Niemand küsst so wild wie ein Duke

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Ian Clayblack, Duke of Lachlan, steckt in ernsthaften Schwierigkeiten: Plötzlich schneit seine Schwester mit ihren zwei Töchtern ins Haus, und der alles andere als schickliche Duke sieht sich verpflichtet, seinen Nichten eine standesgemäße Saison zu ermöglichen. Dafür muss eine Gesellschafterin her, und zwar schnell! Clayblack engagiert Miss Drewsmina Trelayne, eine rothaarige Schönheit, für die es nichts Wichtigeres gibt als gute Manieren und anständiges Benehmen. Doch im Privaten lässt sich die strenge junge Dame zu ganz und gar unanständigem Benehmen verführen; und ein Skandal droht über die Familie hereinzubrechen, als Drewsmina und der wilde Duke bei einem mitternächtlichen Kuss beobachtet werden …


  • Erscheinungstag 13.04.2024
  • Bandnummer 402
  • ISBN / Artikelnummer 9783751526951
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Charis Michaels

Schon auf der Highschool verschlang Charis Michaels unzählige Romances, und jetzt lebt sie ihren Traum und schreibt Bücher über Leute, die in Kutschen fahren, auf Bälle gehen und sich unsterblich verlieben. Die gebürtige Texanerin lebt mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Washington, D.C.

1. KAPITEL

Drewsmina Trelaynes Regeln für Stil und Haltung, Nummer 17:

Lassen Sie sich nie zu einseitigen Gesprächen verleiten.

Freundinnen und Freunde verleihen ihrer Langeweile oder ihrem Schrecken vielleicht keinen Ausdruck, aber längeres Schweigen spricht in der Regel für sich. Sprudeln ist etwas, das Brunnen oder Kleinkinder tun, Ladys niemals.

Drewsmina Trelaynes Regeln für Stil und Haltung, Nummer 31:

Lebende Tiere sind als Geschenk gänzlich ungeeignet.

Kew Palace

Richmond Upon Thames

Oktober 1818

Das Vorzimmer zum Thronsaal im Kew Palace war an diesem Tag gut gefüllt und Drewsmina Trelayne versuchte, sich einen Überblick zu verschaffen. Rechts von ihr sah sie eine streng dreinblickende Frau in einem gestärkten Wollkleid und einem schwarzen Umhang. Sie stand dicht neben der Tür und hatte sich eine vollgestopfte Aktentasche unter den Arm geklemmt. Wahrscheinlich auf Kreuzzug für einen wohltätigen Zweck, vermutete Drew.

Am Fenster standen drei Nonnen mit einer Schar Jungen, wahrscheinlich Waisen oder ein Chor oder ein Waisenchor.

Irgendwo dazwischen gingen zwei Männer auf und ab, die wie Wissenschaftler aussahen; der eine drehte irgendein Messinstrument zwischen den Fingern und der andere eine ausgestopfte Maus.

Außerdem war ein ältliches Paar mit einem Vogelkäfig gekommen; und eine stark geschminkte Frau (eine Opernsängerin oder so etwas Ähnliches?) mit viel Rouge auf den Wangen, die von ihrer Zofe und zwei kleinen Hunden begleitet wurde.

In einer dunkleren Ecke lungerte schließlich ein einzelner Mann herum. Er war groß, hatte das Gesicht abgewandt und blieb regungslos, vielleicht war er eingeschlafen.

Und dann war da noch Drew selbst, vorn in der Mitte, eine tüchtige junge Geschäftsfrau, die drauf und dran war, sowohl tüchtig als auch geschäftig zu werden.

Es hatte ziemlich genau fünf Minuten gedauert, diese Liste der anderen Besucher aufzustellen. Drew langweilte sich, war aber gleichzeitig nervös. Sie war nicht zum ersten Mal in diesem Palast.

Drews Stiefschwester Cynde war mit Prinz Adolphus verheiratet, einem Sohn von König George dem Dritten. Adolphus war zwar nur der siebte Sohn des Königs und Zehnter in der Thronfolge, aber er war dennoch ein Prinz. Als solcher war er mit Cynde in Kew Palace zu Hause. Wenn Drew ihre Stiefschwester besuchte, wurde sie normalerweise in Cyndes opulenten privaten Gemächern empfangen.

Im Thronsaal hingegen gewährte das königliche Paar Bittstellern, Wohltätern und Petenten Audienzen und Drews Besuch hatte heute keine persönlichen Gründe. Heute ging es ums Geschäft, heute war der Tag, an dem Drew den neuen Klienten kennenlernen würde, der ihr Leben verändern sollte.

Falls der besagte Klient aufkreuzte.

Und falls man ihn überzeugen konnte.

Falls alles ganz genau und bis ins Detail nach Plan lief.

Dieser Plan, den es bis heute nur in der Theorie gegeben hatte, war plötzlich in die Wirklichkeit geworfen worden, als Drew gestern Abend eine hastig hingekritzelte Nachricht von Cynde erhalten hatte.

Morgen im Thronsaal, Drew. Könntest du bitte dort sein? Komm etwas früher und warte im Vorzimmer mit den anderen Bittstellern (entschuldige bitte – aber das Warten wird sich lohnen, hoffe ich!).

Wir erwarten einen alten Freund von Adolphus. Er braucht dringend Hilfe, was die erste Saison seiner Zwillingstöchter angeht. Man nennt ihn den Duke of Lachlan, er ist sehr reich, aber ziemlich bäuerlich oder einsiedlerisch oder gesellschaftlich ungeschickt oder irgend so etwas … ich weiß es nicht genau. Er ist aus Cornwall? Er ist aus der Nähe von Cornwall? Irgendwas mit Cornwall?

Aber hatte ich erwähnt: Zwillinge! Das sind zwei Mädchen, zu deren Gunsten du deine außerordentlichen Fähigkeiten einsetzen kannst, also komm hin und sei bereit, ihn einzuwickeln und zu überzeugen und das alles. Halte dich einfach an mich, in Ordnung?

Hoffentlich ist das die Gelegenheit, auf die wir gewartet haben!

Die Nachricht hatte Drew ein wenig atemlos zurückgelassen und sie hatte normalerweise die volle Kontrolle über ihren Atem. Drew hatte sich in Geduld geübt, hatte den größten Teil des Jahres auf genau so eine Bekanntschaft gewartet. Die Nachricht hatte sie mit solcher Hoffnung erfüllt, dass sie ihren Schwager aufgesucht hatte, den nervtötenden Lord Madewood, um ihn zu fragen, ob er etwas über einen „Duke of Lachlan aus der Nähe von Cornwall“ wusste.

Madewood war ihren Erkundigungen mit seinem üblichen schauerlichen Selbstbewusstsein begegnet; er hatte sie in seine dunkle Bibliothek eingeladen und sich auf einem Sofa ausgestreckt, um ihr eine halbe Stunde lang einen Vortrag zu halten. Am Ende war der Aufwand es wert gewesen. Sie hatte erfahren, dass es in der Tat einen Duke of Lachlan gab. Die Grafschaft befand sich in Dorchester, dicht an der Küste von Dorset. Vor drei Jahren hatte der Duke im Mittelpunkt eines Skandals gestanden, den das ganze Land gefesselt verfolgt hatte. Er hatte bis zu dem Skandal als vielversprechendes Mitglied des Oberhauses gegolten, sich danach aber auf seinen Landsitz zurückgezogen und man hatte seitdem nichts mehr von ihm gehört.

„Aber was ist mit seinen Zwillingen?“, hatte Drew sich erkundigt. „Mädchen, die er vielleicht nach London bringen und in die Gesellschaft einführen möchte?“

„Töchter?“, hatte Madewood nachdenklich wiederholt. „Das kann ich dir nicht sagen. Von seiner Familie ist in der Zeitung nie die Rede gewesen. Es wäre sehr ehrgeizig von ihm, wenn er versuchen wollte, seine Töchter in den Rängen der Londoner Gesellschaft zu verheiraten, das muss ich schon sagen. Es ist für keine junge Dame, und für eine Debütantin schon gar nicht, von Vorteil, wenn man sie mit einem Skandal in Verbindung bringen kann, den es vor so kurzer Zeit gegeben hat. Dabei ist es völlig egal, ob ihr Vater ein Duke ist oder nicht.“

„Ging es bei diesem Skandal um irgendwelche … Unschicklichkeiten?“, hatte Drew weiter gefragt.

