Liebeslektionen für den Earl

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Entsetzt starrt der Earl of Ramsay auf den schicksalhaften Brief: Seine Gattin fordert die Scheidung? Das Herz des sonst so unbeschwerten Lebemannes droht zu zerbrechen, denn er weiß, dass er allein die Schuld daran trägt. Doch noch ist es nicht vorbei! Wild entschlossen macht der Earl sich auf, um seine eigene Ehefrau zurückzuerobern …


  • Erscheinungstag 09.09.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733719388
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

London 1810

Londons Traumpaar …

Jane Fitzwalter Countess of Ramsay hätte fast laut aufgelacht, als sie die Überschrift in der Zeitung entdeckte. Die schwarzen, leicht verschmierten Druckbuchstaben in der Klatschspalte der „Gazette“ wirkten so solide und unerschütterlich. Zudem waren viele Leute der Ansicht, dass eine solche Behauptung, wenn sie denn schwarz auf weiß gedruckt in der Zeitung stand, auch der Wahrheit entsprechen müsse.

Vor einer ganzen Weile hatte sie sogar selbst einmal geglaubt, dass sie eine traumhafte Ehe führte, zumindest eine kurze Zeit lang. Inzwischen aber hatten die Worte einen hohlen, bitteren Beiklang bekommen und schienen sie und all ihre dummen Träume zu verspotten.

Die schönen Ramsays – so jung, so reich, so elegant. Sie besaßen ein prächtiges Stadthaus in London, in dem sie großartige Bälle gaben. Die feine Gesellschaft riss sich förmlich darum, von ihnen eingeladen zu werden. Außerdem zählten sie ein großartiges Landhaus zu ihrem Besitz, in dem sie vornehme Jagdgesellschaften abhielten. Bis zum Morgengrauen wurde gefeiert und gelacht. Lady Ramsays Hüte und Roben, die in einem eigenen großen Zimmer untergebracht waren, wurden von den modebewussten Damen des ton eifrig kopiert.

Alle Welt kannte die romantische Geschichte, die zu ihrer Ehe geführt hatte. Der junge Lord Ramsay hatte die noch jüngere Miss Jane Bancroft bei ihrem Debüt durch all das Gedränge und die wehenden Kopfschmuckfedern der Damen erblickt und sich zielstrebig seinen Weg durch die gaffende Menge gebahnt, um sich ihr vorstellen zu lassen. Im Laufe der darauffolgenden Tage hatten sie bei zwei privaten Bällen und einmal bei Almack’s miteinander getanzt. Und wiederum nur einige Tage später hatte Lord Ramsay sie zu einer Ausfahrt im Hyde Park eingeladen und um ihre Hand angehalten. Janes Tante, die auch ihr Vormund war, hatte Bedenken geäußert. Sie hatte eine Ehe aufgrund der kurzen Bekanntschaft für überstürzt und sie beide zu für jung dafür gehalten. Doch als das Paar damit drohte, durchzubrennen, gab sie ihre Einwilligung, und nur kurze Zeit später erlebte die feine Gesellschaft eine der wohl prächtigsten, glamourösesten Hochzeiten, die London je gesehen hatte.

Prächtig. Glamourös. Elegant. Alle beneideten die schönen Ramsays um ihr Leben.

Lady Ramsay jedoch, nun nicht mehr ganz so jung und naiv, hätte all diese Pracht nur zu gerne aufgegeben und all ihren Reichtum geopfert, um jenen sonnigen Tag im Hyde Park noch einmal zu erleben. Wehmütig erinnerte sie sich daran, wie sie Schulter an Schulter in der Kutsche gesessen und gelacht hatten, wie Hayden heimlich, verborgen durch ihren Sonnenschirm, ihre Hand gehalten hatte. An diesem Tag hatte sie geglaubt, dass ihnen eine verheißungsvolle, rosige Zukunft bevorstehe. Der Tag war ihr wie ein Versprechen erschienen, dass alles, wovon sie geträumt hatte, in Erfüllung gehen würde – die große Liebe, ein richtiges Zuhause und ein unbeschwertes Leben an der Seite eines Menschen, der sie brauchte und liebte.

Wenn sie nur noch einmal von vorn anfangen könnten; Jane würde alles anders machen. Leider war das jedoch unmöglich. Die Welt drehte sich unaufhörlich weiter, und nichts würde sich jemals ändern. Alles würde so bleiben wie bisher, weil sie nun einmal die Ramsays waren und ihren Platz in der Gesellschaft einnehmen mussten. Sie mussten das Leben führen, das ihnen aufgrund ihres Standes bestimmt war.

Aber Jane war dieses Leben gründlich leid. Sie hatte angenommen, dass Haydens Titel die Garantie für eine sorglose, unbeschwerte Zukunft sein würde, die ihr in ihrer Familie bisher nicht vergönnt gewesen war. Eine dumme Vorstellung, denn sie hatte dabei völlig vergessen, dass ein Titel auch Verpflichtungen mit sich brachte, die es zu erfüllen galt, dass ein Titel falsche Freunde anzog und für lieblose Ehen sorgte.

Jane ließ die Zeitung auf den Fußboden fallen und sank zurück in die Kissen. Vermutlich war es schon weit nach Mitternacht. Vor einer geraumen Weile hatte ihre Zofe die Vorhänge schließen wollen, aber Jane hatte sie davon abgehalten. Sie mochte den Anblick des nächtlichen Himmels vor dem Fenster; er hatte eine tröstliche Wirkung auf sie, wie eine samtschwarze, weiche Decke, die sie einhüllte. Der Mond, eine silberne Sichel am Horizont, schien ihr zuzuzwinkern.

