Sei meine Königin der Nacht

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Sie soll die Kronprinzessin von Charlmoux sein? Louisa kann kaum glauben, was der faszinierende Sébastien Moreau behauptet. Aber ein DNA-Test bestätigt den ungeheuren Verdacht, und Séb, der bis zu dem Dokumentenfund selbst Anspruch auf den Thron hatte, bietet ihr an, sie auf ihre Rolle als zukünftige Monarchin vorzubereiten. Er eröffnet Louisa eine neue Welt – der Macht und der Liebe! Denn heiß flirtet er mit ihr. Doch seine Küsse wecken in Louisa einen dunklen Verdacht: Will Séb sie nur erobern, um durch eine Heirat doch noch König zu werden?


  • Erscheinungstag 11.07.2023
  • Bandnummer 142023
  • ISBN / Artikelnummer 9783751518666
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Sébastien, hast du kurz Zeit?“

Nein. Hab ich nicht.

Séb blickte auf. Gerade kämpfte er sich durch einen Stapel Dokumente über die Außenhandels-Gespräche, die ihm in Kürze bevorstanden.

Doch er hatte den düsteren Gesichtsausdruck seines Assistenten bemerkt und wusste, dass Pascal ihn nicht ohne Grund stören würde. „Natürlich. Gibt es Probleme?“

„Möglicherweise. Vor ein paar Stunden kam der Archivleiter bei mir vorbei.“

Séb runzelte die Stirn. Normalerweise suchten die Archivare den König oder die Königin auf, statt in Sébs Büro zu kommen. Das war sehr ungewöhnlich.

„Es wurde etwas in den Unterlagen von Prinz Louis gefunden, und ich habe versprochen, sie dir zu bringen.“

Die Unterlagen stammten aus einer Kiste, die man nach dem Tod des Prinzen vor über einem Vierteljahrhundert vergessen hatte. Bis vor vierzehn Tagen. Seitdem sahen die Archivare die Papiere durch und protokollierten alles sorgfältig.

Pascal gab ihm einen Umschlag, auf dem der Name eines Fotogeschäfts stand.

Séb zog eine Handvoll Fotos heraus. Auf dem ersten sah man Prinz Louis, das einzige Kind von König Henri IV und Königin Marguerite von Charlmoux. Er hatte einen Arm um eine hübsche blonde Frau gelegt, die Séb nicht kannte. Auf dem Boden lag Konfetti. Auf dem zweiten Foto sah man die beiden vor dem Standesamt von Manhattan. Beim dritten Foto machte Séb große Augen, denn die Frau hielt einen Brautstrauß in der Hand. War sie Brautjungfer und hielt den Strauß für die Braut? Oder hatte sie den Strauß als Gast bei einer Hochzeit gefangen?

Auf dem vierten Foto hielten sie und Louis glückstrahlend ihre Hände samt Eheringen in die Kamera. Séb hielt die Luft an. „Ich dachte, Prinz Louis wäre unverheiratet gewesen. Danach sieht es auf diesen Bildern aber nicht aus.“

„Allerdings“, stimmte Pascal ihm zu.

„Gibt es Negative oder Unterlagen, die Aufschluss geben könnten?“

„Nein, deshalb habe ich selbst ein bisschen nachgeforscht.“ Pascal nahm ein Blatt Papier aus einer Mappe. „Das ist der Ausdruck einer Datei, die ich dir noch weiterleite. Eine beglaubigte Kopie ist per Mail-Zustellung aus New York unterwegs.“

Es handelte sich um die Heiratsurkunde von Louis Gallet, der für seine Eheschließung mit der englischen Balletttänzerin Catherine Wilson in New York – einen Monat vor seinem Tod – seinen Nachnamen benutzt hatte, nicht seinen Titel. Als Beruf hatte er „Staatsmann“ angegeben statt „Prinz von Charlmoux“.