„Unschicklichkeiten? Nein“, versicherte Madewood ihr, „so etwas war es nicht. Er war in Unruhen von Ludditen verwickelt. Dabei ist ein Mann getötet und mehrere weitere verletzt worden – ein junger Mann, soweit ich weiß. Das soll heißen, dass seine Misswirtschaft bei seinen unzufriedenen Pächtern … zu Unruhen geführt hat … bei denen ein Mann getötet … und ein Junge verletzt worden ist. Lachlan hat mit seinen Pächtern zusammen die Menge aufgewiegelt, als ob er einer von ihnen wäre. Nachdem er sie so weit aufgestachelt hatte, dass sie völlig außer sich waren, hat er eine Kehrtwendung gemacht und sie in Portsmouth an das Wachbataillon verraten.“

Drew dachte darüber nach und überlegte, wie groß das Risiko war, das sie einging, wenn sie sich mit einer Familie einließ, die direkt in Verbindung mit ludditischen Aufrührern stand. Die sogenannten Ludditen waren gelernte Handwerker – Weber oder Strumpfwirker oder Spitzenmacher und so weiter –, die wütend waren, weil die neuen Textilfabriken ihnen die Arbeit wegnahmen. Aufrührer wurden als Verräter an der Krone betrachtet; arbeitslose Handwerker konnten andererseits nicht mehr für ihre Familien sorgen, wenn eine solche Fabrik ihr Geschäft kaputt gemacht hatte. Es gab Tote, Männer wurden hingerichtet.

Aber dennoch, Aufrührerei und „Misswirtschaft“ klang doch gar nicht so schlimm, oder? Es war nicht gerade ideal, aber es war auch nicht so, als ob der Duke ein Plünderer, ein Sittenstrolch oder ein Wegelagerer wäre. Das hier war eine Situation, in der Drew wirklich etwas Gutes tun konnte – für die Töchter, wenn schon für niemanden sonst. Sie musste schließlich irgendwo anfangen.

„Aber vielleicht ist inzwischen genug Zeit vergangen“, hatte Drew hoffnungsvoll gesagt, „sodass das Gerede über den Aufstand verstummt ist? Vor drei Jahren hast du gesagt?“

„Ja, 1815. Aber er hat damit bei so vielen späteren Aufständen noch Öl ins Feuer gegossen, dass niemand seine Beteiligung vergessen hat, das kann ich dir versichern. Frag irgendjemanden nach dem Aufstand von Honiton, dann bekommst du was zu hören. Alle Seiten waren aufgebracht. Die Dorfbewohner waren wütend, weil ihr Landherr die Garnison gewarnt hat; und das Regiment in Portsmouth war wütend, weil ein Duke sich auf die Seite der Bauern geschlagen hatte. Schlechte Führung, das ist es gewesen. Er hat die beiden Seiten zum Spaß gegeneinander aufgestachelt. Oder er wusste nicht, was er tun sollte. So oder so war er zu unerfahren und zu hochmütig.“

„Ja“, sagte Drew gedankenverloren. Sie dachte schon wieder an seine Töchter. Was das Leben wohl für Hürden für sie bereithielt, wenn man ihren Vater für einen Unruhestifter, Verräter und Aufwiegler hielt?

Ich kann ihnen helfen, dachte sie.

Ich kann vielen von ihnen eine große Hilfe sein.

Drewsmina Trelayne befasste sich nämlich – oder vielmehr würde sie sich bald damit befassen – mit der Vorbereitung von jungen Debütantinnen auf ihre Einführung in die Londoner Gesellschaft. Ihr Spezialgebiet waren – oder vielmehr würden sie es bald sein – Außenseiterinnen. Ausgestoßene. Sogenannte hässliche Entlein. Mädchen, die am Rand des gesellschaftlichen Lebens ihr Dasein fristeten.

Kurz gesagt, genau die Sorte von Mädchen, zu der Drew selbst einmal gehört hatte.

Sie wollte sich auf die scharfzüngigen, schrillen Mädchen konzentrieren; auf die albernen, kichernden Mädchen; und die stillen Mädchen, die man ganz hinten im Saal vergessen hatte.

Sie wollte Mädchen, die die Schultern hängen ließen, beibringen, wie man sich aufrichtete, und stillen Mädchen, wie man sich Gehör verschaffte, und redseligen Mädchen, wie man schwieg, und albernen Mädchen, wie man zuhörte. Sie wollte Frechheit aufpolieren und Schüchternheit Mut machen.

Sie wollte sich Mädchen widmen, die skandalumwitterte Väter hatten, die sich über den Klatsch erheben mussten, um ihr Debüt ungehindert genießen zu können.

Sie wollte genau das für ihre Klientinnen tun, was Drew aufgrund von Herzschmerz und allein mithilfe ihrer eigenen Widerstandskraft für sich selbst hatte tun müssen.

Und sie wollte ein Honorar für ihre Dienste nehmen, das ihr endlich erlauben würde, ihre traurige Stellung als die alte Jungfer im Haus ihrer Schwester Anastasia und des nervtötenden Lord Madewood zu verlassen.

Aber zuerst musste sie diesen Klienten gewinnen.

„Sie haben es hier nicht gerade eilig, Besucher zu empfangen, nicht wahr?“, fragte die alte Frau, die neben Drew in dem stickigen Vorzimmer vor dem Thronsaal stand. Sie und ihr Begleiter hielten gemeinsam einen Vogelkäfig fest. Das Gewicht des Käfigs, ganz zu schweigen von mindestens zwölf Provencegrasmücken, die darin umherflatterten, wog schwer und war unhandlich.

Drew war dem Paar aus dem Weg gegangen (soweit man in diesem winzigen Raum jemandem aus dem Weg gehen konnte), denn der Anblick irgendeines Tieres in Gefangenschaft schmerzte sie, vor allem wenn es Vögel waren, vor allem Provencegrasmücken. Sie hatte während der letzten fünf Jahre eine Vorliebe für die Vogelkunde entwickelt und sie kannte die wunderschönen, scheuen Grasmücken genau. Sie lebten in der dicht bewachsenen Heidelandschaft von Surrey und kamen mit Gefangenschaft überhaupt nicht gut zurecht.

Das Paar meinte es zweifellos gut. Wenn Drew hätte raten sollen, hätte sie angenommen, dass die beiden die Vögel als Geschenk mitgebracht hatten. Später, wenn Drew und Cynde allein waren, konnte sie ihre Stiefschwester bitten, sie freizulassen.

„Wir warten schon mindestens eine Stunde“, sagte der Mann, der den Käfig von der anderen Seite festhielt. Seine Frau nickte entrüstet.

„Nun, das kann nicht sein“, stellte die streng dreinblickende Wohltätigkeitsfrau fest. „Untertanen dürfen nicht vor Viertel nach elf am Palasttor vorsprechen. Also können Sie noch keine Stunde gewartet haben. Wie Sie sicher noch wissen, bin ich vor Ihnen allen am Palasttor gewesen. Also. Wenn Ihre Königlichen Hoheiten Prinz Adolphus und Prinzessin Cynde den nächsten Besucher vorlassen, bin das mit Sicherheit ich.“

„Wenn wir hier Haarspaltereien betreiben wollen“, stellte einer der Wissenschaftler fest, „bin ich vor Ihnen allen hier gewesen.“ Er streichelte seine ausgestopfte Maus.

„Sie müssen sich irren, Sir“, sagte die Wohltätigkeitsfrau. „Ich war zweifellos die Erste, die angekommen ist, ganz zu schweigen davon, dass meine Audienz schon seit Wochen mit dem Sekretär des Prinzen fest verabredet ist.“

„Ich irre mich gar nicht“, sagte der Wissenschaftler und wühlte in seiner Aktentasche nach dem Beweis für seine Worte.

Drew seufzte und ließ den Blick durch den kleinen, dämmrigen Raum schweifen. War der Duke gekommen? Sie entdeckte keine jungen Frauen, die Zwillinge hätten sein können, also nahm sie an, dass die Mädchen nicht dabei sein würden. Doch der Duke selbst sollte unter den Besuchern sein, genau wie sie. Wahrscheinlich würde seine Ehefrau ihn begleiten. Aber man ließ doch einen Duke und eine Duchess nicht in einem Vorzimmer mit Waisen und einem Vogelkäfig warten?

Sie sah sich erneut um. Vielleicht war er der Offizier? Der Mann vom Militär sah allerdings schon sehr alt aus. Dann hätten die Zwillinge seine Enkelinnen oder sogar Urenkelinnen sein müssen.

Oder war Lachlan einer der beiden Wissenschaftler? Wahrscheinlich auch nicht.

Ihr Blick fiel auf den schweigsamen, stillen Mann, der in der Ecke saß. Der konnte theoretisch ein Duke sein und theoretisch konnte er im richtigen Alter sein; aber er konnte auch ein Bestatter sein, der neunzig war. Alles an ihm sorgte dafür, dass Drew den Blick abwandte … aber die Neugier ließ sie wieder hinsehen.

Er befand so weit weg von allen Lichtquellen, dass sie kaum mehr als einen voluminösen Mantel erkennen konnte, sein Gesicht war unter der Hutkrempe verborgen und er trug hohe Stiefel. Er lehnte sich an die Wand und hatte die Arme verschränkt wie jemand, der körperlich anwesend, aber mit seinen Gedanken weit weg war.

