Romana Extra Band 25

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MONDSCHEIN ÜBER DER CAMARGUE von CHASE, SARAH LEIGH
Wilde Pferde, rosa Flamingos, einsame Lagunen: Ein Traum wird wahr, als die freiheitsliebende Gemma einen Reiterhof in der Camargue übernimmt. Doch ihr perfektes Glück scheint bedroht. Wie gut, dass ihr der charmante Pferdepfleger Alain zur Seite steht …

SINNLICHE TAGE MIT DEM BOSS von MEIER, SUSAN
Tuckers Geschäftsreise nach Italien gleicht einer Achterbahnfahrt der Gefühle. Wegen eines Auftrags, der die schmerzliche Erinnerung an seine traurige Kindheit wachruft. Und weil er vor Verlangen erbebt, wann immer er die verführerische Vivi, seine neue Assistentin, ansieht …

JETZT LASS ICH DICH NIE MEHR LOS! von LOGAN, NIKKI
Damals hat Dan sie abblitzen lassen - jetzt muss Gartendesignerin Ava mit dem ehrgeizigen TV-Produzenten zusammenarbeiten. Die Luft am Set knistert, und Dan liest ihr jeden Wunsch von den Augen ab. Weil sie der neue Star seiner Show ist - oder weil er sie nun doch begehrt?

EIN LIEBESURLAUB FÜR ZWEI von COX, MAGGIE
Sorrel reicht’s: Sie fordert die Scheidung! Aber Reece will ihre Ehe mit einer Reise retten. Die gemeinsamen Tage an der Algarve lassen Sorrel wieder an eine glückliche Zukunft glauben. Da taucht eine allzu schöne Operndiva in ihrer Villa auf - die Geliebte ihres Mannes?


  • Erscheinungstag 27.01.2015
  • Bandnummer 0025
  • ISBN / Artikelnummer 9783733740436
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sarah Leigh Chase, Susan Meier, Nikki Logan, Maggie Cox

ROMANA EXTRA BAND 25

SARAH LEIGH CHASE

Mondschein über der Camargue

Alain heuert als Hofarbeiter bei Gemma an. Insgeheim soll er die Schwester eines Freundes jedoch vor Feinden der Familie beschützen. Bleibt nur zu klären: Wer schützt sein Herz vor Gemmas Liebreiz?

SUSAN MEIER

Sinnliche Tage mit dem Boss

Ihr neuer Boss ist ungeheuer attraktiv! Lange hat sich Vivi zu keinem Mann mehr so hingezogen gefühlt. Doch sein sanfter Kuss unter Italiens Sternen weckt Ängste in ihr, die sie längst überwunden glaubte …

NIKKI LOGAN

Jetzt lass ich dich nie mehr los!

Um seine TV-Show in die Schlagzeilen zu bringen, soll Dan reißerische Gerüchte über Ava verbreiten. Stattdessen denkt er nur an eines: Wie es war, die schöne Moderatorin zärtlich zu küssen …

MAGGIE COX

Ein Liebesurlaub für zwei

Nach einem Unfall kommt Reece erst im Morgengrauen nach Hause – und wird von Sorrel mit Eifersucht und Vorwürfen empfangen. Wie kann er ihr nur beweisen, dass sie sich auf seine Liebe verlassen kann?

1. KAPITEL

Gemma Henderson stieß die Wohnungstür hinter sich zu, streifte die hochhackigen Schuhe ab und ging auf Strümpfen weiter in die Küche. Ihr Bruder hatte bei der Einrichtung keine Kosten gescheut. Gemma seufzte und betrachtete die teuren Elektrogeräte. Obwohl sie seit vier Jahren in dem eleganten Appartement lebte, fühlte sie sich immer noch, als wäre sie nur zu Besuch.

Schon lange träumte sie von einem alten Haus mit Garten und großer Küche. Wie das Landhaus ihrer Verwandten in Frankreich sollte es aussehen. Als Kind hatte sie jeden Sommer auf deren Reiterhof in der Camargue verbracht, die meiste Zeit auf dem Rücken der Pferde. Doch nachdem der Onkel gestorben war, hatte die Tante den Hof verkauft und war in die Stadt gezogen.

Bei der Erinnerung glaubte Gemma wieder den Duft des Meeres und der wilden Blumen über den Sümpfen zu riechen. Für einen Moment konnte sie fast das Stampfen der Pferdehufe hören.

Aber was sollte sie mit einem Haus und einer großen Küche? Sie hatte kaum Zeit, sich auch nur ein Ei zu kochen. Gemma warf ihren Kaschmirmantel über eine Stuhllehne und setzte Wasser für Tee auf. Jeden Tag verbrachte sie bis spät abends in der Kanzlei ihres Bruders. In unserer Kanzlei, korrigierte sie sich mit einem schwachen Lächeln. Doch es fühlte sich nicht so an, als würde die Hälfte der bekannten Londoner Anwaltskanzlei ihr gehören.

Sie zog die Haarnadeln aus dem straffen Knoten und schüttelte die honigblonden Locken, bis sie weich über ihre Schultern fielen. Ich hätte damals nicht auf Spencer hören sollen, dachte sie müde. Aber er hatte nur das Beste für sie gewollt. Sie hatte ja nicht einmal selbst gewusst, dass dieser Weg der falsche für sie war.

Als der Teekessel pfiff, goss Gemma kochendes Wasser über den Teebeutel in ihrer Tasse und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Traurig starrte sie in die dampfende, dunkler werdende Flüssigkeit.

Sie hatte kurz vor dem Schulabschluss gestanden, als ihre Eltern vor einigen Jahren bei einem Autounfall ums Leben gekommen waren. Spencer war zehn Jahre älter als sie und hatte bereits seit einiger Zeit in der Kanzlei des Vaters gearbeitet. Wie selbstverständlich übernahm er nach dem Unfall die Leitung.

Sein Wunsch war, dass Gemma genau wie er Jura studierte, um später in das Familienunternehmen einzusteigen. Sie hatte nie infrage gestellt, das zu tun, was alle Sprösslinge der Hendersons in den letzten hundert Jahren getan hatten. Doch schon bald merkte sie, dass sie offenbar aus der Art geschlagen war.

Sie hasste ihren Beruf. Sie hasste es, jeden Tag die maßgeschneiderte Kleidung wie eine Uniform überzustreifen, um sich dann rund um die Uhr durch Gesetzestexte und Paragrafen zu quälen. Noch schlimmer waren die Gerichtstermine, wenn sie Geschworene und Richter von der Unschuld ihrer Mandanten überzeugen musste, auch wenn sie selbst die Wahrheit kannte.

Sie war gut in ihrem Job, hervorragend sogar. Aber sie hasste ihr Leben. Nein, ich hasse es nicht, dachte sie. Selbst dazu fühlte sie sich viel zu ausgelaugt.

Vor einem Jahr hatte sie zum ersten Mal mit Spencer über ihre Gefühle gesprochen, über ihren Wunsch, alles aufzugeben und noch einmal ganz neu anzufangen. Sie wollte endlich wieder die Sonne auf ihrer Haut spüren, statt vor dem Morgengrauen ins Büro zu gehen und es erst im Dunkeln wieder zu verlassen.

Ich will ja arbeiten, dachte sie. Nicht die harten Arbeitszeiten waren das Problem. Sie sehnte sich danach, etwas Echtes zu schaffen, nach Freiheit und Weite, anstatt ein Leben zu führen, in dem schon ein winziger Fleck auf der blütenweißen Bluse unverzeihlich war.

Gemma hob den Teebeutel aus der Tasse, drückte ihn aus und warf ihn ins Spülbecken. Was soll ich nur tun? fragte sie sich. Spencer weigerte sich, mit ihr darüber zu reden. Jedes Mal, wenn sie davon anfing, wechselte er entschieden das Thema.

Sie liebte ihren Bruder von ganzem Herzen. Seit dem Tod der Eltern sorgte er fast wie ein Vater für sie. Sie wollte ihm nicht wehtun. Aber musste sie darum ein Leben führen, in dem sie so unglücklich war?

Gemma seufzte und schüttelte den Kopf. Genug gegrübelt! ermahnte sie sich energisch. Das waren reine „Luxusprobleme“, wie Spencer es nannte. Vielleicht war sie wirklich einfach nur zu verwöhnt. Auf jeden Fall brachte es nichts, sich selbst zu bemitleiden.

Um auf andere Gedanken zu kommen, griff sie nach der Tageszeitung auf dem Küchentisch. Heute Morgen hatte ihre Zeit nur für die Überschriften auf der Titelseite ausgereicht. Sie blätterte die Seiten um, doch erst als sie bei den Inseraten angelangt war, merkte sie, dass sie gar nicht wusste, was sie gelesen hatte.

Ich werde ein Bad nehmen und ins Bett gehen! beschloss sie und stand auf. Sie wollte gerade die Zeitung zusammenklappen, um sie ins Altpapier zu werfen, als ihr Blick auf eine fett gedruckte Überschrift fiel:

Traumhaft schöner Pferdehof in der Camargue!

Von privat: Idyllisches Anwesen in der Nähe von Saintes-Maries-de-la-Mer zu verkaufen. Unverbaubare ruhige Lage, modernisiertes Wohnhaus, Offenstallungen, befestigte Ausläufe und hochwertiger Reitplatz. Viel weiterer Platz vorhanden, Ausbaureserven für Wohnraum und Stall. Die Nutzungsmöglichkeiten sind vielseitig: Privat, Zucht, Reiterhof, …

Wenn nicht jetzt, wann dann?

Gemma war, als würde der Boden unter ihren Füßen schwanken.

Saintes-Maries-de-la-Mer.

Sonntags waren Onkel und Tante manchmal mit ihr in den nah bei ihrem Hof gelegenen Ort gefahren. Das Städtchen war kaum mehr als eine Handvoll weißer Häuser mit hellroten Ziegeldächern, die bei Flut mitten im Meer zu liegen schienen. Im Sommer drängten sich in den schmalen Gassen die Urlauber.

Ob es die Eisdiele bei der Kirche noch gab? Gemma lächelte bei dem Gedanken an das pinkfarbene Himbeereis mit dem unglaublich hoch aufgetürmten Sahnetupfer. Langsam setzte sie sich wieder und las das Inserat noch einmal.

„Wenn nicht jetzt, wann dann?”, flüsterte sie.

Alain Rousseau ignorierte das hartnäckig aufleuchtende Lämpchen an seinem Telefon und blätterte in den Unterlagen auf dem Schreibtisch. Kein Anruf konnte so wichtig sein wie das bevorstehende Meeting mit den Vertretern des weltbekannten Reiseveranstalters.

Die Frühlingssonne schien durch die deckenhohen Scheiben in sein Büro, sodass er die Wärme trotz der Klimaanlage zu spüren glaubte. Alain lockerte die hellgraue Seidenkrawatte, öffnete die obersten zwei Hemdknöpfe und krempelte die Ärmel bis zu den Ellbogen auf. Dann beugte er sich wieder über die Akten.

Sein Vortrag war schon seit Tagen sorgfältig ausgearbeitet, aber ein Exklusivvertrag für seine Hotels stand auf dem Spiel. Er wollte diesen Auftrag, und er würde ihn bekommen! Darum musste er auf jede mögliche Frage vorbereitet sein. Er konnte keine Zeit mit Telefonaten verschwenden.

Ärgerlich runzelte er die Stirn, als es an der Tür klopfte. Seine Sekretärin öffnete die Tür einen Spalt weit und steckte den Kopf ins Zimmer. „Alain, bitte entschuldigen Sie …“

„Waren meine Anweisungen nicht klar genug, Estelle?“, fragte er knapp.

Die Sekretärin errötete. Sie öffnete den Mund zu einer Antwort. Doch stattdessen rief hinter ihr eine vertraute Männerstimme: „Es ist nicht ihre Schuld, Alain. Sie hat alles gegeben, aber ich habe mich einfach nicht abwimmeln lassen.“

Die Tür öffnete sich ganz, und ein großer, sehr schlanker Mann trat ein. Mit seinem dunkelgrauen Nadelstreifenanzug, den glänzenden Lederschuhen und dem sorgfältig gescheitelten rotblonden Haar sah er wie die Verkörperung eines englischen Gentlemans aus.

„Spencer!“ Alain sprang auf und eilte dem alten Freund entgegen. Die beiden Männer umarmten sich schulterklopfend. „Was verschlägt dich denn nach Cannes?“ Alain nickte der Sekretärin zu. „Es ist in Ordnung, Estelle. Bitte bringen Sie uns Kaffee.“

„Für mich Tee, bitte.“ Als Estelle den Raum verließ, blickte Spencer ihr lächelnd hinterher. „Sie hat mir gesagt, dass du heute Nachmittag ein wichtiges Meeting hast, aber ich halte dich nicht lange auf. Hast du vielleicht heute Abend Zeit für mich?“

„Aber sicher!“ Alain dachte flüchtig an Giselle, mit der er eigentlich verabredet war. Sie war ein berühmtes Model und äußerst anspruchsvoll. Bestimmt war sie nicht erfreut, wenn er so kurzfristig absagte, doch sie würde sich auch wieder beruhigen. Und wenn nicht … Es gibt mehr als genug schöne Frauen, dachte er sarkastisch. Mit fünfunddreißig hatte er alles erreicht, wofür er so lange hart gekämpft hatte, und dass er seine wechselnden Geliebten unter den schönsten Frauen der Welt wählen konnte, gehörte zu den Vorzügen eines Lebens als millionenschwerer Hotelier.

„Wie lange haben wir uns jetzt nicht gesehen?“, fragte er seinen Freund. „Es müssen bestimmt zwei Jahre sein.“

„Vier“, antwortete Spencer.

