er sog die Luft ein und schüttelte dann den Kopf. „Nein, du hast Recht. Es ist der Toner.“ Dennis knipste das Licht aus, folgte Sam nach draußen und schloss die Tür hinter sich.

Angelina zog sich eilig zurück. Sie hatte die Absicht, sich so schnell wie möglich ihrer aktuellen Anbahnungssache zuzuwenden. Der Job war nicht gerade angenehm, weil sie es mit zwei Menschen zu tun hatte, die sich im Moment sehr aufsässig benahmen. Aber sie hatte es arrangiert, dass sie in einem romantischen Whirlpool in einem Wellness-Hotel in Big Sur saßen. Mit einer Flasche Champagner. Immerhin hatte sie beobachtet, dass zwei nackte Menschen, die in einer heißen Wanne Champagner tranken, selten miteinander stritten.

Als sie davonschwebte, gönnte sie sich einen letzten Blick auf Dennis, der jetzt in einem großen, schwarzen Wagen saß und Sams Wagen folgte. Auf dem Weg nach Big Sur leistete sie sich noch einen kleinen Abstecher zur Villa der Bennings in den Hügeln von Santa Barbara.

Emily Benning hatte sich auf dem Sofa in ihrem Zimmer ausgestreckt und hielt die Augen geschlossen. Auf der Stirn lag ein kühlender Lappen. Sie wirkte dünn, blass und zerbrechlich. Dennis Benning sen., ihr Ehemann, beugte sich über sie.

„Emily, genug ist genug. Du wirst Dennis nicht ändern können. Er hat schon immer seinen eigenen Kopf durchgesetzt. Um ehrlich zu sein, langsam ist er aus dem Alter raus, wo er unsere Erlaubnis braucht, wenn er sich mit einer Frau verabreden will.“ Dennis Benning kniff die blauen Augen zusammen. „Er hat sein Leben verdammt gut im Griff. Lass ihn einfach in Ruhe.“

Emily Benning verzog ihren Mund zu einer dünnen Linie. „Du bist schuld. Du warst derjenige, der … der im jugendlichen Übermut einen indiskreten Fehltritt begangen hat.“

„Genug, habe ich gesagt. Du sprichst über meinen Sohn.“

Sie öffnete die Augen, bewegte sich aber keinen Millimeter. „Wir haben auch einen Sohn, Dennis.“

Verzweifelt atmete er aus und ballte seine Hände zu Fäusten. „Genug. Hast du mich verstanden? Sam ist mein Sohn. Dennis ist mein Sohn.“

„Bitte“, hauchte sie und fuhr mit der schmalen Hand durch die Luft. „Hör auf.“

„Du hörst auf. Ich habe die Nase voll von deinem vorwurfsvollen Verhalten.“

Emily seufzte auf, als hätte sie allen Grund zur Verzweiflung. „Vorwurfsvolles Verhalten! Mein Lieber. War ich diejenige, die diesem Mann die Türen unseres Hauses geöffnet hat?“

Dennis Benning wirkte beinahe traurig. Seit fünfunddreißig Jahren war er nun mit dieser Frau verheiratet. „Wie hätte ich mich weigern können?“, fragte er.

„Ich … ich fühle mich so verlassen“, wisperte Emily. „So verlassen“, wiederholte sie mit zittriger Stimme und presste sich den Handrücken auf die Stirn.

Angelina spürte förmlich, wie Dennis Benning sich innerlich von seiner Frau zurückzog. Wer auch immer diese Ehe in die Wege geleitet hatte, er hatte schlechte Arbeit geleistet. Selbst dieser blöde Engel, den die Menschen in ihren Märchen erfunden hatten, hätte es nicht schlimmer arrangieren können, wenn sein Pfeil irrtümlich jemand anders getroffen hätte.

Was für ein Gedanke! Ein fettes, kleines Männchen in Windeln, das Pfeile auf Menschen abschoss. Zu dumm, dass es nur ein Märchen war. Sonst hätte er doch einfach einen Pfeil auf die Bennings abfeuern können. Sie hob die Arme, legte an und tat so, als würde sie Bogenschießen. „Zack! Und zack!“, murmelte sie und stellte sich vor, dass ihre eingebildeten Pfeile direkt ins Herz der beiden treffen würden. Wenn sie überhaupt ein Herz besaßen. Vor allem Emily Benning.

„Angelina!“

Aus der Ferne hörte sie, wie jemand ihren Namen rief. Noch bevor sie sich umdrehen konnte, wurde sie von den Menschen weggezogen. Im nächsten Augenblick fand sie sich in einer unbekannten Abteilung des Hauptquartiers wieder. Dann erblickte sie den gläsernen Konferenztisch, der in der Mitte des Raumes zu schweben schien. Die Wände schimmerten in glänzendem Weiß, und in der Mitte des Raumes tanzten Lichtstrahlen in stiller Schönheit. Diese Abteilung hatte sie noch nie betreten. Es war der Sitzungssaal des Himmlischen Rates.

Aber außer Miss Victoria sah sie niemanden. Ihre Vorgesetzte hatte bereits graue Haare. Sie trug ein langes, blaues Gewand und eine gestärkte Schürze. Ihre Figur wirkte sanft und zierlich. Die Haut schimmerte hell. Auf der Nase trug sie eine goldumrandete Brille, hinter der blassblaue Augen hervorlugten.

„Ma’am?“, fragte Angelina und machte vorsichtig einen Schritt auf die Frau zu.

Miss Victoria schürzte die Lippen und musterte Angelina vorwurfsvoll. „Zack? Was heißt zack?“

Offenbar hatte sie alles gesehen und gehört. Natürlich, dachte Angelina. Wie konnte ich das vergessen! Eine leichte Röte stieg ihr in die Wangen. Seit langem war sie nicht mehr so nervös gewesen. Wie damals, als Miss Victoria ihr eröffnet hatte, dass Dennis und Melanie Clark heiraten und glücklich sein würden. Auf keinen Fall hatte sie das hinnehmen wollen, und sie hatte bewiesen, dass die zwei nicht zueinander passten. Schließlich hatte Melanie Sam geheiratet, nicht Dennis.

Aber das war lange her. Es gab keinen Grund für ihre Nervosität, selbst wenn sie in den Sitzungssaal gerufen worden war. Eigentlich hatte sie hier keinen Zutritt, es sei denn, sie befand sich in echten Schwierigkeiten. „Es ist das Geräusch, das entsteht, wenn man einen Pfeil von einem Bogen abschießt.“

Die zierliche Frau wirkte vollkommen verwirrt. „Einen Pfeil?“

„Kupido. Die Figur, die die Menschen sich am Valentinstag schenken. Der fette, kleine Kerl in Windeln, der herumläuft und Pfeile auf Menschen schießt, damit sie sich ineinander verlieben. Sie kennen das Märchen doch bestimmt. Ich hatte gerade darüber nachgedacht, dass die Eltern von Dennis Benning einen solchen Pfeil gut gebrauchen könnten.“

Mit einer unwilligen Handbewegung wischte Miss Victoria die Dummheiten beiseite. „Lass die Menschen glauben, was sie wollen, wenn sie sich dabei besser fühlen.“

„Ja, natürlich, Ma’am“, murmelte Angelina erleichtert.

„Und die Bennings?“, fragte Miss Victoria. „Was hast du in deren Leben zu suchen?“

Das hätte Angelina selbst gern gewusst. Vor allem aber ließ ihre Vorgesetzte sich nicht mit einer faulen Entschuldigung abspeisen. „Ich habe keine Ahnung“, erklärte sie wahrheitsgemäß. „Ich glaube, ich wollte nachsehen, wie die Sache läuft. Für alle.“

„Aber das geht dich gar nichts an, meine Liebe. Mary hat den Auftrag übernommen.“

„Mary?“, fragte Angelina erstaunt zurück.

„Ja, Mary“, bestätigte Miss Victoria. „Und sie erledigt ihre Arbeit großartig. Sie hat eine ganz besondere Begabung, unser Anliegen den Menschen nahe zu bringen. Ihre Kolleginnen sollten sich ein Beispiel an ihr nehmen.“

„Natürlich, Ma’am“, murmelte Angelina.