Keines dieser Details war wichtig, weil er viel zu gewöhnlich wirkte, um ein Freund des Prinzen zu sein. Und Dukes brauchten nicht mit dem gemeinen Volk in Vorzimmern warten. Lachlan würde durch eine andere Tür kommen; er würde sich in keine Schlange einreihen und auch nicht zusammengesunken dasitzen. Vor allem seine zusammengesunkene Gestalt machte sie nervös und in Drews Leben gab es schon genügend Gründe, um nervös zu sein. Sie hatte keinen Bedarf nach mehr davon.

„Darf ich mir Ihre Vögel ansehen?“

Einer der Jungen hatte sich von der Gruppe, die von den Nonnen begleitet wurde, gelöst und spähte neugierig die verängstigten Provencegrasmücken im Käfig an.

„Jetzt nicht, in Ordnung?“, flüsterte die Besitzerin des Vogelkäfigs.

Im selben Augenblick sagte ihr Begleiter: „Aber sicher doch.“

„Sind das Sperlinge?“, fragte der Junge, zu dem sich plötzlich noch ein zweiter Junge gesellte und dann ein dritter. Bald hatte sich ein Halbkreis aus Jungen um den Vogelkäfig gebildet.

„Nicht so dicht, bitte“, sagte die Frau und versuchte, ihnen den Vogelkäfig zu entreißen. „Diese Provencegrasmücken sind ein Geschenk für Prinz Adolphus und Prinzessin Cynde. Sie machen fürchterlich viel Schmutz, wenn sie aufgeregt sind, und ich habe den Käfig heute Morgen sauber gemacht.“

„Wir sind ganz vorsichtig, Madam“, versicherte der erste Junge und trat näher. Die anderen folgten ihm.

„Es schadet doch nicht, wenn sie mal gucken“, mahnte der Mann sanft. Zu den Jungen sagte er: „Ihr seid Vogelliebhaber, was, Jungs?“

Die Wohltätigkeitsfrau hinter ihnen hatte angefangen zu murren. „Sie werden schon sehen, wenn der Saaldiener uns hineinlässt, werden Sie schon sehen. Man lässt nicht einfach auf gut Glück Gäste hinein. Das hier ist immer noch ein Palast.“

„Wer hat Sie denn gefragt? Das will ich wirklich mal wissen“, sagte die alte Frau, die jetzt endlich von den Vögeln abgelenkt war.

„Ob sich einer von den Vögeln auf meinen Finger setzt?“, fragte der erste Junge. „Wenn ich ihn hineinhalte?“

„Er beißt ihn dir ab“, behauptete der nächste Junge.

Der erste Junge kümmerte sich nicht um ihn und hob einen plumpen Finger an den Käfig, um ihn vorsichtig durch die Stäbe zu quetschen. Über ihren Köpfen zankte sich die Besitzerin der Vögel weiter mit der Wohltätigkeitsfrau.

„Lass mich mal versuchen“, verlangte der zweite Junge und dann auch noch ein dritter. Alle steckten ihre Finger durch die Gitterstäbe des Käfigs.

Rückblickend würde Drew diesen als den Augenblick begreifen, in dem alles fürchterlich, unwiderruflich schiefgelaufen war.

Der Käfig wackelte. Aufgeregt zwitschernde Grasmücken flatterten herum und hackten mit Schnäbel und winzigen Krallen nach den aufdringlichen Fingern. Die Jungen erschraken und heulten und zogen ihre Hände zurück.

Die allgemeine Drängelei sorgte dafür, dass sich die Tür des Käfigs aus den Angeln löste und aufklappte. Sekundenschnell flog ein Dutzend Provencegrasmücken auf und wollte sich auf den Weg nach Surrey machen. Sie schossen aus dem Käfig und flatterten durch das ganze Vorzimmer.

In dem winzigen Zimmer entstand ein riesengroßer Aufruhr durch einen echten Schwarm. Vögel, Jungen, jaulende Hunde; Federn wirbelten durch die Luft.

Die Besitzer des Vogelkäfigs machten sich sofort ans Werk, sie versuchten, mit wedelnden Händen und flatternder Schürze die Vögel wieder einzufangen. Nonnen duckten sich unter ihren Hauben und streckten blindlings die Hände nach den Waisenkindern aus. Die Jungen rannten durcheinander, hüpften und wedelten nach den Vögeln, dabei juchzten sie vor Begeisterung. Die Opernsängerin stieß eine lange Tonleiter von gehauchten Schreien aus. Die anderen wartenden Besucher duckten sich, zogen die Köpfe ein oder wedelten mit den Armen.

„Bitte, meine Herrschaften“, hörte Drew sich selbst rufen, „Ruhe bewahren. Wenn wir uns still und ruhig verhalten, setzen die Vögel sich wieder hin.“

Doch Ruhe, so viel war klar, war so weit weg wie Surrey. Drew sah entsetzt zu, wie die verängstigten Vögel zur Decke hinaufflogen, tief über den Boden segelten und an die Wände stießen. Der Aufprall bei jedem Zusammenstoß ließ sie wie betäubt zurück und sie flatterten orientierungslos mit den Flügeln. Einem Jungen gelang es, einen Vogel einzufangen, der dann nach Luft schnappend in seiner Handfläche lag. Der Offizier schlug mit seiner Zeitung nach einer tiefer fliegenden Grasmücke, sodass der kleine Vogel kreiselnd durch die Luft geschleudert wurde wie ein Blatt im Wind.

Drew hatte die Augen voller Tränen vor Wut. Die Vögel hatten nicht darum gebeten, in einen Käfig gesperrt oder ins Vorzimmer eines Palasts gebracht zu werden oder Angst eingejagt zu bekommen. Der Raum war viel zu klein, als dass sie hätten fliehen können, und zu karg, um sich zu verstecken.

„Halt“, versuchte Drew es noch einmal. „Wenn wir bitte einfach ruhig bleiben könnten, wären die Vögel auch nicht so verängstigt. Sie könnten dann ...“

Niemand hörte auf sie. Drew sah sich mit offenem Mund um, hilflos und wütend. Jetzt mischte sich sogar der herumlungernde Mann in das Handgemenge ein. Er stieß sich von der Wand ab und stolzierte durch das Chaos auf die Flügeltüren zu, die auf den Korridor hinausführten.

„Warum“, murmelte er vor sich hin, „macht denn nicht einfach jemand die Tür auf“, er streckte die Hand nach dem Türknauf aus, „und lässt die verfluchten Viecher frei ...“

„Nein, warten Sie!“, rief Drew atemlos und sprang auf ihn zu.

Drew bekam seine große, behandschuhte Hand im selben Augenblick zu fassen, als er sie auf den Türknauf legte.

Er sah auf und plötzlich konnte sie ihm in die Augen sehen. Ein eiskaltes, stechendes Blau, das in einem ausgesprochen gut aussehenden Gesicht noch einmal besonders auffiel.

Jetzt sah sie, dass er keineswegs neunzig Jahre alt war.

Und er war auch kein Bestatter. Es sei denn, er wäre der Bestatter mit der vollkommensten Gestalt in der Geschichte toter Menschen.

Er sah sie unter der Krempe seines Hutes durchdringend an, als sie ihn an seinem Vorhaben hindern wollte. Ja? Schien sein Gesichtsausdruck zu fragen.

Drew kam wieder zu sich und drückte seine Hand, um ihn aufzuhalten. „Nein, bitte“, sagte sie eilig. Ihre Gesichter waren sich nah, so nah wie bei zwei Menschen, die denselben Türknauf festhielten.

In diesem Augenblick setzte eine orientierungslose Provencegrasmücke gefährlich nah an ihrem Gesicht vorbei zum Sturzflug an. Drew schrie auf und sprang noch näher auf ihn zu.

„Ich öffne jetzt die Tür“, stellte der Mann langsam und deutlich fest, als hätte er es mit einer Wahnsinnigen zu tun, „und die Vögel fliegen hindurch.“

„Nein.“ Drew schüttelte heftig den Kopf.

Ein Waisenjunge stieß gegen ihre Hüfte und sie wurde beinahe an seine Brust geschubst.

„Nein“, wiederholte sie und richtete sich wieder auf. „Bitte, seien Sie so gut. Wenn diese Grasmücken im Palast umherfliegen, werden sie voneinander getrennt und fliegen kopflos in die letzten Ecken. Dann finden sie niemals den Weg nach draußen. Sie werden den Hungertod sterben oder vom Personal getötet. Wir werden sie niemals erwischen.“

„Das …“, fragte er, „sind Ihre Vögel?“

„Nein“, sagte sie voller Verzweiflung und versuchte noch einmal, sich ihm verständlich zu machen. „Provencegrasmücken eignen sich nicht als Haustiere. Es wäre die größte Gnade, sie freizulassen, aber in der Natur. Nicht in einem Palast.“

„Und was schlagen Sie vor?“ Jetzt stieß ein Waisenjunge mit ihm zusammen und klammerte sich an ihn. Er hob den Jungen mit der freien Hand hoch und stellte ihn wieder auf, sodass er sich wieder in das Chaos im Zimmer stürzen konnte.