In der Stadt, fern von Janes Schlafgemach, wurde auf zahlreichen Bällen gewiss immer noch getanzt, getrunken und gelacht. Vor gar nicht langer Zeit hatte sie selbst an derlei Veranstaltungen teilgenommen, hatte sich darum bemüht, ihren Platz in dieser Gesellschaft zu finden. Nun machte allein der Gedanke an derlei Vergnügungen sie krank.

Sie drehte sich auf die Seite und richtete den Blick auf das prasselnde Feuer im Kamin. Dabei fiel ihr die Flasche Laudanum auf dem Nachttisch ins Auge, die der Arzt ihr gegeben hatte. Mit einer Dosis der Medizin könnte sie alle Erinnerungen auslöschen und im Schlaf Vergessen finden, doch das wollte sie nicht. Sie musste nachdenken, sich der Wahrheit stellen, gleich, wie schmerzhaft sie auch sein mochte.

Sie legte die Hand auf den Bauch, der unter dem Leinennachthemd wieder ganz flach geworden war. Die kleine Wölbung, die gewachsen war und sie so glücklich gemacht hatte, gab es nicht mehr. Seit Tagen schon nicht mehr, als wäre sie nie da gewesen. Unter quälenden Krämpfen hatte sie ihr Kind verloren – und Hayden war wieder einmal nicht an ihrer Seite gewesen. Als sie die Fehlgeburt erlitt, die dritte inzwischen, hatte er sich in irgendeinem Spielsalon vergnügt und natürlich betrunken. Er betrank sich immer. Und ihr war nichts geblieben als eine hohle schmerzliche Leere. Sie hatte ihre Pflicht nicht erfüllt. Wieder einmal hatte sie versagt.

So konnte und wollte sie nicht länger weitermachen. Allmählich zerbrach sie unter dem Druck der Lüge, die sie lebten. Sie hatte geglaubt, mit Hayden eine neue Familie zu bekommen, doch in ihrer Ehe fühlte sie sich einsamer als jemals zuvor.

Unvermittelt vernahm sie ein Krachen und gleich darauf lautes Fluchen. Donnernd wie ein Schuss hallte das Geräusch durch das stille Haus. Schon vor Stunden waren die Dienstboten zu Bett gegangen, und Jane hatte nicht vor Morgengrauen mit Haydens Rückkehr gerechnet.

Offenbar war er dieses Mal früher nach Hause gekommen. Jane stand auf und wickelte sich ein Tuch um die Schultern. Dann verließ sie ihr Zimmer und ging langsam zur Treppe, um in die Halle hinunterzuspähen.

Hayden saß, die Beine weit von sich gestreckt, auf der untersten Treppenstufe. Der Schein der Lampe auf dem Konsoltisch, die der Butler für ihn hatte brennen lassen, flackerte über sein Gesicht. Offensichtlich hatte er den Schirmständer umgerissen, denn die Schirme und Spazierstöcke lagen über den schwarz-weißen Marmorfliesen verstreut.

Mit seltsam traurigem Ausdruck im attraktiven Gesicht betrachtete er das Durcheinander. Das Spiel aus Schatten und Licht ließ seine klassischen Züge geheimnisvoll und verwegen erscheinen, und einen Moment lang erinnerte er sie tatsächlich wieder an den Mann, den sie einst voller Hoffnung geheiratet hatte. War er dieses Leben vielleicht ebenso leid wie sie? Gab es womöglich doch noch eine Chance für sie, einen Neuanfang? Trotz ihrer Resignation und wider jede Vernunft keimte ein Funken Hoffnung in ihr auf.

Sie schickte sich an, die Treppe hinunterzugehen. Das Knarren der Stufen ließ Hayden aufschauen. Einen Wimpernschlag lang spiegelte sich ein ernster, nachdenklicher Ausdruck in seiner Miene, dann malte sich ein Lachen in sein Gesicht und beendete diesen kurzen Moment der Grübelei und Nüchternheit.

Er strich sich eine schwarze Locke aus der Stirn und streckte die Hand aus. Der Siegelring an seinem Finger funkelte im Lichtschein, und Jane entdeckte einen Cognacfleck auf seinem Ärmel. „Jane! Meine wunderschöne Gemahlin hat auf mich gewartet – wie erstaunlich.“

Langsam ging Jane die Treppe hinunter. Der süßlich herbe Geruch des Cognacs umhüllte ihn wie eine Wolke. „Ich konnte nicht schlafen“, sagte sie. Schon seit Tagen fand sie keinen Schlaf mehr.

„Du hättest mich zum Dinner bei den Westins begleiten sollen“, meinte er. „Der Abend war recht vergnüglich.“

Jane fuhr ihm zärtlich durch das Haar. Seine himmelblauen Augen glänzten, als sie ihm über die Wange streichelte. Der Bartschatten, der sich darauf abzeichnete, fühlte sich rau und kratzig unter ihren Fingern an.

Wie attraktiv er doch war, ihr Gatte. Allein bei seinem Anblick schmerzte ihr Herz vor Sehnsucht. „Das sehe ich“, sagte sie.