„Aber wir haben dich nicht hergebeten, um mit dir über Mary oder über die Bennings oder über die Clarks zu sprechen.“ Miss Victoria machte einen Schritt auf Angelina zu und senkte die Stimme. „Meine Liebe, die Angelegenheit ist sehr ernst. Dein letzter Auftrag …“

„Oh“, stieß Angelina hervor. „Ma’am, ich muss sofort zurück. Ich kümmere mich um das Paar, die Warren-Smith-Verbindung, und ich …“

„Nein“, unterbrach Miss Victoria mit schneidender Stimme. „Das geht dich nichts mehr an. Wir haben bereits entschieden, dass Faith die Sache übernimmt.“ Auf ihrer Stirn deuteten sich leichte Falten an. „Gerade noch rechtzeitig. Der Mann hat Seife nämlich über ihr ausgekippt. Der Schaum war überall.“

„Was?“

„Sie stritten sich gerade, als Faith bei ihnen auftauchte. Aber jetzt ist die Situation zum Glück wieder unter Kontrolle“, seufzte Miss Victoria.

„Das tut mir sehr leid. Ich war überzeugt, wenn die beiden im Whirlpool sitzen, dann müssen sie mit diesem kindischen Streit endlich aufhören und …“

„Angelina. Wir müssen jetzt über dich sprechen.“ Ihre Vorgesetzte faltete die Hände vor der gestärkten Schürze. „Der Rat ist zu dem Schluss gekommen, dass deine Arbeit dich offensichtlich überfordert. Du hast deine Aufgabe im Stich gelassen.“

„Ma’am, die Menschen sind manchmal einfach schwer zu begreifen. Im Grunde ist es für sie ganz einfach. Sie leben ihr Leben und treffen irgendwann einen anderen Menschen, mit dem sie es teilen wollen. Was gehört schon dazu, das zu kapieren. Und trotzdem machen sie alles immer so unglaublich kompliziert.“

„Genau deswegen hat der Rat beschlossen, dass du Abstand brauchst. Du brauchst Zeit, um dich auf deine wichtigste Aufgabe bei uns zu besinnen. Erinnere dich daran, was menschliche Wesen sind, wie sie leben, wie sie denken und fühlen und womit sie es jeden Tag in ihrem Leben zu tun haben.“

Entsetzt dachte Angelina an das, was ihr jetzt blühte. „Nein, Ma’am, bitte nicht. Ich brauche keinen Auffrischungskurs an der Akademie.“ Dort gab es nichts als Unterricht und Sitzungen und Therapien. Und diese interaktiven Apparate, die ihr eine virtuelle Realität vorspiegelten. „Wirklich nicht.“

„Wir stimmen dir zu. In deinem Fall würde das gar nichts helfen. Du brauchst mehr als einen einfachen Auffrischungskurs. Für dich haben wir etwas ganz anderes vorgesehen.“

Angelina erstarrte. Es gab nur noch eine schlimmere Strafe für unbefriedigende Arbeit: Verbannung. Obwohl ihr die Arbeit in letzter Zeit tatsächlich schwer zu schaffen gemacht hatte, wollte sie auf gar keinen Fall in die Verbannung. Wie sollte sie überleben, wenn sie Buchführung machen sollte? Oder den Terminkalender der Ratsmitglieder führen? Und Tee kochen? Allein der Gedanke jagte ihr einen Schauder über den Rücken.

„Ma’am, mein Zeugnis ist von Anfang an tadellos gewesen. Weder meine Arbeit noch mein Engagement sind bemängelt worden. Wenn ich im Augenblick mit den Menschen nicht so ganz klarkomme, dann … dann liegt es wirklich daran, dass sie manchmal sehr schwierig sind. Zugegeben, die letzte Anbahnung ist gescheitert, und Dennis Benning hat sich …“

„Genau darum geht es.“ Miss Victoria atmete tief durch. „Dein Problem heißt Dennis Benning.“

Angelina erschrak. „Mein Problem?“, fragte sie kleinlaut.

„Angelina, wir sind zu der festen Überzeugung gelangt, dass du die Fähigkeit verloren hast, menschliche Wesen mit all ihren Eigenarten zu verstehen. Jede Fee kann sich einfühlen. Du kannst es nicht mehr. Deshalb hat der Himmlische Rat beschlossen, dass du für eine Woche als Sterbliche leben musst.“

Angelina sah ihre Vorgesetzte entsetzt an. „Sie machen Witze!“, rief sie regelrecht panisch aus.

„Angelina!“ Eine Stimme ertönte von der Decke über ihr und hüllte sie vollkommen ein. Erschrocken schlug sie sich mit der Hand auf den Mund. „Das reicht!“, donnerte die Stimme. „Wir haben gesprochen!“

Sie richtete ihren Blick in das schimmernde Nichts. „Eine Woche!“, wiederholte die Stimme. „Sieben Tage in menschlicher Zeitrechnung. Erst dann wird über deine weitere Zukunft bei uns entschieden werden. Hast du uns verstanden?“

Immer noch presste sie ihre Hand auf den Mund und nickte eilig.

„Wir werden dich überwachen, damit wir sicher sein können, dass du alle Aufgaben zu unserer Zufriedenheit erledigst. Hast du uns verstanden?“

Wieder nickte sie und nahm langsam ihre Hand vom Mund. Sieben Tage sollte sie ein Mensch sein? Das war ihre Strafe? Vielleicht doch gar nicht so übel. Im Grunde war es viel milder als die Verbannung.

Sie straffte den Rücken. Ja, warum sollte sie nicht versuchen, lächerliche sieben Tage als Mensch zu überstehen?

„Hochmut ist vollkommen fehl am Platze!“, wies die Stimme sie zurecht.

Angelina zuckte zusammen. „Ja, gewiss.“

„Aha, eine Lektion hast du also schon begriffen“, sagte die Stimme.

„Und jetzt ist es an der Zeit, dir die Regeln zu erklären. Du wirst dich ohne jede Hilfe durchschlagen müssen. Die Kräfte, die dir bei uns zur Verfügung stehen, wirst du dort nicht besitzen. Du wirst in den Tag hineinleben und nicht in die Zukunft sehen können. Was passiert, das passiert. Du erfährst es in dem Augenblick, in dem es geschieht. Kurz und gut, du wirst als Mensch leben.“

„Und wenn ich etwas brauche?“, fragte sie ängstlich.

„Miss Victoria wird für dich da sein, wenn es ein ernstes Problem gibt. Aber niemals wird sie zu deinen Gunsten eingreifen. Verstanden?“

Angelina nickte.

„Es ist alles für dich arrangiert. Du wirst ganz und gar am Leben teilhaben, jedes menschliche Gefühl durchleben, und du wirst lernen, was sie durchzumachen haben.“

„Okay. Das habe ich verstanden. Ist eine Frage gestattet?“

„Nur zu.“

„Sie wohnen in Häusern und haben Besitz. Materielle Dinge.“

Ungeduldig wischte Miss Victoria den Einwand beiseite. „Das ist alles arrangiert. Auch für dich ist ein Platz vorgesehen. Und ein Job. Und …“

„Ein Job?“

Ihre Vorgesetzte nickte. „Menschen haben Jobs.“

Sollte sie wirklich arbeiten, während sie auf der Erde verweilte? Angelina war fassungslos. „Aber … alles, was ich jemals getan habe, ist hier …“, wandte sie mit schwacher Stimme ein.

„Meine Liebe, du wirst beizeiten merken, was du zu tun und zu lassen hast. Jetzt musst du uns verlassen. Es ist Zeit für dich.“

Angelina wusste genau, dass es nichts mehr zu sagen gab. „Okay. Ich hole meine Sachen. Bin gleich fertig …“

Die Worte wurden ihr abgeschnitten. Sie spürte, wie sie aus dem Hauptquartier entfernt wurde. „Du sollst dir wieder darüber klar werden, was wirklich wichtig für dich ist. Du selbst kannst über dein weiteres Schicksal entscheiden.“

„Ich?“, fragte sie verdutzt, während sie immer weiter aus den vertrauten Himmelssphären davonschwebte.

Man hatte ihr noch nicht mal verraten, in welcher Gegend der Erde sie ihr menschliches Leben verbringen sollte. In letzter Sekunde erhaschte sie einen Blick von Miss Victoria. „Viel Glück!“ Lautlos formte ihre Vorgesetzte die Worte mit den Lippen und winkte ihr mit ihrer zierlichen Hand nach.

2. KAPITEL

„Sie haben eine Menge Arbeit zu erledigen. Also fangen Sie endlich an.“

Angelina erschrak, als sie den verhaltenen Ärger in der Männerstimme hinter sich hörte. Wo um alles in der Welt war sie gelandet? Eine kalte, schwere Hand berührte sie an der Schulter. Rasch drehte sie sich um und schaute in das Gesicht eines Mannes, der am Empfang des edelsten Restaurants in Santa Barbara stand. Ausgerechnet Santa Barbara!

