Julia und Vincenzo - eine Liebe in Venedig

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Azurblau umspült das Meer die paradiesische Insel Kreta! Hier wird für Thea das Glück perfekt, als der charmante Rhys Kingsford sie bittet, seine Verlobte zu spielen. Schon bald wünscht sie sich, dass mehr daraus wird als nur ein Spiel …


  • Erscheinungstag 31.01.2016
  • ISBN / Artikelnummer 9783733773205
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Das ist ein guter Platz zum Sterben, dachte Sophie resigniert. Der Boden unter ihr war hart und eisig kalt und die trostlose Dunkelheit, die sie umgab, ein Spiegel ihrer Seele.

Nein, ans Sterben hatte Sophie nicht gedacht, bevor sie hierher gekommen war, sondern nur an Rache. Rache, die sie an dem Menschen nehmen wollte, der ihr Leben zerstört hatte.

Sophie schloss erschöpft die Augen. Nun war sie in Venedig und wusste nicht mehr weiter. Was sollte sie nur tun? Und was hatte sie erwartet? Dass ihr die beiden Menschen, die sie suchte, gleich am ersten Tag begegnen würden? Dass sie ihre kleine Tochter nach all den qualvollen Jahren, in denen sie diese nicht gesehen hatte, würde glücklich in die Arme schließen können?

Sophie kämpfte krampfhaft gegen die Tränen an, wie jedes Mal, wenn sie an Natalie dachte. Würde sie ihr kleines Mädchen jemals wiedersehen? Würde Natalie sie überhaupt erkennen, wenn sie sich plötzlich gegenüberstünden?

Der eisige Wind ließ Sophie erschaudern. Vielleicht hatte das ja alles keinen Sinn. Vielleicht war es wirklich besser, wenn sie hier an dieser Stelle starb. Dann würde der schreckliche Albtraum endlich vorüber sein.

1. KAPITEL

Piero trat vorsichtig an das reglose Bündel heran, das in einer dunklen Ecke am Fuß der Rialto-Brücke lag. Es war kurz nach Mitternacht, und außer dem leichten Schlagen der kleinen Wellen ans Ufer war nichts zu hören.

Nein, das ist kein Mensch, dachte Piero zunächst, als das Bündel sich nicht bewegte. Doch dann siegte seine Neugier, und er berührte es leicht mit dem Fuß. Es ertönte ein leises Stöhnen – die Stimme einer jungen Frau.

„Kann ich Ihnen helfen?“, fragte Piero, und die Frau hob langsam den Kopf, sodass er ihr Gesicht erkennen konnte – ein blasses und müdes, aber dennoch schönes Gesicht.

„Kommen Sie, ich helfe Ihnen.“

Die Frau zögerte zuerst, dann nickte sie, und Piero half ihr aufzustehen.

„Hier können Sie nicht bleiben. Kommen Sie, ich bringe Sie woandershin.“

Piero machte es nichts aus, dass die Frau nichts sagte. Er kannte viele Obdachlose und half immer, wenn er konnte, ohne Fragen zu stellen. Er stützte die junge Frau, während er sie durch die schmalen und dunklen Gassen Venedigs führte, die Touristen oder Fremde kaum unterscheiden konnten. Piero jedoch kannte jede einzelne Straße und hatte sich noch nie verlaufen.

Wenig später hatten sie ein großes, prunkvolles Gebäude erreicht. Sophie blieb vor einer hohen Doppelflügeltür, dem Hintereingang, stehen und betrachtete sie interessiert. Wie kunstvoll verziert sie war! Sophie sagte jedoch nichts, sondern ließ sich von Piero durch den kleinen Garten und schließlich durch eine kleinere Tür ins Haus führen.

Es ist ein wunderschöner alter Palazzo, dachte Sophie beeindruckt, als sie die große Eingangshalle betraten. Eine breite Treppe führte ins erste Stockwerk, und Sophie konnte im schwachen Schein des Mondes erkennen, dass sich große, helle Flecken an der Wand neben der Treppe befanden. Offensichtlich hatten dort früher Bilder gehangen.