„Er war also doch verheiratet.“

„Und die Eheschließung war rechtmäßig, das habe ich überprüft“, sagte Pascal. „Ich habe bei meinen Recherchen in Online-Archiven von Zeitungen auch ein paar Pressefotos von Louis und Catherine von jenem Sommer gefunden. Es wurde gemutmaßt, dass die beiden insgeheim ein Paar waren. Die Hochzeit geheim zu halten war damals natürlich etwas einfacher als heute, in Zeiten von Internet und Handykameras.“

„Aber warum entscheidet sich der Prinz von Charlmoux für eine standesamtliche Trauung in New York statt für eine Staatshochzeit in der Kathedrale hier? Das ergibt doch keinen Sinn.“

Das stimmte natürlich nicht ganz. Vielleicht hatte Henri die Eheschließung untersagt, sodass Louis seine Auserwählte heimlich und ohne Zustimmung seines Vaters geheiratet hatte? Jedenfalls hatte das Ganze das Potenzial für einen ausgewachsenen Skandal. Noch dazu war der König nicht bei bester Gesundheit, und die Neuigkeiten könnten seinen Zustand verschlimmern. „Weiß der König davon?“, erkundigte Séb sich.

„Das weiß ich nicht“, erwiderte Pascal. „Aber ich habe den Archivaren gesagt, dass du ihre Diskretion sehr zu schätzen weißt, dass sie ihre Arbeit im Stillen fortsetzen sollen und im Zweifelsfall lieber mit dir sprechen, statt den König damit zu behelligen.“

„Danke.“ Séb war dankbar und erleichtert. „Hast du sonst noch etwas gefunden?“

„Ja. Ich habe ein bisschen recherchiert, weil mich Louis’ Geste stutzig gemacht hat.“ Pascal wies auf ein Foto, auf dem Louis’ Hand beschützend auf Catherines Bauch zu ruhen schien. Dann reichte er Séb eine Geburtsurkunde.

Sieben Monate nach der Heirat hatte Catherine Gallet in London eine Tochter namens Louisa Veronica Gallet zur Welt gebracht. Sie war bei der Hochzeit also schon schwanger gewesen. Diesmal hatte sie nicht „Primaballerina“ als ihren Beruf angegeben, sondern „Ballettlehrerin“. Offenbar hatte sie nach Louis’ Tod den Beruf gewechselt, weil sie als junge Mutter nicht mehr auf Tournee gehen konnte. Auf der Geburtsurkunde war er als Vater angegeben.

Séb lehnte sich zurück und sah seinen Assistenten sprachlos an. Der verstorbene Prinz Louis hatte eine Tochter, die somit Thronfolgerin war. Das bedeutete: Das Parlamentsgesetz, das Sébastien Moreau zum Thronfolger von Charlmoux bestimmt hatte, war null und nichtig. Wenn also Henri IV wie geplant zum Ende des Sommers das Zepter niederlegen würde, wäre vielleicht danach jemand ganz anderes auf dem Thron …

„Wir haben keinerlei Beweis dafür, dass Louis tatsächlich der Vater ist“, stellte Pascal fest.

Das gefiel Séb nicht, denn die Frau auf den Fotos wirkte bis über beide Ohren verliebt in ihren Mann, und er schien die grazile Schönheit ebenfalls zu vergöttern. „Immerhin steht sein Name auf der Geburtsurkunde.“

„Ohne DNA-Test kann Louisa Gallet nicht offiziell als Tochter von Prinz Louis anerkannt werden“, wandte sein Assistent ein.

Das stimmte natürlich. Doch wenn Louisa tatsächlich Louis’ Tochter war, würde das alles ändern. Ihm schwirrte der Kopf.

Fast ein Drittel seines Lebens hatte Séb im königlichen Schloss verbracht und war darauf vorbereitet worden, König zu werden. Dabei war er gar nicht mit der Königsfamilie verwandt, sondern stammte aus einer Familie, die seit Generationen Landwirtschaft betrieb. Séb wollte aber die Welt verändern – oder zumindest Charlmoux. Er hatte sich als Anwalt hocharbeiten wollen, damit es nie wieder Justizirrtümer wie den geben würde, der das Leben seines besten Freundes Marcel zerstört hatte.

Die Direktorin seiner weiterführenden Schule hatte damals sein Talent erkannt und auf seine Familie eingewirkt. Statt ins Familienunternehmen einzusteigen, konnte Séb schließlich Jura studieren – mit einem Stipendium an der besten Universität in Charlmoux. Und er revanchierte sich mit harter Arbeit. Natürlich würde all das Marcels Vater nicht wieder lebendig machen, doch immerhin hatte er die Chance, dazu beizutragen, dass so etwas wie ihm niemand anderem mehr zustoßen konnte.