„Was treibt dich aus dem Londoner Regen nach Südfrankreich? Wie lange bist du hier? Sag nicht, du machst Urlaub! Ich würde dir kein Wort glauben.“

„Ehrlich gesagt, bin ich gekommen, um mit dir zu reden. Ich … ich möchte dich um einen Gefallen bitten … Aber lass uns heute Abend in Ruhe darüber sprechen.“

„Jetzt hast du mich neugierig gemacht. Worum geht es denn?“

„Das … das kann ich nicht zwischen Tür und Angel erklären.“ Spencer wich seinem Blick aus.

Alain musterte den Freund aus schmalen Augen prüfend. Obwohl die beiden Männer aus ganz unterschiedlichen Welten stammten, waren sie seit ihrem Jurastudium in Cambridge Freunde, und in all den Jahren hatte Alain nicht ein einziges Mal erlebt, dass Spencer herumdruckste. „Das wird ja immer spannender. Wenn du extra aus diesem Grund zu mir nach Cannes gekommen bist, muss es etwas sehr Wichtiges sein. Komm schon, spann mich nicht länger auf die Folter!“

„Ich …“ Spencer brach ab, als Estelle mit den Getränken zurückkam. Die beiden Männer schwiegen, während die junge Frau Kaffee, Tee, Milch und Zucker auf dem Besuchertisch vor dem Fenster verteilte. Ihr hellgraues Seidenkleid raschelte leise bei jeder Bewegung.

Als sie die Tür hinter sich schloss, sah Alain seinen Freund auffordernd an. „Also? Los, raus mit der Sprache!“

„Es geht um meine Schwester Gemma“, begann Spencer. Er räusperte sich.

Alain nickte. „Wir sind uns einmal in deiner Londoner Wohnung über den Weg gelaufen, aber wir haben kein Wort gewechselt.“ Er sah ein hoch aufgeschossenes Mädchen mit Zahnspange vor sich. Arme und Beine hatten zu lang für den mageren Körper gewirkt. Das Schönste an ihr waren die langen honigblonden Haare und die leuchtend grünen Augen gewesen. „Damals muss sie dreizehn oder vierzehn gewesen sein, nicht wahr?“

„Fünfzehn.“ Spencer räusperte sich wieder.

„Und? Geht es ihr gut?“ Alain sah auf die Uhr. Wann kam Spencer endlich zum Punkt? Inzwischen bereute er fast, dass er nachgefragt hatte.

„Gemma hat sich einen Reiterhof in der Camargue gekauft und will ein Gasthaus daraus machen.“

„Aha.“ Alain trank einen Schluck Kaffee. „Wie unternehmungslustig! Hattest du nicht erzählt, dass sie auch in eurer Kanzlei angefangen hat?“

„Das war auch der Fall. Aber aus irgendeinem albernen Impuls heraus hat sie plötzlich die Arbeit hingeschmissen und ihr gesamtes Kapital in diesen heruntergekommenen Hof gesteckt. Dabei ist sie eine großartige Anwältin.“ Spencers Stimme wurde mit jedem Wort lauter. „Ich weiß nicht, was in sie gefahren ist.“

„Hm. Hat sie vorher nicht mit dir über ihren Entschluss gesprochen?“

„Nein!“, rief Spencer ärgerlich. Er setzte seine Tasse so heftig zurück auf den Glastisch, dass etwas Tee herausschwappte. „Na ja, sie hat seit ein paar Monaten immer mal wieder davon angefangen, dass ihr die Arbeit keinen Spaß machen würde und sie unglücklich sei“, ergänzte er nach einer kleinen Pause. „Aber so eine Phase macht schließlich jeder durch.“

Alain nickte, während er sich fragte, warum sein Freund ihm das alles erzählte. „Vielleicht nimmt sie ja nach einer Weile von selbst wieder Vernunft an.“

„Bestimmt sogar! Ich glaube nicht im Geringsten daran, dass sie es wirklich ernst meint. Sie wird schon einsehen, wie unsinnig ihr Plan ist, und aufgeben. Aber das kann eine Weile dauern, und bis dahin …“

Alain nickte auffordernd. „Ja?“ Wollte sein Freund etwa, dass er dem Mädchen gut zuredete? Unauffällig warf er noch einen Blick auf die Uhr.

„Bis dahin musst du auf sie aufpassen.“

„Was?“, rief Alain aus. Er musste sich verhört haben.

„Bitte pass auf Gemma auf, und hilf ihr!“

Alain hatte sich nicht verhört. Für einen Moment vergaß er sogar sein Meeting. Dann lachte er schallend und schlug dem Freund auf die Schulter. „Nicht schlecht. Fast hättest du mich reingelegt.“

Spencer lachte nicht. „Das ist mein voller Ernst“, erwiderte er ruhig. Er hob den Kopf und sah Alain in die Augen. „Ich bitte dich, zu ihr zu fahren. Gemma ist … unerfahren. Sie ist zwar eine ausgezeichnete Anwältin, aber was ihr Privatleben betrifft, ist sie viel zu vertrauensvoll – obwohl sie schon schlechte Erfahrungen gemacht hat, glaubt sie immer noch an das Gute im Menschen.“ Spencer schüttelte den Kopf, als könnte er es nicht glauben. „Bisher habe ich so gut es geht auf sie aufgepasst. Direkt nach der Universität ist sie mit in die Kanzlei eingestiegen. Bevor sie nach London gekommen ist, habe ich alles für sie arrangiert. Ich habe ihr sogar eine Wohnung in dem Haus gekauft, in dem ich selbst wohne, und von meinem Innenarchitekten einrichten lassen.“

„Vielleicht hast du einfach zu viel für sie getan“, warf Alain vorsichtig ein.

„Selbst wenn, wäre das ja wohl kein Grund, gleich alles hinzuschmeißen und einen Reiterhof fernab von jeder Zivilisation zu kaufen. Ich habe Erkundigungen eingezogen. Das Haus ist heruntergekommen, kilometerweit von der nächsten Stadt entfernt, die ganze Anlage ist abgewirtschaftet, und Gemma hat in ihrem ganzen Leben noch keinen Nagel in die Wand geschlagen. Wie stellt sie sich das vor? Wie will sie das Haus renovieren? Gäste bewirten? Sie kann nicht einmal ein Ei kochen.“

Dann wird es Zeit, dass sie es lernt, dachte Alain, aber das sprach er nicht aus.

„Sie ist dort draußen ganz allein. Sie braucht jemanden, der ihr beisteht und hilft“, fügte Spencer hinzu.

„Oder sie braucht einfach etwas Zeit, um selbstständig zu werden. Wenn sie nicht zurechtkommt, wird sie schon von selbst aufgeben. Ich verstehe ja, dass du dir Sorgen um deine kleine Schwester machst, aber sie ist eine erwachsene Frau, und du sagst selbst, dass sie eine brillante Anwältin ist. Denkst du nicht, sie sollte genug gesunden Menschenverstand besitzen, um zu wissen, was sie tut?“

Spencer schüttelte den Kopf. „So sieht es jedenfalls nicht aus. Außerdem – was ist, wenn sie einen Unfall hat oder überfallen wird?“

„Die Camargue gilt als sehr sichere Gegend.“

„Das mag ja sein, aber … seit einigen Wochen erhalte ich Drohbriefe. Die Sache wird von der Polizei untersucht, und sie vermuten, dass einer meiner Klienten dahintersteckt, der sich nicht gut genug von mir vertreten fühlt. Oder aber jemand, den ich hinter Gitter gebracht habe. Die Liste ist endlos. Ich habe Angst, dass derjenige sich an Gemma rächen könnte, um mich zu treffen. Ganz allein auf dem abgelegenen Hof wäre sie ein leichtes Opfer.“

„Dann solltest du einen Bodyguard für deine Schwester engagieren.“

Spencer seufzte. „Denkst du, daran hätte ich nicht schon längst gedacht? Aber du kennst ihren verflixten Stolz nicht! Wenn ich ihr einen Bodyguard schicke, jagt sie ihn ganz bestimmt vom Hof. Sie ist ein bisschen … halsstarrig. Und impulsiv. Dabei aber sehr verletzlich.“

Man könnte es wohl auch verwöhnt nennen, dachte Alain. Oder kompliziert. Er kannte diese Sorte Frau, und er zog es vor, ihr aus dem Weg zu gehen. Er hatte wirklich Wichtigeres zu tun, als sich mit verwöhnten Püppchen herumzuärgern.

„Ich brauche jemanden in Gemmas Nähe, bei dem sie sicher ist“, fuhr Spencer fort. „Jemanden, dem ich hundertprozentig vertrauen kann. Dich.“

„Warum sollte sie ausgerechnet mich – deinen besten Freund – nicht vom Hof jagen?“

Spencer räusperte sich. „Sie würde nicht wissen, wer du bist, oder dass ich irgendetwas mit der Sache zu tun habe.“

„Wie stellst du dir das denn vor?“ Alain hob abwehrend die Hände. „Die Idee ist völlig verrückt.“

„Nein!“, warf Spencer lebhaft ein. „Ich habe schon alles vorbereitet. Ich habe dem Arbeiter, der als Einziger fest auf dem Hof angestellt ist, ein kleines Vermögen dafür geboten, wegen eines angeblichen Krankheitsfalles in der Familie seine Arbeit für einige Wochen aufzugeben. Gemma sucht jetzt händeringend nach einem geeigneten Ersatz, und da kommst du ins Spiel. Du bist perfekt für den Job. Du bist Franzose, kennst das Hotelgewerbe wie kein Zweiter, und du bist im Sattel groß geworden.“ Er maß den Freund mit einem prüfenden Blick. „Seit der Uni hast du kein Gramm zugenommen, und offensichtlich trainierst du immer noch regelmäßig. Es gibt kein Werkzeug, mit dem du nicht umgehen kannst. Und wenn es wirklich hart auf hart kommen sollte, kannst du kämpfen.“

Für einen Moment war es still. Spencer sprach nicht aus, woran beide Männer dachten: Alain konnte kämpfen, wie man es nur auf der Straße lernte.

Er war zwölf gewesen, als sein Vater die Rennpferdezucht der Familie am Spieltisch verloren hatte und mit dem letzten Bargeld spurlos untergetaucht war. Alains Mutter wartete einige Wochen vergeblich auf eine Nachricht von ihrem Mann, dann zog sie mit Alain nach Paris. Das Geld reichte nur für ein winziges Appartement in einem der ärmsten Vororte. Kämpfe von rivalisierenden Gangsterbanden, Schlägereien, Morde und Drogenhandel waren allgegenwärtig. Kurz nach Alains siebzehntem Geburtstag fand er seine Mutter nach einer Überdosis Schlaftabletten tot in der Wohnung.

Danach schlug er sich allein durch. Zum Glück erkannte einer seiner Lehrer Alains außergewöhnliche Begabung und setzte sich für ihn ein. Das Stipendium für Cambridge kam Alain noch heute manchmal wie ein Wunder vor.

Er hatte sich aus dem Elend bis ganz an die Spitze hochgekämpft, mit Mut, Entschlossenheit und seinem Verstand. Ja, er konnte kämpfen.

„Ich habe meine eigene Arbeit. Es steht gerade ein wichtiges Geschäft bevor“, sagte Alain schließlich. „Es tut mir leid, Spencer. Auch wenn ich dir wirklich gern helfen würde – es ist unmöglich.“

„Ich hasse es, eine alte Schuld einzufordern“, sagte sein Freund leise. „Aber du hast mir einmal gesagt, du würdest mir helfen, wenn ich deine Hilfe brauche. Ganz egal, wann oder worum ich dich bitten würde.“

Alain erinnerte sich noch genau an den Tag. Vor mehr als fünf Jahren hatte Spencer ihn bei seiner Scheidung vertreten. Ohne den Freund hätte er damals die Hälfte seines Vermögens verloren und würde vielleicht immer noch für ein Kind zahlen, das nicht seines war.

Damals war er überzeugt gewesen, alles zu wissen und sich längst keine Illusionen mehr zu machen. Dann war er Emily begegnet. In ihren großen babyblauen Augen schienen pure Reinheit und Unschuld zu liegen – Eigenschaften, denen Alain nie zuvor begegnet war. Heute wusste er, dass er sie nicht geliebt hatte, aber Emily hatte ihm für kurze Zeit den Glauben an das Gute im Menschen zurückgegeben. An ihrer Seite hatte er sich selbst wie ein besserer Mensch gefühlt.

Bei der Erinnerung spürte er einen bitteren Geschmack im Mund. Selbst als sie ihn nach kaum einem Jahr Ehe mit ihrem wenige Wochen alten Baby verlassen und um die Scheidung gebeten hatte, hatte er noch die Schuld bei sich gesucht und ihr geglaubt, dass er sie zu sehr vernachlässigt hatte.

Erst Spencer durchschaute ihre perfekte Fassade. Ohne zu zögern, war er bei der Nachricht von der bevorstehenden Scheidung sofort aus London angereist. Er überredete Alain, einen Vaterschaftstest zu verlangen, und bewahrte seinen Freund damit vor Zahlungen in Millionenhöhe. Doch er hatte Alain nicht davor schützen können, auch den letzten Rest seines Glaubens an die Liebe zu verlieren.