„Wenn wir die Panik beenden können und einfach ruhig bleiben, lassen die Vögel sich nieder. Dann können wir sie einzeln einsammeln und in den Käfig stecken, um sie richtig freizulassen. Aber wir müssen alle …“, sie sah sich verzweifelt in dem Durcheinander aus kreisenden Vögeln, brüllenden Menschen, tobenden Jungen und bellenden Hunden um, „…ruhig sein.“

„Das wäre natürlich vernünftig“, sagte er und folgte ihrem Blick auf das Chaos. „es ist vielleicht nur ein wenig zu ehrgeizig.“

Drew stieß einen entsetzten Lacher aus. Sie konnte nicht anders. Er war gut aussehend und er war witzig. Und sie hielt seine Hand.

Drews Herz schlug sehr heftig und schwer in ihrer Brust. Es fühlte sich an wie ein Ei, das etwas ganz Neues und sehr Wildes beherbergte, das zu schlüpfen versuchte.

„Bitte, Sir“, sagte sie und schluckte, „ich würde es gerne versuchen.“

Drew sah ihn an, entsetzt, dass er ihr nicht widersprach. Er erwiderte ihren Blick mit seinen eisblauen Augen und in dem Ei, das Drews Herz war, fing es wieder zu hämmern an. Schließlich zeigte er mit einer Handbewegung auf das Zimmer und nickte, wie um zu sagen: „Also gut.“

Drew blinzelte, zog schnell ihre Hand weg und wandte sich dem Raum zu. Die wilden Vögel, brüllenden Menschen und bellenden Hunde machten zusammen einen ohrenbetäubenden Lärm.

„Halt!“, rief Drew, so laut sie konnte. „Bitte! Wenn wir uns allerseits beruhigen und den Vögeln die Gelegenheit geben könnten, zu landen? Bitte!“

Niemand kümmerte sich um ihre Worte. Nicht einmal ein einziger Blick in ihre Richtung. Sie öffnete den Mund, um es noch einmal zu versuchen.

„Was ist mit …“, rief der Mann ihr zu, „dem Fenster?“

Er zeigte auf ein kleines, hohes Fenster, von dem aus man auf eine Steinmauer blicken konnte.

Er fuhr, immer noch brüllend, fort: „Würden Sie mir erlauben, sie durch das Fenster freizulassen?“

„Ja, das wäre genau das Richtige“, brüllte Drew zurück. „Wenn Sie das schaffen.“

Der Mann schlängelte sich an stolpernden Menschen und flatternden Vögeln vorbei. Das Fenster befand sich weit oben, aber er konnte es ohne große Schwierigkeiten erreichen.

„Der Rahmen ist mit Farbe zugekleistert!“, rief er Drew zu.

„Das lässt sich nicht ändern!“, erwiderte sie und war schon auf halbem Wege zu ihm.

Ein Junge schoss vor ihr vorbei und sie packte ihn am Handgelenk. „Ihr müsst mit der Rennerei aufhören“, sagte sie flehentlich. Ein anderer Junge folgte dem ersten und sie hielt ihn mit der anderen Hand fest. Die Jungen zogen und wanden sich in ihrem Griff und wollten sich wieder ins Getümmel stürzen.

Er drückte noch einmal gegen das Fenster, aber es gab nicht nach. In der Zwischenzeit kam eine Grasmücke im Sinkflug auf ihn zu und wäre beinahe gegen seinen Kopf gestoßen. Er fluchte und duckte sich. Er rückte gerade seinen Hut zurecht, als er von einem zweiten Vogel getroffen wurde, dieses Mal am Ohr.

„Sind Sie verletzt?“, rief Drew und ließ die Jungen los. Er kümmerte sich nicht um sie und sah sich um. Sein Blick fiel auf das qualmende Kaminfeuer und er streckte die Hand nach dem metallenen Schürhaken aus, der neben der Feuerstelle lehnte. Ehe sie ganz begreifen konnte, was er vorhatte, nahm er den Schürhaken, schleuderte ihn gegen das Fenster und drehte ihn, sodass das Glas zersprang und der Rahmen zerbrach.

Der Lärm durchschnitt den Aufruhr im Zimmer und für einen unendlich langen Augenblick waren das ganze Geschrei, das Wedeln mit den Armen und das Bellen vorbei.

Der Mann machte weiter, indem er mit dem Schürhaken über das Fensterbrett fuhr und es von Trümmern befreite. Glasscherben und Holzsplitter regneten herab. Als er den Schürhaken zurückzog, war nur noch ein offenes Viereck übrig. Sie spürten sofort die morgendliche Kühle und rochen den fauligen Geruch der Themse.

Schweigen breitete sich langsam im Raum aus, aller Lärm entschwand aus dem Fenster. Alle starrten mit offenen Mündern die fehlende Glasscheibe an und dann den Mann und die Glasscherben unter seinen Stiefeln.

Eine der Provencegrasmücken jedoch brauchte keine Minute, um sich auf den Weg in die Freiheit zu machen. Ein Dutzend ihrer Kameraden aus dem Schwarm folgte, entfloh dem Schrecken des kleinen Zimmers und entschwand hinaus in die freie Welt. Federn schwebten zu Boden. Ein Hund jaulte. Die Tür des Vogelkäfigs schwang quietschend im Wind.

Alle fanden auf einmal ihre Stimmen wieder.

„Was gibt Ihnen das Recht dazu, Sir? Ich frage Sie ...“

„Wie können Sie es wagen, diese Vögel gehören ...“

„Oy! Hast du das gesehen?“

Die Rufe waren gleichermaßen wütend wie verwirrt. Jede Äußerung wurde von dem Knirschen von Glasscherben unter den Füßen der Anwesenden begleitet. Der Hundechor stimmte von Neuem ein.

Der Mann kümmerte sich um nichts davon, nahm den Hut ab und zog eine graue Feder aus seinem Ohr. Er schlängelte sich an den wütenden Menschen vorbei zur Tür, die in den Thronsaal führte. Er starrte das massive Eichenholz an, als ob er den Türflügel mit der Kraft seiner Gedanken öffnen könnte. Er setzte den Hut wieder auf.

Drew sah ihm ungläubig zu. Sie war in ihrem Leben schon vielen Menschen begegnet. Wohlmeinenden Menschen, mitfühlenden Menschen, hart arbeitenden und fähigen Menschen, aber sie konnte sich nicht erinnern, jemals jemanden etwas so Vielsagendes und Schneidiges tun gesehen zu haben.

Ohne zu bemerken, dass sie sich bewegte, stellte sie sich neben ihn.

„Vielen Dank“, sagte sie.

„Ich habe es für die Vögel getan“, sagte er.

Sie lachte. Noch ein Witz.

Einer der Jungen kam schlitternd neben ihnen zum Stehen und wedelte dabei mit dem Schürhaken wie mit einem Schwert. Er kümmerte sich nicht um ihn.

„Haben Sie irgendeine Vorstellung, wie lange man uns hier gewöhnlich warten lässt?“, fragte der Mann Drew.

„Nein.“ Sie schüttelte den Kopf und zwang sich, die Tür anzusehen und nicht ihn. „Ein Fenster einzuschlagen schadet aber sicher nicht, wenn wir wollen, dass es schneller geht.“

Ein weiterer Junge tauchte auf und der erste Junge fing an, mit dem Schürhaken nach ihm zu stechen. Zwei Nonnen kamen dazu und brachten sie auseinander. Hinter ihnen war der Streit um die Reihenfolge der Besuche wieder aufgeflammt.

„Warum sind Sie hier?“, fragte der Mann Drew.

„Wie bitte?“

„Warum wollen Sie den Prinzen sprechen?“

„Oh“, sagte Drew und schwieg, während sie überlegte, wie sie es am besten erklären konnte.

Später sollte ihr klar werden, dass der eigentliche Schaden an diesem Tag nicht angerichtet worden war, als die Vögel freigelassen oder das Fenster eingeschlagen worden war.

Später musste sie einsehen, dass der echte Schaden an diesem Tag genau jetzt angerichtet wurde.

Jetzt war der Augenblick, als alles schrecklich, unwiderruflich die falsche Richtung nahm.

Sie sagte: „Ich bin hier, um die Bekanntschaft eines möglichen Klienten zu machen. Prinzessin Cynde ist meine Stiefschwester und sie will mich vorstellen.“

Und danach hätte sie aufhören sollen zu reden. Er hatte sie nicht nach weiteren Einzelheiten gefragt. Sie dachte nur daran, dass er gut aussah und klug war und dass sie gemeinsam die Grasmücken gerettet hatten.