Offensichtlich war sie vollständig materialisiert und konnte von Menschen gesehen werden. Der Mann war groß und dünn. Er trug einen Smoking mit einer blutroten Rose am Revers. Ungeduldig schaute er sie an. „Wollen Sie nun arbeiten oder nicht?“

„Arbeiten?“

Er machte einen bedrohlichen Schritt auf sie zu. „Sie haben heute Nachmittag einen Job bei uns angenommen.“

Als der Mann auf sie zukam, hatte sie ebenfalls einen Schritt zurücktreten wollen, aber der schwere Empfangstresen aus massivem Holz befand sich genau hinter ihr. Sie presste ihre Hüften gegen die mit Schnitzereien verzierte Holzkante und dachte krampfhaft nach. Warum hatte der Himmlische Rat sie ausgerechnet nach Santa Barbara geschickt? Wer war dieser Mensch? Wieso bildete er sich ein, dass er das Recht hatte, ihr zu sagen, was sie tun oder lassen sollte?

„Angelina, der Mann ist dein Boss“, erklärte eine Stimme in ihrem Innern. Es war die Stimme von Miss Victoria. „Du bist eine Hostess, wie die Menschen sagen würden. Es ist dein Job, Gäste zu begrüßen. Ich denke, eine angenehme Aufgabe.“

Während Miss Victoria mit ihr sprach, betrachtete Angelina sich im goldgerahmten Spiegel neben dem reich verzierten Eingangsbereich des Restaurants. Der Anblick verstärkte ihre Verwirrung. Ihr lockiges Haar war streng zusammengebunden und wurde von einer glitzernden Klammer gehalten. Immerhin kannte sie ihr Kleid. Es war schwarz und elegant und reichte fast bis auf den Boden. Wie konnte es sein, dass der Rat ihr gestattete, ihre Dienstkleidung unter Menschen zu tragen?

„Ich verstehe das nicht“, wisperte sie kaum hörbar.

„Was verstehen Sie nicht?“, fragte der Mann.

„Diesen Job“, brachte sie mühsam hervor.

„Ach, hat Marian Sie vor der Einstellung nicht gründlich über Ihre Aufgaben informiert?“, wollte er wissen.

Ihre Verwirrung ließ langsam nach. Sie konzentrierte sich auf das Gespräch. „Mr. …“

„Summers.“

„Mr. Summers“, sagte sie mit fester Stimme. Erleichtert stellte sie fest, dass er einen Schritt zurücktrat. Endlich konnte sie wieder frei atmen. „Was sind meine Pflichten?“

Er verhakte die Daumen an der Smokingweste. „Sie haben die Gäste zu begrüßen und an ihren Tisch zu führen. Und Sie haben alles zu tun, damit unserer Kunden sich im ‚La Domaine‘ wohl fühlen. Die Gäste sollen wissen, dass unser Haus ihr Geld wert ist. Sie sollen sich wie zu Hause fühlen.“

Den besten Service für zahlungskräftige Gäste, dachte sie. Sie kannte den Job. Schon oft hatte sie sich in einem Restaurant aufgehalten, sogar schon als Kellnerin. Sie wusste, dass sie bestehen würde. „Okay.“

„Vergessen Sie niemals, dass unsere Gäste nicht nur immer Recht haben, sondern dass sie niemals, absolut niemals Fehler machen.“

Ich soll mich diesen Menschen gegenüber immer devot und unterwürfig verhalten? Hoffentlich gelingt mir das, flehte Angelina insgeheim.

„Du wirst viel erleben und ganz neue Erfahrungen sammeln“, sprach die Stimme von Miss Victoria in ihr. „Nutze sie zu deinem Vorteil.“

„Was bleibt mir denn sonst übrig?“, murmelte sie.

Summers warf ihr einen strengen Blick zu. „Nichts, wenn Sie in ‚La Domaine‘ arbeiten wollen.“

„Natürlich möchte ich hier arbeiten“, beschwichtigte sie den Mann. „Deshalb bin ich schließlich hergekommen.“

„Gut.“ Er pustete ein nicht vorhandenes Staubkörnchen von seinem Smoking. „Von den Angestellten unseres Hauses erwarten wir Perfektion.“

„Natürlich.“ Am liebsten hätte sie ihm allerdings erklärt, dass er besser keine Menschen einstellen sollte, wenn er Perfektion erwartete. Das war nämlich nicht gerade eine menschliche Stärke.

„Vergiss niemals, dass du jetzt ein Mensch bist“, sagte Miss Victoria. „Niemals.“

„Nein, Ma’am“, flüsterte Angelina.

Beleidigt verzog Summers das Gesicht. „Was wollen Sie damit …“

Die Eingangstür des Restaurants wurde geöffnet. Abrupt brach Summers ab. „Gäste.“

Angelina schaute zum Eingang. Überrascht nahm sie zur Kenntnis, dass all die Menschen eintraten, mit denen sie in den letzten Wochen als Fee zu tun gehabt hatte. Hand in Hand betraten Reggie und Ben das Lokal. Hinter ihnen kamen Sam und Melanie dazu. Die Clark-Schwestern, in die sich alle Männer verliebten – dank Angelinas tatkräftiger Hilfe.

Francine, die dritte der Schwestern, betrat das Restaurant als Letzte. Mit ihrem dunklen Haar und den wunderschönen braunen Augen sah sie ihren Schwestern sehr ähnlich. Auch Francine war schlank und hatte unglaublich lange Beine. Hübsch, dachte Angelina. Irgendjemand kam nach ihr noch ins Restaurant. Es war Dennis. Der dunkle, perfekt geschnittene Anzug und das Hemd aus weißer Seide standen ihm wunderbar. Als Angelina ihn erblickte, geschah etwas sehr Merkwürdiges.

Natürlich freute sie sich sehr, ihn zu sehen. Aber darüber hinaus verspürte sie einen unbeschreiblichen süßen Schmerz in der Brust. Es war ein seltsames Gefühl, das sie noch nie zuvor empfunden hatte.

Sie presste die Hand auf die Stelle an ihrem Brustbein und zerdrückte dabei fast die Rose, die an ihrem Kleid befestigt war. Dann schaute er sie mit seinen blauen Augen an. Ein Lächeln spielte um seine Mundwinkel. Der süße Schmerz flammte erneut auf, und er war so stark, dass sie ihn geradezu in ihrer Handfläche spüren konnte.

Gern hätte sie einen Augenblick darüber nachgedacht, wie es sich wohl anfühlte, wenn Menschen krank waren. Aber ihr blieb keine Zeit. Eine Hand berührte sie am Arm und drängte sie auf die Gruppe zu. Mr. Summers trat vor und streckte Ben die Hand entgegen. „Willkommen im ‚La Domaine‘, Dr. Grant.“ Zur Begrüßung schüttelte er Ben und Sam die Hand. „Mr. Benning, es ist mir ein Vergnügen“, sagte er zu Dennis. „Sie haben für sechs Personen reserviert, wenn ich mich recht erinnere. Für acht Uhr.“ Er schnippte Angelina mit den Fingern zu. „Bitte überprüfen Sie die Reservierung.“

Die Gruppe schaute sie erwartungsvoll an. Angelina zwang sich zu einem Lächeln und wandte sich an Mr. Summers. „Wo finde ich die nötigen Informationen?“

Er zeigte hinter den Empfangstresen. „Hier auf dem Plan. Tisch Nummer fünfundzwanzig. Die Bennings sitzen am großen Tisch in dem ruhigen Raum hinter der Tanzfläche“, erklärte Mr. Summers leise, griff nach einigen in Leder gebundenen Speisekarten und drückte sie Angelina in die Hand.

„Zeigen Sie den Gästen den Tisch, und bringen Sie Ihnen zur Begrüßung eine Flasche unseres besten Champagners“, wies er sie an und wandte sich dann wieder an seine Gäste. „Bon appétit“, sagte er lächelnd, nickte kurz und verschwand in einer Tür an der rechten Seite des Flurs.

Angelina presste die Speisekarten gegen ihren Oberkörper und zwang sich wieder zu einem Lächeln. „Hier entlang, bitte.“

Zum Glück hatte sie sich merken können, dass Summers die Gäste in der geräumigen Nische abseits des großen Saales platziert haben wollte. Sie schritt mit der Gruppe über den dicken Perserteppich an diskret gestellten Tischen vorbei, bis sie am Rand der Tanzfläche nach links abbog und die Nische mit der gewölbten Decke betrat. Auf der Tanzfläche tanzten einige Paare eng umschlungen zu den sanften Klängen von „My Funny Valentine“.