„Zwei Wochen“, sagte Alain. „Nicht mehr. Und ich brauche drei Tage, um hier meine Angelegenheiten zu regeln.“

„Zwei Wochen“, stimmte Spencer zu. „Rund um die Uhr.“

Alain schüttelte den Kopf. Er hatte gewusst, dass sein Freund ein überbehütender großer Bruder war, aber nicht, dass er komplett den Verstand verloren hatte. „Das kann nicht dein Ernst sein. Wie stellst du dir das vor? Soll ich vor ihrer Schlafzimmertür übernachten?“

„Du machst das schon. Ich vertraue dir.“

Alain fuhr mit allen zehn Fingern durch sein lockiges schwarzes Haar. Er versuchte, sich darüber klar zu werden, ob eine echte Gefahr bestand. „Hat der Briefschreiber deine Schwester denn schon einmal bedroht?“

„Bisher nicht, aber wenn es um Gemmas Sicherheit geht, gehe ich kein Risiko ein.“

Eine Stimme in Alains Innerem warnte ihn. Er wusste, er sollte Nein sagen. Doch er konnte seinen Freund nicht im Stich lassen. Ganz gleich, was Alain selbst über die Situation dachte – die Not in Spencers Augen war echt.

Er nickte. „Also gut. Zwei Wochen. Rund um die Uhr.“

2. KAPITEL

Zärtlich tätschelte Gemma dem kleinen weißen Pferd den Hals. „Du hast gut gearbeitet, Casper. Was hältst du von etwas Hafer zur Belohnung?“

Als hätte das Pferd ihre Worte verstanden, trottete es langsam zu dem überdachten Unterstand vor den Ställen und blieb vor dem Futtertrog stehen. Gemma lachte auf, ging in den Stall und kam mit einem gefüllten Eimer zurück. Ungestüm stupste Casper die junge Frau mit der weichen Schnauze an, sodass sie fast den Hafer verschüttet hätte.

„Na, kannst du es nicht erwarten?“ Gemma schüttete das Futter in den Trog, und der kleine Hengst begann gierig zu fressen. Hinter ihr wurde dumpfes Hufgeräusch lauter. Kurz darauf tauchte Anouk auf, eine junge Stute, die immer hungrig zu sein schien.

Als Gemma gehört hatte, dass eine fünfzehnköpfige Herde von Camarguepferden zum Anwesen gehörte, war sie begeistert gewesen. Die weißen Wildpferde lebten frei in dem Sumpf- und Seengebiet. Ihr dichtes, struppiges Fell hielt sie auch im tiefsten Winter warm. Doch für die Reitschule waren sie nicht zu gebrauchen.

Noch nicht, sagte sich Gemma. Sie trainierte täglich mit Anouk und Casper. Die beiden waren anhänglicher als der Rest der Herde. Wie Hunde kamen sie angaloppiert, wenn sie nach ihnen pfiff. Aber nur ein geübter Reiter konnte sich auf ihrem Rücken halten. Ein Anfänger würde es nicht einmal in den Sattel schaffen.

„Wo bekomme ich bloß Pferde für die Schule her? Oder Reiter, die mir beim Training der Herde helfen? Von meinem Geld ist jetzt schon nicht mehr viel übrig“, flüsterte Gemma dem weißen Hengst zu, aber dieser interessierte sich nur für den Hafer.

Anouk versuchte, Casper vom Trog zu verdrängen, und schnappte nach ihm. Der kleine Hengst schlug ärgerlich nach ihr aus. Doch sie drängte sich mit aller Kraft gegen ihn und schob ihn zur Seite.

„Anouk!“, rief Gemma. Sie stemmte sich gegen die Stute. Widerwillig wich das Pferd zurück.

Gemma streichelte die beiden noch einmal, dann ging sie zurück zum Haus.

„Modernisiertes Wohnhaus“, murmelte sie, als sie die quietschende Tür aufstieß. „Im Inserat wurde leider nicht erwähnt, dass die letzte Modernisierung mindestens fünfzig Jahre her ist.“

Ihr Verstand sagte ihr, dass sie sich mit dem Kauf übernommen hatte, aber ihr Herz konnte die Entscheidung nicht bereuen. Schon bei ihrem ersten Besuch hatte Gemma sich in das Anwesen verliebt. Von dem eindrucksvollen Portal, das zu beiden Seiten mit hölzernen Pferdeköpfen geschmückt war, wand sich ein Sandweg zwischen Maulbeerbäumen und Pinien zu dem großen weißen Haus. Es lag im Schatten alter Platanen und war rundum von einer Veranda umgeben.

Doch seit ihrem Einzug entdeckte Gemma jeden Tag neue Mängel, und sie begriff voller Entsetzen, wie viel Arbeit – und Kapital – noch nötig waren, um ein Gasthaus daraus zu machen. Aber ich lasse mich nicht unterkriegen, dachte sie und hob das Kinn. Spencer wartete nur darauf, dass sie aufgab und in die Kanzlei zurückkam.

Sie erinnerte sich an sein spöttisches Lachen, als sie ihm von ihrem Plan mit dem Reiterhof erzählt hatte: „Du und ein Gasthaus! Hast du etwa vor, selbst die Bettwäsche zu wechseln? Und das Haus zu putzen?“ Er prustete los. „Wenn du nicht willst, dass die Gäste schon nach dem Frühstück flüchten, solltest du dich am besten nach einer Köchin umsehen.“

Vor einigen Jahren hätte Spencer es wahrscheinlich noch geschafft, sie zu entmutigen. Sie hatte sich selbst nicht mehr zugetraut, als er es tat. Aber jetzt erreichte er mit seinen Worten nur, dass ihre Entschlossenheit wuchs.

Ich bin selbst schuld, dass er mich nicht ernst nimmt, gestand sie sich ehrlich ein. Nach dem Tod der Eltern hatte er sich um sie gekümmert. Er kam zu den Elternabenden in ihrer Schule und war für sie da, wenn sie Trost brauchte. Sie hatte nie versucht, sich gegen ihn aufzulehnen, immer getan, was er für richtig hielt. Kein Wunder, dass er ihren Ausstieg aus der Firma jetzt offenbar für eine Art Verrat hielt.

Gemma liebte ihren Bruder von ganzem Herzen. Aber es war Zeit, endlich für ihre eigenen Träume zu kämpfen – auch wenn der Kampf hart war.

Jeden Abend kam sie fast um vor Müdigkeit. Sie fand gerade noch die Kraft, sich die Stiefel und die verschwitzte Kleidung auszuziehen und zu duschen. Ohne etwas zu essen, fiel sie ins Bett und schlief bis zum Morgengrauen durch.

„Hätte wenigstens Edouard mich nicht im Stich gelassen“, seufzte sie.

Edouard hatte für die früheren Besitzer gearbeitet und war nach dem Verkauf auf dem Hof geblieben. Er musste mindestens sechzig sein und war dünn wie ein Streichholz. Er bewegte sich langsam und bedächtig, doch auf dem Pferderücken wirkte er wie ein junger Mann und es schien keine Arbeit zu geben, der er nicht gewachsen war.

Leider war kurz nach Gemmas Ankunft sein Bruder verunglückt. Natürlich musste Edouard zu ihm fahren und die Familie unterstützen. Gemma hatte nach einem Ersatz für ihn gesucht, aber offenbar war es zu dieser Jahreszeit unmöglich, freie Arbeitskräfte zu finden. Sie hatte alle Handwerker in der Gegend angerufen, hörte aber immer nur: „In den nächsten Monaten haben wir keine Termine frei.“

Sie war zu ihren Nachbarn gefahren, um nach Hilfskräften zu fragen, doch auch dort erhielt sie nur Kopfschütteln zur Antwort. Selbst im Supermarkt und in Gaststätten hatte Gemma Zettel aufgehängt, aber niemand meldete sich bei ihr.

Edouard hatte versprochen, jemanden als Vertretung zu schicken, aber inzwischen rechnete Gemma nicht mehr damit. Sie konnte nur hoffen, dass er bald zurückkam. Was sollte aus ihr werden, wenn sein Bruder ihn für längere Zeit brauchte?

Wenn sie sich umschaute, erschien ihr die Renovierung wie ein unüberwindbarer Berg. Egal, wie sehr sie sich auch bemühte, es kam ihr vor, als würde die Arbeit nicht weniger. In den heruntergekommenen Gästebungalows kam nur braunes Wasser aus den Leitungen, die Sanitäreinrichtungen stammten aus den sechziger Jahren, und die Tapeten hingen in Fetzen von den Wänden.

Sie versuchte, ihre aufsteigende Panik niederzukämpfen. „Ich werde durchhalten. Um jeden Preis!“, murmelte sie.

Gemma überlegte, ob sie als Nächstes die Tapeten in den Bungalows von den Wänden kratzen sollte. Oder war es wichtiger, zuerst die Grenzen des Hofs abzureiten und nachzusehen, ob die Zäune intakt waren? Da es bald dunkel wurde, entschied sie sich für die Tapeten. Gerade als sie eine Leiter aus dem Schuppen über den Hof trug, hörte sie entferntes Motorengeräusch.

Am Horizont färbte sich der wolkenlos blaue Himmel langsam rot. Alain seufzte und rollte seine verkrampften Schultern. Er hatte für die Fahrt zwei Stunden länger gebraucht als erwartet.

In Anbetracht der Umstände hatte er schweren Herzens seinen Sportwagen in der Garage gelassen und den ältesten, meistverbeulten Land Rover gemietet, der in Cannes aufzutreiben war. Abgesehen davon, dass ein tiefergelegtes Cabriolet mit fünfhundertzwanzig Pferdestärken hier in der sumpfigen Gegend vollkommen fehl am Platz wäre, musste er Gemma schließlich glaubwürdig vorspielen, nur ein einfacher Pferdepfleger zu sein.

Seit einer Stunde holperte er jetzt schon über sandige Feldwege, vorbei an struppigem Sumpfgras, endlosen Reihen von Maulbeerbäumen und kleinen Teichen, gesäumt von Primeln und leuchtend blauen Glockenblumen.

Alain bremste, als zwei Schafe über die Straße liefen. Auf seinen Stab gestützt, hob der Hirte grüßend die Hand. Der Rest der schwarz-weißen Herde graste friedlich um ihn herum. Alain erwiderte den Gruß und kurbelte das Fenster herunter, während er darauf wartete, dass die Schafe die Straße freigaben. Durchdringender Salzgeruch erfüllte den Wagen, und in der Ferne konnte Alain das Rauschen des Meeres hören. Ungeduldig trommelte er auf das Lenkrad.

Es kam ihm wie eine Ewigkeit vor, bis er endlich weiterfahren konnte. Endlich tauchte der große, schilfgesäumte Teich auf, an dem er nach Spencers Beschreibung rechts abbiegen sollte. Die spiegelglatte Oberfläche schimmerte metallisch in der Abendsonne.

Gegen seinen Willen war Alain von der Landschaft beeindruckt. So viel Schönheit hatte er nicht erwartet. Als Hotelier erkannte er sofort die Möglichkeiten. Kaum etwas konnte man sich heutzutage so teuer bezahlen lassen wie unverfälschte Idylle und Natur.

Mit dem richtigen Konzept könnte man aus diesem Ort eine Goldgrube machen, dachte er unwillkürlich. Sofort schob er den Gedanken beiseite. Er war nicht hier, um ein Geschäft aufzubauen, sondern um seinem Freund einen Gefallen zu tun. Zwei Wochen, keinen Tag mehr! Danach würde er abreisen und keinen Gedanken mehr an Spencers verzärtelte Schwester und ihre Luxusprobleme verschwenden.

Gemma hob die Leiter von ihrer Schulter und sah mit zusammengekniffenen Augen zu, wie der staubige Geländewagen vor dem Haus hielt. Ein verirrter Urlauber?

Als der Fahrer ausstieg, verwarf sie den Gedanken sofort. Dieser Mann sah weder aus wie ein Tourist, noch wirkte er auf irgendeine Weise verloren. Er bewegte sich auf diese geschmeidige, selbstbewusste Art, die überall die Blicke auf sich zog.

Die ausgebleichten Jeans betonten seine schmalen Hüften, und das schlichte Baumwollhemd konnte den breiten, muskulösen Brustkorb nicht verbergen. Trotz seiner abgetragenen Kleidung und des alten Wagens konnte sie selbst auf die Entfernung seine männliche Kraft und Arroganz spüren. Die Augen waren von einer dunklen Sonnenbrille verdeckt, und das schwarze Haar fiel ihm bis auf den Kragen.

Ärger stieg in ihr auf. Es würde zu Spencer passen, ihr einen Bodyguard auf den Hof zu schicken! „Kann ich Ihnen helfen?“, rief sie dem Fremden auf Französisch zu. Schon als Kind hatte sie in den Ferien die Sprache gelernt, und da Edouard kein Wort Englisch sprach, war ihr Französisch in den wenigen Wochen auf dem Hof fast so fließend geworden, als hätte sie schon immer hier gelebt.

Groß und breitschultrig kam der Fremde auf sie zu, als würde der Hof ihm gehören. Die markanten Linien seines Gesichts wirkten wie gemeißelt, und um seinen Mund lag ein harter Zug. „Sind Sie Gemma Henderson?“

Sie musste ihren Kopf in den Nacken legen, um ihn anzusehen. „Ja.“ Offenbar war er Franzose, aber das bedeutete noch lange nicht, dass Spencer ihn nicht engagiert hatte.

„Dann bin ich hier, um Ihnen zu helfen.“

Ha, habe ich es doch gewusst! dachte sie. Sie öffnete schon den Mund, um ihn von ihrem Grundstück zu jagen, doch dann hielt sie inne. Vielleicht hatte er einen ihrer ausgehängten Zettel gesehen und suchte einen Job. Sie schloss den Mund wieder.

„Mein Name ist Alain … Castel. Ich bin Ihr neuer Helfer.“

„Mein neuer Helfer?“, wiederholte Gemma. „Haben Sie etwa meinen Aushang gesehen?“

„Aushang?“ Er nahm die Brille ab. „Hat Edouard Ihnen denn nicht gesagt, dass ich komme?“

Beim Anblick seiner überraschend blauen Augen setzte zu ihrem Ärger ihr Herz einen Schlag aus. In seinem dunklen Gesicht wirkten sie umso auffallender, fast unpassend, und sie blickten durchdringend, so als würde dieser Mann alles und jeden abschätzen.