In Sébs Abschlussjahr schlug ihm der Fachbereichsleiter vor, sich als Sonderberater im königlichen Palast zu bewerben. Erst nachdem er sich verbindlich zur Einhaltung des Gesetzes zum Schutz von Staatsgeheimnissen verpflichtet hatte, stellte sich heraus, dass es beileibe nicht um eine gewöhnliche beratende Funktion ging – sondern darum, das Zepter von Henri IV zu übernehmen, der nach dem Tod seines Sohns keinen Erben hatte. Damit würde Séb in der Thronfolge an erster Stelle stehen. Er würde praktisch zum König ausgebildet werden, mittels eines königlichen Dekrets.

Mit anderen Worten: Séb würde irgendwann die Möglichkeit haben, etwas für die Menschen zu bewirken und Unrecht zu verhindern. Er könnte ein Bewusstsein dafür schaffen, wie wichtig psychische Gesundheit war und dass allen Menschen Hilfe und Behandlung zugänglich sein mussten.

Beim Vorstellungsgespräch war man von dem ernsten jungen Mann sehr angetan gewesen und hatte ihm die Stelle angeboten. Séb hatte dies – soweit es ihm trotz Geheimhaltungsvorgaben möglich gewesen war – mit seiner Freundin Élodie und seiner Familie besprochen und dann angenommen. Er hatte sich seiner Aufgabe mit großem Engagement gewidmet, das Vertrauen des Königs gewonnen und zunehmend Aufgaben des älteren Mannes übernommen, als sich dessen Gesundheitszustand verschlechtert hatte.

Doch nun sah es so aus, als wäre all seine harte Arbeit umsonst gewesen. Denn offenbar gab es jemanden, der einen weit größeren Anspruch auf den Thron hatte.

„Ich nehme an, du hast auch zu Louisa Gallet Nachforschungen betrieben“, sagte Séb.

Pascal nickte. „Ja. Ihre Mutter Catherine hat nicht noch einmal geheiratet. Sie starb, als Louisa sechzehn war.“ Er reichte ihm die Sterbeurkunde.

Sie war mit nur einundvierzig Jahren an Krebs gestorben. Wie traurig, dachte Séb und wurde von Mitleid für die junge Frau und ihre Tochter erfüllt, die schon als Teenager ihre Mutter verloren hatte.

Er musste an den Sommer denken, als er selbst sechzehn geworden war und erfahren hatte, dass der Vater seines besten Freundes gestorben war. Zwei Jahre zuvor war Marcels Familie ans andere Ende des Landes gezogen, sodass Séb seinem Freund nur Briefe schreiben, ihn anrufen und ihm versprechen konnte, ihn in den Schulferien zu besuchen. Das hatte er auch getan, aber er hatte nicht verhindern können, dass Marcel Schmerz und Scham mit Drogen betäubt und schließlich auf Entzug hatte gehen müssen.

Doch jetzt ging es um Louisa Gallet und um seine Zukunft.

„Was wissen wir über Louisa Gallet?“, erkundigte er sich.

„Sie hat Textilmanagement studiert und arbeitet in Teilzeit für das Brautmode-Atelier ihrer Familie. Außerdem restauriert sie Textilien für eine Organisation, die Kulturerbe bewahrt“, erzählte Pascal.

Das klang ja ganz seriös. „Ist sie verheiratet oder in einer festen Partnerschaft?“

„Es sieht nicht danach aus. Aber vielleicht möchtest du dir ja selbst ein Bild machen.“ Pascal reichte ihm sein Handy, auf dem er Louisas Social-Media-Profile aufgerufen hatte.

Die waren ziemlich unspektakulär. Keine ausufernden Partys, keine Fotos, auf denen Louisa betrunken war, keine Skandale, kein Klatsch. Und kein Anzeichen dafür, dass es einen Partner oder eine Partnerin gab. Sie schien vor allem Fotos von Textilien zu posten. Auf der Website des Brautmode-Ateliers fanden sich jede Menge begeisterte Kommentare von Frauen zu den Kleidern, die Louisa für sie genäht hatte. Außerdem hatte sie Fachartikel über textiles Kulturgut geteilt und schien eine besondere Vorliebe für Schuhe, Kleider und Hauben aus der Zeit des Regency, einer kurzen Epoche des frühen 19. Jahrhunderts, zu haben, sowie für Wandbehänge aus der Renaissance.