Ben und Reggie, Melanie und Sam und schließlich Francine und Dennis suchten sich ihre Plätze und setzten sich. Angelina reichte ihnen die Speisekarte und trat einen Schritt zurück. Ihre Gäste lachten und scherzten. Unwillkürlich seufzte Angelina auf. Sie war froh, dass sie die Leute sicher an ihren Platz manövriert hatte.

Ein Mann in einer Art Uniform näherte sich dem Tisch. „Guten Abend, mein Name ist Andrew. Ich werde Sie heute Abend bedienen. Die Spezialität des Hauses heute Abend ist pochierter Alaska-Lachs an einer feinen Dillsauce.“

Zwar verstand Angelina nicht genau, warum diese Menschen so viel Vergnügen dabei empfanden, unschuldige Fische zu verspeisen, aber Andrews Angebot schien ihnen offensichtlich zuzusagen. Jedenfalls lächelten und nickten sie einhellig.

„Vielleicht möchten Sie eine Vorspeise, bevor Sie bestellen?“

Dennis lächelte sie an. „Was können Sie empfehlen?“, fragte er. „Austern? Krebse?“

Wie kann man so etwas essen? dachte sie insgeheim. „Pilze“, erwiderte sie hastig.

„Ja, Pilze“, murmelte Andrew. „Angereichert mit Feta. Köstlich.“

„Wir nehmen die Pilze“, stimmte Dennis zu und ließ sie nicht aus den Augen.

Die anderen Gäste konzentrierten sich auf die Weinkarte, und Angelina zog sich unauffällig an den Empfangstresen zurück. Früher hätte ein Kopfnicken genügt, und sie hätte sich dematerialisiert. Aber daran durfte sie im Augenblick leider keinen Gedanken verschwenden.

Dennis beobachtete, dass die Hostess sich unauffällig zurückzog. Woher kenne ich sie nur? Die Frage ließ ihn nicht mehr los. Seit er sie vor wenigen Minuten am Eingang des Restaurants erblickt hatte, wuchs in ihm das Gefühl, dass er sie von irgendwoher kannte.

Ganz sicher war er ihr noch nie begegnet, denn dann hätte er gewusst, woher er sie kannte. Eine Frau wie sie vergaß man nicht. Ausgeschlossen.

Sie war groß und gertenschlank. Ihre üppigen Brüste und die provozierend schmale Taille waren unter dem eng anliegenden, schlichten Kleid aus schwarzer Seide deutlich erkennbar. Die kastanienbraunen Locken waren am Hinterkopf gebändigt und umrahmten ein wunderschönes, ovales Gesicht mit perfekt geschnittenen Wangenknochen und einem feinen Kinn. Die Haut schimmerte sanft und schien zerbrechlich wie Porzellan. Umwerfend. Sie war so schön, dass es ihn fast schmerzte.

Und dann die Augen. Groß mit unglaublich langen Wimpern. Die Farbe ihrer Augen war merkwürdig. Sie waren grün und schimmerten in einer seltsam tiefen Schattierung. Er zwang sich, den Blick von dem Mauerbogen abzuwenden, unter dem sie gestanden hatte.

„Ohne meinen Anwalt wäre ich vollkommen hilflos“, sagte Sam gerade und schaute Dennis an. „Den Vertrag mit Drusen hast du glänzend unter Dach und Fach gebracht.“

„Drusen war einfach“, gab er zurück und kühlte sich die Handfläche am Wasserkelch, der rechts neben ihm stand. „Es lag an seinem Partner Barrette, der verbissen darum gekämpft hat, dich für acht Wochen unter Vertrag zu nehmen. Ich denke, sechs Wochen ist okay. Für beide Seiten ein annehmbarer Kompromiss.“

„Perfekt“, bestätigte Sam. Der Weinkellner trat an ihren Tisch und servierte den Champagner. Sam griff nach Melanies Hand und lächelte seine Frau liebevoll an. „Und Hawaii ist gar nicht mal so schlecht. Genau der richtige Ort für verspätete Flitterwochen.“

Francine rückte näher zu Dennis. „Wir sollten alle nach Hawaii fahren. Das wäre großartig“, schwärmte sie. „Sonne pur, warmes Wasser, weiße Strände. Und nichts zu tun.“ Seufzend legte sie ihre Hand auf Dennis’ Arm. „Klingt wie im Paradies, nicht wahr?“

Reggie lachte ihre jüngere Schwester aus. „Das Paradies muss noch eine Weile auf uns warten. Jedenfalls so lange, bis Angel ein paar Jahre älter geworden ist.“

„Oh, Reg“, wandte Francine ein, „Babys lieben das Klima. Stell dir doch mal vor, wie schön Mikey am Strand spielen könnte. Wahrscheinlich würde Angel die ganze Zeit über schlafen.“

Dennis tätschelte Francine die Hand. „Lass uns in Ruhe darüber nachdenken. Vielleicht können wir im Sommer alle zusammen Urlaub nehmen.“

Francine lächelte ihn an. „Komm schon, Dennis. Ich dachte, du hättest dich ein wenig entspannt. Wo bleibt deine Spontaneität?“

„Bin ich nicht spontan genug?“, fragte er zurück und grinste verschmitzt.

Was für eine liebenswerte Person, dachte er insgeheim und schaute Francine an. Eine Frau, in die ein Mann sich mit Haut und Haar verlieben konnte. Plötzlich schoss ihm ein anderer Gedanke durch den Kopf, und er erschrak zutiefst.

Francine war wirklich großartig. Eine Frau, die man einfach lieben musste. Aber in diesem Augenblick schaute er sie mit den Augen eines stolzen, großen Bruders an, der seine kleine und ein wenig schutzbedürftige Schwester liebevoll betrachtete. Ein Bruder? Verdammt, liebte er sie wirklich nur wie ein Bruder?

„Hey, ich habe doch bloß Spaß gemacht“, meinte Francine unsicher. „Ich wollte doch nicht …“

Wieder strich er ihr über die Hand. „Natürlich. Kein Problem.“ Noch ein weiteres Mal ließ er seinen Blick verstohlen über die Clark-Schwestern gleiten. Warum hatte er so lange gebraucht, um sich selbst auf die Schliche zu kommen? Es ging ihm nur um die Familie. Er wollte eine richtige Familie. Manchmal konnte er die Heuchelei zwischen sich und seinem Vater nicht mehr ertragen. Ganz zu schweigen von den kleinen Geheimnissen seines Vaters und dem übertriebenen Kontrollzwang seiner Mutter.

Plötzlich lag alles klar auf der Hand. Was er brauchte, fand er bei Melanie und Sam. Die Clarks gehörten jetzt zu seiner Familie. Und dafür liebte er sie. Alle zusammen und jede einzelne der Schwestern.

„Lass uns tanzen“, schlug Francine vor und sprang auf. Ungeduldig zupfte sie an seinem Ärmel. „Komm schon. Warum machst du so ein ernstes Gesicht?“

Er lächelte. „Verzeihung“, sagte er, nahm ihre Hand und ging mit ihr zur Tanzfläche. In der Nähe der Band betraten sie das glänzende Parkett. Francine schmiegte sich in seine Arme und legte den Kopf an seine Brust. Irgendwie vertraut und gemütlich – so, wie er auch mit seiner Schwester tanzen würde.

Langsam bewegte er sich zur Musik. Die Band spielte einen romantischen Song. Schon die ersten Takte der Musik riefen ihm den Traum der letzten Nacht wieder ins Gedächtnis. Und die Frau. Stück für Stück drang der Traum in sein Bewusstsein, während er mit Francine über das Parkett glitt. Er trat einen Schritt zurück. Francine sollte nicht merken, was in ihm vorging. Dann sah er sie. Die Hostess. Sie stand einfach da und beobachtete ihn. Er stolperte und trat Francine auf die Füße. „Oh, tut mir leid“, entschuldigte er sich hastig.

„Was für ein Glück, dass ich zwei Füße habe“, meinte Francine und grinste ihn schelmisch an, als die Musik zu Ende war.

Unbemerkt spähte Dennis in die Richtung, in der er die Hostess entdeckt hatte. Sie war verschwunden. „Tut mir wirklich Leid“, entschuldigte er sich nochmals bei Francine und führte sie zu ihrem Tisch zurück. „Vielleicht war es keine gute Idee zu tanzen.“

Jetzt war es an Francine, ihm den Arm zu tätscheln. „Du grübelst viel, stimmt’s? Erzähl mir doch einfach, was los ist. Was geht dir im Kopf herum?“

„Die Arbeit“, meinte er leichthin.