„Alle haben nach dir gefragt“, fuhr er fort und gab ihr einen flüchtigen Kuss auf die Hand. „Unsere Freunde haben dich vermisst.“

„Freunde?“, murmelte sie zweifelnd. Die Westins waren für sie kaum mehr als flüchtige Bekannte, ebenso wie die anderen Gäste. Und umgekehrt war es genauso; sie alle kannten Jane im Grunde genommen nicht. Sie nahm nicht gern an gesellschaftlichen Anlässen teil, weil sie sich unter den vielen Menschen immer unwohl und unsicher fühlte. Ebenfalls eine Sache, bei der sie als Countess versagt hatte. „Mir ist noch nicht nach Gesellschaft zumute.“

„Nun, ich hoffe, das wird sich bald ändern. Die Saison hat gerade erst begonnen, und wir haben recht viele Einladungen erhalten, die wir wahrnehmen müssen.“ Er hauchte ihr einen weiteren Kuss auf die Hand, aber Jane hatte das Gefühl, dass er durch sie hindurchblickte. „Es ist mir verhasst, dich krank zu sehen, Liebling.“

Erneut stieg Hoffnung in ihr auf, und sie ergriff seine Hände. „Vielleicht würde uns etwas Erholung guttun, ein paar Wochen auf dem Land – nur für uns allein. Ich bin sicher, dass es mir an der frischen Landluft bald besser gehen wird. Wir könnten meine Schwester Emma einladen. Ich habe sie so lange nicht mehr gesehen.“

Je länger sie darüber nachdachte, desto besser gefiel ihr die Idee. Ja, ein Urlaub in ihrem Landhaus Barton Park wäre wundervoll. Nur sie drei – keine Gesellschaften, kein Cognac. Sie könnten wieder mehr Zeit miteinander verbringen und sich unterhalten, so wie früher. Vielleicht würde sie trotz ihrer Ängste sogar den Mut aufbringen, erneut den Versuch zu wagen, ein Baby zu bekommen. Sie könnten die eleganten Ramsays hinter sich lassen und einfach nur Hayden und Jane sein. Nichts wünschte sie sich sehnlicher.

Aber Hayden lachte nur, als ob sie einen großartigen Scherz gemacht hätte. Er löste sich von ihr und legte sich quer über die Treppe. „Du willst aufs Land reisen? Jetzt, mitten in der Ballsaison? Jane, Liebling, das ist unmöglich. Wir können jetzt nicht abreisen.“

„Aber es könnte …“

Hayden schüttelte den Kopf. „Wenn du dir Zerstreuung in London suchst, wirst du sicherlich schneller genesen, als wenn du dich auf dem einsamen Land vergräbst. Du solltest mich wieder zu Gesellschaften begleiten, dich amüsieren. Alle erwarten es von dir, von uns.“

„Zu Bällen und Gesellschaften gehen, so wie du?“, fragte Jane verbittert, und der letzte Hoffnungsfunken erstarb in ihr. Nichts hatte sich geändert. Nichts würde sich je ändern.

„Ja, so wie ich, und wie es schon meine Eltern getan haben“, antwortete er. „Das ist besser, als sich allein zu Hause im Elend zu suhlen.“

Jane schlang die Arme um sich, plötzlich fühlte sie sich innerlich hohl und leer. „Ich bin erschöpft. Vielleicht werde ich meine Schwester ohne dich besuchen. Die arme Emma schreibt, dass sie sich in ihrer Schule nicht wohlfühlt, und ich vermisse sie. Ich brauche etwas Abstand von London. Ich möchte nach Hause fahren, nach Barton Park, und dort eine Weile bleiben.“

Hayden schloss die Augen, als ob er ihrer und dieses Gesprächs überdrüssig wäre. Es kam ihr fast so vor, als hätte er es satt, sich mit ihren Empfindungen befassen zu müssen. „Wenn du das so unbedingt möchtest, dann tu es. Du wirst aber vor unserem Ball zum Abschluss der Saison zurückkommen müssen. Alle rechnen fest damit, dich als Gastgeberin dort zu sehen.“

Jane nickte, aber sie wusste bereits, dass sie für keinen Ball der Welt nach London zurückkehren würde. Sie wollte dieses Leben nicht mehr weiterführen. Sie wollte sich selbst wiederfinden, auch wenn sie Hayden nicht klarmachen konnte, dass er dasselbe tun musste, um sich nicht zu verlieren.

Ein leises Schnarchen verriet ihr, dass er mitten im Gespräch auf der Treppe eingeschlafen war. Im Schlaf sah er engelsgleich und friedlich aus. Ein leichtes Lächeln lag auf seinen Lippen, als ob er sie bereits verlassen hätte und im Kreise seiner Freunde die nächste Flasche leeren würde. Sie küsste ihn liebevoll auf die Wange und fuhr ihm ein letztes Mal durch die Haare.

„Es tut mir leid, Hayden“, flüsterte sie. „Bitte, vergib mir.“

Dann stand sie auf, trat über ihn hinweg und kehrte in ihr Schlafzimmer zurück. Leise schloss sie die Tür hinter sich. Nicht einmal das Klicken des Schlosses war in dem riesigen Haus zu hören, das nie wirklich ihr Zuhause gewesen war.

Hayden starrte an die Decke, doch er nahm die zuckergussweißen Ornamente kaum wahr. Die harten Stufen in seinem Rücken spürte er ebenso wenig wie das vertraute schmerzende Pochen in den Schläfen. Alles, was er sah, alles, woran er denken konnte, war Jane.