Von Louisa selbst gab es nicht allzu viele Fotos. Auf dem neuesten Bild – auf der Website des Brautmode-Ateliers – war zu erkennen, dass sie die feinen Gesichtszüge ihrer Mutter und Haut- und Haarfarbe von Prinz Louis geerbt hatte. Sie hatte große braune Augen und trug das dunkle Haar lässig hochgesteckt. Louisa wirkte ernst, und Séb ertappte sich bei dem Gedanken, wie sie wohl aussah, wenn sie lachte – und ob ihr Lächeln alles heller machen würde.

Das war doch absurd. Ihr Lächeln hatte schließlich keinerlei Einfluss darauf, ob sie das Zeug zur Monarchin hatte.

„Geschichte und kulturelles Erbe sind ihr offenbar wichtig, und sie scheint ihre Arbeit sehr ernst zu nehmen“, stellte er fest. Beides würden die Einwohner von Charlmoux zu schätzen wissen – ebenso wie Louisas Großeltern. „Wissen König Henri und Königin Marguerite wirklich nicht von ihr?“ Falls doch, warum hatten sie dann Séb gesetzlich zum Thronfolger erklären lassen?

„Ich habe sehr diskret bei Emil nachgefragt“, das war der Assistent des Königs, „der ebenfalls der Meinung war, dass wir die Angelegenheit an dich herantragen sollten. Sehr wahrscheinlich wissen die beiden nichts von Louisa. Mit Gewissheit ist uns bisher nur bekannt, dass Prinz Louis in London gestorben ist und das seiner Mutter das Herz gebrochen hat.“ Pascal schwieg kurz. „Es gibt keinen Hinweis darauf, dass eine Catherine Wilson oder eine Catherine Gallet bei der Beerdigung anwesend war.“

Louisa Gallet war also ein Geheimnis.

Zumindest vorerst.

Doch wenn Pascal das alles innerhalb weniger Stunden herausfinden konnte, dann war die Presse dazu ebenfalls in der Lage. Gerüchte konnten der Stabilität des Landes sehr schaden. Séb musste die Wahrheit herausfinden, und zwar schnell.

„Hast du Miss Gallets Telefonnummer?“

„Ja.“ Pascal gab ihm die Mappe mit den restlichen Unterlagen. „Ich dachte mir schon, dass du mit ihr sprechen und sie bitten willst, einen DNA-Test zu machen.“

„Danke, Pascal, sehr gute Arbeit.“ Séb schätzte seinen gewissenhaften, absolut zuverlässigen Assistenten sehr.

Als der gegangen war, betrachtete Séb starr die Mappe mit den Unterlagen und grübelte. Einerseits war er wie betäubt, andererseits musste er unbedingt nachdenken, was jetzt zu tun war.

Auf dem Papier sah es so aus, als sei Louisa Gallet die rechtmäßige Erbin des Königs von Charlmoux, und stand somit an erster Stelle der Thronfolge. Moralisch betrachtet musste Séb den Weg für sie freimachen.

Doch das wollte er nicht.

Denn als König hätte er die Gelegenheit, bedeutende Veränderungen anzustoßen, und das bedeutete ihm unendlich viel.

Marcel war der jüngste Sohn der Familie gewesen, die den Dorfladen betrieb. Dieser hatte zu einer landesweiten Kette gehört. Als Marcel und Séb vierzehn gewesen waren, hatte die Kette Marcels Vater beschuldigt, Geld unterschlagen zu haben. Er wurde entlassen und verklagt.

Obwohl Marcels Vater seine Unschuld beteuerte, kam er für zwei Jahre ins Gefängnis. Wegen des Skandals zog die Familie weit weg. Sébs Familie hielt immer zu ihm, doch es gab bösartigen Tratsch im Dorf. Der Ruf von Marcels Familie hatte unwiderruflich Schaden genommen.