Unwillig schüttelte sie den Kopf. „Trink deinen Champagner. Vielleicht denkst du dann an interessantere Dinge als an die Arbeit.“ Sie hob ihr Glas. „Auf den Valentinstag. Und auf Kupido. Und darauf, dass du die Frau findest, die dir gründlich den Kopf verdreht.“

Unwillkürlich linste er durch den Mauerbogen hinüber in den Saal, aber er konnte die bildschöne Hostess nirgends erblicken. Dann stieß er mit Francine an. „So soll es sein“, sagte er. Irgendwie wurde er den Verdacht nicht los, dass sich der Toast in kürzester Zeit erfüllen sollte.

Angelina ging durch den großen Saal, um Andrew eine zusätzliche Speisekarte zu bringen. Sie hielt kurz inne, als sie Dennis und Francine auf der Tanzfläche entdeckte. Widerwillig musste sie sich eingestehen, dass ihre Kollegin Mary wirklich gute Arbeit geleistet hatte. Man musste kein Experte sein, um zu sehen, was sich dort abspielte. Sie hatten die Augen geschlossen, hatten sich eng aneinandergeschmiegt und bewegten sich rhythmisch zum Takt der Musik.

Aber bevor sie der Sache nachgehen konnte, fing Dennis ihren Blick ein. Der plötzliche Blickkontakt berührte sie sehr. Mit der Speisekarte in der Hand machte sie auf dem Absatz kehrt und eilte in Richtung Empfang. Dann unternahm sie einen neuen Anlauf, ging langsam in eine Ecke auf der anderen Seite des Saales und lehnte sich schließlich einen Augenblick lang gegen den kalten Mauerbogen.

„Sehr klug“, flüsterte Miss Victoria. „Gut gemacht.“

Nicht sehr angenehm, auf diese Art zu lernen, dachte Angelina im Stillen. Aber bevor sie Miss Victoria antworten konnte, klopfte ihr eine ungeduldige menschliche Hand auf die Schulter.

„Was erlauben Sie sich eigentlich?“, fragte Mr. Summers entrüstet.

Erschrocken drehte Angelina sich herum. „Ich mache einen Augenblick Pause“, erwiderte sie ehrlich.

Unwirsch griff ihr Chef nach der Speisekarte. „Sie sollten Ihre kostbare Zeit dafür nutzen, Andrew die Karte zu bringen. Er wartet darauf, genau wie unser Gast.“

Manche Menschen benahmen sich wie Idioten. Trotzdem zwang sie sich zu einem Lächeln. „Natürlich, Sir. Sofort. Ich bringe ihm die Karte.“

Bevor sie sich in Bewegung setzen konnte, riss Summers ihr die Karte jedoch aus der Hand. Als ein Kellner vorbeikam, nahm er ihm das Tablett mit einem Glas Rotwein ab und drückte es Angelina in die Hand. „Servieren Sie den Rotwein an Tisch fünfundzwanzig. Dort drüben. Wenn Sie das erledigt haben, gehen Sie ein Mal durch den Saal. Sie sollen lächeln und einfach nur gut aussehen. Konzentrieren Sie sich auf die Bennings. Es sind langjährige Kunden. Ein Arzt und ein Mann mit Verbindungen nach Hollywood. Der große Mann mit dem Rücken zum Fenster ist der einzige Sohn von Mr. und Mrs. Dennis Benning. Sie sind die Crème de la Crème der High Society von Santa Barbara.“

Mr. Summers lächelte. „Und wenn ihr Sohn unter die Haube kommt, würde ‚La Domaine‘ sich nicht weigern, die Feierlichkeiten auszurichten.“ Am liebsten hätte er sich voller Vorfreude auf das glänzende Geschäft die Hände gerieben, aber leider umklammerte er immer noch die Speisekarte.

„Unter die Haube?“ Angelina begriff nicht auf Anhieb.

„Eine Hochzeit. Seit einiger Zeit hat er eine Freundin, und die Sache sieht ziemlich ernst aus. Wenn ich meinem Urteil trauen darf, dann steht der große Tag unmittelbar vor der Tür.“

Sogar dieser Mann hat also schon bemerkt, was sich zwischen Francine und Dennis anbahnt, dachte Angelina bei sich.

„Und jetzt machen Sie sich an die Arbeit“, verlangte Summers.

Unsicher balancierte sie das Tablett vor sich her und ging direkt zu Tisch fünfundzwanzig. Der Tisch stand in der Nische, wo Dennis saß. Ein zweiter Kellner wartete bereits am Tisch auf sie. Ungeduldig winkte er sie heran, und sie beschleunigte ihren Schritt.

Das Streichquartett spielte gerade einen bekannten Song. Einen kurzen Augenblick lang war sie abgelenkt. Sie schaute nach links, um zu überprüfen, ob Dennis und Francine immer noch tanzten. Plötzlich stieß sie gegen einen harten Körper … und das Rotweinglas flog im hohen Bogen durch die Luft.

Wie in Zeitlupe bemerkte Angelina, dass sie zu Boden fiel. Vergeblich ruderte sie mit den Armen in der Luft, um das Gleichgewicht zu halten. In diesem Moment schien der Rotwein förmlich von der Decke zu regnen. Die glitzernden Tröpfchen ergossen sich auf das schneeweiße Seidenhemd von Dennis Benning.

Mit einem lauten Krachen landete sie auf dem Parkett und stützte sich seitlich mit den Handflächen ab. Augenblicklich standen eine Menge Leute um sie herum. Summers trat buchstäblich über sie hinweg, um zu Dennis zu gelangen. In der Hand hielt er eine Serviette und rieb damit hektisch an Dennis’ rotweingetränktem weißen Hemd herum. Die ganze Zeit über stieß er wirre Entschuldigungen hervor.

Mit gesenktem Blick saß Angelina auf dem Boden. Ihr Körper schmerzte vom Zusammenprall und vom Sturz. Ihr Gesicht glühte. Du schämst dich also, dachte sie insgeheim. Du schämst dich in Grund und Boden. Sie verspürte jetzt das dringende Bedürfnis, Hals über Kopf aus dem Saal zu fliehen und die gaffende Menge hinter sich zu lassen.

Aber bevor sie irgendetwas sagen oder tun konnte, streckte jemand ihr eine Hand entgegen. „Es tut mir außerordentlich leid“, sagte eine unbekannte Stimme.

Sie ließ ihren Blick den kräftigen Arm hinaufgleiten und bemerkte, dass Dennis vor ihr stand. Summers fummelte immer noch nervös mit der Serviette an dessen ruiniertem Seidenhemd herum. Dennis schob ihn zur Seite, ohne ihn eines Blickes zu würdigen. Dann trat er noch einen Schritt auf Angelina zu und ging vor ihr in die Hocke. Seine Hand blieb ausgestreckt. Besorgt schaute er sie an.

Endlich ergriff sie die ausgestreckte Hand, und er schloss seine Finger um ihre. Es war ihre erste, echte menschliche Berührung. Summers zählte natürlich nicht. Haut berührte Haut, Hitze vermischte sich mit Hitze, und ihr war augenblicklich klar, dass die Lust und die Freude an ihrer menschlichen Existenz die schmerzlichen Erfahrungen überwiegen würden.

„Mr. Benning, unser Haus entschuldigt sich vielmals für dieses Missgeschick“, erklärte Summers unablässig.

Summers ging ihm langsam auf die Nerven. Der Manager konnte von Glück sagen, dass Dennis sich auf nichts anderes als auf die Frau zu seinen Füßen konzentrieren konnte. Die Berührung mit der Hostess nahm ihn vollkommen gefangen. Ihr Körper fühlte sich bemerkenswert leicht an, als er sie hochzog. Irritiert löste sie ihre Hand aus seinem Griff. Er schien fast erleichtert, als sie ihn endlich losließ.

„Mr. Benning“, begann Summers wieder. „Ich versichere Ihnen, dass ‚La Domaine‘ solche Inkompetenz keinesfalls dulden wird.“ Die Musik spielte wieder, und die Kellner nahmen ihre Arbeit wieder auf. „‚La Domaine‘ verlangt Perfektion von seinen Angestellten“, fuhr Summers fort. „Angelina, der Moment ist gekommen …“

Angelina? Der Name passte glänzend zu ihr. „Mr. Summers“, unterbrach Dennis den Empfangschef, „es war ein dummer Unfall. Es ist nun mal geschehen. Zum Glück ist ja nicht viel passiert.“

„Es war alles mein Fehler“, erklärte Angelina verlegen und nestelte an ihrer Haarspange. „Ich bin geradewegs in Sie hineingerannt, Sir. Es tut mir sehr leid.“ Ihr Blick fiel auf sein ruiniertes Seidenhemd. Entsetzt verzog sie das Gesicht. „Unverzeihlich“, murmelte sie. „Ich hätte viel vorsichtiger sein müssen.“ Unwillkürlich streckte sie die Hand aus und berührte den hässlichen Rotweinfleck auf dem Hemd.