„Ich … er hat gesagt, dass er mir Ersatz schicken will.“ Sie räusperte sich. „Aber das war vor einigen Tagen. Inzwischen hatte ich die Hoffnung aufgegeben.“

Der Fremde zuckte mit den Schultern. „Jetzt bin ich hier.“ Er sah sich auf dem Hof um. „Offensichtlich können Sie Hilfe gebrauchen“, stellte er fest.

Unter seinem Blick schoss ihr das Blut in die Wangen. Ihr wurde bewusst, dass ihr ehemals weißes T-Shirt fleckig und an einem Ellbogen zerrissen war. An den Gummistiefeln klebte Pferdemist. Seit Tagen hatte sie kaum mehr als fünf Stunden geschlafen, und sie wusste nicht, wann sie sich zum letzten Mal gekämmt hatte. Morgens band sie ihr Haar einfach im Nacken mit einem Gummiband zusammen.

Aber wieso machte sie sich überhaupt Gedanken über ihr Aussehen? Ärgerlich hob sie das Kinn und hielt seinem Blick stand. Plötzlich stutzte sie. Irgendetwas an diesem Mann kam ihr seltsam bekannt vor. Gleichzeitig war sie sich sicher, dass sie ihm hier im Ort noch nie begegnet war.

Sie runzelte die Stirn. „Sind Sie hier aus der Gegend?“

Er setzte die Sonnenbrille wieder auf. „Nein. Ich komme aus Edouards Heimatort. Er wird noch zwei Wochen bei seinem Bruder bleiben und hat mich gebeten, ihn hier zu vertreten. Ich schuldete ihm einen Gefallen.“

Offenbar sagt er die Wahrheit, dachte Gemma. Woher sonst sollte er von Edouards Bruder wissen? Er hörte sich nicht so an, als wäre er gern gekommen. Doch sie konnte es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Sie brauchte jede Hilfe, die sie bekommen konnte. „Kennen Sie sich mit Klempnerarbeiten aus?“

Ein Lächeln zuckte um seine Lippen und ließ ihn etwas weicher wirken. „Ein bisschen.“

„Dann herzlich willkommen.“ Sie reichte ihm die Hand. „Am besten holen Sie Ihre Tasche aus dem Wagen, und ich zeige Ihnen Ihre Unterkunft.“

Alain hob die Brauen und sah zu den Häuschen am Rande des Hofes hinüber. Der Anstrich blätterte von den Wänden. Eine Tür hing schief in den Angeln, die anderen fehlten ganz.

Gemma folgte seinem Blick. „Nicht dort. Das sind die Gästebungalows, die noch renoviert werden müssen. Sie können in Edouards Hütte wohnen.“ Sie deutete mit dem Kinn über die Felder. In der Ferne war ein Häuschen zu erkennen.

„Das ist zu weit weg“, entfuhr es Alain.

„Wie bitte?“

„Ich meine … ich wohne lieber nah am Arbeitsplatz – um keine Zeit zu verlieren.“

„Tut mir leid, aber die Gästebungalows sind im Moment unbewohnbar.“

„Vielleicht könnte ich ein Zimmer im Haupthaus bekommen“, schlug Alain vor.

Gemma schüttelte den Kopf. „Dort ist erst ein Raum fertig, denn das Haus kann noch warten. Zuerst sind die Gästebungalows an der Reihe.“ Sie sah ihn spöttisch an. „Sie sind jung und kräftig. Sie werden den Weg bis zur Hütte schon schaffen.“

Außer der Haarfarbe hatte diese Frau nichts mit dem mageren Mädchen seiner Erinnerung gemeinsam. Auch nicht mit der verwöhnten Prinzessin in teurer Designerkleidung, die er sich nach Spencers Erzählung vorgestellt hatte.

Ihr helles Haar war im Nacken achtlos zu einem Zopf zusammengebunden. Einige Strähnen hatten sich gelöst und fielen weich in das makellose Gesicht. Ihre Augen leuchteten so grün wie das Schilf der Camargue, der Mund war ungeschminkt und ohne ein Lächeln. Bei Gemmas Händedruck hatte er die Schwielen gespürt, die die harte Arbeit hinterlassen hatte. Normalerweise bevorzugte Alain kurvigere Frauen, doch es fiel ihm schwer, den Blick von Gemmas schlankem Körper abzuwenden.

Sie wirkte so aufrichtig, dass er fast ein schlechtes Gewissen wegen seiner Lügen verspürte. Aber das Aussehen konnte täuschen – wie er nur allzu gut wusste. Er würde sich nicht von ihrem offenen Blick täuschen lassen. „Bitte zeigen Sie mir zuerst das Gelände, bevor es ganz dunkel ist. Ich möchte mir einen Überblick über die notwendigen Arbeiten verschaffen.“

Gemma hob ihr Kinn. Was bildet dieser Mann sich ein? dachte sie ärgerlich. Aus heiterem Himmel tauchte er bei ihr auf, und nach fünf Minuten fing er an, sie herumzukommandieren. Sie öffnete schon den Mund, um ihn in seine Schranken zu weisen, doch dann ballte sie nur die Fäuste und nickte.

„Gut, kommen Sie mit!“ Sie brauchte diesen Mann. Ein guter Handwerker war wichtiger als ihr Stolz. „Fangen wir am besten bei den Gästebungalows an.“ Sie ging über den gepflasterten Hof auf die kleinen Häuschen zu. „Die früheren Besitzer haben die Bungalows an Gäste vermietet. Allerdings haben sie den Ferienbetrieb aufgegeben, als sie älter wurden. Alles muss von Grund auf modernisiert werden.“

Alain sah sich prüfend um und hob die Brauen. „Haben Sie das Anwesen wenigstens günstig bekommen?“

„Schön wär’s. Ganz im Gegenteil. Der Preis war viel zu hoch, aber die Besitzer haben nicht mit sich handeln lassen. Keinen Cent sind sie mit ihrem Preis heruntergegangen. Der Makler hat mir erzählt, dass es noch einen anderen Interessenten gab, dem nur wenig zur Kaufsumme fehlte. Er hat monatelang versucht, den Hof zu bekommen, aber die Besitzerin ist hart geblieben. Sie wollte lieber warten, als mit dem Preis herunterzugehen.“

Alain lachte spöttisch auf. „Das sagen die Makler immer, und es gibt immer wieder Leute, die darauf reinfallen.“

„Nein, hier lag wirklich ein konkretes Angebot vor. Edouard hat mir auch erzählt, dass jemand aus dem Ort das Anwesen kaufen wollte.“ Gemma ärgerte sich sofort über ihren verteidigenden Tonfall. Sie hatte es überhaupt nicht nötig, sich vor ihm zu rechtfertigen.

„Immerhin hat der Hof eine Menge Potenzial“, sagte Alain unverbindlich.

Gemma wandte sich zu ihm um, und zum ersten Mal lag ein Lächeln in ihren Augen. „Ja, nicht wahr? Das denke ich auch. Ich will keinen Zirkus aus dem Hof machen, wo die Gäste in Cowboykleidung auf den Pferden herumjohlen, sondern Urlauber ansprechen, die Ruhe und unberührte Natur suchen.“

Alain nickte zustimmend. Er sah zum See hinüber, als eine Schar Reiher am Ufer landete. Ihr Gefieder schimmerte weiß in der Abendsonne. „Wenn es hier etwas gibt, dann Ruhe und Natur.“

Für einen Moment beneidete er Gemma fast um dieses bezaubernde Fleckchen Erde. Dann schüttelte er das alberne Gefühl ab. Er brauchte die Großstadt, die vielen Menschen, die Schnelllebigkeit, die pulsierende Energie.

Schon lange hatte er nicht mehr an seine Kindheit auf dem Gestüt in der Provence gedacht. Er hatte vergessen, wie es war, kilometerweit zu fahren, ohne ein Haus oder einen Menschen zu sehen und kein Geräusch außer dem Meeresrauschen zu hören. Die Ruhe und der Frieden berührten etwas tief in seinem Inneren.

„Haben Sie noch keine Pferde?“, fragte er, um sich abzulenken, und sah zu den leeren Ställen hinüber.

„Oh doch! Sogar fünfzehn Stück. Echte Camarguepferde. Allerdings leben sie draußen und sind noch nicht zugeritten.“ Gemma seufzte. „Manchmal denke ich, die ganze Arbeit ist kaum zu schaffen. Aber jetzt sind Sie ja da.“

Wieder versetzte sein schlechtes Gewissen Alain einen Stich. „Wie viele Arbeiter haben Sie?“

Gemma sah ihn verwirrt an. „Welche Arbeiter?“

Alain deutete mit einer weiten Bewegung um sich. „Die Handwerker und die Helfer mit den Pferden“, erklärte er.

Sie schüttelte den Kopf. „Hat Edouard Ihnen nichts gesagt?“

„Was gesagt?“

„Es gibt keine anderen. Nur uns zwei.“

Das konnte nicht ihr Ernst sein. „Heißt das, Sie machen alles hier allein?“, fragte er ungläubig.

„Ja. Jedenfalls, seitdem Edouard nicht mehr hier ist. Merkwürdig, dass er Ihnen nichts davon erzählt hat. Vielleicht dachte er ja, dass Sie den Job dann nicht annehmen würden.“ Gemma lächelte schwach.

„Warum haben Sie denn nicht mehr Leute engagiert?“ Er biss sich auf die Lippen. Wahrscheinlich hatte sie kein Geld mehr übrig und war zu stolz, Spencer um Hilfe zu bitten.

„Ich habe es ja versucht, aber alle Handwerker in der Gegend sind auf Monate hin ausgebucht. Ich kann keine Pferdetrainer bekommen, nicht einmal jemanden, der ein bisschen streicht und tapeziert. Heute wollte ich die Tapeten …“

Den Rest ihrer Worte hörte Alain nicht mehr, da er an ihr vorbei in den ersten der Bungalows trat. Spencer hatte nicht übertrieben. Das Innere war eine Ruine. Ein bisschen Streichen und Tapezieren würden nicht ausreichen. Kein Wunder, dass Spencer so besorgt um seine kleine Schwester war. Selbst ohne Drohbriefschreiber steckte das Mädchen in echten Schwierigkeiten.

„Sieht es im Haupthaus genauso aus?“, fragte er.

„Nein, dort ist es längst nicht so schlimm. Die Häuschen hier wurden jahrelang nicht bewohnt …“ Sie sah ihn hoffnungsvoll an. „Was meinen Sie, wie lange werden wir brauchen?“

Jedenfalls länger als zwei Wochen, dachte Alain. Zwei Monate, wenn wir Handwerker hätten. Mindestens. Die Holzplanken auf dem Boden waren aus Eichenholz. Einen Teil des Bodens würde man abschleifen können, aber einige Planken hatten sich gelöst und mussten erneuert werden. Die Wände brauchten frischen Putz, und das Mobiliar musste teilweise ersetzt werden. Mit jedem Blick wurde die Liste der Arbeiten länger.

Alain ertappte sich dabei, wie er Pläne für die Renovierung machte. Im Kopf überschlug er schon die Kosten. Warum denke ich überhaupt darüber nach? fragte er sich. Wenn die zwei Wochen um waren, gingen Gemmas Probleme ihn nichts mehr an. Und Spencer wäre bestimmt begeistert, wenn sie bald aufgeben und in ihr altes Leben zurückkehren würde.

Er erinnerte sich an sein erstes Hotel. Damals hatte er billig ein verfallenes Haus am Strand erstanden. Es war in einem schlimmeren Zustand als Gemmas Hof gewesen, und er hatte es mit seinen eigenen Händen wieder aufgebaut. Nach der Renovierung hatte er es mit einem riesigen Gewinn weiterverkaufen können. Das Geld war der Grundstein für sein Vermögen gewesen.

Ärgerlich schüttelte er die Gedanken ab. Er würde hier gar nichts aufbauen! Gemma ging ihn überhaupt nichts an! Er tat seinem Freund einen Gefallen, das war alles.

„Haben Sie genug gesehen?“, unterbrach Gemma seine Grübeleien.

„Ich muss es mir morgen im Hellen ansehen“, erwiderte er ausweichend.

„Dann zeige ich Ihnen jetzt Ihr Quartier. Ich habe heute noch tausend Sachen zu tun.“

Eher eine Million, dachte Alain, aber er nickte nur und folgte ihr.

Edouards Hütte lag einige hundert Meter entfernt vom Haupthaus. Das niedrige, strohgedeckte Häuschen leuchtete weiß vor dem violetten Abendhimmel. Es stand ein wenig schief und schien sich in die Erde zu ducken, als wollte es den für die Camargue typischen Stürmen besser standhalten.

„Es ist sehr einfach“, sagte Gemma in entschuldigendem Tonfall und stieß die Tür auf.

Alain folgte ihr in einen großen Raum, der gleichzeitig Küche, Wohn- und Schlafzimmer war. Erfolglos suchte er nach dem Lichtschalter. Gemma ging zu dem schweren Tisch, an dem zwei Stühle aus Olivenholz standen, und entzündete eine Petroleumlampe.

Alain runzelte die Stirn. „Hat die Hütte keinen Strom?“

„Nein, tut mir leid. Ich hoffe, es stört Sie nicht.“

Alain unterdrückte einen Fluch und malte sich aus, wie er sich an Spencer rächen würde. Immerhin hatte das Waschbecken einen Wasserhahn. Also gab es wohl wenigstens fließendes Wasser.