Eine Woche nachdem Marcels Vater aus dem Gefängnis entlassen worden war, starb er. Erst nach einem Jahr war Marcel in der Lage gewesen, Séb zu erzählen, dass sein Vater depressiv geworden war und eine Überdosis genommen hatte – vielleicht aus Scham über seine Gefängnisstrafe. Dabei hatte er keinen einzigen Centime unterschlagen.

Ein Jahr später kam heraus, dass ein Problem im Computersystem der Kette die Ursache der vermeintlichen Unstimmigkeiten gewesen war. Der Ruf von Marcels Vater wurde wiederhergestellt, doch es war zu spät gewesen.

Séb hatte diese Ungerechtigkeit schier unerträglich gefunden. Er war fest entschlossen, sich mit aller Kraft dafür zu engagieren, dass anderen Familien niemals etwas Ähnliches widerfuhr: alles zu verlieren, einen geliebten Menschen, ihr Zuhause und ihren Lebensunterhalt. Unter anderem deshalb hatte er Jura studiert. Doch als König würde er natürlich noch viel mehr bewirken können, und das wollte er nicht einfach so aufgeben.

Er hatte sich diese Chance verdient und sich sorgfältig darauf vorbereitet, das Zepter zu übernehmen. War das nun alles umsonst gewesen?

Louisa mochte zwar die leibliche Enkelin Henris IV sein, doch sie hatte weder eine Verbindung zu Charlmoux noch Erfahrung mit dem Leben als Mitglied der königlichen Familie.

Wenn sie nicht die richtige Persönlichkeit hatte, um zu regieren, würde Séb ihr auf keinen Fall einfach das Feld überlassen.

Aber vielleicht wäre es ja auch möglich, dass sie zwar die Thronerbin war, er aber dennoch das Land regierte?

Zuallererst stand der DNA-Test an. Séb beschloss, sich in London mit Louisa zu einem Gespräch zu treffen. Er griff zum Telefon und wählte die Nummer von Wilson & Granddaughters Brautmoden.

1. KAPITEL

„Louisa, das Kleid ist wunderschön – einfach ein Traum!“

Jess, die zukünftige Braut, betrachtete sich im Spiegel. „Ich …“ Es verschlug ihr die Sprache.

„Ach, meine Süße.“ Ihre Mutter tupfte sich eine Träne aus dem Augenwinkel. „Du siehst aus wie eine Prinzessin. Dein Vater wird bei deinem Anblick ganz gerührt sein, und Kev wird es einfach umhauen.“

Louisa lächelte den beiden zu. Das hier war für sie immer der schönste Moment bei ihrer Arbeit: wenn die Kundin das Kleid nach den letzten Anpassungen anprobierte. Dieses Kleid war sehr aufwendig gewesen, denn Louisa hatte die Spitze an der Corsage von Hand gefertigt und die Perlen selbst aufgenäht, auch die auf dem Schleier. Und Jess’ strahlendes Lächeln war die vielen Stunden Arbeit wert.

„Sie sehen bildhübsch aus“, sagte Louisa. „Ich würde gern ein Foto für unsere Website machen, dann packe ich das Kleid für Sie ein. Hängen Sie es bitte nicht auf, denn der Perlenbesatz ist schwer, sodass es reißen könnte. Lassen Sie es also lieber bis Samstag in der Schachtel.“

Sie machte ein paar Fotos. „Die Bilder kommen erst nach Ihrer Hochzeit auf die Website. Aber ich schicke Ihnen jetzt schon mal eins zu, damit Sie es Ihren Freundinnen und Ihrem Vater zeigen können.“

Nachdem sie das Kleid fachmännisch so zusammengelegt und verpackt hatte, dass es nicht knittern würde, verließen die beiden Frauen damit das Geschäft. Louisa blickte auf die Uhr. In einer Dreiviertelstunde hatte sie den nächsten Termin, diesmal allerdings nicht mit einer Braut.

Ein Mann namens Sébastien Moreau hatte sie gestern angerufen, offenbar um mit ihr über Kulturerbe zu sprechen. Eigentlich hätte er ein Treffen bei der Organisation vereinbaren können, für die sie zwei Tage pro Woche arbeitete. Doch die Aussicht, mit alten Stoffen zu arbeiten, war für Louisa immer unwiderstehlich. Eigentlich hätte sie sich schon an das nächste Hochzeitskleid machen müssen, doch sie konnte einfach heute Abend etwas Arbeit nachholen. Schließlich wartete ja kein Partner auf sie.