Er schloss die Augen und lauschte aufmerksam, aber sie war schon lange fort. Nur noch Stille umgab ihn, seit sie sich fortgeschlichen und die Tür ihres Zimmers geschlossen hatte. Selbst sein Butler Makepeace hatte ihn längst aufgegeben und ließ ihn auf der Treppe liegen. Der Marmorboden in der Eingangshalle strahlte eine Kälte aus, die ihm unter die Haut kroch.

Mit Schaudern erkannte Hayden, dass er zu dem geworden war, was er nie sein wollte – ein Ebenbild seiner Eltern.

Nun ja, genau betrachtet ähnelte er seinem Vater nicht sehr. Oh nein. Für den alten Earl waren Verantwortung, Pflichterfüllung und das gute Ansehen der Familie immer das Wichtigste gewesen. Haydens Mutter dagegen hatte Gesellschaften und Bälle geliebt, weil die lärmende Menge sie ihren Kummer vergessen ließ. Beide hatten jedoch Cognac und Wein zu sehr gemocht, und das hatte seinen Vater letzten Endes das Leben gekostet.

Seine Mutter, Friede ihrer leichtfertigen Seele, starb im Kindbett, als sie ein letztes Mal versucht hatte, seinem Vater einen weiteren Sohn zu schenken.

Ein qualvoller, brennender Schmerz durchzuckte Hayden, als er sich an den Ausdruck erinnerte, der nach dem Verlust ihres ersten Kindes in Janes Gesicht gestanden hatte. Sie war weiß wie ein Laken gewesen, abgehärmt und vom Kummer sichtlich gezeichnet.

„Wir können es noch einmal versuchen, Hayden“, hatte sie gesagt und nach seiner Hand gegriffen. „Der Arzt sagt, dass ich kerngesund bin. Es gibt keinen Grund, warum es beim nächsten Mal nicht gut gehen sollte. Bitte, Hayden, bleib bei mir.“

Er hatte ihre zitternde Hand umfangen, die richtigen Worte geäußert, sie beschwichtigt, aber in seinem Inneren hatte er einen stummen Schrei ausgestoßen, weil er das alles nicht noch einmal durchmachen wollte. Niemals wieder. Er wollte Jane nicht mehr verletzen, konnte es nicht ertragen, dass sie ebenso litt wie damals seine Mutter.

Bei ihrem Kennenlernen, als er das hoffnungsvolle Licht in ihren schönen haselnussbraunen Augen bemerkt hatte, die süße Röte ihrer Wangen, war ein Gefühl in ihm erwacht, das er längst erloschen geglaubt hatte. Neugier vielleicht oder Freude aufs Leben und die Zukunft. Die Empfindungen, die Jane in ihm entfacht hatte, waren berauschender gewesen als jeder Wein.

Er hatte sich gewünscht, dass dieses Gefühl ewig andauern mochte. Er wollte Jane, begehrte sie, und hatte sich nie Gedanken über die möglichen Konsequenzen gemacht. Bis er dazu gezwungen gewesen war.

Mit dieser überstürzten Ehe hatte er Jane ins Unglück getrieben, weil er ihr keine Gelegenheit gegeben hatte, sein wahres Wesen kennenzulernen. Gleich, was er auch tat, es schien, als könnte er sie niemals glücklich machen. Er wusste nicht, was sie sich wünschte, konnte nicht erkennen, was sie brauchte. Sie sah ihn immer so hoffnungsvoll an, und dabei lag ein solch trauriger Blick in ihren wunderschönen Augen, als ob sie darauf wartete, dass er irgendetwas tat oder sagte. Doch er hatte nicht die leiseste Ahnung, was er tun oder sagen sollte.

Also hatte er in den Dingen Zuflucht gesucht, mit denen er sich auskannte – endlose Vergnügungen mit seinen Freunden, von denen er stets wusste, was sie von ihm erwarteten. Und Janes Blick war mit jedem Tag trauriger geworden, besonders nach den Fehlgeburten. Drei waren es inzwischen.

Hayden rappelte sich langsam auf die Füße und ging die Treppe hinauf. Aus Janes Zimmer hörte er keinen Laut, nur dröhnende Stille. Er öffnete die Tür und lugte hinein.

Sie lag, die Hand unter die Wange geschoben, schlafend im Bett. Das dichte, dunkle Haar war zu einem Zopf gebunden. Mondlicht fiel auf ihr Gesicht, und er bemerkte, dass sie selbst noch im Schlaf die Stirn runzelte. Sie sah so zierlich aus, so zerbrechlich und einsam.

Hayden wusste, dass er sie im Stich gelassen und tief enttäuscht hatte. Aber er schwor sich, dass dies nie wieder vorkommen würde, gleich, welchen Preis er dafür zahlen mochte. Selbst, wenn er sie dafür freigeben musste.

„Ich verspreche dir, Jane“, flüsterte er, als sie sich auf die andere Seite drehte, „ich werde dich nie wieder verletzen.“

1. KAPITEL

Drei Jahre später

Ist das ein Erdbeben? fragte sich Hayden, als er durch ein lautes Poltern geweckt wurde.

Eine andere Erklärung schien es nicht zu geben, denn er war sich sicher, dass keiner seiner Bediensteten es wagte, ihn mitten in der Nacht durch solch einen Lärm aus dem Schlaf zu reißen.