„Mr. Benning, begleiten Sie mich bitte in mein Büro. Wir werden die Angelegenheit zu Ihrer vollsten Zufriedenheit regeln.“ Summers schaute Angelina an. „Sehen Sie zu, dass Sie sich wieder in Ordnung bringen. Und dann zurück an die Arbeit.“

Ärgerlich blitzte sie Mr. Summers aus ihren seltsamen grünen Augen an. Aber Dennis freute sich vergeblich auf einen Wutausbruch. Sie senkte den Blick und verbarg das Feuer in ihren Augen. Trotzdem war sie noch lange nicht geschlagen.

Summers berührte Dennis leicht am Arm. „Hier entlang, Sir“, murmelte er. Angelina machte sich ebenfalls auf den Weg. Mr. Summers und Dennis folgten ihr den Gang hinunter. Die beiden Männer verschwanden hinter einer Tür am Ende des Flurs. Mit einer Handbewegung bat Mr. Summers Dennis in sein Büro. Dann drehte er sich um. „Räumen Sie in der Lounge auf, und gehen Sie dann wieder an Ihre Arbeit“, ordnete er in unfreundlichem Ton an.

„In der Lounge?“

„Dort drüben.“ Summers zeigte nach links. „Und trödeln Sie gefälligst nicht herum.“ Krachend zog er die Tür hinter sich ins Schloss.

3. KAPITEL

Angelina rieb sich den schmerzenden Hintern. Sie war gestürzt. Zwar hatte sie sich schon ein anderes Mal wehgetan, als sie sich vorübergehend materialisiert hatte. Damals hatte sie sich allerdings nur den Zeh gestoßen. Und sie erinnerte sich noch gut an den Betrunkenen, der sie unabsichtlich mit Bier übergossen hatte. Noch nie war sie jedoch mit einem Menschen zusammengestoßen oder hatte sich den Hintern und die Hände verletzt.

Es gab noch eine neue Erfahrung. Sie hob ihre Hand und starrte auf die Fingerspitzen. Das menschliche Herz. Sie hatte es berührt. Der Gedanke war so erschütternd, dass ihre Hand immer noch zitterte. Das Herz war das Zentrum der menschlichen Gefühle. Es war das Band, das die Menschen am Leben erhielt. Irgendwie beängstigend. Sie presste ihre Hand auf die Brust und fühlte ihren eigenen Herzschlag. Plötzlich wusste sie, dass der süße Schmerz, den sie verspürt hatte, in ihrem eigenen Herzen seinen Ursprung hatte.

Sie spürte nicht nur ihren Herzschlag. Ihre Knie waren plötzlich so weich, dass sie ihr beinahe den Dienst versagten. Angelina lehnte sich gegen die Wand und schloss die Augen. Offenbar gab es unzählige Erfahrungen, die sie noch zu durchleben hatte. Und die neuen, unbekannten Gefühle schienen sich ständig zu überlagern. Menschliche Erfahrungen existieren offenbar nicht in niedriger Dosierung, sinnierte sie.

Wie dumm und ungeschickt sie sich fühlte. Die Sache war längst vorüber, aber der Zusammenstoß war ihr immer noch peinlich. Was hätte ich tun sollen? fragte sie sich immer wieder. Habe ich mich korrekt verhalten?

„Menschen nennen das ein schlechtes Gewissen.“ Miss Victoria schaltete sich plötzlich ein. „Es nützt dir überhaupt nichts. Was passiert ist, ist passiert.“

Ja, Miss Victoria hat Recht, dachte Angelina. Aber das ändert nichts an … an meiner …

„Schuld“, ergänzte ihre himmlische Vorgesetzte seufzend. „Schuld steht am Anfang jedes Krieges und am Ende jedes Lebens.“

„So schlimm ist es nun auch wieder nicht“, wisperte Angelina.

„Nein, natürlich nicht. Merk dir trotzdem, dass Menschen immer Fehler machen. Und du bist ein Mensch.“

„Nein, bin ich nicht.“ Angelina öffnete die Augen und ließ ihren Blick gegen die Decke schweifen. Sie wünschte sich nichts sehnlicher, als wieder eine gute Fee zu sein. „Wenn ich mehr Zeit gehabt hätte, mich auf den Job vorzubereiten, würde ich zweifellos eine bessere Figur abgeben.“

„Menschen haben auch keine Zeit, sich auf das Leben vorzubereiten. Sie leben es einfach. Von Tag zu Tag, von Augenblick zu Augenblick. So wie du. Für eine Woche bist du ein Mensch.“

„Ich weiß.“ Nach menschlichen Begriffen ist eine Woche eine kurze Zeit, dachte sie insgeheim. Sieben Tage. Obwohl sie sich früher schon in der menschlichen Welt materialisiert hatte, lagen die Dinge dieses Mal anders. Dieses Mal reichte es nicht, einfach mit dem Kopf zu nicken und sich wieder in eine Fee zurückzuverwandeln. Aber immerhin bin ich klüger als die meisten Menschen, dachte sie weiter, ich schaffe das schon.

„Du solltest die Intelligenz der Menschen nicht unterschätzen“, mahnte Miss Victoria. „Nicht alle Menschen sind so egozentrisch wie dein Mr. Summers.“

„Er ist nicht ‚mein‘ Mr. Summers“, protestierte Angelina. Der Gedanke widerte sie sogar regelrecht an. „Der Mann ist einfach grauenhaft. Ich denke, wenn die Sache vorüber ist, werde ich ihn mir mal vorknöpfen.“

„Angelina!“

„Es tut mir leid, Ma’am“, meinte Angelina hastig. „Natürlich werde ich das nicht tun. Ich wollte nur …“

„Ich verstehe sehr gut, was du wolltest. Konzentrier dich auf deine Aufgabe, und tu das, was notwendig ist. Achte darauf, dass du andere Menschen nicht beleidigst.“

„Ma’am, habe ich eigentlich Geld, während ich hier bin?“

„Alles, was du brauchst, befindet sich in deinem Schließfach im Raum gegenüber.“

Sie drehte sich um. „Nur für Personal“, stand auf dem bronzefarbenen Schild an der Tür. „Finde ich dort auch Geld? Ich muss Dennis ein neues Hemd kaufen. Das bin ich ihm schuldig. Schließlich habe ich sein altes Hemd ruiniert.“ Sie ballte ihre Hand zu einer Faust, als sie plötzlich wieder seinen Herzschlag in ihren Fingerspitzen spürte.

„Meine Liebe, mir scheint, du bist ein wenig nervös?“

Nervös? Aha. So nannte man wohl die innere Unruhe, die sie verspürte. „Ich weiß, dass ich verwirrt bin.“

„Traurig, aber wahr. Verwirrung gehört nun mal zum menschlichen Leben. Menschen sind fast immer verwirrt.“ Miss Victorias Stimme entfernte sich mehr und mehr. „Pass gut auf dich auf“, sagte sie noch, bevor sie schließlich ganz verschwand.

Angelina atmete hörbar aus. „Ich hasse es, ein verwirrtes menschliches Wesen zu sein“, murmelte sie.

„Im Gegensatz wozu?“

Sie erschrak bis ins Mark, als sie Dennis’ Stimme plötzlich hinter sich hörte. Zitternd atmete sie ein und roch den würzigen Duft, der ihn immer zu begleiten schien. Entschlossen drehte sie sich um.

Er trug ein taubengraues Hemd. Das Material war edel, aber an den Schultern war es ein klein wenig zu groß. Der Kragen war aufgeknöpft. Sie konnte seinen Hals sehen und beobachtete, wie die Halsschlagader rhythmisch pochte. Ein Echo seines Herzschlags, dachte sie. Rhythmisch und regelmäßig. Bei weitem nicht so verrückt wie ihr eigener Herzschlag.

„Im Gegensatz wozu?“, wiederholte er.

„Oh, entschuldigen Sie bitte. Was haben Sie gesagt?“

„Sie sagten, dass Sie es hassen, ein verwirrtes menschliches Wesen zu sein. Es würde mich schon interessieren, welche Alternativen Sie anzubieten hätten.“

Sie hob abwehrend die Hände. Blitzschnell stellte er fest, dass sie keine Ringe an ihren feingliedrigen Fingern trug. „Nur so eine Redensart. Ich habe laut nachgedacht.“

„Worüber?“, hakte er nach.