Louisa stellte den Tisch auf, den sie und ihre Cousinen für Erstgespräche mit Kundinnen nutzen. Sie legte auch immer Bleistift und Papier hin, damit sie sich Notizen machen und etwas skizzieren konnte, das sie dann später in eine Datei übertrug. Dann füllte sie Kaffee in die Cafetiere und stellte zwei Becher bereit.

Nun hatte sie noch eine halbe Stunde Zeit – nicht genug, um sich einem der drei Kleider zu widmen, an denen sie gerade arbeitete. Ihre Cousinen – der Rest des Teams von Wilson & Granddaughters – waren unterwegs, Sam bei einer Hochzeitsmesse, Milly beim Großhändler. Ihnen konnte sie also auch nicht bei ihren Projekten helfen.

Zeit zu verschwenden widerstrebte Louisa sehr, also beschloss sie, am Geburtstagsgeschenk für ihre beste Freundin zu arbeiten. Sie stickte Nina ihr Lieblingssonett von Shakespeare mit Stielstich, eingerahmt von Veilchen.

Louisa war ganz in ihre Handarbeit vertieft, als es klingelte. Schnell legte sie das Stickzeug zurück in eine Kiste und ging zur Tür.

„Mr. Moreau?“, fragte sie lächelnd.

Der Mann, der vor ihr stand, war groß und jünger als erwartet, nur wenige Jahre älter als sie. Mit dem dunklen Haar, dem sinnlichen Mund und dem leicht olivfarbenen Teint hätte er als Model in einem hochwertigen Hochzeitsmagazin auftauchen können.

Sein perfekt sitzender Anzug war aus teurem, edlem Stoff – am liebsten hätte Louisa sich Futter und Säume angesehen. Und sie fühlte sich sehr zu Sébastien Moreau hingezogen. Doch ein so attraktiver Mann war ganz sicher gebunden.

Also riss sie sich zusammen und sagte: „Kommen Sie doch bitte herein. Kann ich Ihnen einen Kaffee anbieten?“

„Gern, vielen Dank, Miss Gallet. Schwarz, ohne Zucker.“

„Setzen Sie sich doch, ich bin gleich wieder da.“

Die Fotos, die Séb von Louisa gesehen hatte, wurden ihr nicht gerecht. Mit der schwarzen Hose, dem schwarzen Trägertop und dem lässig hochgesteckten Haar wirkte sie professionell und kreativ zugleich.

Und ihr Lächeln machte tatsächlich alles heller. Sie strahlte eine Wärme aus, die er nicht erwartet hätte. Doch jemand, der viel mit Bräuten und Teenagern zu tun hatte – sie nähte auch Kleider für Abschlussbälle –, musste natürlich in der Lage sein, nervöse Kunden zu beruhigen.

Sie sah ihrer Mutter sehr ähnlich, und Séb konnte gut verstehen, dass Prinz Louis von Catherine Wilson hin und weg gewesen war. Er sah sich in dem kleinen, picobello aufgeräumten Zimmer um. In einer Ecke standen eine Chaiselongue und ein kleiner Couchtisch, sicher für die Familienmitglieder ihrer Kundinnen. Außerdem sah er eine Umkleidekabine und einen Tisch mit vier Stühlen, an dem Louisa ihren Kundinnen vermutlich Entwürfe zeigte. Auf einem kleinen Schreibtisch standen ein Laptop, eine Lampe und ein gerahmtes Foto. Nirgends lagen Schnipsel oder Stoffreste herum.

An der Wand hingen Fotos von Bräuten und jungen Mädchen beim Abschlussball. Séb stand auf und sah sich das Foto auf dem Schreibtisch an. Darauf waren fünf Frauen zu sehen, die Arm in Arm unter einem Bogen aus Rosen standen. In der Mitte Louisa in einem Abschlussballkleid. Sie war etwa 16, das Bild war also kurz vor dem Tod ihrer Mutter entstanden. Catherine stand neben ihr. Die wunderschöne Frau von dem Hochzeitsfoto aus New York war noch zu erkennen, doch sie wirkte erschöpft und ausgezehrt. Um den Kopf trug sie ein Seidentuch – vermutlich war ihr bei der Chemotherapie das Haar ausgefallen.