Er wälzte sich auf den Rücken und blickte zum dunkelgrünen Betthimmel hinauf. Er erinnerte sich, wie er mit Harry und Edwards den Club verlassen und singend durch die Straßen gezogen war. Irgendwie hatte er den Weg nach Hause gefunden und es die Treppe hinauf und in sein Bett geschafft. Allein.

Der vertraute Schmerz hinter den Schläfen tauchte wieder auf und wurde durch das unaufhörliche hämmernde Geräusch noch verstärkt.

Das Zimmer selbst aber wackelte nicht. Also konnte es auch kein Erdbeben sein. Nun, da er sich darauf konzentrierte, wurde ihm klar, dass offensichtlich jemand an seine Schlafzimmertür klopfte.

„Verflucht noch mal!“, rief er und stand auf. „Es ist mitten in der Nacht.“

„Verzeihung, Mylord, es ist tatsächlich schon beinahe Mittag“, erwiderte Makepeace mit ruhiger, aber fester Stimme von der anderen Seite der Tür.

„Zum Teufel“, murmelte Hayden. Er fand seine Hose inmitten der zerknitterten Laken und schlüpfte mürrisch hinein. Auf der Suche nach seinem Hemd fiel sein Blick auf die Uhr auf dem Kaminsims, und er stellte fest, dass Makepeace recht hatte. Es war kurz vor zwölf. Er fuhr sich mit der Hand durchs Haar, ging zur Tür und riss sie auf.

„Ist jemand gestorben, oder warum veranstalten Sie solch einen Radau?“, fragte er.

Makepeace zuckte kaum mit der Wimper; die Miene in seinem runden, pausbäckigen Gesicht war so ernst wie immer. Schon seit vielen Jahren stand er im Dienst von Haydens Familie. Man hatte ihn zum Butler befördert, als Hayden etwa zwölf Jahre alt gewesen war, lange vor dem Tod von Haydens Eltern. Makepeace hatte schon so viel im Haushalt der Fitzwalters erlebt, dass ihn nichts mehr erschüttern konnte. „Meines Wissens ist niemand vom Tod ereilt worden, Mylord“, antwortete er. „Dieser Brief ist eben eingetroffen.“

Er streckte ihm ein Silbertablett entgegen. Hayden starrte ungläubig auf den kleinen Umschlag, der darauf lag.

„Ein Brief? Und deswegen wecken Sie mich? Legen Sie ihn mit der restlichen Post auf den Frühstückstisch. Ich lese ihn später.“

Hayden wollte die Tür schon wieder zuschlagen, aber Makepeace stellte schnell den Fuß dazwischen. „Ich bin mir sicher, dass Sie diesen Brief umgehend lesen werden wollen, Mylord. Er kommt aus Barton Park.“

Hayden traute seinen Ohren nicht. Vielleicht befand er sich ja mitten in einem bizarren Cognactraum, denn normalerweise erhielt er keine Briefe aus Barton Park. „Was haben Sie gesagt?“

„Sehen Sie sich den Absender an, Mylord“, erklärte Makepeace. „Es ist die Adresse von Barton Park, weshalb ich dachte, dass Sie sicher gleich darüber informiert werden wollen.“

Mit einem Mal brachte Hayden keinen Ton mehr heraus. Wortlos nickend nahm er das Schreiben vom Tablett. Dann schloss er die Tür und musterte es nachdenklich. Der schneeweiße Umschlag strahlte hell in dem düsteren Zimmer, wie eine seltene exotische Schlange, die darauf wartete, ihn in den Finger zu beißen.

Der Absender lautete tatsächlich „JF, Barton Park“. Und die schwungvolle, ordentliche Handschrift war ihm wohlvertraut. Jane hatte ihm zum letzten Mal vor drei Jahren geschrieben. Damals hatte sie ihm in kurzen Worten mitgeteilt, dass sie gut in Barton Park angekommen sei und bis auf Weiteres dort bleibe. Er schickte ihr monatlich einen Scheck, doch bislang hatte sie keinen davon eingelöst und sich auch nie bei ihm gemeldet. Nur durch die regelmäßigen Berichte seiner Detektive wusste er, dass sie noch lebte und wohlauf war.

Welchen Grund also konnte seine von ihm getrennt lebende Gemahlin haben, ihm zu schreiben? Und warum zum Henker noch mal verspürte er plötzlich einen Funken Hoffnung? Für ihn gab es keine Hoffnung mehr. Jedenfalls nicht auf eine gemeinsame Zukunft mit Jane. Er hatte sie nicht verdient.

Unvermittelt lichtete sich der Alkoholnebel, und all seine Sinne schärften sich. Die vergangenen drei Jahre verblassten, und ein Bild von Jane tauchte vor seinem inneren Auge auf. Ihr dunkles Haar, das im Licht schimmerte, wenn sie lachend neben ihm im Bett ihres von Sonne durchfluteten Zimmers lag. Die leichte Röte, die ihre Wangen färbte, wenn er sie neckte. Die Leidenschaft und Zärtlichkeit in ihrem Blick, wenn er ihr seine Liebe bewies.

All diese Gefühle der Leidenschaft und Wärme waren jedoch erkaltet und zu Eis erstarrt, als sie sich von ihm abgewandt und ihn verlassen hatte.

Und jetzt schrieb sie ihm wieder.