Piero ging voraus in einen kleineren Raum und knipste das Licht an. In dem Raum befanden sich ein großer alter Ohrensessel und mehrere ebenso alte Sofas. Piero führte Sophie zu einem davon und ließ sie Platz nehmen.

„Vielen Dank“, sagte sie leise. „Es ist sehr nett von Ihnen, dass Sie mich mitgenommen haben.“

Piero zog überrascht die Brauen hoch. „Sie sind Engländerin?“

„Sí. Sono inglese.“

„Sie können ruhig Englisch mit mir sprechen, ich verstehe alles. Aber zuerst müssen Sie etwas essen. Übrigens – ich heiße Piero.“

Als Sophie nicht antwortete, fügte er lächelnd hinzu: „Sie können sich nennen, wie Sie möchten – Cynthia, Anastasia, Wilhelmina, Julia …“

„Julia“, erwiderte Sophie erleichtert.

In einer Ecke stand ein großer, goldverzierter Keramikofen mit zwei Flügeltüren. Piero öffnete sie und legte einige Holzscheite hinein.

„Es gibt hier keinen Strom. Deshalb bin ich froh, diesen alten Ofen zu haben. Er ist mindestens zweihundert Jahre alt, funktioniert aber noch einwandfrei. Das Problem ist nur, dass ich kein Papier mehr habe, mit dem ich ein Feuer entfachen könnte.“

Julia griff in ihre Jackentasche und zog eine Zeitung hervor. „Hier – die habe ich aus dem Flugzeug mitgenommen.“

Piero fragte sich, wie es kam, dass jemand, der sich ein Flugticket leisten konnte, auf der Straße übernachten musste, doch er wollte die junge Frau nicht mit Fragen bedrängen. Er steckte die Zeitung an, und wenige Minuten später brannte ein wärmendes Feuer.

Julia – so wie Sophie sich selbst von nun an nannte – musterte Piero neugierig. Er war etwa Anfang siebzig, mittelgroß und hager und hatte lichtes weißes Haar. Sein abgetragener dunkelgrauer Mantel war ebenso alt wie der abgenutzte Wollschal, den Piero um den Hals trug. Irgendwie erinnerte er Julia an eine Vogelscheuche, aber auch an einen Clown. Sein Gesicht war schmal, und die Wangen wirkten etwas eingefallen, doch seine blauen Augen strahlten ebenso wie sein Lächeln.

Piero wiederum schätzte Julia auf etwa Anfang dreißig. Sie war groß, extrem schlank und trug Jeans und eine dicke dunkle Winterjacke. Ihr langes blondes Haar fiel ihr wie ein Vorhang ins Gesicht, als wollte sie sich dadurch vor den Blicken anderer schützen. Doch Piero war sofort aufgefallen, wie schön dieses Gesicht war – und wie tief der Schmerz und die Verzweiflung waren, die aus Julias großen blauen Augen sprachen.

„In dieser Eiseskälte hätten Sie sich den Tod geholt, ist Ihnen das klar?“, fragte er, als er den Ofen wieder schloss.

„Schon möglich“, antwortete Julia ausweichend, und um vom Thema abzulenken, fragte sie: „Wo sind wir eigentlich?“

„Im Palazzo di Montese. Er befindet sich seit neunhundert Jahren im Besitz der Familie di Montese. Im Moment steht er leer, weil der Conte es sich nicht leisten kann, hier zu wohnen.“

„Und deshalb leben Sie jetzt hier?“

Piero lächelte schalkhaft. „Jawohl. Hier stört mich niemand, es fürchten sich nämlich alle vor dem Geist.“

„Vor welchem Geist?“

„Vor Annina“, antwortete Piero, und seine Stimme nahm dabei einen geheimnisvollen Klang an. „Jeder fürchtet sich vor ihr, nur ich nicht.“

Da musste Julia lachen. Dieser alte Mann schien wirklich ein seltsamer Zeitgenosse zu sein. „Und wer war Annina?“, fragte sie neugierig.