Leider war das alles, was sie brauchte, um weiterzureden. Drew war eine alte Jungfer und darin war sie gut, aber sie war nicht tot. Niemand machte ihr etwas vor, wenn es um Stil und Klugheit oder sogar Selbstvertrauen ging, aber wenn es um Gespräche mit Männern ging, war sie hilflos. Vollkommen hilflos.

„Mein Geschäft ist es, Debütantinnen auf ihre Einführung in die Gesellschaft vorzubereiten“, sagte sie. „Nicht wie in einem Mädchenpensionat, noch nicht, aber ich biete ähnliche Dienste an. Für private Klienten.“

Der Mann neben ihr sagte nichts, aber er wandte langsam den Kopf in ihre Richtung.

Jetzt, da sie seine ungeteilte Aufmerksamkeit hatte, fühlte sie sich verpflichtet, hinzuzufügen: „Der mögliche Klient ist sogar ein Duke. Lachlan nennt er sich. Ein Freund des Prinzen. Er hat Zwillingstöchter, die er in die Gesellschaft einführen will – das heißt, sie sollen in der nächsten Saison debütieren.“

Der Mann kniff die Augen zusammen. War er interessiert? Beeindruckt? Ihr drehte sich der Magen um. Sie fuhr fort: „Er braucht Hilfe mit seinen Mädchen und ich hoffe, dass ich ihn als Kunden gewinnen kann. Den Duke. Seinen Töchtern zuliebe.“

Der Mann sagte weiterhin kein Wort, sah sie aber mit unverhohlenem Interesse an. Drew wurde ein wenig schwindelig von dem aufmerksamen Blick aus seinen eisblauen Augen.

Sie redete weiter. „Der Duke, um den es geht, war vor einigen Jahren in einen Skandal verwickelt. Sein Ruf hat darunter so gelitten, dass er gezwungen war, sich aus London zurückzuziehen.“

Und jetzt konnte Drew sogar hören, dass sie zu viel redete, aber sie schien nicht aufhören zu können.

„Es ist wirklich ein Jammer“, fuhr sie fort, sprach es alles aus, sagte Dinge, von denen sie nicht einmal wusste, ob sie wahr waren. „Er galt als vielversprechendes Mitglied des Oberhauses. Aber er ist für einen der frühen Ludditenaufstände verantwortlich gewesen. Er hat sie zu ihrem Marsch aufgewiegelt und dann hat er seine eigenen Pächter an die Armee verraten. Darüber ist in allen Tageszeitungen berichtet worden. Es hat ihn richtiggehend ruiniert, was das Debüt seiner Töchter wirklich sehr kompliziert machen wird. Die beiden werden sich sehr vorsichtig bewegen müssen. Aber keine Angst, ich bin auf solche Situationen spezialisiert. So etwas mache ich am liebsten.“

Sie hatte es gerade gesagt, die Worte hingen noch in der Luft, als die Türen zum Thronsaal aufgestoßen wurden. Ein Diener in Livree kam herein.

„Seine Gnaden, der Duke of Lachlan“, sagte er salbungsvoll, halb Frage, halb Ankündigung. Ein Aufruf.

„Aye“, antwortete der Mann neben Drew. „Lachlan.“

Zu Drews furchtbarem Schrecken, ging der Mann neben ihr – der Duke of Lachlan – mit langen Schritten an dem Lakaien vorbei durch die Tür und verschwand im Thronsaal.

Er sah sich nicht um. Die Türen wurden zugeschlagen.

Drew starrte voller Entsetzen die dicken grauen Holzflügel an, während ihre Worte durch ihren Kopf kreisten wie ein Schwarm Provencegrasmücken.

2. KAPITEL

„Das Geheimnis wäre gelüftet“, murmelte Ian Clayback, der Duke of Lachlan, als er vor Prinz Adolphus stand. Er verneigte sich steif.

„Wie bitte, Lachlan?“, rief Prinz Adolphus, der auf einem Thron saß, der aussah wie ein gepolsterter Ohrensessel. Neben ihm auf einem ähnlichen Ohrenthronsessel saß eine junge Frau in einem Kleid mit langen rosafarbenen Schleifen und wilden blonden Locken.

„Guten Morgen, Euer Hoheit“, verbesserte Ian sich schnell und mit scharfer Stimme.

Zu der Frau sagte er: „Wie geht es Ihnen, Prinzessin? Herzlichen Glückwunsch zur Vermählung.“ Die Worte waren freundlich, aber sein Tonfall war es nicht.

„Welches Geheimnis?“, wollte der Prinz wissen.

„Das Geheimnis, warum Sie mich einbestellt haben.“ Er sah sich um. „Hierher.“

„Ich habe Sie einbestellt, weil Sie mich amüsieren, Lachlan.“

„Ja, aber normalerweise amüsiere ich Sie bei einem Pint Bier im Ferryman in der Cumberland Road.“ Ian sah sich um. „Ich wusste gar nicht, dass es in Kew Palace einen Thronsaal gibt. Oder dass Sie Audienzen abhalten.“

Der Prinz winkte ab. „Es ist nicht leicht, die königliche Familie mit fünfzehn Geschwistern zu teilen, Lachlan. Ich muss in dieser Familie um meinen Anteil kämpfen. Das ist Mamas Handarbeitszimmer, wenn Sie es genau wissen wollen. Sie gestattet meiner Frau und mir, es jeden zweiten Montag im Monat für Anliegen zu benutzen, die uns interessieren.“

„Also bin ich ein Anliegen?“, fragte Ian stirnrunzelnd.

Ian und Adolphus hatten zusammen bei der Armee gedient. Sie hatten im Freien geschlafen und Pampe mit Rüben gegessen und Salamander am Spieß geröstet. Ian betrachtete Dolph als Verbündeten und Freund, aber jetzt konnte er ihn möglicherweise ernsthaft verärgern; er war ein verfluchter Prinz. Er musste vorsichtig sein.

„Natürlich sind Sie kein Anliegen“, versicherte der Prinz ihm. „Und wir werden schon bald wieder zusammen im Ferryman ein Bier trinken. Aber jetzt, da ich ordentlich verheiratet bin …“, er griff nach der kleinen Hand seiner Prinzessin, „…versuche ich, meine Pflichten als Mitglied der Königsfamilie ernster zu nehmen. Uns verbindet eine Freundschaft, das ist wahr, aber lassen Sie uns nicht unsere größeren Aufgaben vergessen. Mein Vater ist das Staatsoberhaupt; Sie sind ein Duke. Sie haben Ziele im Parlament und ich will Ihnen helfen, sie zu erreichen.“

Schon klar“, sagte Ian, der ihm kein Wort glaubte. Bei diesem Treffen ging es nicht um Ians Ziele, es ging um ...

„Bitte erzählen Sie doch mal“, fuhr der Prinz fort, „wie geht es denn Evelyn und Ava?“

Und damit war alles klar. Ian fluchte in Gedanken. „Wem?“, fragte er, obwohl er die Antwort schon kannte – obwohl die Antwort ihn mit Abscheu erfüllte.

„Ihren Nichten, Lachlan.“

„Oh“, sagte Ian. „Imogene und Ivy.“

„Natürlich, ich bitte um Verzeihung“, verbesserte sich der Prinz. „Wie geht es denn den lieben Mädchen?“

„Meinen Nichten geht es gut“, stieß Ian zwischen den Zähnen hervor und das war auch nicht vollständig gelogen.

„Sie sind wütend“, sagte der Prinz.

„Ich bin verwirrt, Euer Hoheit. Sie haben ein Vorzimmer voller treuer Untertanen, die drauf und dran sind, aufeinander loszugehen. Jemand hat ein Fenster eingeschlagen. Ich will den Tag, den Sie Ihren vielen unterwürfigen Bittstellern widmen wollen, nicht unterbrechen.“

„Immer ein selbstloser Mann des Volkes“, sagte der Prinz sarkastisch.

„In der Tat“, sagte Ian, der immer noch zu ergründen versuchte, was er vorhatte. Da der Prinz weiter nichts sagte, holte Ian tief Luft und wagte sich weiter vor.

„Na schön“, sagte Ian. „Da Sie schon fragen: Die Ausfuhrzölle in Bournemouth müssen dringend aufgehoben werden. Der Lebensunterhalt meiner Pächter – von so vielen Handwerkern in Dorset – ist in Gefahr, wenn sie ihre Waren nicht nach außerhalb Englands verschiffen dürfen, ohne dass man ihnen durch Abgaben noch das letzte Hemd nimmt.“

„Oh ja, ja, Pächter und Abgaben“, murmelte der Prinz. „Ich sehe mal, was sich tun lässt. Aber lassen Sie uns für einen Augenblick zu unserem ursprünglichen Thema zurückkehren: Ihren Nichten.“ Er zwinkerte seiner Frau zu.