„Über …“ Verlegen biss sie sich auf die Unterlippe. „Über meinen Job. Heute ist mein erster Tag, und ich mache einfach alles falsch.“

„Sie heißen Angelina? Wie meine Nichte.“

„Ihre Nichte heißt Angelina?“, fragte sie erfreut.

„Ja“, bestätigte er sanft. „Wir … wir nennen sie Angel. Sie wissen schon. Wie die Cherubim.“ Er deutete auf den Spiegel, dessen Rahmen mit vergoldeten Engeln verziert war.

„Ach, dann ist sie ein fettes Kerlchen in Windeln, das die Neigung verspürt, mit Pfeilen auf menschliche Wesen zu schießen?“

Er lachte laut auf. „Nein, natürlich nicht. Sie ist süß und niedlich, und sie ist kein Kerl. Andererseits muss ich zugeben, dass sie Windeln trägt.“

Sie zuckte die Schultern. „Tut mir leid. Diese Geschichte mit Kupido geht mir irgendwie gegen den Strich.“

„Ah, ich verstehe“, sagte er und musterte sie aufmerksam. „Sie gehören zu der Sorte, die alles für völligen Quatsch halten, was mit Liebe zu tun hat?“

„Ich?“ Erstaunt riss sie die Augen auf.

„Ja, Sie. Bestimmt glauben Sie nicht an die große Liebe. Habe ich Recht?“

„Du liebe Güte. Ganz bestimmt nicht“, widersprach sie kopfschüttelnd. „Ganz und gar nicht.“

„Dann sind Sie also Expertin?“

„Mehr, als Sie sich vorstellen können“, erwiderte sie und lächelte rätselhaft.

„Wirklich? Besitzen Sie ein Diplom? Womöglich in Liebe?“

Plötzlich prustete sie los. „Nein, kein Diplom. Nur eine Menge …“ Abrupt unterbrach sie sich. „Ich muss jetzt wirklich wieder an die Arbeit.“

„Warten Sie“, bat er, obwohl er gar nicht die Absicht hatte, sie danach zu fragen, was ihre Worte genau zu bedeuten hatten. Vermutlich hätte ihm die Antwort nicht sonderlich gefallen. Stattdessen rieb er mit einer Fingerspitze über einen Tropfen Rotwein, der auf ihrem Kinn getrocknet war. Er spürte, wie sie erschrak. Doch seltsamerweise wich sie nicht zurück.

„Verzeihen Sie“, sagte Dennis, aber es tat ihm gar nicht Leid, mit der Fingerspitze die warme, seidige Haut an ihrem Kinn zu spüren. „Sie haben da einen Weinfleck. Jetzt ist er weg.“

Sie berührte die Stelle, an der er gerieben hatte. „Sind Sie sicher?“

„Ganz sicher.“

„Ich brauche Ihre Größe“, verlangte Angelina ernst und ließ ihr Kinn wieder los. „Ihre Hemdengröße. Es gibt verschiedene Größen, nicht wahr?“ Nachdenklich hielt sie inne. „Ich muss Ihnen ein neues Hemd kaufen, weil ich Ihr altes ruiniert habe. Dafür brauche ich die Größe. Oh, ich weiß schon. Ich hole mir das ruinierte Hemd von Summers und passe es an. So kann nichts schief gehen.“

„Angelina, Sie müssen nicht …“

„Doch, ich muss“, unterbrach sie ihn. „Jeder freundliche Mensch würde sich so verhalten. Und ich bin nun mal ein Mensch, also …“ In ihrem Bauch grummelte es vernehmlich. Die Röte schoss ihr in die Wangen. Verlegen presste sie sich die Hand auf den Magen. „Du liebe Güte“, stieß sie hervor. „Du liebe Güte.“

„Hört sich ganz so an, als ob Sie hungrig sind“, meinte er belustigt.

Sie betrachtete ihre Hand, die sie immer noch auf den Bauch gepresst hielt. „Hunger? Sie denken also, dass dieses schreckliche Geräusch daher kommt?“

„Ich vermute, dass Sie bisher noch keine Zeit hatten fürs Abendessen. Sagen Sie, merken Sie denn nicht, wenn Sie hungrig sind?“

Ihr Blick begegnete seinem. „Doch, natürlich. Menschen wissen, wann sie Hunger haben, nicht wahr?“

„Klingt so, als hätten Sie sich entschieden, ein Mensch zu sein“, erwiderte er lakonisch.

„Natürlich bin ich ein Mensch. Und ich habe Hunger. Mein Magen macht Geräusche.“

„Exakt.“ Dennis nutzte die Gelegenheit. „Wenn Sie jetzt wissen, dass Sie ein Mensch sind und Hunger haben, warum legen Sie dann nicht eine Pause ein? Für ein kleines Dinner?“

„Wenn sie nicht sofort an die Arbeit geht, wird sie heute überhaupt keine Pause mehr machen.“ Unvermutet stand Summers hinter ihnen und unterbrach sie ärgerlich.

„Mein Fehler“, erwiderte Dennis sofort und sah, wie Angelina schuldbewusst den Kopf senkte. „Sie war so freundlich, mir den Weg zurück ins Restaurant zu erklären.“

„Immerhin ist sie freundlich“, murmelte der Manager und wandte sich wieder an Dennis. „Bitte fühlen Sie sich heute Abend als Gast des Hauses.“

„Danke“, antwortete Dennis und würdigte Summers keines Blickes. Er interessierte sich nur dafür, wie er wieder ein Lächeln auf Angelinas wunderschönes Gesicht zaubern konnte.

„Hier steckst du also“, rief Sam seinem Bruder zu. Dennis drehte sich um, als er Sams Stimme vom anderen Ende des Ganges her hörte.

„Ich habe schnell das Hemd gewechselt“, erklärte Dennis und zupfte an dem blaugrauen Stoff, den er sich in die schwarze Hose gesteckt hatte.

Sam nickte ihm zu und schaute Angelina an. „Hoffentlich haben Sie sich nicht verletzt“, fragte er besorgt.

„Nein, mit mir ist alles in Ordnung.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber ich habe sein Hemd verdorben, und ich …“

„Der Schrank meines Bruders hängt voller Hemden. Mehr, als er in diesem Leben tragen kann. Auf eins mehr oder weniger kommt es also nicht an.“

„Danke, dass du allen Leuten von meiner Hemdenkollektion erzählst“, bemerkte Dennis pikiert. „Hast du mich deshalb gesucht?“

„Natürlich nicht. Das Essen ist serviert.“

„Großartig.“ Er schaute Angelina an. „Ist wirklich alles in Ordnung?“

Sie nickte. Ihr Haar hatte sich gelöst und strich sanft über ihre Schultern. „Danke.“

„Dann wünsche ich Ihnen einen angenehmen Abend.“ Er nickte Summers kurz zu und folgte seinem Bruder in den Saal.

„Ich dachte, Summers kriegt gleich einen Herzinfarkt, als du die Frau angerempelt hast“, lachte Sam, als sie außer Hörweite waren. „Der Idiot. Und wenn du mich fragst, es war allein deine Schuld. Nicht die angenehmste Art, eine hübsche Lady kennen zu lernen.“

„Nicht angenehm, aber effektiv.“

„Ihre Aufmerksamkeit ist dir jedenfalls sicher.“ Beim Empfangstresen blieb Sam stehen. „Es klingt vielleicht komisch, aber ich habe das dumpfe Gefühl, dass ich diese Frau schon mal gesehen habe. Dabei weiß ich genau, dass es nicht sein kann. Trotzdem erinnert sie mich an irgendjemanden.“

Dennis schaute den Gang zurück und beobachtete, wie Summers eindringlich auf Angelina einredete. „Mir ging es ganz genauso“, gestand er.

„Ich habe mich geirrt“, gab Sam unvermittelt zu. „Mel hat sich geirrt. Wir dachten beide, dass du und Francine … Du liebst sie nicht, stimmt’s?“

„Natürlich liebe ich sie. So, wie ich auch Reg und Mel liebe. Und dich liebe ich auch. Aber das heißt noch lange nicht, dass ich in dich verliebt bin“, erklärte Dennis. „Wie kommst du ausgerechnet jetzt darauf?“

„Es fiel mir auf, als ich beobachtete, wie du sie angesehen hast. Wie heißt sie eigentlich?“

„Angelina. Sie heißt Angelina“, antwortete Dennis wie abwesend. „Und wie habe ich sie angesehen?“

„Na, wie soll ich sagen? Wenn du in Francine verliebt wärst, würde ich dir schwer empfehlen, dich besser zu beherrschen.“ Sam lachte.

„Ja, das müsstest du wohl“, pflichtete Dennis ihm lächelnd bei, während sie zu ihrem Platz zurückgingen.