„Warmes Wasser gibt es nicht“, sagte Gemma, als hätte sie seine Gedanken erraten. „Auch keine Dusche, aber Sie können sich Wasser im Kessel erwärmen.“

Und das WC ist wahrscheinlich ein Plumpsklo, dachte Alain. „Kein Problem“, sagte er laut. „Ich kann ja Feuer machen.“ Er sah zu dem großen offenen Kamin, neben dem ein Holzstapel aufgetürmt war.

Gemma folgte seinem Blick und lachte. „Auf dem Gasherd ist es einfacher. Edouard und ich haben in den zwei Wochen nach meiner Ankunft die Arbeit zwischen uns aufgeteilt. Ich habe mich um den Garten und das Zureiten der Pferde gekümmert und versucht, das Haus einigermaßen bewohnbar zu machen. Er hat mit den Gästebungalows begonnen. Das Mittagessen hat er mit mir im Haupthaus eingenommen. Ich weiß nicht, wie Sie es halten möchten.“

Bei der Vorstellung, wie sie sich beim Essen in der Küche gegenübersitzen würden, bereute sie plötzlich ihr Angebot. Mit Edouard hatte sie während der Mahlzeiten über die Arbeit gesprochen. Manchmal hatte er ihr Geschichten über die Leute aus der Gegend erzählt. Sie hatte sich in seiner Gegenwart wohlgefühlt. Doch bei dem Gedanken, für Alain zu kochen, flatterte ihr Herz wie ein ganzer Vogelschwarm.

„Gibt es keinen Supermarkt in der Nähe?“, fragte Alain. Kaum etwas reizte ihn weniger als Gemmas mangelnde Kochkünste oder Gespräche über ihre Probleme. Andererseits hatte er Spencer versprochen, sich so viel wie möglich in ihrer Nähe aufzuhalten. Er zuckte mit den Schultern. „Egal. Halten wir es ruhig so, wie Sie es mit Edouard getan haben.“

Fieberhaft suchte sie nach einer Ausrede, um den gemeinsamen Mahlzeiten doch noch zu entgehen, als ein Klingeln aus ihrer Hosentasche ertönte. Sie brauchte die Nummer auf dem Display nicht zu sehen, um zu wissen, wer anrief. Spencer besaß seinen eigenen Klingelton. Gemma zog das Telefon heraus, drückte den Anruf weg und seufzte. „Mein Bruder. Er ruft mindestens zweimal am Tag an, um mich zu fragen, wann ich endlich diesen Wahnsinn aufgebe und zurück nach London komme.“

„Nach allem, was ich hier gesehen habe, hört sich das nur vernünftig an.“

Gemma presste die Lippen zusammen. „Mit vernünftig hat das gar nichts zu tun. Er will einfach nicht, dass ich etwas Eigenes unternehme, vor allem nicht, wenn es so weit von London entfernt ist. Er ist sehr … fürsorglich, aber … ich will Sie nicht mit unseren Familienproblemen langweilen“, unterbrach sie sich. Ihre Wangen röteten sich. Das Handy klingelte wieder. Gemma verdrehte die Augen. „Hatte ich schon erwähnt, dass er auch sehr hartnäckig ist? Ich nehme das Gespräch besser an, sonst gibt er sowieso keine Ruhe.“ Sie deutete auf einen grob gezimmerten Schrank neben dem schmalen Bett. „Dort finden Sie Bettwäsche und Handtücher. Wenn Sie noch etwas brauchen, sagen Sie mir einfach Bescheid.“

Sie hob verabschiedend die Hand, verließ das Häuschen und zog die Tür hinter sich zu.

„Hallo, großer Bruder“, hörte Alain ihre sich entfernende Stimme. „Oder sollte ich besser große Nervensäge sagen?“

3. KAPITEL

Am nächsten Morgen weckten Alain die Schreie der Wildenten. Ruhelos drehte und wendete er sich in seinem Bett hin und her und versuchte erfolglos, wieder einzuschlafen. Schließlich warf er die Decke zurück und setzte sich auf. Er tastete auf dem Hocker, der als Nachttisch diente, nach dem Schalter der Lampe, dann fiel ihm ein, dass es kein elektrisches Licht in der Hütte gab.

Er stöhnte auf, griff nach der Streichholzschachtel und zündete die Petroleumlampe an. Der flackernde gelbe Lichtschein erhellte spärlich den Raum und zeigte das eiserne Bettgestell und das einfache Mobiliar.

„Womit habe ich das verdient?“, murmelte er. Sehnsüchtig dachte er an sein eigenes bequemes Bett, die luxuriöse Dusche und seine Hightech-Espressomaschine.

Wenigstens floss das Wasser kalt und klar aus dem Hahn. Alain hielt den Kopf unter den Strahl, dann trocknete er sich mit einem rauen Handtuch ab und rasierte sich vor dem kleinen halbblinden Spiegel.

Da an Schlaf nicht mehr zu denken war, beschloss er, die Zeit vor Sonnenaufgang zu nutzen und sich mit dem Anwesen vertraut zu machen. Als er die Tür öffnete, wehte eine frische, nach Salz duftende Brise vom Meer herüber und brachte das Rauschen der Brandung mit sich. Der immer noch dunkle Himmel erhellte sich am Horizont, und am Ufer des Sees zogen einige Wildpferde auf der Suche nach frischem Grün durch das hohe Schilf.

Gerade als Alain die Tür hinter sich schließen wollte, entdeckte er einen Korb mit Lebensmitteln auf der Bank vor dem Haus. Soll das eine Aufforderung sein, nicht zum Essen im Haupthaus zu erscheinen? fragte er sich. Doch so reizvoll er den Gedanken auch fand, in Ruhe und Frieden allein zu frühstücken, musste er seine Pflicht tun.

Er schloss die Tür hinter sich und begann mit dem Rundgang. Sein erster Eindruck war richtig gewesen. Das Anwesen besaß eine Menge Potenzial. Zwar hatte auch das Haupthaus einige Renovierungen und einen neuen Anstrich nötig, aber es war in einer viel besseren Verfassung als die Gästebungalows.

Geräuschlos näherte Alain sich der Haustür und inspizierte das alte, rostige Türschloss. Das hält sicher niemanden davon ab, ins Haus zu gelangen, stellte er fest. Er würde Gemma heute vorschlagen, ein neues einzubauen. Ob sie überhaupt abgeschlossen hatte?

Er streckte die Hand aus und drückte langsam die Klinke hinunter, als sich die Tür schwungvoll öffnete und ihm den Griff aus der Hand riss. Vor ihm stand Gemma und starrte ihn entsetzt an.

„Was … warum schleichen Sie hier im Dunkeln vor meiner Tür herum?“, brachte sie heraus.

Alain trat einen Schritt zurück. „Ich habe versucht, leise zu sein, damit ich Sie nicht wecke. Ich … in der Hütte habe ich keinen Kaffee gefunden. Ich wollte … nachsehen, ob Sie eine Kaffeemaschine haben.“

Gemma wirkte nicht überzeugt. „Um diese Uhrzeit? Es ist gerade mal halb sechs!“

Alain zuckte mit den Schultern. „Es gibt viel zu tun, man muss früh anfangen.“

Sie betrachtete ihn noch einen Moment, dann trat sie zur Seite. „Kommen Sie rein, der Kaffee ist noch heiß.“

Er folgte ihr in die Küche. Beeindruckt sah er sich um. „Ein wunderschöner Raum“, stellte er fest.

Die Wände waren frisch gestrichen, und alles blitzte vor Sauberkeit. Neben dem antiken eisernen Holzofen stand ein moderner Edelstahlherd und wirkte überraschend harmonisch. Vor dem Fenster hingen polierte Kupfertöpfe und Pfannen. Holzstühle mit bunten Kissen waren um den großen alten Tisch gruppiert.

Gemma lächelte stolz und tippte mit einer Fußspitze auf die Fliesen. „Das Schwierigste war der Boden“, erklärte sie. „Er war ganz uneben, und ein Teil der Fliesen war zersprungen, aber ich habe ganz ähnliche gefunden. Ich finde, es fällt kaum auf.“

„Edouard hat hervorragende Arbeit geleistet.“

„Die Küche habe ich allein renoviert.“

„Was? Ich dachte, Sie wären Anwältin und kein Handwerker.“

Sie zuckte mit den Schultern. „So schwer war es nicht. Ich habe ein Buch gekauft.“

Ein Buch gekauft! Er schüttelte den Kopf.

Gemma runzelte die Stirn. „Woher wissen Sie, dass ich Anwältin bin?“

Alain erstarrte. Wie hatte ihm so ein dummer Fehler unterlaufen können? „Von Edouard.“ Er konnte nur hoffen, dass sie diesem davon erzählt hatte. „Aber er hat mir nicht gesagt, wie geschickt Sie mit Werkzeug umgehen können“, versuchte er, sie abzulenken.

Gemma sah ihn aus schmalen Augen an, dann entspannte sich ihre Miene.

„Wieso sind Sie denn schon so früh wach?“, wechselte Alain rasch das Thema.

„Früh?“ Gemma lachte leise auf. „Ich habe heute Morgen schon die Böden im ganzen Haus poliert.“

„Heute Morgen?“ Er hob eine Braue. „Wann sind Sie denn aufgestanden?“

„Gegen vier, denke ich.“ Sie zuckte mit den Schultern und sah ihn an. „Das ist der Vorteil von Schlaflosigkeit: Man bekommt mehr geschafft.“

Ihr Tonfall klang scherzhaft, doch Alain konnte sehen, dass sie es ernst meinte. Für einen Moment lenkten ihn die goldenen Pünktchen in ihren Augen ab. Wie Sonnenlicht, das auf dem Wasser tanzt, ging ihm durch den Kopf.

Erst als ihre Wangen sich röteten, merkte er, dass er sie angestarrt hatte. Hastig wandte er sich ab. „Wo finde ich die Tassen?“

„Oben rechts im Schrank. Bitte geben Sie mir auch eine. Mögen Sie Eier mit Speck?“

Gemma beobachtete aus dem Augenwinkel, wie er sich durch ihre Küche bewegte. Was tue ich hier überhaupt? fragte sie sich. Wieso hatte sie angeboten, ihm Frühstück zu machen? Sie kannte diesen Mann kaum ein paar Stunden. Er war hier, um für sie zu arbeiten, und stattdessen bewirtete sie ihn.

Sie zündete eine Flamme auf dem Gasherd an. „Haben Sie den Korb mit den Lebensmitteln vor Ihrer Hütte gefunden?“

„Ja. Vielen Dank.“ Er füllte die Tassen mit Kaffee. „Milch? Zucker?“

„Nein, danke. Ich dachte, Sie würden vielleicht gern in Ihrem Bungalow frühstücken.“

„Wäre Ihnen das lieber?“ Er wandte sich zu ihr um. „Bitte entschuldigen Sie. Ich wollte nicht aufdringlich sein. Ich dachte nur …“

Hastig schüttelte sie den Kopf. „Nein, kein Problem. Ich hatte Ihnen ja angeboten, meine Küche mit zu benutzen.“

Bei seinem Lächeln stockte ihr der Atem. „Vielen Dank“, erwiderte er. „Es geht doch nichts über einen guten Kaffee am Morgen.“ Er lehnte sich mit der Hüfte gegen die Arbeitsplatte und verschränkte die Arme. Es war nicht zu übersehen, wie muskulös sein Oberkörper war. „Aber Sie brauchen nicht für mich zu kochen.“ Vor allem nicht, wenn sie nach Spencers Worten nicht einmal ein Ei kochen konnte.

„Ich koche nicht für Sie, ich brate nur ein paar Eier!“, gab Gemma zurück. „Außerdem wollte ich selbst gerade frühstücken.“ Für einen Augenblick kam es ihr vor, als wäre es ganz selbstverständlich für ihn, dass andere für ihn arbeiteten.

Sie schüttelte den Kopf über den albernen Gedanken. Warum würde er dann hier für sie auf dem Hof arbeiten und in der kargen Hütte wohnen? Und doch … Alain Castel wirkte ganz und gar nicht wie ein einfacher Saisonarbeiter. Auch wenn sein Auto aussah, als hätte er es vom Schrottplatz geholt, war seine Kleidung zwar abgetragen, sah aber teuer aus.

Gemma biss sich auf die Unterlippe, um ein Grinsen zu unterdrücken. Das lag bestimmt nur an seinem perfekten Körperbau. Sie ertappte sich dabei, wie sie ihn von oben bis unten betrachtete, und spürte, wie ihr das Blut in die Wangen stieg.

Abrupt wandte sie ihm den Rücken zu und versuchte, sich wieder auf das Frühstück zu konzentrieren. „Wir haben noch gar nicht über Ihren Lohn gesprochen …“

Skeptisch sah Alain zu, wie sie die Eier aufschlug. Einige Schalen fielen in die Schüssel. Sie fischte sie mit den Fingerspitzen wieder heraus, dann verquirlte sie energisch die Eier.

Die Frauen, mit denen er sonst zu tun hatte, standen nicht am Herd, sie gingen in teure Restaurants. Und auch dort schoben sie ihr Essen nur auf dem Teller hin und her. Speck würden sie in ihrem ganzen Leben nicht anrühren.

Doch Gemma war anders als die Frauen, die er normalerweise kennenlernte. Ganz anders, als er erwartet hatte. Sie besaß die Art von Schönheit, die in jedem Alter jung wirkte. Ihr herzförmiges Gesicht wurde von den riesigen grünen Augen beherrscht. Sein Blick blieb an ihrem atemberaubenden Mund hängen.

Unwillkürlich stellte er sich vor, wie weich sich ihre vollen rosafarbenen Lippen bei einem Kuss anfühlen würden. Hastig verdrängte er den Gedanken, aber sein Körper hatte schon auf die Vorstellung reagiert.