„Ein venezianisches Mädchen, das vor siebenhundert Jahren lebte. Annina war zwar reich, aber sie hatte keinen Titel, was zu jener Zeit sehr wichtig war. Sie verliebte sich unsterblich in den Conte Ruggiero di Montese, der sie jedoch nur wegen ihres Geldes heiratete. Nachdem sie ihm einen Sohn geboren hatte, sperrte er sie in den Kerker und ließ sie dort jahrelang sitzen, bis es ihr eines Tages gelang, zu flüchten. Ihr Leichnam wurde im Canal Grande gefunden. Manche sagen, sie sei ermordet worden, andere behaupten, sie sei mit dem kleinen Boot gekentert, in dem sie geflohen war.“

Piero zuckte die Schultern. „Wie dem auch sei – ihr Geist spukt bis heute hier herum, und nachts kann man sie manchmal sogar hören. Dann weint sie und ruft, man solle sie aus dem Kerker befreien und endlich zu ihrem Kind führen.“

Da Julia bei seinen letzten Worten zusammengezuckt war, fragte er besorgt: „Ist alles in Ordnung?“

„Ja, ja, natürlich“, versicherte Julia schnell.

„Ich habe Sie mit dieser Geschichte doch nicht erschreckt? Sie glauben doch nicht an Geister, oder?“

Julia schüttelte den Kopf. „Nein, an solche ganz bestimmt nicht.“

Piero gab sich mit ihrer Antwort zufrieden, kochte Kaffee und begann dann mit den Vorbereitungen fürs Essen. „Ich habe sogar Würstchen“, verriet er stolz. „Die braucht man nur mit der Gabel übers Feuer zu halten, bis sie durchgebraten sind. Und mit Brötchen kann ich auch noch dienen, meine Liebe. Einer meiner Freunde hat ein Restaurant und bringt mir regelmäßig gute Sachen mit.“

Als sie wenig später zusammen vor dem wärmenden Ofen saßen und ihre Würstchen aßen, fasste Julia sich ein Herz und fragte: „Warum haben Sie mich eigentlich mit hierher genommen? Sie kennen mich doch gar nicht.“

„Sie brauchten Hilfe, und ich war gerade da“, antwortete Piero, als wäre dies die selbstverständlichste Sache der Welt.

Julia begriff sofort. Piero hielt sie für eine Obdachlose und fragte nicht nach ihrer Vergangenheit. Im Grunde machte es Julia nichts aus, dass man sie nun zu den Mittellosen zählte. Wenn sie daran dachte, wie sie während der letzten sechs Jahre gelebt hatte, war dies sogar noch eine Verbesserung.

Sie holte ihre Jacke und zog eine kleine Flasche Rotwein aus der Tasche. „Hier, der ist auch aus dem Flugzeug. Der Mann, der neben mir saß, hat sie einfach liegen lassen. Da habe ich sie mitgenommen.“

Piero schmunzelte. „Darf ich fragen, ob Sie auf die gleiche Weise zu Ihrem Flugticket gekommen sind?“

Julia lächelte. Sie mochte Pieros direkte, aber unkomplizierte und ehrliche Art. „Ob Sie’s glauben oder nicht, das habe ich mir redlich erworben. Mit ein bisschen Glück kann man einen Flug von England nach Venedig für wenige Pfund bekommen. Aber wenn man dann mal hier ist …“

„Im Winter sinken die Preise hier erheblich. Es dürfte kein Problem sein, eine preiswerte Unterkunft zu finden.“

„Ich gebe keinen Penny aus, wenn es nicht unbedingt sein muss“, erklärte Julia beinahe trotzig. „Und für Ihre Hilfe werde ich mich anderweitig revanchieren.“

„Da haben Sie auch wieder recht, hier ist es auf jeden Fall billiger als im Hotel“, meinte Piero unbekümmert und biss genüsslich in seine Wurst.