Ian verkniff sich ein Knurren. Er erinnerte sich daran, dass er damit gerechnet hatte. Sein alter Freund hatte ihn zu sich bestellt, aber Adolphus besaß so gut wie keine Macht. Die Exportzölle waren eine Angelegenheit des Parlaments oder des Königs.

Und was Ians Nichten anging … Ian staunte darüber, dass Adolphus sich an die beiden Mädchen erinnerte. Falls Ian sie jemals erwähnt hatte, hatte er keine Ahnung, warum. Außerdem ...

„Bitte zügeln Sie sich mit Ihren wütenden Blicken und harten Worten, Lachlan“, sagte der Prinz scharf. „Wir sind hier nicht in der Kaserne und Sie verunsichern meine Ehefrau damit. Sie versucht, Ihnen allen einen großen Gefallen zu tun.“

„Verzeihung bitte, Ma’am“, stieß Ian zwischen den Zähnen hervor. „Welchen Gefallen denn?“

„Ihre beiden Nichten begleiten Sie doch hier in London, oder nicht?“, fragte der Prinz.

„Doch, das tun sie“, sagte Ian, aber in Gedanken sagte er Nein, nein, nein, das muss ein Witz sein – Nein.

Doch die Würfel waren natürlich gefallen.

Die Frau mit den feuerroten Haaren im Vorzimmer hatte das mehr als deutlich gemacht. Was für eine furchtbare, offensichtlich unvermeidbare Überraschung. Und Ian hasste Überraschungen.

„Und Sie wollen sie für die Saison in der Stadt unterbringen und sie in die Gesellschaft einführen?“, fragte der Prinz.

„So ungefähr. Falls es mir gelingt.“

„Sie verfügen als Duke über einiges Kapital, Lachlan. Natürlich gelingt es Ihnen. Falls Sie sich wegen des Skandals um die Unruhen Sorgen machen, der ist mit Sicherheit so gut wie vergessen.“

Oder, dachte Ian, alle erinnern sich lebhaft daran – so wie die Frau, die mir vor fünf Minuten eine völlig verzerrte Darstellung davon gegeben hat.

Er sagte: „Ja, Euer Hoheit.“

„Sagen Sie mir doch mal, vor welchen Schwierigkeiten Sie wegen der Mädchen stehen.“

Keine, die Sie etwas angehen, dachte Ian, aber der Gesichtsausdruck des Prinzen ließ keinen Zweifel daran, dass er eine Antwort haben wollte.

„Ah, meine Schwester – die Mutter der Mädchen – ist ein wenig … leicht abzulenken“, gab Ian zu. „Und die Mädchen sind sehr … unkultiviert.“

„Durchaus“, beruhigte ihn der Prinz mit mitfühlendem Tonfall. „Genau das haben wir gehört.“

„Gehört? Von wem?“, brummte Ian. Außer dem Personal, das er vorausgeschickt hatte, um das Stadthaus der Familie bewohnbar zu machen, hatte er niemandem von seiner Rückkehr nach London erzählt. Und die Mädchen hatte erst recht niemand erwähnt.

„Oh, wir haben da so unsere Quellen, hab ich recht, Fischchen?“, sagte der Prinz und lächelte seiner Frau dabei zu. Die Prinzessin rückte so dicht an ihn heran, wie die beiden Sessel es zuließen. Sie beugte sich vor, um ihm etwas in sein Prinzenohr zu flüstern. Sie war ein hübsches kleines Ding, wenn man Gefallen an süß und jung und zart fand, was Adolphus immer schon getan hatte. Er freute sich für ihn. Es war schwer genug, ein Herzog zu sein. Ian war überzeugt davon, dass der siebte Sohn eines Königs mit noch viel mehr Schwierigkeiten zurechtkommen musste. Dolph konnte seine puppenhafte Frau ruhig haben, aber musste er sich deshalb in Ians Leben einmischen? Das war ohnehin schon kompliziert genug.

„Falls Sie es fertigbringen, meiner Frau mit angemessenem Respekt und der nötigen Höflichkeit zu begegnen“, sagte der Prinz, „würde sie Ihnen gerne ein Angebot machen – Ihnen und Ihren Nichten. Eins, das ihr Fortkommen betrifft.“

Warum konnten die Leute ihn nicht einfach in Frieden lassen, fragte Ian sich. Er wünschte sich für sich und für seine Familie nicht mehr, als dass sich niemand in ihr Leben einmischte, und natürlich, dass die verfluchten Exportzölle den Lebensunterhalt seiner Pächter nicht weiter in Gefahr brachten.

„Meine Frau möchte Ihnen anbieten, die Mädchen zu protegieren“, sagte der Prinz. „Im nächsten Frühling. Wenn sie bei Hofe eingeführt werden. Bei Mama.“

Ian blinzelte. Er musste sich verhört haben.

„Bei der Einführung am Hofe der Königin“, stellte Dolph klar. „Von England.“

Ian konnte weder höflich noch respektvoll, ja nicht einmal mehr verärgert sein. „Sie möchte was?“ Er sah Prinzessin Cynde mit offenem Mund an.

„Sie haben mich schon verstanden“, seufzte der Prinz und lehnte sich zurück.

Ian sah erst seinen alten Freund an, dick und selbstgewiss; und dann seine zarte Frau, deren liebes Gesicht von hellem Haar gerahmt wurde wie von Vorhängen auf einer hell erleuchteten Bühne.

„Vielen Dank?“, wagte Ian schließlich zu sagen.

„Es ist mir ein Vergnügen“, zwitscherte die Prinzessin. Es waren ihre ersten Worte. Sie hatte eine hohe Stimme, die zu den vielen Schleifen und Bändern passte, die sie trug.

Ian kümmerte sich nicht um sie und versuchte, dieses vollkommen aberwitzige Angebot zu begreifen.

Es war wahr: Er hatte Ivy und Imogene von Dorset nach London bringen lassen, um sie hier während einer Saison zu beherbergen.

Wahr: Er hatte vorgehabt, dafür zu sorgen, dass alles seine Ordnung hatte, so wie es sich für einen Herzog und seine Familie gebührte.

Wahr: Nach London zurückzukehren war das absolut Letzte, was er wollte, und er war sich immer noch nicht sicher, ob es das Beste für die Mädchen war.

Unwahr: Er hatte damit gerechnet, dass Imogene oder Ivy am Hofe der Königin von England eingeführt würden.

Es war eine lächerliche Untertreibung, die Mädchen als unkultiviert zu beschreiben. Sie waren vor drei Monaten nach Avenelle zurückgekehrt und er hatte noch nicht herausgefunden, was genau seine Schwester mit ihnen gemacht hatte, um dafür zu sorgen, dass die beiden junge Damen gleichzeitig behütet und wild waren. Und was noch schlimmer war: Er hatte keine Ahnung, wie er das wieder in Ordnung bringen sollte. Er hatte große persönliche Opfer gebracht, um sie nach London zu holen; wenn er ganz ehrlich war, war er mit seinem Latein am Ende. Machte man das nicht so, wenn junge Frauen sechzehn wurden? Man holte sie für eine standesgemäße Saison nach London?

Ians Vorstellung von ihrer Saison hatte darin bestanden, dass sie die Bekanntschaft anderer Mädchen machten, sich neue Kleider schneidern ließen, ein paar handverlesene Gesellschaften besuchten und einen bescheidenen Debütantinnenball. Sonst nichts.

Der Titel der Lachlans gehörte zu einem unbedeutenden Herzogtum in Dorset. Sein eigener Skandal hatte den Familiennamen befleckt. Die Mädchen konnten sich mit Sicherheit nicht in vornehmen Kreisen bewegen oder am höfischen Leben teilnehmen. Falls sie sehr viel Glück hatten, konnten sie sich in London mit einer oder zwei verfeinerten Sitten vertraut machen und bis zum Sommer nach Dorset zurückkehren.

Der Gedanke, dass Imogene oder Ivy, Gott beschütze ihrer beider Seelen, ohne Zwischenfall eine Einführung am Königshof überstehen könnten, war aberwitzig – so unwahrscheinlich wie seine ungestörte Rückkehr ins Parlament. Im besten Fall über Gebühr ehrgeizig; im schlimmsten eine Katastrophe.

„Ich wusste, dass Sie undankbar sein und Schwierigkeiten machen würden“, seufzte der Prinz, während er sich eine klebrige Dattel aus einer Schale nahm.

„Verzeihung, Euer Hoheit, ich bin ...“

„Und deswegen habe ich vor, Ihnen diese Abmachung ein wenig schmackhafter zu machen“, fuhr der Prinz fort.