Ärgerlich rief er sich zur Ordnung. Solche Gefühle hatte er seit seinen Teenagertagen hinter sich gelassen! Und vor allem war Gemma die kleine Schwester seines Freundes – die letzte Frau auf der Welt, mit der er eine Affäre anfangen würde! Aber er konnte sich nicht erinnern, wann sein Körper jemals so heftig auf eine Frau reagiert hatte.

Alain räusperte sich. „Ich bekomme dasselbe, was Sie Edouard gezahlt haben“, antwortete er.

Er hatte nicht die geringste Idee, wie viel das gewesen sein mochte, und es interessierte ihn auch nicht, aber er konnte wohl kaum anbieten, umsonst zu arbeiten.

Gemma nahm die gebratenen Speckscheiben aus der Pfanne und legte sie auf zwei Teller, dann verteilte sie das Rührei. „Besteck ist in der Schublade“, teilte sie ihm mit. Er sollte bloß nicht denken, dass sie ihn bediente.

Alain betrachtete misstrauisch das Essen. „Gibt es auch Brot und Butter?“ Das würde wahrscheinlich das einzig Genießbare an dieser Mahlzeit sein.

„Das Brot steht auf dem Schrank, Butter ist im Kühlschrank.“ Gemma setzte sich ihm gegenüber an den Tisch. Plötzlich fühlte sie sich seltsam gehemmt. Wie ein Ehepaar am Frühstückstisch, ging ihr durch den Kopf. Sofort errötete sie über ihren dummen Gedanken.

Die Mahlzeiten gemeinsam mit Edouard einzunehmen, war so unbefangen und selbstverständlich gewesen. Doch heute kam ihr die große Küche viel zu klein vor.

Sie sah zu, wie Alain seine Gabel mit Speck und Ei belud und in den Mund schob. Schon wieder stieg ihr das Blut in die Wangen. Rasch wandte sie den Blick ab und zwang sich, selbst einen Bissen zu essen, obwohl ihr Magen sich anfühlte, als wäre sie in ein Luftloch gefallen.

„Leben Sie in Chambery?“, fragte sie, um die Stille zu durchbrechen.

„Chambery?“ Alain runzelte die Stirn.

„Ich dachte, Sie kennen Edouard aus seinem Heimatort.“

„Ja … ja, natürlich, Chambery.“ Er nickte.

„Ein Glück, dass Sie gerade Zeit haben, um für Edouard einzuspringen.“ Und seltsam, dachte sie. Sie konnte sich nur schwer vorstellen, dass Alain zu Hause saß und auf einen Job wartete.

Er nahm sich eine Scheibe Brot und bestrich sie mit Butter. Zu seiner Überraschung schmeckte das Rührei gar nicht mal schlecht. „Ich schuldete ihm einen Gefallen.“

„Heißt das, Sie haben einen Job?“, platzte sie heraus.

Er nickte wieder. „Das kann man so sagen. Ich … bin selbstständig.“

„Als was?“

Er hob den Blick. Als sie in seine blauen Augen sah, setzte ihr Herz einen Schlag aus. „Dies und das. Im Moment arbeite ich an einem Hotel“, erwiderte er nach einem kurzen Zögern. „Aber ich konnte mir eine Auszeit nehmen, um meinem alten Freund zu helfen. Möchten Sie sonst noch etwas über mich wissen?“

Sie errötete. „Ich wollte nicht neugierig sein.“

„Kein Problem, Sie sollten Fremden sogar Fragen stellen“, sagte er eindringlich. „Woher wollen Sie wissen, dass ich kein Betrüger oder ein wahnsinniger Mörder bin?“

Gemma spürte, wie ein Schauer über ihren Rücken lief, und richtete sich auf. Sie schob ihren Teller zurück. „Das glaube ich nicht. Und ehrlich gesagt, ist es mir ganz egal, wer oder was Sie sind, solange Sie nur gute Arbeit leisten.“

Alain wischte mit dem Brot die letzten Krümel von seinem Teller und stand auf. „Das werde ich tun, Mademoiselle Henderson.“

„Dann sind wir uns einig! Und nennen Sie mich Gemma.“

Alain öffnete gerade die quietschende Tür zu einem der Bungalows, als sein Handy klingelte. Er zog das Smartphone aus der Hosentasche und sah auf den kleinen Bildschirm. Spencer. Er seufzte, trat einen Schritt ins Haus – und brach mit dem Fuß durch eine Holzdiele. Leise fluchend befreite er den Fuß, schüttelte die Holzspäne ab und nahm das Gespräch an.

„Kannst du reden?“, fragte Spencer.

„Ja, ich bin allein.“

„Wo ist meine Schwester?“

„Ist das ein Kontrollanruf?“, gab Alain zurück. „Es geht ihr gut, falls du das wissen wolltest.“

Spencer seufzte. „Ich habe gerade Nachricht von der Polizei bekommen. Sie verdächtigen einen Mann, die Drohbriefe geschrieben zu haben, aber er ist nicht aufzufinden. Man kann nicht ausschließen, dass er die Stadt verlassen hat.“

„Hier ist er jedenfalls nicht“, erwiderte Alain. „Alles ist ruhig.“

„Wie kannst du dir sicher sein, wenn du nicht weißt, wo Gemma ist?“

„Ich kann ihr doch nicht ständig hinterherlaufen, Spencer.“ Alain spürte, wie er ärgerlich wurde. „Es gibt einen Unterschied zwischen Aufpassen und Spionieren.“ Er schaute aus dem gesprungenen Fenster und sah, wie Gemma mit einem vollen Wäschekorb auf der Hüfte über den Hof ging. „Aber du kannst ganz beruhigt sein. Sie hängt gerade vor meinen Augen die Wäsche auf.“

Die Sonne zauberte goldene Lichter auf Gemmas honigblondes Haar. Als sie sich graziös bückte, um ein Handtuch aus dem Korb zu nehmen, beschleunigte sich Alains Herzschlag. Hastig drehte er dem Fenster den Rücken zu. „Keine Sorge, Spencer. Ich passe gut auf deine Schwester auf.“ Er bemerkte, wie rau seine Stimme klang, und räusperte sich.

„Wohnst du bei ihr im Haus?“

„Nein, sie hat mich in einer Hütte auf dem Gelände einquartiert, zehn Minuten entfernt. Ich wollte sie nicht zu sehr drängen, mich im Haupthaus aufzunehmen. Wenn sie Verdacht schöpft, schmeißt sie mich garantiert sofort raus, aber ich habe schon einen Plan.“

„Und was hältst du von dem Hof? Ist es wirklich so schlimm?“, fragte Spencer nach einer kleinen Pause.

„Schlimmer. Vor allem die Gästebungalows sind völlig heruntergekommen.“

„Also keine Chance für Gemma, das Ganze zum Laufen zu bringen?“

„Es hat ihr jedenfalls nicht geholfen, dass du ihre einzige Arbeitskraft weggelockt hast. Hast du vielleicht auch etwas damit zu tun, dass niemand hier in der Gegend für sie arbeiten will?“

„Wofür hältst du mich?“ Spencer klang ehrlich empört. „Ich will sie doch nicht sabotieren! Aber ich hoffe, sie sieht bald ein, dass sie sich zu viel aufgeladen hat. Es wird Zeit, dass sie aufgibt und endlich nach Hause kommt.“

Alain wandte sich wieder zum Fenster und sah Gemma zu, wie sie mit schwungvollen Bewegungen ein großes weißes Laken über die Leine warf und feststeckte. „Da würde ich mir nicht zu große Hoffnungen machen, Spencer.“

Während Gemma die Tomatensoße umrührte, lauschte sie dem rhythmischen Hämmern. Zum Abendessen hatte sie Spaghetti gekocht – eins der wenigen Gerichte, die sie beherrschte. Es ging nicht nur schnell, sie ertappte sich auch dabei, dass sie sich vor Alain nicht blamieren wollte.

Sie hatte genau gesehen, wie geringschätzig er gestern die Gästehäuser und seine kleine Hütte betrachtet hatte. Nicht, dass sie es ihm übelnehmen konnte. Immerhin arbeitete er seit dem frühen Morgen ohne Pause durch. Er hatte bereits in einem der Bungalows Holzplanken herausgerissen und zusammen mit den alten Möbeln entsorgt, die Tapeten entfernt und im Ort neue Dielen für die Böden gekauft.

Als das Hämmern stoppte, spähte sie hinaus. Er hatte mit den Fenstern begonnen und war gerade dabei, eine neue Glasscheibe einzusetzen. Vielleicht ist er kein besonders liebenswürdiger Mann, aber er arbeitet für zwei, dachte sie.

Zum ersten Mal seit Edouards Abreise spürte sie wieder neue Hoffnung. Wenn es in dem Tempo mit der Arbeit weiterging, würde sie vielleicht noch in diesem Sommer Gäste aufnehmen können.

Sie zuckte zusammen, als ein lautes Zischen vom Herd ertönte. Die Spaghetti! Gemma schüttete die Nudeln ab, mischte sie mit der Tomatensoße und rieb den Käse. Es wurde Zeit, Alain zu holen. Seltsam widerstrebend trocknete sie ihre Hände ab und ging hinaus.

Sie hatte Schwerverbrecher verteidigt und flammende Reden vor Jurys gehalten, doch unter dem Blick von Alains blauen Augen löste sich ihre Selbstsicherheit in Rauch auf.

Als sie noch einige Schritte von ihm entfernt war, blieb sie stehen. Was hatte dieser Mann nur an sich? Lag es allein an seinem atemberaubend guten Aussehen, dass schon sein bloßer Anblick ihre Haut prickeln ließ? Sie fühlte sich, als würde in seiner Gegenwart ihr Gehirn aussetzen. Dabei hatte sie nicht einmal eine Schwäche für arrogante Machos!

Gemma schluckte. Bestimmt geht es jeder Frau so mit ihm, tröstete sie sich. Die ausgewaschenen Jeans betonten seine langen muskulösen Beine, und unter dem T-Shirt zeichneten sich bei jeder Bewegung die Muskeln ab. Aber Alains überwältigende erotische Ausstrahlung hatte nichts mit seiner Kleidung zu tun, sondern nur mit dem Mann selbst.

Als hätte er ihren Blick gespürt, drehte er sich zu ihr um – und ertappte Gemma dabei, wie sie ihn anstarrte. Wie zur Antwort ließ er seine von langen Wimpern umschatteten Augen langsam von ihren Zehen bis zu ihrem Gesicht gleiten. Als sich ihre Blicke trafen, schien für den Bruchteil einer Sekunde ein seltsames Feuer in seinen Augen aufzulodern. Doch bevor sie sicher sein konnte, dass sie es sich nicht nur eingebildet hatte, war es schon wieder verschwunden.

Ihr Körper glühte, ihre Knie zitterten, aber Gemma versuchte, sich nichts anmerken zu lassen. „Das Essen ist fertig“, teilte sie ihm so gelassen wie möglich mit.

Alain nickte. „Ich brauche hier noch ein paar Minuten, dann komme ich. Sie brauchen nicht auf mich zu warten. Lassen Sie einfach alles stehen, ich nehme mir später selbst“, teilte er ihr mit. Auf diese Weise hatte er auch später am Abend noch einen Vorwand, im Haus nach dem Rechten zu sehen. „Am Wochenende möchte ich umziehen. Bis dahin muss ich noch einiges schaffen.“

Gemma suchte nach Worten. Was bildete er sich ein, sie herumzukommandieren? „Wo wollen Sie denn hinziehen?“, war jedoch alles, was ihr einfiel.

„Hier in diesen Bungalow.“ Er wandte ihr erneut den Rücken zu und griff nach dem Hammer.

„Was halten Sie davon, Ihre Entscheidungen mit mir abzusprechen?“, gab sie spitz zurück.

Langsam drehte er sich wieder zu ihr um. „Wäre es Ihnen recht, wenn ich in den Bungalow umziehe, Mademoiselle Henderson?“, fragte er mit kaum unterdrücktem Spott.

Gemma schüttelte den Kopf. „Machen Sie Witze? Das Haus ist nicht fertig. Es gibt keine Möbel, keine Fenster, und die Wände …“

„Glauben Sie mir, ich habe schon unter schlimmeren Umständen gehaust.“ Er brach abrupt ab. Je weniger sie über ihn wusste, desto besser. „Die Fenster mache ich heute Abend noch fertig“, fuhr er fort. „Morgen werde ich neue Wasserleitungen verlegen und verputzen und übermorgen die Wände streichen. Im Bungalow habe ich wenigstens Strom. Außerdem geht die Arbeit noch schneller voran, wenn ich direkt auf der Baustelle wohne.“

Am liebsten hätte Gemma abgelehnt. Der Gedanke, Alain Tag und Nacht in ihrer Nähe zu haben, machte ihr Angst. Schon jetzt schlich er sich viel zu oft in ihre Gedanken, ganz egal, was sie gerade tat.

Aber was macht es schon für einen Unterschied, wo er schläft? fragte sie sich vernünftig. In zwei Wochen würde er wieder abreisen, und bis dahin musste er so viel Arbeit wie möglich schaffen.

Sie zuckte mit den Schultern. „Wenn es Ihnen so lieber ist …“, murmelte sie. „Das Essen steht in der Küche.“

4. KAPITEL

Gemma zog sich die Decke über den Kopf, doch das rhythmische Hämmern ließ sie nicht wieder einschlafen. Was klopfte so schrecklich laut mitten in der Nacht? Schläfrig tastete sie nach der Nachttischuhr.