„Und schöner – das ist ja ein richtiger Palast.“

„Waren Sie denn schon einmal in einem Palast?“

„Ja, ich habe schon in einigen gearbeitet. Mich wundert, dass noch niemand auf die Idee gekommen ist, dieses Anwesen zu kaufen und ein Luxushotel daraus zu machen.“

„Auf diese Idee sind schon sehr viele gekommen, aber der Besitzer will es nicht verkaufen. Der Palazzo befindet sich seit Jahrhunderten im Familienbesitz, und deshalb kann und will der Besitzer sich nicht von ihm trennen.“

Julia ging ans Fenster und blickte auf das im Mondschein schimmernde Wasser des Canal Grande, auf dem die Vaporetti, die Fahrgastschiffe Venedigs, beinahe lautlos vorüberglitten. „Ich kann gut verstehen, dass er an diesem Palazzo hängt“, meinte sie nachdenklich und drehte sich wieder zu Piero um. „Leben Sie schon lange hier?“

„Ja, und ich wohne gern hier. Auf Komfort muss ich allerdings verzichten. Es gibt keinen Strom und keine Heizung. Aber die Pumpe draußen funktioniert noch sehr gut, das heißt, wir haben immer frisches Wasser. Kommen Sie, ich zeige sie Ihnen.“

Piero führte Julia hinaus zu einem kleinen Seitengebäude, in dem sich eine Wasserpumpe und eine Toilette ohne Spülung befanden. „Sehen Sie, wir haben sogar ein Badezimmer“, erklärte er strahlend.

Wieder zurück im Hauptgebäude, merkte Julia auf einmal, wie erschöpft sie war.

„Sie sind müde, nicht wahr?“ Piero wies auf das Sofa an der Wand. „Sie können das hier nehmen, und ich schlafe auf dem dort hinten.“ Er gab Julia ein Kissen und zwei alte Decken. „Wickeln Sie sich gut ein, es ist verdammt kalt heute Nacht.“

Julia nahm dankbar die Sachen entgegen und machte sich ihr Bett auf dem Sofa. Dann wickelte sie sich sorgfältig in die Decken und war wenig später eingeschlafen.

Piero war gerade dabei, sich sein Nachtlager zu richten, als die Tür aufging und ein großer, dunkelhaariger Mann hereinkam.

„Ah, Vincenzo“, begrüßte Piero ihn leise. „Schön, dass du da bist.“

„Warum flüsterst du?“

Piero wies auf Julia, die auf dem Sofa schlief.

„Wer ist das?“, flüsterte Vincenzo nun ebenfalls.

„Sie heißt Julia und ist Engländerin. Sie ist eine von uns.“

„Ach so.“ Vincenzo stellte zwei große Papiertüten, die er mitgebracht hatte, auf den Tisch und begann sie auszuräumen. Zum Vorschein kamen vier Brötchen, ein Karton Milch und zwei große Steaks.

„Bekommst du denn keinen Ärger mit deinem Chef, wenn du immer so viel mitnimmst?“, fragte Piero verschmitzt, während er die Sachen eifrig begutachtete.

„Kein Problem, ich weiß, wie man mit dem Typ umgehen muss.“

„Da hast du aber Glück. Er soll nämlich ein unmöglicher Kerl sein.“

„Das habe ich auch schon gehört. Hat er dich denn schon mal belästigt?“

Piero schüttelte den Kopf. „Nein. Aber wenn er versuchen sollte, Julia und mich hier rauszuwerfen, würdest du uns doch helfen, nicht wahr?“

Vincenzo zwinkerte ihm verschwörerisch zu. „Darauf kannst du dich verlassen.“

Piero liebte dieses Spielchen, das er immer wieder mit seinem Freund Vincenzo anfing. Er war der Conte di Montese, der Eigentümer des Palazzos und auch des Restaurants, aus dem die Tüten mit den Lebensmitteln kamen. Piero wusste das, und Vincenzo wusste, dass Piero es wusste. Doch es machte beiden immer wieder Spaß, so zu tun, als hätten sie von allem keine Ahnung.