Neben Louisa stand eine ältere Frau, die den anderen sehr ähnlich sah: Veronica Wilson, Catherines Mutter. Die anderen beiden Frauen hatten Louisas Gesichtszüge, waren aber blond. Séb vermutete, dass es die beiden Cousinen waren, mit denen sie Wilson & Granddaughters betrieb. Sicher war es Catherines letzter Sommer gewesen. Wie schön, dass sie zumindest noch Louisas Abschlussball miterleben durfte …

Séb gab sich einen Ruck. Er war wegen einer rein geschäftlichen Angelegenheit hier, da waren Gefühle unangebracht. Er wollte Louisa Gallet überreden, einen offiziellen DNA-Test durchzuführen, dessen Ergebnis rechtlich bindend wäre.

Und sollte der Test ergeben, dass sie tatsächlich Louis’ Tochter war, würde er sie dazu bewegen, seine Frau zu werden.

Louisa kam herein und stellte zwei Becher Kaffee auf den Tisch. „Ich habe leider keine Kekse da“, entschuldigte sie sich. „Kekskrümel und Stoffe sind keine gute Kombination.“ Als sie lächelte, wurde ihm am ganzen Körper heiß.

„Am Telefon sagten Sie etwas von Erbe“, erinnerte sie sich. „Warum haben Sie mich eigentlich hier angerufen und nicht im Institut für Kulturerbe?“

Séb war bewusst vage geblieben, denn diese Angelegenheit musste er von Angesicht zu Angesicht besprechen. „Es geht nicht um Textilien, sondern um Ihr Erbe.“

Mein Erbe?, dachte Louisa verwirrt. Dann fiel ihr ein, dass Sébastien Moreau einen französischen Nachnamen und einen leichten französischen Akzent hatte.

Du lieber Himmel. War ihr Vater, den sie nie kennengelernt hatte, nicht Franzose gewesen?

Mit seinem edlen Anzug, den polierten Schuhen und der Aktentasche sah Sébastien Moreau aus wie ein teurer Anwalt. Hatte die Familie ihres Vaters ihn geschickt, damit sie sich nicht selbst mit ihr befassen musste?

Doch Louisa schob diese absurden Gedanken beiseite. „Der Nachlass meiner Mutter wurde schon vor zehn Jahren geregelt. Und meine Großeltern leben beide noch. Ich glaube, hier liegt ein Irrtum vor.“

„Es geht um die Familie Ihres Vaters“, bestätigte er ihren Verdacht.

Sie schluckte. Dann blickte sie ihn an. „Sie sehen aus wie ein Anwalt. Dann wissen Sie doch sicher, dass mein Vater bei einem Autounfall wenige Wochen nach der Hochzeit mit meiner Mutter ums Leben kam.“ Mühsam unterdrückte sie ihren Ärger. Aber dieser Mann hier konnte ja nichts dafür, dass die Familie ihres Vaters so herzlos war. „Seine Familie und die meiner Mutter hatten schon vor meiner Geburt keinen Kontakt, und ich will auch keinen.“ Schließlich hatten diese Leute Catherine nie akzeptiert: Sie hatten die Leiche von Louisas Vater schnellstmöglich nach Frankreich überführt. Aber um Catherine hatten sie sich nicht gekümmert. Sie hatte nicht zur Beerdigung reisen können, es gab Probleme mit dem Visum. „Sie verschwenden Ihre Zeit, Mr. Moreau.“

„Es gibt da eine Erbschaftsangelegenheit, über die ich mit Ihnen sprechen muss, Miss Gallet.“

Louisa hob das Kinn und sah ihm direkt in die Augen. „Was die Familie meines Vaters zu sagen hat, interessiert mich nicht. Ich bin mein Leben lang gut ohne sie zurechtgekommen. Wenn jemand gestorben ist und mir etwas vererbt hat, dann spenden Sie es bitte einer wohltätigen Organisation.“ Von diesen Menschen würde sie auf keinen Fall etwas annehmen.