Mit einem Ruck setzte sie sich auf. Viertel nach sieben! Zum ersten Mal seit Wochen war sie nicht beim Anbruch der Morgendämmerung erwacht. Vielleicht, weil sie sich gestern Abend so lange schlaflos im Bett gewälzt hatte. Ihre Gedanken an den neuen Arbeiter hatten sie nicht zur Ruhe kommen lassen. Sein dunkles Gesicht verfolgte sie sogar bis in ihre Träume. Gleichzeitig hatte sie sich so sicher und beschützt gefühlt wie seit Langem nicht mehr.

Was ist bloß los mit mir? fragte sie sich ärgerlich. Alain Castel war nicht einmal ihr Typ. Dazu sah er viel zu rau und hart und wild aus. Wenn es um Traummänner ging, waren die feinsinnigen und empfindsamen mehr nach ihrem Geschmack.

Traummann. Sie schloss die Augen, und für einen Augenblick sah sie Jonathan vor sich. Er war meilenweit entfernt von rau und wild. Mit ihm hatte sie ihr Leben verbringen wollen, doch er hatte sie nur als Sprungbrett in ihre Kanzlei benutzen wollen.

Ein Glück, dass sie es wenigstens noch früh genug gemerkt hatte – auch wenn es sich damals ganz und gar nicht wie Glück angefühlt hatte. Als sie ihn wenige Tage vor der Hochzeit mit einer anderen Frau im Bett ertappt hatte, war ihre ganze Welt zusammengebrochen. Inzwischen waren drei Jahre vergangen, aber Gemma hatte nie wieder einem Mann vertraut.

Hastig öffnete sie die Augen wieder. So viel zu feinsinnig und empfindsam, dachte sie bitter. Verlogen und betrügerisch wäre passender. Aber für solche Gedanken hatte sie nun wirklich keine Zeit!

Voller Elan schwang sie die Beine aus dem Bett, stand auf und öffnete die Fensterläden. Das Hämmern wurde lauter, und am anderen Ende des Hofes sah sie Licht in einem der Gästebungalows. Davor stand Alain und arbeitete an den neuen Fenstern. Unwillkürlich lächelte sie. Traummann oder nicht – Alain Castel war ein Geschenk des Himmels.

Alain blickte auf, als er das Klappern der Fensterläden hörte. Bei Gemmas Anblick stockte sein Atem. Das helle Haar fiel offen über ihre Schultern und schimmerte golden im Morgenlicht. Plötzlich fiel ihm das Schlucken schwer. Wie Feenstaub, ging ihm durch den Kopf. Ärgerlich schüttelte er den Kopf. Woher war dieser alberne Gedanke bloß gekommen?

Er wandte sich ab und schlug einen Nagel in den Fensterrahmen. Er fluchte, als er abrutschte und der Hammer schmerzhaft auf seinem Daumen landete. Dabei war Gemma nicht einmal sein Typ!

Intellektuelle, hart arbeitende Frauen reizten ihn nicht. Sie nutzten nur jede Gelegenheit, einem Mann Vorträge über Gleichberechtigung zu halten. Nein. Er wollte keine Herausforderung, sondern eine Frau, die weich und sanft war, eine Frau, die nicht nur das Auge erfreute, sondern auch das Gemüt. Jemanden, der sein Ego streichelte – und noch einiges mehr. Eine Frau, die wusste, wie wichtig es war, sich für einen Mann schön zu machen und ihm nach einem harten Tag entspannte Stunden zu schenken.

Gemma war nichts davon, und doch ließ sie sein Herz schneller schlagen. Etwas, das ihm schon lange bei keiner Frau mehr passiert war.

Hätte er sie erst einmal in seinem Bett gehabt, würde sein Interesse an ihr bestimmt schnell verschwinden. So war es immer bei ihm. Doch diese Methode kam bei Spencers kleiner Schwester leider nicht infrage … Aber er war ja wohl alt genug, um sein lästiges Begehren auch so in den Griff zu bekommen! Er biss die Zähne zusammen und umklammerte den Hammer fester.

Gemma trank einen Schluck von ihrem Kaffee und betrachtete nachdenklich die noch unbenutzte Tasse, die ebenfalls vor ihr stand. Sollte sie Alain Kaffee hinausbringen? Sie wollte ihm auf keinen Fall das Gefühl geben, dass sie ihn bediente, aber er arbeitete schon seit dem Morgengrauen und hatte noch nicht gefrühstückt.

Sie sah zum Himmel auf. Vom Meer zogen dicke dunkle Wolken heran und schoben sich vor die Sonne. Wenn Alain nicht bald das Werkzeug zusammenpackte, würde er im Regen arbeiten.

Mit einem Schluck leerte sie ihren Becher und streckte die Hand aus, um einen Kaffee für Alain einzuschenken, als das Telefon klingelte. Wie ertappt zuckte sie zusammen und hob den Hörer ab.

„Mademoiselle Henderson“, sagte eine unbekannte Männerstimme. Es klang nicht wie eine Frage, sondern wie eine Anschuldigung.

Oui, am Apparat. Wie kann ich …“

„Ihr Zaun ist defekt, und eins Ihrer Fohlen steckt im Sand fest.“

„Um Himmels willen! Wo denn?“

„In der Nähe der alten Hütte am Strand“, teilte der Fremde ihr barsch mit.

„Ich danke Ihnen! Mit wem spreche …?“

„Sie brauchen mir nicht zu danken. Das habe ich nicht für Sie getan, sondern nur für das Pferd. Kümmern Sie sich um das Tier, und halten Sie in Zukunft wenigstens Ihre Zäune in Ordnung!“ Der Fremde beendete ohne Abschied das Gespräch.

Gemma starrte einen Moment lang auf den Hörer, dann legte sie ihn zurück. „Das ist meine Schuld“, murmelte sie.

Wie hatte sie so nachlässig sein können? Sie hätte die Zäune schon vor Tagen kontrollieren müssen, aber immer war etwas dazwischengekommen. Zum Glück hatte der Mann sie benachrichtigt. Sie musste das Fohlen retten, bevor das Unwetter losbrach.

Gemma nahm sich nicht die Zeit, eine Jacke anzuziehen, sondern rannte zum Stall. Sie holte ein Halfter heraus und warf sich ein Seil über die Schulter, dann eilte sie weiter. Im Vorbeilaufen rief sie Alain zu: „Ich muss mich um ein Fohlen kümmern und weiß nicht, wann ich zurück sein werde.“

„Halt! Warten Sie!“ Mit wenigen Schritten hatte Alain sie eingeholt und griff nach ihrem Ellbogen. „Was ist denn passiert?“

„Ich wurde angerufen. Eins meiner Fohlen steckt irgendwo fest.“ Gemma steckte zwei Finger in den Mund und pfiff durchdringend.

„Ich komme mit Ihnen.“

„Danke, nicht nötig.“

Alain deutete zum Himmel. „Haben Sie gesehen, dass ein Sturm aufzieht?“

„Darum habe ich auch keine Zeit, noch länger hier mit Ihnen herumzustehen.“ Gemma befreite sich mit einem Ruck aus seinem Griff. Ihr Arm prickelte, wo Alains Finger ihre nackte Haut berührt hatten.

Sie wandte sich um, als sich von der Weide dumpfes Hufgeräusch näherte. Begleitet von einem stattlichen Hengst galoppierte die kleine Stute Anouk heran.

„Ich werde reiten.“ Gemma sah Alain an. „Zu Fuß komme ich nicht schnell genug voran, und mit dem Auto können wir nicht durch den Sumpf fahren.“

„In Ordnung.“ Er nickte. „Reiten wir.“

„Die Pferde sind nicht zugeritten. Wir können sie nicht satteln. Und selbst, wenn Sie es sich zutrauen würden, ein ungesatteltes Pferd zu reiten, wäre es schwer, eines aufzutreiben. Neben Anouk lässt sich nur Casper reiten, aber er reagiert nicht auf meine Pfiffe.“

Alain antwortete nicht, sondern sah den beiden Pferden entgegen. Gemma folgte seinem Blick. Vor Erstaunen vergaß sie für einen winzigen Moment den Sturm und das Fohlen.

Bisher hatte sie den weißen Hengst mit der langen zerzausten Mähne nur aus der Ferne bewundert. Heute war er zum ersten Mal auf ihren Pfiff hin gekommen. Wahrscheinlich ist er einfach nur Anouk gefolgt, überlegte sie.

Jetzt hatten die beiden Pferde sie fast erreicht und fielen in Trab. Wieso musste Alain sich bloß einmischen und sie aufhalten? „Ich habe wirklich keine Zeit, mich um Sie und Ihre Reitversuche zu kümmern“, erklärte sie ihm ungeduldig.

„Das brauchen Sie auch nicht.“

Gemma zuckte mit den Schultern und rief die kleine Stute zu sich. Aus dem Augenwinkel sah sie überrascht, wie sich der stattliche Hengst Alain näherte. Dann blieb das Tier stehen, warf den Kopf zurück und wieherte nervös. Hoffentlich läuft der Hengst zurück zur Weide, bevor Alain etwas Dummes versucht, dachte Gemma.

Fasziniert sah sie zu, wie das Tier stehen blieb. Seine Nüstern bebten, die Hufe scharrten. Mit langsamen Bewegungen näherte Alain sich ihm. Casper wich zurück. Alain beugte sich vor und redete leise auf ihn ein

Gemma konnte nicht hören, was er sagte, aber dem Hengst schien es zu gefallen. Er trat einen Schritt vor, dann noch einen, schließlich stupste er Alain mit seinem weichen Maul an die Schulter. Der Mann streckte sanft die Hand aus und streichelte langsam den kräftigen Hals.

Unter Alains Berührung wurde der große Hengst ganz ruhig, als lausche er bedächtig den leisen Worten. Wie sanft Alains Hand sein musste! Für einen Moment sehnte Gemma sich danach, ihre Wange an seine starken Finger zu schmiegen. Sie spürte, wie sich ihr Herzschlag beschleunigte.

Wie er wohl als Liebhaber ist? ging ihr durch den Kopf. Als sie sich vorstellte, wie es sein mochte, Alains Hände auf ihrer Haut zu spüren, schien ihr Körper trotz des auffrischenden Windes plötzlich in Flammen zu stehen.

Hastig wandte sie sich ab, legte Anouk das Halfter an und schwang sich auf den Pferderücken. Sie hätte gern noch länger zugeschaut, wie Alain sich mit dem Hengst anfreundete, doch sie musste sich beeilen. Sie glaubte keine Sekunde lang, dass er das Tier reiten konnte, aber er schien etwas von Pferden zu verstehen. Vielleicht konnte er ihr demnächst sogar beim Zureiten helfen.

Sie schnalzte mit der Zunge. Anouk fiel in Trab. Gemma schnalzte noch einmal und drückte der Stute die Hacken in die Flanken. Sie galoppierte los. Die sonst spiegelglatte Oberfläche des Teiches war aufgewühlt, der Wind beugte das meterhohe Schilf und jagte die Wolken über den Himmel.

Vor Gemma erstreckte sich die weite Ebene. Obwohl sie das Gelände genau kannte, war ihr, als könnte sie eine Ewigkeit so weiterreiten, ohne irgendwo anzukommen. Doch bald hob sich das dumpfe Dröhnen der Brandung vom Rauschen des Windes ab.

Unvermutet tauchte das Meer auf, wo sie einen Moment vorher nur Sand und Schilf gesehen hatte. Bis zum Horizont erstreckte sich die riesige bewegte Masse. Der Wind peitschte die Wogen und riss große Schaumflocken in die Luft.

Hinter sich hörte Gemma dumpfes Hufgetrommel. Sie wandte sich um. Ihr Atem stockte, als sie sah, wie der große Hengst auf sie zugaloppierte – mit Alain auf seinem Rücken. Mann und Tier waren miteinander verschmolzen, als wären sie ein einziges Wesen.

Alain trieb den Hengst neben sie. „Irgendwo hier muss es sein!“, rief Gemma ihm zu.

Gemeinsam ritten sie weiter zum Strand. Büschel von Seegras waren vom Meer angespült worden und verfingen sich in den Hufen der Pferde. Der Wind zerrte an den dürren Sträuchern, die sich an die Abhänge der Dünen klammerten. Gemma kniff die Augen zusammen und suchte das Gelände ab.

Im dichten Gewirr der Sträucher entdeckte sie schließlich eine kleine weiße Stute. Ihr dunkelbraunes Fohlen wieherte panisch zwischen den Büschen. Nur die hell umrandeten Augen verrieten, dass sein Fell sich später weiß färben würde.

„Dort ist es!“, rief Gemma. Sie drängte Anouk in die Richtung der beiden Pferde. Immer wieder versuchte das Fohlen, sich freizukämpfen, aber die Beine steckten tief im weichen Schlamm. Die Mutter stand etwas entfernt und schien sich nicht näher zu ihrem Fohlen zu wagen. Der Boden hier ist Treibsand, begriff Gemma entsetzt.

Sie sprang vom Pferd und nahm das Seil von ihrer Schulter. Vorsichtig setzte sie einen Fuß vor den anderen und bahnte sich den Weg durch die Sträucher. Hier schien der Sand noch ziemlich fest. Vor ihr zappelte das Jungtier immer wilder und versank dadurch nur noch tiefer. Gemma wusste, dass sie sich beeilen musste.

Plötzlich sank ihr linkes Bein bis zum Oberschenkel ein. Fast hätte sie aufgeschrien, doch sie zwang die aufsteigende Panik zurück. Sie musste ruhig bleiben. Mit angehaltenem Atem breitete sie die Arme aus und tastete nach einem Stützpunkt.

Im nächsten Moment spürte sie, wie sich von hinten starke Arme um sie legten. Alain! Mit einem kräftigen Ruck zog er sie nach oben, und ihr Bein löste sich laut schmatzend aus dem Schlamm. Für einen Moment sank sie gegen seine harte warme Brust und schloss die Augen. Ihr Herz raste.