In diesem Moment stöhnte Julia und bewegte sich im Schlaf. Vincenzo trat leise zu ihr, setzte sich auf den Stuhl neben dem Sofa und betrachtete ihr Gesicht.

„Wo hast du sie gefunden?“, flüsterte er Piero zu.

„Bei der Rialto-Brücke. Sie lag zusammengekauert auf dem Boden. Soviel ich weiß, ist sie mit dem Flugzeug gekommen.“

„Sie ist nach Venedig geflogen, um sich dann nachts auf die Straße zu legen?“, fragte Vincenzo ungläubig.

Piero zuckte die Schultern. „Sie wird schon einen Grund dafür haben. Vielleicht verrät sie ihn mir ja später. Danach fragen werde ich sie jedenfalls nicht.“

Vincenzo kannte die Regeln, nach denen Piero und seine Kameraden lebten. Schon oft hatte der alte Mann einen Obdachlosen mit hierher genommen, und Vincenzo hatte es nie übers Herz gebracht, diese Menschen hinauszuwerfen. Er kam regelmäßig vorbei, um nach dem Rechten zu sehen und Piero und seinen Kameraden etwas zum Essen zu bringen. Dabei hatte er immer wieder festgestellt, dass Piero viel besser auf den Palazzo achtete, als irgendein anderer es für Geld getan hätte. Der alte Mann war Vincenzo richtiggehend ans Herz gewachsen, und sein Wohlergehen war ihm inzwischen wichtiger als das des Palazzos.

Julia stöhnte erneut, und Vincenzo beugte sich herab, um sie genauer zu betrachten. Obwohl er es nicht richtig fand, einen Menschen heimlich zu beobachten, wenn er schlief, konnte er einfach nicht umhin, Julia anzusehen. Sie hatte helle, zarte Haut, sanfte, ebenmäßige Züge und volle, sinnliche Lippen. Doch die leicht gerunzelte Stirn verriet, dass sie Sorgen hatte und es irgendetwas gab, das sie sogar im Schlaf belastete.

Vincenzo glaubte zu spüren, wie verzweifelt diese junge Frau einerseits war und welche Leidenschaft sich andererseits in ihr verbarg – und er hatte mit einem Mal das Gefühl, sie schon irgendwo einmal gesehen zu haben.

Vincenzo wurde plötzlich heiß, und ihm war, als würde die Luft zwischen ihnen vibrieren. Er stand abrupt auf und atmete tief ein.

„Was ist?“, fragte Piero besorgt. „Stimmt etwas nicht?“

Vincenzo schüttelte den Kopf. „Nein, nein, es ist alles in Ordnung. Ich hatte nur plötzlich das Gefühl, diese Frau zu kennen, aber ich habe mich wohl getäuscht.“ Er zog seine Brieftasche hervor, nahm einige Geldscheine heraus und legte sie auf den Tisch. „Kümmere dich um sie, ja?“

„Natürlich, das tue ich doch gern“, versicherte Piero.

Nachdem Vincenzo gegangen war, warf Piero noch einen kurzen Blick auf Julia, die immer noch fest schlief. Dann legte er sich auf das zweite Sofa, wickelte sich in die Decken und war wenig später ebenfalls eingeschlafen.

Der Lärm schlagender Türen schmerzte Julia in den Ohren. Sie hämmerte mit den Fäusten gegen die schwere Eisentür, doch niemand schien sie zu hören. Da ging Julia ans Fenster, schloss die Finger um die Eisenstäbe und blickte verzweifelt hinaus – in eine Welt, von der sie ausgeschlossen war.