„Die Abmachung?“

„Ich werde nicht nur dafür sorgen, dass die Mädchen meiner Mama vorgestellt werden, sondern auch ein Treffen zwischen Ihnen und meinem Bruder George vermitteln.“

„Dem Prinzregenten?“, fragte Ian heiser. Er musste sich verhört haben.

„Natürlich mit dem Prinzregenten. Das ist doch Ihr eigentliches Ziel, nicht wahr? George davon zu überzeugen, dass der die Exportzölle auf die Spitzen senkt, die Ihre Pächter herstellen? Mein Bruder wird dann seinerseits Druck auf das Oberhaus ausüben. George ist mir einen Gefallen schuldig und jetzt schulden Sie mir einen.“

„Euer Hoheit“, sagte Ian, andere Worte fand er gerade nicht.

Falls man den Prinzregenten davon überzeugen konnte, dem Erlass der Exportzölle auf Stoffe und Spitzen zuzustimmen, brauchte Ian nicht ins Oberhaus zurückzukehren. Er brauchte sich nicht dem Gerede oder der öffentlichen Schmach zu stellen und zuzusehen, wie jede Zeitung in ganz London die Aufstände noch einmal durchkaute. Er konnte sich einfach wieder nach Dorset zurückziehen, wo man nie wieder etwas von ihm hören würde.

Aber um welchen persönlichen Preis? Dass Imogene und Ivy bei Hofe eingeführt wurden? Du lieber Gott.

Ian räusperte sich. „Wenn ich mir erlauben dürfte, einen Vorschlag zu machen. Was meine Nichten angeht …“

„Sie dürfen nicht“, schnitt Dolph ihm das Wort ab. „Das Angebot ist nicht verhandelbar. Ihre Nichten sind meiner Frau wichtig und deswegen sind sie mir auch wichtig. Ich kann Ihnen keine Audienz bei meinem Bruder versprechen, wenn Ihre Verwandten nicht auch der Königin vorgestellt werden. Ich bin ein Prinz, aber ich bin verdammt noch mal kein Wundertäter.“

„Nein“, musste Ian zugeben. „Wahrscheinlich nicht.“ Wenn Dolph eines war, dann aufrichtig.

„Aber warum ist Prinzessin Cynde so sehr an meinen Nichten interessiert?“ Ian war ebenfalls aufrichtig und diese ganze Vereinbarung ergab überhaupt keinen Sinn.

„Zerbrechen Sie sich nicht den Kopf über Nebensächlichkeiten“, brummte Dolph. „Schlagen Sie ein, Lachlan. Glauben Sie mir, Sie werden es nicht bereuen.“

Ian starrte ihn an, während er zu begreifen versuchte, zu was für einer Entscheidung man ihn zwingen wollte.

Sein Verhältnis zu den Pächtern von Avenelle war von der Streichung der Exportzölle abhängig und der Prinzregent konnte dafür sorgen, dass es dazu kam. Davon völlig abgesehen schlug man eine Audienz beim zukünftigen König nicht aus. So etwas tat man einfach nicht.

Vielleicht konnte er während der Audienz außerdem sein eigenes Handeln erklären. Auf höchster Ebene des Staates ein Stück seiner Reputation wiederherstellen – der Prinz konnte Gott weiß was über ihn und die Aufstände denken.

Er hatte den Prinzen in der leisen Hoffnung aufgesucht, vielleicht einen Schritt weiterzukommen, was die Exportzölle anging. Eine Audienz bei seinem Bruder, dem Prinzregenten, war so viel vielversprechender, als er sich je hätte erträumen können. Falls seine Nichten ebenfalls in diese Vereinbarung eingebunden waren – bitte. Ians Erfahrung nach wurde einem im Leben so gut wie nichts geschenkt.

„Der nächste Schritt zu einer angemessenen Reaktion“, dozierte der Prinz, „wäre, die Prinzessin zu fragen, wie Sie ihr diese außerordentliche Großzügigkeit vergelten können, Lachlan. Was Sie und die Mädchen zu tun haben, damit sie stolz auf Sie ist – sowohl während der Saison als auch am Tag, an dem sie der Königin vorgestellt werden.“

„Natürlich“, krächzte Lachlan und war wieder bei der Sache. Natürlich wusste er es bereits. Seine Nichten waren nur die eine Hälfte der Vereinbarung. Die andere war die junge Frau im Vorzimmer, deren Wangen wahrscheinlich ebenso rot waren wie ihr Haar.

„Ian, um Gottes willen!“, rief der Prinz, offensichtlich verärgert.

„Äh, Verzeihung bitte, Dolph – äh, Euer Hoheit.“

Ian sah die Prinzessin an. „Aber was soll ich denn nur tun, um diese außerordentliche Großmut zu vergelten, Euer Hoheit?“

„Nun, eigentlich …“, ergriff die Prinzessin mit ihrer hohen Stimme das Wort. Sie hob ihre winzige Hand und gab dem Lakaien, der vor der Flügeltür bereitstand, mit einem Fingerschnipsen ein Zeichen. „Ich würde Ihnen gerne meine liebe Schwester vorstellen …“

3. KAPITEL

Drewsmina Trelaynes Regeln für Stil und Haltung, Nummer 22:

Abbitte zu leisten ist ein unverzichtbarer Bestandteil des Lebens als Dame. Allerdings sollte dies niemals vor Zeugen geschehen. Falls eine Entschuldigung erforderlich ist, warten Sie einen Moment ab, da Sie dies unter vier Augen tun können. Öffentliche Unterwürfigkeit wird das Vergehen nur verschlimmern.

Drew würde es auf den ersten Blick wissen. Cyndes Miene würde ihr verraten, wozu es dann keine Worte mehr brauchte.

Entweder hatte der Duke of Lachlan von ihrer unglaublichen Unhöflichkeit berichtet oder nicht.

Es stand nicht mehr zur Debatte, ihr Gelegenheit zu geben, seine Nichten zu unterweisen, so viel war klar; aber dem Thronsaal konnte sie nicht entgehen. Drew machte sich auf das Schlimmste gefasst und setzte sich in Bewegung. Mit einem Rauschen öffneten die Lakaien die Tür. In undeutlicher Ferne waren Cynde und Prinz Adolphus zu sehen, die nebeneinander in dick gepolsterten Sesseln saßen.

Der Herzog – oh Gott, er war dageblieben – stand vor ihnen. Seine ganze Haltung strahlte Ungeduld aus.

Drew versuchte zu erkennen, was Cynde für ein Gesicht machte. Ihre blonden Locken und ihr pastellfarbenes Seidenkleid waren leicht auszumachen. Und da war sie, lächelte strahlend …

... Hoffnung.

Sie wirkte hoffnungsvoll.

Durch irgendein Wunder hatte Cynde nichts erfahren.

Langsam und gemessenen Schrittes machte Drew sich auf den Weg durch den lang gestreckten, schmalen Raum. Sie kannte die Redewendung wie auf Wolken gehen, aber sie fragte sich, ob auch das Gegenteil möglich war. Sie versank im Erdboden.

Was hatte sie sich bloß gedacht? All die Jahre, all ihre Fortschritte. Sie hatte sich gewandelt, oder etwa nicht? Sie hatte sich so grundlegend gewandelt, dass sie jetzt anderen jungen Frauen dabei helfen wollte, dasselbe zu tun.

Und Geld dafür nehmen.

Doch jetzt ...

„Da sind Sie ja, Miss Trelayne“, rief Cynde und sah sie dabei scharf an, wie um zu sagen Was ist passiert?

„Ich bin hier, Euer Hoheit“, hörte Drew sich selbst antworten.

Drew blieb vor der Empore stehen und machte einen graziösen Knicks. Wenn sie auch sonst nichts konnte, sie wusste, wie man einen Knicks machte.

Sie warf Prinz Adolphus einen Seitenblick zu. Er naschte Datteln aus einer Schale und sah seiner Frau mit ruhigem Wohlgefallen zu. Drew sah zum Duke of Lachlan hinüber. Er verschränkte die Arme über der Brust und starrte ungerührt vor sich hin, er schien nicht erfreut zu sein.

„Euer Gnaden“, richtete Prinzessin Cynde das Wort an Lachlan, „darf ich Ihnen Miss Drewsmina Trelayne vorstellen? Meine Schwester und liebe Freundin. Sie kann Ihnen helfen, was das Debüt Ihrer Nichten betrifft.“

Nichten? Drew ließ ihren Blick zum Herzog hinüberschweifen.

„Soll das also heißen“, fragte Lachlan spöttisch und ungläubig, „dass es in der Tat dazu kommen wird? Diese Überraschung … Frau, mit der ich ...“

Er seufzte. „Wir sollen das Spiel einfach mitspielen?“

Prinz Adolphus verschluckte sich an einer Dattel, räusperte sich und musste husten. „Lachlan!“, knurrte er.