Langsam ging Hayden zum Kamin und legte den Brief auf den Sims neben die Uhr. Dann trat er zum Fenster und zog den Vorhang auf. Jane hatte ihn an einem kalten, regnerischen Frühlingstag verlassen, die Saison war damals in vollem Gange gewesen. Inzwischen waren mehrere Sommer und Winter vergangen, und ein neuer Sommer nahte. Eine Zeit der Wärme und des Lichts und langer Tage voller Müßiggang.

Was hatte Jane in all der Zeit getrieben? Er hatte diesen Gedanken in diesen drei langen Jahren beharrlich verdrängt, und die Erinnerungen an sie bei Kartenspielen und im Alkohol ertränkt, denn wenn er nicht schlief, konnte er auch nicht von ihr träumen. Ohne ihn war sie besser dran, dessen war er sich sicher. Sie hatten viel zu jung geheiratet, waren viel zu naiv gewesen. Inzwischen war es ihm gelungen, sie fast völlig aus seinem Kopf zu verbannen.

Fast.

Hayden öffnete das Fenster. Zum ersten Mal seit mehreren Tagen strömte eine frische, laue Brise in den muffigen Raum – ein Vorbote des bevorstehenden Sommers. Und eine Mahnung, dass sein Leben nicht länger so weitergehen konnte, mit einer endlosen Aneinanderreihung von Gesellschaften und durchzechten Nächten, die in seinem Gedächtnis zu einem undefinierbaren Nebel verschwammen. Doch er kannte es nicht anders; das Leben seiner Eltern war ganz genauso verlaufen. Dennoch hatte er einst geglaubt, er könne einen anderen Weg einschlagen. Diese Wunschvorstellung hatte sich indes als bittere Illusion herausgestellt.

Hayden wandte sich vom Fenster ab und drehte sich zum Spiegel. Fast hätte er sich selbst nicht erkannt. Das schwarze Haar war zerzaust und fiel ihm tief in die Stirn. Er benötigte dringend einen Haarschnitt. Abgenommen hatte er auch; die Kniehose hing locker über seinen schmalen Hüften. Unter seinen Augen lagen dunkle Schatten.

„Jane würde dich gar nicht wieder erkennen, du nichtsnutziger Bastard“, sagte er laut zu sich selbst und stieß ein verbittertes Lachen aus. Er holte das erstbeste Hemd aus dem Schrank, zog es an und spritzte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Am liebsten hätte er sich mit seinem Lieblingsgetränk für Janes Brief gestärkt, doch es befand sich kein Cognac in Reichweite.

Und es drängte ihn, den Brief zu lesen.

Hayden nahm ihn vom Sims und brach das Siegel.

„Hayden“, begann er. Kein „Lieber“ oder „Geliebter“. Direkt auf den Punkt.

Es ist schon eine Weile her, dass ich Dir geschrieben habe, und es tut mir leid, dass ich mich so selten bei Dir melde. Hier gibt es jedoch viel zu tun. Wie Du Dich vielleicht erinnerst, wurde Barton Park lange Zeit sehr vernachlässigt, und ich habe mich darum gekümmert, es wieder wohnlich zu machen, was den Großteil meiner Zeit in Anspruch nimmt. Inzwischen ist es jedoch wieder recht gemütlich hier geworden, wie ich finde, und Emma hat die Schule verlassen, um bei mir zu leben. Wir kommen gut miteinander zurecht. Ich hoffe, Dir geht es auch gut.

Ich schreibe Dir aus einem bestimmten Grund. Wir leben schon sehr lange getrennt voneinander, und ich bin der Ansicht, dass diese Situation auf Dauer unhaltbar ist. Du bist ein Earl und brauchst einen Erben, das weiß ich sehr wohl. Mir ist auch bewusst, dass eine Scheidung schwierig und teuer werden wird, aber Du bist ein einflussreicher Mann und hast zahlreiche mächtige Freunde. Wenn Du eine Scheidung in die Wege leiten möchtest, werde ich mich nicht dagegen sperren. Ich führe hier ein friedliches Leben, gänzlich unberührt von Skandalen.

Ich möchte Deiner Zukunft nicht länger im Weg stehen. Und ich vertraue darauf, dass Du, angesichts dessen, was uns einst verbunden hat, auch der meinen nicht im Weg stehen willst.

Grüße

Jane

Fassungslos starrte Hayden auf das Papier. Eine Scheidung? Jane schrieb ihm nach all der Zeit, um ihn um eine Scheidung zu bitten? Er zerknüllte den Brief und warf ihn in den leeren Kamin. Wut loderte in ihm auf, ein heißer Zorn, den er nicht begriff. Was hatte er denn erwartet? Hatte er etwa geglaubt, dass sie für ewig in dieser seltsamen Schwebe verharren würden, verheiratet und doch irgendwie nicht?

Wenn er ehrlich war, musste er sich eingestehen, dass er nicht über ihre Zukunft hatte nachdenken wollen. Nun war er dazu gezwungen. Jane hatte recht. Auch wenn er nicht gern an seine Pflichten dachte, er brauchte einen Erben. Mit Janes Fehlgeburten waren nicht nur ihre Kinder gestorben, sondern auch die Hoffnung auf eine Familie und eine glückliche Ehe. Sie hatte dasselbe Schicksal durchleiden müssen wie seine Mutter, doch zumindest war ihr der Tod erspart geblieben. Jane hatte überlebt, weil sie ihn klugerweise verlassen hatte. Und er stimmte ihr auch darin zu, dass sie dieser Situation ein Ende bereiten mussten.