Draußen war eine Hochzeit im Gange. Der Bräutigam stand strahlend da und wartete auf seine Braut. Julia spürte einen Stich im Herzen, als sie sein triumphierendes Lächeln sah. Sie hasste dieses Lächeln, denn es war böse und gemein. Aber das wusste die junge Braut noch nicht. Sie war viel zu jung und naiv, um zu ahnen, wer dieser Mann in Wirklichkeit war. Sie wusste nur, dass sie ihn liebte.

Julia hielt den Atem an, als die Braut, anstatt zu ihrem Bräutigam zu gehen, direkt auf sie zukam und dann den Schleier lüftete – das Gesicht darunter war ihr eigenes!

„Nein!“ Julia fuhr zusammen und bebte am ganzen Körper.

Piero war sofort hellwach. Er lief zu Julia und legte ihr schützend den Arm um die Schultern, bis sie sich allmählich beruhigte. Trösten konnte er sie jedoch nicht. Für die schrecklichen Qualen, die sie offenbar ertragen musste, gab es keinen Trost.

Julia staunte, als sie sich am nächsten Morgen an den üppig gedeckten Frühstückstisch setzte. Piero hatte für alles gesorgt, was das Herz begehrte: Kaffee, frische Milch, Brötchen mit Wurst und Käse und sogar eine Schale Obst befanden sich auf dem Tisch.

„Wo hast du denn das alles her?“, fragte Julia verblüfft.

„Das hat mir mein Freund mitgebracht – du weißt schon, der aus dem Restaurant. Er war gestern Abend noch hier.“

„Scheint ein wirklich guter Freund zu sein. Ist er einer von uns?“

„Einer von uns?“

„Na, einer, der nirgendwo hingehört, so wie wir.“

„Ach so.“ Piero lächelte. „In gewissem Sinne kann man das schon sagen. Vincenzo hat zwar einen festen Wohnsitz, aber trotzdem viel mit uns gemeinsam. Er hat alle Menschen verloren, die er jemals liebte.“

„Oh, das tut mir leid.“ Julia schwieg eine Weile, dann nahm sie etwas Geld aus der Hosentasche und gab es Piero. „Hier. Es ist nicht viel, aber ein bisschen was kann man schon davon kaufen.“

Piero strahlte. „Aber sicher! Wenn wir mit dem Essen fertig sind, gehen wir schön einkaufen.“

Nachdem sie ausgiebig gefrühstückt hatten, zog Julia sich warm an und ging mit Piero nach draußen. Er führte sie durch ein Labyrinth von engen Gassen, bis ihr beinahe schwindlig wurde und sie die Orientierung völlig verloren hatte. Wie konnte ein Mensch sich hier bloß zurechtfinden?

Doch Piero schien keinerlei Mühe zu haben, seinen Weg zu finden. Nach einer Viertelstunde hatten sie die Rialto-Brücke erreicht. Als sie an der Stelle vorbeikamen, an der Piero Julia gefunden hatte, krampfte sich ihr der Magen zusammen. Ohne Piero hätte sie vielleicht aufgegeben und wäre hier an dieser Stelle erfroren. Doch genau das durfte sie nicht tun – sie durfte nicht aufgeben, sondern musste weiterkämpfen, bis sie ihr Ziel erreicht hatte.

„Heute ist ein herrlicher Tag, nicht wahr?“, meinte Piero gut gelaunt, während er mit Julia über den Marktplatz schlenderte und an verschiedenen Ständen Lebensmittel kaufte.

Als sie daraufhin nur müde lächelte, blieb er stehen und runzelte die Stirn. „Aber du siehst gar nicht gut aus, Mädchen. Du zitterst ja. Hoffentlich hast du dich nicht erkältet. Komm, lass uns lieber schnell nach Hause gehen, damit du dich gründlich aufwärmen kannst.“

Julia nickte matt. Sie fühlte sich tatsächlich hundeelend und war froh, nicht noch länger draußen in der Kälte herumlaufen zu müssen.

Zurück im Palazzo warf Piero sofort den Ofen an und kochte Kaffee. „Mir scheint, du hast dir eine tüchtige Erkältung eingefangen“, stellte er fest, als Julia auch noch zu husten begann.