„Natürlich“, seufzte der Herzog. Es klang erschöpft.

„Widersprechen Sie mir nicht, Lachlan“, mahnte Prinz Adolphus. „Ich tue Ihnen einen Gefallen – zwei Gefallen – und Ihre Unhöflichkeit spottet jeder Beschreibung.“

Der Herzog schloss die Augen. Er holte tief Luft. Er sah Drew an.

„Wie geht es Ihnen?“, sagte er lustlos, die Stimme voller Sarkasmus.

Drew warf Cynde einen verzweifelten Blick zu. Die nickte aufmunternd. Los doch …

„Ich ...“Drew räusperte sich. „Ausgezeichnet, vielen Dank, Euer Gnaden. Sie haben Zwillinge, die Sie in die Gesellschaft einzuführen wünschen?“ Drews Tonfall war so angenehm wie falsch. Sie waren beide lustlose Schauspieler in einem Stück, gezwungen, ihren Text aufzusagen.

„In der Tat“, bestätigte Lachlan. Er warf dem Prinzen einen wütenden Blick zu und sah Drew anschließend eiskalt an. „Ich würde sagen einführen wäre zu viel gesagt. Gesellschaft? Ebenfalls übertrieben. Sie sind sechzehn Jahre alt und ich habe sie von Dorset nach London geholt, um sie auf eine bescheidene Saison vorzubereiten.“

„Bescheiden?“, fragte Drew.

„Die Mädchen sind noch sehr unerfahren“, fuhr Lachlan fort. „Und wir alle – die Mädchen, ihre Mutter, die meine Schwester ist, und ich selbst – wollen im Sommer nach Frampton in Dorset zurückkehren. Bis dahin möchte ich kleine Anstrengungen in Richtung einer Saison unternehmen, ihnen erlauben, die Stadt zu genießen, sich einzukleiden. Sich sehen zu lassen, wenn Sie so wollen. Ich denke, so macht man das wohl.“

„Ich verstehe“, sagte Drew, obwohl sie nichts verstand. Eine Saison lang als Debütantin zu erscheinen – und nicht bloß als eine Debütantin, sondern als zwei – war teuer und zeitraubend und hatte weitreichende Konsequenzen für das Leben jedes Mädchens. Wenn das Geld kein Hindernis war, machte man keine halben Sachen bei so einem Unternehmen.

„Sie strapazieren meine Geduld, Lachlan“, mahnte ihn der Prinz. „Wir haben Miss Trelayne kommen lassen, um Ihnen zu helfen. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, Mädchen für ihre Saison auszustatten und zu unterweisen. Sie kann Eunice und Opal helfen ...“

„Imogene und Ivy“, knurrte der Herzog.

„... ein äußerst zufriedenstellendes Debüt zu absolvieren. Für Sie alle. Ihr Eingreifen kann aus einer lästigen Pflicht einen überwältigenden Erfolg machen. Aber Sie haben das Wichtigste noch gar nicht erwähnt.“

Ich habe es nicht erwähnt?“, fragte Lachlan. „Ich? Ich bin doch nicht der Kopf, der hinter dieser Erpressung steckt.“

„Sie haben wirklich Glück, dass ich so viel für Sie übrig habe“, sagte der Prinz. „Es überrascht mich nicht, dass Sie in den meisten Kreisen nicht erwünscht sind.“

Drew blieb bei dieser Beleidigung beinahe die Luft weg. Der Prinz steckte sich noch eine Dattel in den Mund. Lachlan schüttelte langsam den Kopf.

„Wie gesagt“, fuhr der Prinz fort, „es wäre Ihre Aufgabe, die Nichten meines alten Freundes Lachlan hier zu unterweisen, Drewsmina; sie auf ihr Debüt vorzubereiten. Das kennen Sie ja. Aber wir haben noch nicht darüber gesprochen, dass die beiden im Frühling bei Hofe bei Königin Charlotte eingeführt werden sollen. Es ist keine Kleinigkeit, der Königin vorgestellt zu werden, und Sie werden alle Hände voll zu tun haben. Allerdings werden Sie beide, Sie und der Duke, von dieser Vereinbarung profitieren. Und die Mädchen natürlich.“

Zum Herzog sagte er: „Miss Trelayne ist auf dem besten Wege, die führende Autorität in ganz London zu werden, wenn es um die Unterweisung von Debütantinnen geht. Sie können sich glücklich schätzen, ihre Dienste in Anspruch nehmen zu dürfen, bevor sie vollkommen ausgebucht ist, selbst für mich.“

„Ja“, nuschelte der Herzog mit einem Seufzen. „Was für ein Glück.“

„Wie bitte?“, fragte der Prinz.

„Vielen Dank, Euer Hoheit“, sagte Lachlan.

„Drewsmina“, fuhr der Prinz fort, „Lachlan hat eine Menge Geld und keine Frau, die es zum Fenster hinauswirft. Sie brauchen bei der Ausstattung der Mädchen keine Kosten zu scheuen, bei Ihren Aufwendungen ebenfalls nicht.“

„Warten Sie“, warf der Herzog ein. „Ich soll sie bezahlen?“

Der Prinz redete weiter mit Drew, ohne sich um ihn zu kümmern. „Sie werden mit dem Herzog zusammenarbeiten, mit seiner Schwester Lady Tribble und den Mädchen, um sie auf ihre Einführung bei Hofe und alles, was sonst noch zu einer standesgemäßen Saison gehört, vorzubereiten. Ich muss mich schon im Voraus für seine Halsstarrigkeit entschuldigen. Was soll ich sagen? Er ist bei den meisten Menschen nicht gerade gern gesehen.“

„Das beruht auf Gegenseitigkeit“, brummte Lachlan.

„Falls es irgendwelche Schwierigkeiten geben sollte, wenden Sie sich bitte direkt an mich“, beendete der Prinz seine Ausführungen. Er holte tief Luft und sah Prinzessin Cynde mit einem strahlenden Lächeln an. „Das wäre dann alles, meinst du nicht auch, Fischchen?“

„Wundervoll“, sagte Cynde freundlich und klatschte einmal in die Hände. „Es ist also ausgemacht. Sie schaffen das doch, nicht wahr, Miss Trelayne?“

„Äh“, setzte Drew an. Sie war so überwältigt, dass sie keine Worte fand.

Der Herzog war nicht verheiratet.

Die Zwillinge waren seine Nichten.

Lachlan war nicht daran interessiert gewesen, jemanden für seine Nichten anzuheuern. Sie war ihm zugeteilt worden.

Und das nachdem Drew ihn im Vorzimmer beleidigt hatte.

Jetzt sah der Prinz ruhig seine junge Frau an, während er schon wieder auf einer Dattel herumkaute.

Cynde musterte Drew hoffnungsvoll und wirkte sehr zufrieden mit sich.

Der Herzog starrte vor sich hin, sein Blick war wie versteinert.

Drew sah länger als nötig auf ihre Hände hinab und suchte nach den richtigen Worten. Schließlich sagte sie: „Ich muss mich in aller Form bei Ihnen bedanken, Euer Hoheit, Euer Gnaden. Und ja – ich schaffe das.“

In Wahrheit wusste Drew sehr wenig über eine Einführung bei Hofe, doch sie konnte sich das Nötige sicherlich schnell aneignen. Die eigentliche Herausforderung lag in einem Auftraggeber, der nicht wollte, dass sie für ihn arbeitete. Und den sie beleidigt hatte.

Cynde mischte sich ein: „Sie werden diese Zusammenarbeit nicht bereuen, Euer Gnaden. Es gibt niemanden, der kompetenter wäre als meine Schwester. Ihre Nichten erwartet Beratung in Fragen der Garderobe, Coiffure, Sitten, Geschicklichkeit bei Hobbys und Vergnügungen, Vorstellung, Sittsamkeit – es gibt so viele Dinge, die Miss Trelayne ihnen beibringen kann. Sie werden lernen, sich in London zurechtzufinden, wie man mit Dienstpersonal in der Stadt umgeht, wie man geschmackvoll korrespondiert, wie man lebhafte Konversation betreibt. Aber das Beste von allem – und das ist etwas, das Ihnen nur Miss Trelayne bieten kann: Sie wird Ihren Mädchen beibringen, an sich zu glauben. Selbstvertrauen zu gewinnen. Informierte Entscheidungen zu treffen, die ihren eigenen Interessen dienen, und weise Entscheidungen zu treffen.“

„Oh, gut<...

Autor

Charis Michaels

Schon auf der Highschool verschlang Charis Michaels unzählige Romances, und jetzt lebt sie ihren Traum und schreibt Bücher über Leute, die in Kutschen fahren, auf Bälle gehen und sich unsterblich verlieben. Die gebürtige Texanerin lebt mit ihren Kindern, ihrem Mann und ihren zwei Hunden in Washington, D.C.

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