Zwischen den Zeilen las er jedoch eine weitere Botschaft heraus, etwas, dass sie mit ihren höflichen, sorgfältig formulierten Worten nicht offen aussprach. Er war sich nicht sicher, was sie ihm verschwieg, nur dass sie nicht ganz offen zu ihm war, und es gewiss einen triftigen Grund gab, warum sie ihm ausgerechnet jetzt schrieb.

Ich führe ein friedliches Leben, gänzlich unberührt von Skandalen …

Wie friedlich war ihr Leben in Barton Park tatsächlich? Er wusste nicht, wie sie all die Jahre der Trennung verbracht hatte. Niemand seiner Bekannten und Freunde hatte sie je zu Gesicht bekommen, und nachdem das Interesse der Klatschzungen an ihrer Trennung nachgelassen hatte, erwähnte sie auch niemand mehr. Man behandelte ihn wieder wie einen Junggesellen, als hätte es Jane nie gegeben.

Unvermittelt wurde ihm klar, dass er sie unbedingt wiedersehen musste. Er musste ihre wahren Beweggründe herausfinden, feststellen, was in Barton Park vor sich ging. Sie hatte ihn verlassen, ohne auch nur einen Blick zurückzuwerfen. Er würde nicht zulassen, dass sie es sich weiterhin so leicht machte.

Gleich, was sie auch denken mochte, Jane war immer noch seine Gemahlin. Es war an der Zeit, sie an diese Tatsache zu erinnern. Zeit, dass sie sich beide daran erinnerten.

Hayden ging zur Tür und öffnete sie. „Makepeace!“, rief er.

„Mylord?“, kam die Antwort gedämpft von der Treppe. Makepeace hatte Haydens seltsame Angewohnheit, durchs Haus zu brüllen, von jeher missbilligt.

„Lassen Sie mein Pferd satteln. Ich reite aufs Land.“

2. KAPITEL

Wer ist das?“

Haydens bester Freund, Lord John Eastwood, warf ihm einen fragenden Blick zu. Der Tag war lang und langweilig gewesen. Sie standen im royalen Salon und beobachteten, wie die diesjährigen Debütantinnen ihre Knickse vor der Königin vollführten. Johns Schwester Susan war eine der jungen Damen, und man hatte John zu ihrer Begleitung verpflichtet. John wiederum hatte Haydens moralische Unterstützung mit der Behauptung eingefordert, die tödliche Langeweile dieser Veranstaltung nur gemeinsam mit seinem Freund überstehen zu können.

Nur John zuliebe ertrug Hayden diese steife Gesellschaft und das auch nur nach einem großen Schluck Portwein. Seit ihrer Schulzeit waren sie schon befreundet; sie hatten denselben Sinn für Humor und teilten dieselbe Vorliebe für ausschweifende Vergnügungen. Johns Familie hatte Hayden in den Schulferien immer gern aufgenommen, wenn seine Eltern zu beschäftigt gewesen waren, um sich um ihn zu kümmern.

Dennoch bereute er es, dass er sich zu diesem Empfang hatte überreden lassen. Der prächtige Saal war überhitzt und randvoll mit jungen Damen in aufwendigen, unbequem wirkenden Satin- und Spitzenroben und mit zu viel Federschmuck auf dem Kopf. Ganz zu schweigen von ihren scharfäugigen Müttern, die auf der Jagd nach einer guten Partie für das Töchterlein waren und ihn keine Minute aus den Augen ließen. Einen frischgebackenen Earl wie Hayden betrachteten sie als Freiwild, und er hätte sich am liebsten schleunigst aus dem Staub gemacht.

Bis er sie entdeckt hatte.

Sie stand, ebenso aufgetakelt wie die anderen, inmitten der Schar weiß gekleideter Mädchen. In ihrem dunklen Haar thronte ein üppiger Kopfschmuck aus weißen Federn, der ihre zierliche Gestalt aus dem Gleichgewicht zu bringen drohte. Still und wachsam beobachtete sie ihre Umgebung. Sie verhielt sich völlig unauffällig, dennoch stach sie aus der Menge heraus und zog seine Aufmerksamkeit auf sich, als wäre plötzlich in der Dunkelheit das Licht einer Kerze aufgeflackert.

Dabei war sie noch nicht einmal besonders hübsch, jedenfalls nicht in dem Sinne wie die Blonde-Schäferinnen-Schönheiten in ihrer Gesellschaft. Sie war zu schlank, zu bleich, mit braunem Haar und spitzem Kinn und erinnerte ihn an eine Waldfee. Ihr lächerliches Kleid trug sie mit eleganter, anmutiger Würde zur Schau, und auf ihren rosigen Lippen lag ein Lächeln, als ob sie insgeheim etwas Lustiges sähe, das allen anderen entging.

Hayden wünschte sich inständig, sie würde ihm verraten, worüber sie schmunzelte. Niemals hatte jemandes Anblick ihn derart gefangen genommen. Er musste herausfinden, wer sie war.

„Wer ist das?“, fragte er erneut.

Sein eindringlicher Ton sorgte dafür, dass John sich ihm endlich zuwandte. „Wer ist wer?“, fragte er und unterbrach den Blickkontakt mit seinem derzeitigen Schwarm, einer gewissen Lady Eleanor Saunders.

„Das Mädchen dort drüben, im weißen Kleid mit der Silberspitze“, erklärte Hayden ungeduldig.