„Das … befürchte ich auch.“

Piero zog seinen Mantel wieder an und ging zu Tür. „Ich muss noch mal kurz weg. Und du bleibst schön hier und wärmst dich am Ofen, bis ich wiederkomme, ja?“

Julia konnte nur noch nicken, da sie wieder einen Hustenanfall bekam. Die schwere Tür fiel hinter Piero zu, und Julia war allein in dem stillen, dunklen Palazzo. Nachdem sie eine Weile am Ofen gesessen war, stand sie auf und ging ans Fenster, von dem aus man den Canal Grande sehen konnte. Vor ihr erstreckte sich ein kleiner Garten, der fast bis ans Wasser reichte und von einem eisernen Zaun umschlossen war. Sogar die Rialto-Brücke konnte man von hier aus sehen. Julia war überrascht, dass um diese Jahreszeit noch so viele Menschen draußen in den Straßencafés saßen.

Sie setzte sich wieder an den Ofen und schloss müde die Augen. Julia war gerade eingenickt, als sie von einem Geräusch geweckt wurde. Es waren Schritte auf dem Korridor.

Das ist nicht Piero, dachte sie aufgeregt und versteckte sich rasch hinter dem Vorhang am Fenster. Dann beobachtete sie mit klopfendem Herzen, wie die Tür sich öffnete und eine dunkle Gestalt den Raum betrat. Es war ein großer, schlanker Mann, den Julia auf Mitte bis Ende dreißig schätzte. Sie atmete erleichtert auf. Das musste Vincenzo sein – der Freund, von dem Piero gesprochen hatte.

„Hallo? Ist da jemand?“, rief der Mann und blickte sich prüfend um.

Julia zog schnell den Kopf zurück, doch zu spät. Der Vorhang wurde im nächsten Moment beiseite gezogen, und Vincenzo sah verwundert auf sie herab.

Dio mio, was machen Sie denn hier?“

Er streckte Julia die Hand entgegen, um ihr aufzuhelfen, doch sie wich erschrocken zurück.

„Fassen Sie mich nicht an!“, rief sie auf Englisch.

„Keine Angst, ich tue Ihnen nichts“, antwortete der Mann nun ebenfalls auf Englisch. „Warum verstecken Sie sich?“

„Ich … ich wusste ja nicht, wer Sie sind.“

„Mein Name ist Vincenzo. Ich bin ein Freund von Piero. Ich war gestern Abend schon hier, aber da haben Sie geschlafen.“

„Er … hat mir von Ihnen erzählt, aber ich …“

„Es tut mir leid, wenn ich Sie erschreckt habe“, unterbrach Vincenzo sie sanft. „Das wollte ich nicht.“

Da stand Julia langsam auf und bekam prompt den nächsten Hustenanfall.

„Kommen Sie, setzen Sie sich an den Ofen, dort ist es wärmer.“

Julia ließ sich zum Sofa führen und setzte sich hin. Vincenzos Hände waren angenehm fest und warm, und Julia fühlte sich mit einem Mal seltsam geborgen.

„Sie heißen Julia, nicht wahr?“

Sie zögerte kurz, dann nickte sie. „Ja.“

„Sie zittern ja. Aber so kalt ist es hier doch gar nicht.“

„Doch, es ist kalt, schrecklich kalt“, widersprach sie, und ihr Blick veränderte sich plötzlich. „Es ist wie ein böser Traum, der nie zu Ende geht. Ich suche den richtigen Weg, aber ich kann ihn nicht finden. Am liebsten würde ich alles vergessen, aber ich kann es nicht … ich kann es einfach nicht …“

„Julia, was ist mit Ihnen?“, fragte Vincenzo besorgt, doch sie schien ihn gar nicht wahrzunehmen.