„Gemma, das ist Irrsinn! Bleiben Sie hier, ich werde versuchen, an das Fohlen heranzukommen!“

„Nein! Es gehört zu meiner Herde. Ich trage die Verantwortung!“ Gemma löste sich aus seinen Armen. Als ihr Blick auf einen Baum fiel, kam ihr eine Idee. „Können Sie eine Lasso-Schlinge knoten?“

Alain nickte. Mit wenigen Handgriffen formte er das eine Ende zu einer Schlinge, bevor er Gemma das Seil reichte.

Entschlossen nahm sie es aus seinen Händen und kämpfte sich voran. Sie war nur noch wenige Schritte von dem Fohlen entfernt. Doch hier war der Boden so weich, dass sie nicht weitergehen konnte.

Mittlerweile war das Tier noch tiefer eingesunken. Gemma wusste, dass sie sich beeilen musste. Sie hob die Schlinge über ihren Kopf und warf sie mit aller Kraft nach vorn.

Es hatte geklappt! Die Schlinge hatte sich um den Hals des Fohlens gelegt.

Gemma wandte sich zu Alain um. Ohne ein Wort streckte er die Hände aus, und sie warf ihm das Seilende zu. Er schlang es um den Baumstamm, als hätte er ihre Gedanken gelesen. Als er zog, traten seine Muskeln unter der schweißnassen Haut hervor.

Das Fohlen versuchte verzweifelt, sich aufzurichten. In den panisch verdrehten Augen war nur noch das Weiße zu sehen. Gemma streckte die Arme aus. Sie konnte das junge Tier fast berühren. Sie zog an dem Seil, stemmte sich mit aller Kraft in den Boden. Plötzlich glitt das Fohlen aus dem Schlamm. Gemma fiel unsanft nach hinten. Als sie sich wieder aufrichtete, lag das Tier auf dem Rücken. Die Beine waren merkwürdig gespreizt, und für einen Moment dachte Gemma, sie hätten es erwürgt.

Aber als Alain das Seil lockerte, bewegte sich das kleine Fohlen und versuchte, auf die Beine zu kommen. Es zitterte am ganzen Körper, schien aber unverletzt zu sein. Gemma wischte sich erleichtert mit einer schlammigen Hand über die Stirn.

Gemeinsam mit Alain hatte sie das Fohlen innerhalb weniger Minuten zurück zu seiner Mutter gebracht, und die beiden Pferde preschten am Strand entlang davon.

„Sie müssen zurück auf die Weide!“, rief Gemma.

Als wären sie ein lange eingespieltes Team, trieben sie die Pferde zurück zum Zaun. Sie galoppierten am Stacheldraht entlang, der von Hecken und Sträuchern so überwuchert war, dass die Büsche selbst einen natürlichen Zaun bildeten. Doch irgendwie mussten die Pferde entkommen sein.

Als sie die Öffnung entdeckten, fielen die ersten Tropfen bereits schwer vom Himmel. Gemma atmete auf, als endlich alle Tiere auf der Weide waren. In der Nähe stand eine größere Gruppe von etwa zehn Pferden im Sumpf. Bei ihrem Anblick stieß die Stute ein begrüßendes Wiehern aus. Furchtlos und wie selbstverständlich folgte das Fohlen seiner Mutter durch den tiefen Morast zur Herde. Von dem überstandenen Schrecken war ihm nichts mehr anzumerken.

Versonnen sah Gemma den beiden einen Moment lang hinterher, dann wandte sie sich zu Alain um: „Wo haben Sie gelernt, so zu reiten?“

Bevor er antworten konnte, wurde der Regen zu einem Wolkenbruch. Es war, als hätte sich der Himmel geöffnet, und Wassermassen prasselten hart auf ihre Haut.

„In der Nähe ist eine Hütte“, rief Gemma über das Toben der Elemente hinweg. Der Sturm riss die Worte von ihren Lippen. „Folgen Sie mir.“

Die Wolken schienen dicht über ihren Köpfen zu hängen, und wo sie eben noch das Meer gesehen hatten, versperrten jetzt dichte Regenschleier die Sicht. Gemma hoffte, dass sie die richtige Richtung eingeschlagen hatten, und war erleichtert, als nach wenigen Minuten die Umrisse einer kleinen windschiefen Hütte vor ihnen auftauchten. Kaum waren sie abgestiegen, preschten ihre Pferde davon.

„Sie laufen zu ihrer Herde. Aber wenn ich pfeife, kommen sie zurück“, erklärte Gemma. Wenigstens hoffte sie das.

Alain öffnete die schwere Holztür, und sie retteten sich in die trockene Hütte. Sie war früher Unterkunft der gardians gewesen, wie die Viehhirten der Camargue genannt wurden. Doch seitdem auf Gemmas Hof keine Stiere mehr gezüchtet wurden, stand die Hütte leer. Elektrizität gab es nicht. Und auch sonst nicht viel, stellte Gemma fest, als ihre Augen sich an das Dämmerlicht gewöhnt hatten.

Bis auf einige Holzscheite neben der großen Feuerstelle war der Raum leer. Staubflocken lagen auf dem Boden. In der Nähe der Tür tropfte Wasser durch das Dach. Der Regen trommelte mit solcher Heftigkeit auf die Hütte, als wollte er sie einschlagen, und der Wind rüttelte an der Tür.

„Zum Glück gehen die Unwetter am Meer meist genauso schnell vorüber, wie sie kommen“, sagte Alain.

Aus seinen schwarzen Locken tropfte das Wasser, das T-Shirt klebte ihm nass auf dem Oberkörper, und die durchnässte Jeans betonte seine schmalen Hüften. Er verströmte eine fast furchterregende körperliche Kraft.

Gemma konnte jeden einzelnen Muskel auf seinem Bauch und seinen Schultern erkennen. An seinem durchtrainierten Körper war kein Gramm Fett. Gemma ballte hilflos die Hände zu Fäusten, als sie spürte, wie sich bei seinem Anblick ihre Brustwarzen aufrichteten.

Meine Kleidung ist genauso tropfnass! wurde ihr mit einem Mal klar. Und auch sie trug außer ihrer Jeans nur ein viel zu dünnes weißes T-Shirt mit einem zarten BH darunter. Vor Scham wäre sie am liebsten im Boden versunken.

Schützend verschränkte sie die Arme vor der Brust. Unter ihren Händen fühlte sie ihren rasenden Herzschlag. Doch Alain schien gar nichts zu bemerken. Scheinbar ungerührt wandte er sich um, ging zur Feuerstelle hinüber und begann, Holz im Kamin aufzuschichten. Schon bald knisterte ein Feuer und erhellte flackernd den Raum.

Alain stocherte mit zitternden Händen in den Holzscheiten, während er versuchte, seinen Atem unter Kontrolle zu bekommen. Er schaute in die Flammen, doch vor seinen Augen stand Gemmas Bild.

Die nasse Kleidung betonte mehr, als dass sie verhüllte. Er sah immer noch ihre schmale Taille vor sich, die schlanken Hüften, ihre volle, weiche Brust, die sich unter raschen Atemzügen hob und senkte. Die harten Spitzen, rosig unter dem nassen Stoff.

Er unterdrückte ein Aufstöhnen. Er hatte versucht wegzuschauen. Mit größter Mühe hatte er endlich den Blick von ihrem Körper losgerissen. Doch der Anblick hatte sich ihm eingebrannt.

Normalerweise behielt er in jeder Situation einen kühlen Kopf, aber jetzt verdrängte die aufsteigende Lust jeden logischen Gedanken. Gemma war wunderschön.

Er wollte sie. Er konnte sich nicht erinnern, dass er schon einmal eine Frau so heftig begehrt hatte.

Alain zuckte zusammen, als Gemma sich neben ihn hockte. Sie saß so dicht bei ihm, dass er nur die Hand ausstrecken musste, um sie zu berühren. Wie gern würde ich genau das tun! wurde ihm mit Entsetzen bewusst.

Aus dem Augenwinkel sah er, dass Gemma vor Kälte zitterte und die Hände näher zum Feuer hielt. Er legte noch einen Holzscheit in die tanzenden Flammen.

„Gleich wird es warm werden“, murmelte er. Seine Stimme klang heiser. Warum musste sie sich so dicht neben ihn setzen? Er wusste, er sollte aufstehen und weggehen, am besten auf die andere Seite des Raums. Doch er rührte sich nicht.

In was für eine verfluchte Situation hast du mich gebracht, Spencer? schimpfte er innerlich. So wie Gemma ihn anschaute, würde er keine zwei Minuten brauchen, um sie ins Bett zu bekommen. Danach wäre die Sache endlich erledigt. Aber er konnte Spencers Vertrauen nicht missbrauchen.

Alain warf Gemma einen Seitenblick zu. Eine nasse Haarsträhne klebte auf ihrer Wange. Ohne nachzudenken, streckte er die Hand aus, um sie ihr aus dem Gesicht zu streichen. Doch bevor er sie berührte, sprang er abrupt auf.

„Ich … ich kümmere mich um das Loch im Zaun“, stieß er hervor und eilte mit langen Schritten zur Tür. „Ehe … etwas Schlimmeres passiert.“

„Alain! Warten Sie! Das ist doch Wahnsinn“, rief Gemma. Sie war ebenfalls aufgesprungen. „Draußen tobt ein heftiger Sturm, falls Sie das noch nicht mitbekommen haben sollten.“

„Das Schlimmste ist schon vorbei“, gab er zurück. „Warten Sie hier ab, bis der Regen aufgehört hat, und trocknen Sie sich am Feuer. Wir treffen uns später auf dem Hof.“

„Halt, Alain …“ Doch der Wind schlug die Tür bereits hinter ihm zu.

Gemma lehnte sich schwer atmend mit dem Rücken gegen das kalte Holz und schloss die Augen. Ihr Körper glühte, ihre Knie zitterten. Noch nie in ihrem Leben hatte sie diesen wilden Hunger gespürt, wie ein Fieber, das ihren ganzen Körper erfüllte. Schockiert begriff sie, dass sie Alain begehrte wie noch nie einen Mann zuvor.

Vielleicht lag es daran, dass sie seit der Trennung von Jonathan wie eine Nonne lebte, aber wenn sie ehrlich war, hatte sie Sex auch vorher nicht sehr viel abgewinnen können.

Jonathan war ihr erster Mann gewesen. Mit ihm zu schlafen, war … angenehm gewesen. Aber alles andere als aufregend. Sie hatte nie begreifen können, warum alle aus Sex so eine große Sache machten. Doch jetzt … ihr war, als wäre sie aus dem Dornröschenschlaf erwacht.

Nach Jonathans Betrug hatte sie keine Beziehung mehr gewollt. Sie wollte nicht noch einmal lieben, nicht noch einmal einem Mann ihr Vertrauen schenken und ihm ihr Glück anvertrauen. Sie war ganz allein für ihr Leben und ihr Glück verantwortlich, und so sollte es auch bleiben. Liebe hatte keinen Platz in ihrem Leben. Vielleicht würde sie eines Tages wieder bereit sein, doch nicht heute.

Und ganz bestimmt würde sie sich dann einen anderen Mann aussuchen als diesen arroganten – und atemberaubend erotischen – Macho Alain Castel.

5. KAPITEL

Alain rieb sein nasses Haar trocken. Selbst der kalte Regen hatte nicht viel geholfen. Noch immer sah er Gemmas aufregenden Körper vor seinen Augen. Er war entsetzt über die Heftigkeit seines Verlangens. Ihm war, als hätte sie tief in seinem Inneren ein verzehrendes Feuer entfacht.

Er beschloss, ihr in den nächsten Tagen so gut wie möglich aus dem Weg zu gehen. Das würde Spencer zwar nicht gefallen, aber er musste es ihm ja nicht auf die Nase binden. Und alles war besser, als die Schwester seines besten Freundes zu verführen.

Alain war es gewohnt, Frauen zu begehren. Sein Verlangen nach ihnen kam und ging – Letzteres meist, wenn er erst einmal mit ihnen im Bett gewesen war. Bei manchen hielt sein Interesse etwas länger an, selten sogar einige Wochen. Aber das war die Ausnahme. Danach ging man ohne verletzte Gefühle auseinander. Keine geheuchelten Liebesschwüre, keine gebrochenen Versprechen.

Er würde nie wieder einen Narren aus sich machen, nie wieder zulassen, gedemütigt und verletzt zu werden. Er brauchte keine Gefährtin an seiner Seite, und an die große Liebe glaubte er schon lange nicht mehr.

Autor

Nikki Logan
Nikki Logan lebt mit ihrem Partner in einem Naturschutzgebiet an der Westküste Australiens. Sie ist eine große Tierfreundin. In ihrer Menagerie tummeln sich zahlreiche gefiederte und pelzige Freunde. Nach ihrem Studium der Film- und Theaterwissenschaften war Nikki zunächst in der Werbung tätig. Doch dann widmete sie sich ihrem Hauptinteresse: dem...
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Schon als Kind war Sarah Leigh Chase eine Leseratte, und man traf sie selten ohne ein Buch in der Hand an. Nach den Abenteuern der „Fünf Freunde“ verschlang sie dann als Teenager stapelweise Liebesromane. Schon damals träumte sie davon, Schriftstellerin zu werden.

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Susan Meier wuchs als eines von 11 Kindern auf einer kleinen Farm in Pennsylvania auf. Sie genoss es, sich in der Natur aufzuhalten, im Gras zu liegen, in die Wolken zu starren und sich ihren Tagträumen hinzugeben. Dort wurde ihrer Meinung nach auch ihre Liebe zu Geschichten und zum Schreiben...
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