„Ich sehe ungefähr fünfzig Mädchen in weißen Kleidern.“

„Na, die kleine Brünette natürlich.“ Hayden deutete auf sie und stellte fest, dass sie zu ihm herübersah. Ihr Lächeln war verschwunden, und sie wirkte erschrocken. Ihre Augen hatten einen außergewöhnlichen goldbraunen Ton und schlugen ihn zunehmend in ihren Bann.

„Ach, das. Das ist Miss Jane Bancroft, die Nichte von Lady Kenton.“

„Du bist mit ihr bekannt?“ Wieso war John mit ihr bekannt und er nicht?

„Sie war letzte Woche bei Susan zum Tee eingeladen. Offensichtlich haben die beiden sich im Park kennengelernt und sich angefreundet.“ John musterte Hayden prüfend. „Warum? Möchtest du sie kennenlernen?“

„Ja“, antwortete Hayden schlicht. Er konnte den Blick nicht von ihr lösen, während er versuchte, das Rätsel zu entschlüsseln, warum er sich so unwiderstehlich zu ihr hingezogen fühlte.

„Erstaunlich. Sie ist doch gar nicht dein Typ“, sagte John verwundert.

„Mein Typ?“

„Na, du weißt schon. Aufregend schön und schillernd wie Lady Marlbury. Gewöhnlich würdigst du die Debütantinnen keines zweiten Blickes.“

Obwohl sie mehrere Wochen lang seine Mätresse gewesen war, konnte sich Hayden im Moment nicht einmal mehr an Lady Marlbury erinnern. Seine Gedanken waren ganz erfüllt von Miss Bancroft, die ihn anlächelte und dann rasch mit roten Wangen verlegen den Blick senkte.

„Stell mich einfach vor“, sagte er.

„Wenn du unbedingt willst“, entgegnete John. „Aber sei vorsichtig. Frauen wie sie können Männern wie dir gefährlich werden, das weißt du.“

Hayden fiel darauf keine passende Erwiderung ein. Und überhaupt – wann war er schon jemals vorsichtig gewesen? Ganz gewiss würde er jetzt nicht mit der Vorsicht anfangen, da ihn so viele, völlig neue und aufregende Gefühle durchströmten. Zielstrebig durchquerte er den überfüllten Raum, worauf John nichts anderes übrig blieb, als sich ihm an die Fersen zu heften.

Miss Bancroft sah auf, als Hayden sich ihr näherte. Sie wirkte gefasst, aber er bemerkte, wie sich ihre behandschuhte Hand fester um den Fächer schloss, und sah, wie sich ihr Dekolleté hob, als ob sie scharf den Atem einsog. Er war ihr also auch nicht gleichgültig. Welcher seltsame Zauber ihn auch plötzlich überkommen haben mochte, sie empfand offenbar Ähnliches.

„Miss Bancroft“, grüßte John und verbeugte sich. „Es freut mich, Sie wiederzusehen.“

„Danke, gleichfalls, Mylord“, antwortete sie mit melodischer, leiser Stimme, in der ein Hauch Humor mitschwang. „Sie nehmen Ihre brüderlichen Pflichten wohl sehr ernst, wenn Sie sich Ihrer Schwester zuliebe auf einen Debütantinnenball wagen.“

John lachte. „Darf ich Ihnen meinen Freund Hayden Fitzwalter Earl of Ramsay vorstellen? Er hat ausdrücklich darum gebeten, Ihre Bekanntschaft zu machen. Hayden, ich möchte dir Miss Jane Bancroft vorstellen.“

„Guten Tag“, murmelte sie, knickste und streckte die Hand aus.

Ihre Finger zitterten leicht, als Hayden sie ergriff, und die Röte ihrer Wangen vertiefte sich. Jane, Jane.

Und in diesem Moment verlor er sein Herz …

Semper Vigilare.

Immer achtsam.

Jane musste lachen, als sie einen Strang Efeu von der Gartenbank entfernte und die Inschrift sichtbar wurde. Die Buchstaben waren im Laufe der Zeit verblasst und von Moos und Schmutz überzogen, aber immer noch lesbar. Sie war sich sicher, dass ihre Vorfahren nicht geahnt hatten, welch traurige Ironie diese Worte für ihre Familie bargen.

Sorgfältig wischte sie sich Erde und Laub von den behandschuhten Händen. Ihre Schultern und Knie schmerzten, doch es machte ihr nichts aus, denn so mühsam die Arbeit auch war, sie hielt sie vom Grübeln ab. Und Arbeit gab es viel in Barton Park.

Sie streckte sich und ließ den Blick zum Haus wandern. Es war schon seit Jahrhunderten im Besitz der Familie. Einer Legende zufolge war es ein Geschenk von Charles II gewesen, als Dank dafür, dass einer ihrer Vorfahren – Jane kannte seinen Namen nicht – eine der vielen abgelegten Mätressen des Königs geheiratet hatte. Die Ehe war trotz allem glücklich gewesen, und das Paar hatte Barton Park zum Zentrum rauschender Gesellschaften und allerlei Ausschweifungen gemacht.

Autor

Amanda McCabe
Amanda McCabe schrieb ihren ersten romantischen Roman – ein gewaltiges Epos, in den Hauptrollen ihre Freunde – im Alter von sechzehn Jahren heimlich in den Mathematikstunden.
Seitdem hatte sie mit Algebra nicht mehr viel am Hut, aber ihre Werke waren nominiert für zahlreiche Auszeichnungen unter anderem den RITA Award.
Mit einer...
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