Sobald Dennis und Sam außer Hörweite waren, beugte Summers sich gefährlich nahe zu Angelina. „Das ist die erste und letzte Warnung. Wenn Sie noch ein einziges Mal ein solches Desaster mit einem Gast anrichten, fliegen Sie hier achtkantig raus. Haben wir uns verstanden?“

„Ja, verstanden“, murmelte Angelina und bemühte sich verzweifelt um einen zerknirschten Gesichtsausdruck.

„Gut.“ Er straffte den Rücken und nestelte an den Manschetten seines gestärkten Smokinghemdes. „Für den Rest des Abends halten Sie sich fern vom Tisch der Bennings. Marian wird Andrew beim Service assistieren. Und ordnen Sie Ihre Frisur. So schnell wie möglich.“

„Natürlich. Sofort.“

„In der Umkleide für Angestellte“, fügte er scharf hinzu. „Nicht im Waschraum für unsere Gäste, wenn ich bitten darf.“

Mit gesenktem Kopf durchquerte sie die Lobby und trat durch eine Tür in den hinteren Teil des Gebäudes. Hier wirkte alles kalt und steril. Angelina schloss die Tür hinter sich und schaute sofort in den Spiegel. Ihre Frisur hatte sich vollkommen aufgelöst. Die Locken hingen ihr in wilden Strähnen ins Gesicht. Seufzend flocht sie sich einen französischen Zopf. Nur ein paar widerspenstige Locken kringelten sich noch an den Schläfen. Menschen müssen hart arbeiten, um ihr Haar einigermaßen in Ordnung zu halten, dachte Angelina. Reine Zeitverschwendung, von der Mühe ganz zu schweigen.

Dann fiel ihr Blick auf die Schränke. Unwillkürlich erinnerte sie sich an die Worte von Miss Victoria. Alles, was du brauchst, findest du im Schrank im Umkleideraum, hatte sie gesagt. Auf ihrem Schrank klebte ein „A. Moore“. Amour? Sie lächelte. Nein, so viel Humor konnte man dem Himmlischen Rat eigentlich nicht zutrauen. Sie öffnete ihren Schrank und entdeckte eine große, schwarze Handtasche und eine Art Schal darin. Aber bevor sie die Dinge weiter untersuchen konnte, klopfte es.

Eine dunkelhaarige Frau schaute herein. Ihr Anzug sah fast aus wie ein Smoking. Offenbar gehörte sie zum Servicepersonal. „Summers schickt mich. Sie werden am Empfang gebraucht.“

Eilig schloss Angelina den Schrank und folgte der Frau durch den Gang. „Zehn Leute. Obere Zehntausend“, erklärte ihre Kollegin knapp. „Wie die Bennings. Nur nicht so wundervoll wie die Bennings.“

„Kennen Sie die Bennings?“, fragte Angelina neugierig.

„Alteingesessene Familie. Viel Geld. Und sie sehen blendend aus. Was will man mehr?“

Dennis besaß offenbar alles, was das Herz einer Frau höher schlagen ließ. „Es dürfte ein Kinderspiel sein, ihn unter die Haube zu bringen, nicht wahr?“

„Ja. Man braucht nur Geschick, Geduld und Einfallsreichtum“, meinte die Kellnerin ernst. Plötzlich lächelte sie Angelina an. „Summers möchte, dass der Wein für den Rest des Abends in den Gläsern bleibt und nicht auf die Gäste verschüttet wird. Keine Sorge, meine Liebe, ich habe Sie eingestellt. Und ich weiß, dass Sie Ihren Job perfekt machen werden.“

„Sie sind Marian?“

„Haben Sie meinen Namen schon wieder vergessen?“, fragte Marian. Am Empfangstresen stand eine Gruppe von Menschen in festlicher Kleidung.

Angelina hatte keine Ahnung, welche Biografie der Himmlische Rat sich für sie ausgedacht hatte. Aber offensichtlich war sie von dieser Frau engagiert worden. „Namen konnte ich mir noch nie gut merken“, entschuldigte sich Angelina. „Verzeihen Sie.“

„Schon gut.“ Besänftigend hob Marian die Hand. „Summers erwartet Sie.“

Verstohlen beobachtete Angelina die Gruppe. Summers war gerade um eine Frau bemüht, deren Hals und Ohren über und über mit glitzernden Diamanten behängt waren. Plötzlich entdeckte er sie. „Darf ich Ihnen Angelina vorstellen? Unsere Hostess wird sie durch den Abend begleiten und Ihnen jeden Wunsch von den Augen ablesen.“ Er durchbohrte seine Hostess förmlich mit einem kalten Blick. „Die Weinkarte. Und vergessen Sie Andrew nicht“, flüsterte er ihr unwirsch zu. Dann brachte er die Gäste zu ihrem Tisch.

Die folgenden zwei Stunden arbeitete Angelina ohne Pause. Um Mitternacht war sie so erschöpft, dass sie keinen klaren Gedanken mehr fassen konnte. Aber immerhin war ihr nicht entgangen, dass Dennis und seine Freunde den Abend im Restaurant sehr genossen hatten. Abgesehen davon nahm sie nur noch menschliche Wesen wahr, die eine Gabel oder eine Serviette oder ein Telefon am Tisch wünschten. Und die Menschen verdrückten unglaubliche Mengen von Essen. Niemals hätte sie es für möglich gehalten, dass man an einem einzigen Abend so viel Essen in sich hineinschaufeln konnte.

Um Mitternacht erklärte Summers, dass ihr Arbeitstag beendet wäre. Zwar hatte die Bar noch bis zwei Uhr morgens geöffnet, aber das Restaurant wurde geschlossen. Nur die Musik spielte noch, und einige Paare tanzten.

„Denken Sie daran, dass es dem Personal nicht gestattet ist, nach der Arbeit an der Bar einen Drink zu nehmen“, erinnerte Summers sie.

„Ja, ich werde daran denken“, erwiderte Angelina. „Mr. Summers, ich möchte Mr. Bennings Hemd ersetzen. Deshalb brauche ich die Größe.“

Unwillig verzog er das Gesicht, als sie Dennis’ Namen erwähnte. „Finden Sie das nicht reichlich unangemessen? Und Sie werden es sich wohl kaum leisten können, ein so teures Hemd zu bezahlen. Und auf ein Hemd von minderer Qualität kann er garantiert gut verzichten.“

„Er soll genau das gleiche Hemd bekommen, das ich ihm ruiniert habe“, erklärte sie mit fester Stimme. „Den gleichen Hersteller.“

„Bitte, Miss Moore. Das Hemd liegt in meinem Büro, und ich werde für Ersatz sorgen.“

Bevor sie widersprechen konnte, drehte er sich um und ließ sie stehen.

Kurz darauf betrat Angelina die Umkleide. Erschöpft ließ sie sich auf die Bank fallen und streifte sich die Schuhe von den Füßen. Was für eine Wohltat, dachte sie erleichtert, als die erhitzten Fußsohlen den kühlen Boden berührten. Nur, weil sie die Schuhe ausgezogen und die geschundenen Füße auf die kalten Fliesen gestellt hatte. Das wollte sie sich merken. Dann schloss sie den Schrank auf, stellte die Schuhe hinein und zog die schwarze Tasche heraus.

Autor

Mary Anne Wilson
Mary Anne wurde in Toronto, Kanada, geboren und fing bereits im Alter von neun Jahren mit dem Schreiben kleiner Geschichten an. Über den Ausgang von Charles Dickens' berühmtem Roman "A Tale of Two Cities" ("Eine Geschichte zweier Städte") war sie so enttäuscht, dass sie das Ende kurzerhand nach ihren Vorstellungen...
Mehr erfahren
Karen Templeton

Manche Menschen wissen, sie sind zum Schreiben geboren. Bei Karen Templeton ließ diese Erkenntnis ein wenig auf sich warten … Davor hatte sie Gelegenheit, sehr viele verschiedene Dinge auszuprobieren, die ihr jetzt beim Schreiben zugutekommen.

Und welche waren das? Zuerst, gleich nach der Schule, wollte sie Schauspielerin werden und schaffte...

Mehr erfahren
Julie Kistler
Julie Kistler kommt bei Komödien, alten Filmen, Musicals, Katzen und großen, dunkelhaarigen und gut aussehenden Männer wie ihrem eigenen Ehemann, mit dem sie seit 20 Jahren verheiratet ist, ins Schwärmen.
Früher war sie Rechtsanwältin, hat sich dann aber für eine Karriere als Romance-Autorin entschieden und sich durch ihre humorvollen Liebesromane...
Mehr erfahren