„Ich verstehe Ihre Ablehnung, Miss Gallet“, erwiderte er. „Aber es geht wirklich um eine wichtige Angelegenheit. Ich brauche eine DNA-Probe von Ihnen.“

„Nein.“

Séb war sich ziemlich sicher, dass Louisa bei ihrer Weigerung bleiben würde, auch wenn er ihr erzählte, dass sie womöglich Anwärterin auf den Thron von Charlmoux war. Ganz offensichtlich wollte sie nichts mit der Familie ihres Vaters zu tun haben.

In gewisser Hinsicht erledigte sich damit sein Problem von selbst. Wenn sie ihren Anspruch auf den Thron nicht wahrnehmen wollte, konnte er Ende des Jahres wie geplant die Regentschaft von Henri übernehmen.

Doch das konnte er nicht wirklich tun. Sollte Louisa tatsächlich Louis’ Tochter sein, dann hatte sie mehr Anspruch auf den Thron als Séb. Und er wollte ein fairer, ehrbarer Regent sein. Auf keinen Fall konnte er seine Regentschaft mit einer großen Lüge beginnen – vor allem nicht nach dem Fehlurteil, das das Leben seines besten Freundes zerstört hatte.

Andererseits wusste Louisa nichts über das Leben ihres Vaters. Sie war mit dem königlichen Leben nicht vertraut und auch nicht für eine Zukunft als Monarchin ausgebildet worden. Ob sie eine gute Königin wäre?

Mit all diesen Fragen konnte er sich später noch befassen. Jetzt musste er sie erst einmal dazu bringen, in einen DNA-Test einzuwilligen. Und Louisa hatte ihm ja selbst verraten, was sie davon abhielt.

„Bitte erzählen Sie mir von Ihrer Mutter, Miss Gallet“, bat er.

Louisa verschränkte die Arme vor der Brust und sah ihn herausfordernd an. „Sie haben doch bestimmt ein Dossier über meine Mutter. Da könnten Sie mir eigentlich etwas über sie erzählen.“

Offenbar hatte Séb seine Gegnerin unterschätzt. „Ihre Mutter war Balletttänzerin“, sagte er.

„Meine Mutter war Primaballerina, die erste Solistin“, korrigierte Louisa ihn. „Dafür braucht man nicht nur außergewöhnliches Talent, sondern auch sehr viel Disziplin. Man muss üben, bis einem die Füße bluten. Manchmal tanzt man ein Solo und manchmal einen Pas de Deux, bei dem man sich ganz auf seinen Tanzpartner einstellen muss“, fuhr sie fort. „Man darf sich nicht die geringste Ungenauigkeit erlauben, jeder Schritt, jede Bewegung muss sitzen.“ 

„Verstehe“, sagte Séb.

„Nein, das glaube ich nicht“, widersprach sie. „Denn zusätzlich zu einer absolut perfekten Technik muss man auch sein Herz und seine Seele in den Tanz legen. Eine Primaballerina erzählt dem Publikum eine Geschichte, aber ohne Worte. Die Zuschauer müssen mitfühlen und alles miterleben. Zum Beispiel, wenn Giselle sich die Seele aus dem Leib tanzt, um Albrecht, den sie mehr liebt als ihr Leben, vor der Königin der Wilis zu retten. Wobei ich ja der Meinung bin, dass sie sich für den verlogenen Kerl nicht so viel Mühe hätte machen sollen“, fuhr sie fort. „Eine Primaballerina muss so gut tanzen, dass sie jemandem das Herz brechen und es dann wieder heilen kann. Und genau so hat mein Vater sich in meine Mutter verliebt: Sie hat ihm als sterbender Schwan das Herz gebrochen – und es dann wieder geheilt.“

Séb hörte ihr schweigend zu. Was sie erzählte, berührte ihn mehr, als er zeigen wollte. Seit der Trennung von Élodie hatte er keine ernste Beziehung mehr geführt. Er hatte sich während des Studiums in sie verliebt und hatte ihr einen Heiratsantrag machen wollen. Doch nachdem man ihn zum Anwärter auf den Thron von Charlmoux ernannt hatte, war sein ganzes Leben aus den Fugen geraten.

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert?
Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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