„Die Geister der Vergangenheit wird man niemals los“, fuhr sie mit zittriger Stimme fort. „Sie lassen es nicht zu. Egal, wo man hingeht und was auch immer man tut – sie sind immer gegenwärtig.“ Julia schüttelte den Kopf, und Tränen liefen ihr über die Wangen. „Ich muss sie finden, ich muss … sie finden …“

„Julia …“ Vincenzo setzte sich zu ihr und legte ihr den Arm um die Schultern, bis sie sich schließlich beruhigte.

„Es … ist schon gut“, sagte sie stockend und entzog sich seiner Umarmung. „Und jetzt … lassen Sie mich bitte in Ruhe.“

„Ich möchte Ihnen nur helfen.“

„Ich brauche keine Hilfe! Von niemandem!“

„Wie Sie meinen.“ Vincenzo stand auf und trat einen Schritt zurück.

„Es … tut mir leid.“ Julia senkte den Kopf. „Ich wollte Sie nicht beleidigen. Es ist nur …“

„Ist schon gut, Julia. Ich weiß, wie Ihnen zumute ist.“

„Wirklich?“ Julia blickte nun zu ihm auf, und wieder hatte Vincenzo das Gefühl, sie zu kennen. Er dachte krampfhaft nach. Plötzlich fiel ihm ein, wo er dieses Gesicht schon einmal gesehen hatte: Julia erinnerte ihn an Annina – die Frau, die auf einem der großen Wandgemälde abgebildet war. Die Ähnlichkeit war wirklich verblüffend …

Da ertönten Schritte auf dem Korridor, und Vincenzo hatte keine Zeit mehr, über Julia und Annina nachzudenken.

2. KAPITEL

„Ciao, Piero“, begrüßte Vincenzo seinen alten Freund und klopfte ihm freundschaftlich auf die Schulter.

„Wie ich sehe, habt ihr beide euch schon miteinander bekannt gemacht“, stellte Piero lächelnd fest.

Vincenzo verzog das Gesicht. „Ich fürchte, ich habe die Signorina vorhin erschreckt.“

„Wieso Signorina?“, fragte Piero. „Sag einfach nur Julia, das gefällt ihr sicher besser.“

Vincenzo wandte sich wieder an Julia. „Sie wissen doch, was eine Signora ist, nicht wahr?“

„Natürlich, ich spreche fließend Italienisch.“

„Das finde ich gut“, meinte Vincenzo anerkennend und begann, die Sachen aus der großen Tüte zu nehmen, die er mitgebracht hatte. „Die meisten Engländer sind der Meinung, sie hätten es nicht nötig, eine fremde Sprache zu erlernen.“

Julia beobachtete ihn misstrauisch. Instinktiv spürte sie, dass ihr dieser Mann gefährlich werden konnte. In nur wenigen Minuten hatte er ihr Dinge entlockt, die sie niemals hatte preisgeben wollen. Und trotzdem übte er eine seltsame Faszination auf sie aus. Sein schwarzes Haar, die braunen Augen und selbst der sinnliche Mund – alles an ihm wirkte dunkel und geheimnisvoll und deutete auf eine düstere Vergangenheit hin. Eine Vergangenheit, die Julia brennend interessierte.

Nachdem Vincenzo gegangen war, setzten Piero und Julia sich an den Tisch. Piero biss herzhaft in ein dick belegtes Brötchen und strahlte dabei übers ganze Gesicht, wie immer, wenn er etwas zu essen bekam.

„Greif ruhig zu“, forderte er Julia auf. „Hier bekommst du immer gute Sachen, schließlich war ich früher einmal Chefkoch im Pariser Ritz.“

Autor

Lucy Gordon
<p>Die populäre Schriftstellerin Lucy Gordon stammt aus Großbritannien, bekannt ist sie für ihre romantischen Liebesromane, von denen bisher über 75 veröffentlicht wurden. In den letzten Jahren gewann die Schriftstellerin zwei RITA Awards unter anderem für ihren Roman „Das Kind des Bruders“, der in Rom spielt. Mit dem Schreiben erfüllte sich...
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