So küsst nur Dr. Bowman

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Das ist doch... Dr. Amy Willmotts Herz beginnt heftig zu schlagen, als sie auf ihren neuen Kollegen im Krankenhaus trifft: Zach Bowman, ihr großer Schwarm aus Schulzeiten. Aber sie stammt aus wohlhabenden, er aus armen Verhältnissen. Hat ihre Liebe dennoch eine Chance?


  • Erscheinungstag 01.01.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733729370
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Hast du gestern Abend ferngesehen?“, hörte Amy eine der jüngeren Krankenschwestern ihre Kollegin fragen. „Da war eine Sendung über Menschen, die im Internet nachchecken, was aus ihren alten Freunden und Klassenkameraden geworden ist.“

„Ich habe einen Teil davon geguckt“, bestätigte die andere. „Es wurde auch berichtet, wie viele Ehen in die Brüche gegangen sind, nachdem Leute plötzlich ihre erste Liebe wiedergetroffen haben.“

„Ich kann mir nicht vorstellen“, kicherte die Freundin, „dass mir so was mit meiner ersten Liebe passierte. Er hieß Alex … und hatte wohl zu wachsen aufgehört, als er zwölf wurde. Ich selbst hatte damals einen richtigen Wachstumsschub und war bald eineinhalb Köpfe größer als er.“

„Vielleicht hat ihn sein erster Kuss so erschreckt, dass er aufgehört hat zu wachsen“, mischte Amy sich lächelnd ein. Sie fragte sich, was wohl aus ihren Klassenkameraden geworden war. Zu keinem von ihnen hatte sie Kontakt gehabt, nachdem sie von der Highschool abgegangen war und mit dem Medizinstudium begonnen hatte. Als sie dann Edward heiratete, war ihr Leben durch den Beruf, die Ehe und die vielen gesellschaftlichen Verpflichtungen so ausgefüllt, dass ihr keine Zeit blieb, sich um alte Schulbekanntschaften zu kümmern.

Sie war erst vor Kurzem nach Edwards plötzlichem Tod in ihre Heimatstadt zurückgekehrt. Aber sie verspürte kein Verlangen, alte Bekanntschaften aufzufrischen. Seitdem lebte sie zurückgezogen und ging so gut wie nie aus.

Aber die Bemerkung der Krankenschwestern hatte sie neugierig gemacht. Sie fragte sich, ob einige ihrer Klassenkameraden im Internet zu finden waren. Sie selbst war keine sehr intensive Internetnutzerin. Ihr Interesse beschränkte sich meist auf die Seiten mit medizinischen Themen.

Als sie noch in dieser Gegend gelebt hatte, beschränkten sich ihre Kontakte nur auf wenige Menschen. Die letzten drei Jahre auf der Highschool hatte sie sich ganz auf ihren Abschluss konzentriert, weil sie unbedingt für das Medizinstudium zugelassen werden wollte. Und dazu waren gute Noten die Voraussetzung. Da war nicht viel Zeit für Freundschaften geblieben und ihr Interesse an Jungs entsprechend gering …

Lügnerin, meldete sich eine innere Stimme. Da war ein Junge gewesen … das heißt, ein junger Mann von ungefähr achtzehn … der sie alles andere als kalt gelassen hatte.

Zachary Bowman, dachte sie wehmütig. Im Chemieunterricht hatte sie jedes Mal neben ihm gesessen und verstohlen einen Blick auf sein Profil geworfen, das sich scharf gegen das helle Fenster abzeichnete. Manchmal hatte sie dem Blick seiner dunklen Augen standgehalten, wenn sie zufällig mit dem Ellbogen oder der Schulter zusammenstießen und er sie mit einem entschuldigenden Lächeln anschaute.

Er war zweifellos der Traum eines jeden weiblichen Teenagers – groß, schlank, sportlich, mit einem eindrucksvollen, scharf geschnittenen Gesicht, das ihn verwegen aussehen ließ. Sie konnte sich noch genau an seine Augen erinnern. Sie waren von einem so dunklen Braun, dass sie fast so schwarz wie sein Haar wirkten. Sein Haar – manchmal hatte es sie in den Fingern gejuckt, über seine widerborstigen Locken zu streichen, aber das hatte sie nie gewagt.

Die heimliche Romanze, die nie eine war, seufzte Amy innerlich. Lediglich bei einer einzigen Gelegenheit hatten sie mehr als nur ein paar knappe Worte gewechselt, sonst waren sie sofort nach den gemeinsamen Unterrichtsstunden getrennte Wege gegangen.

Aber ganz vergessen hatte Amy ihn nie. Manchmal vergingen Monate, in denen ihr Beruf und ihre Ehe mit Edward sie voll in Anspruch nahmen und sie nicht an Zachary dachte. Aber ein paar Mal hatte sie sich gefragt, wie ihr Leben wohl verlaufen wäre, wenn sie damals nicht so schüchtern gewesen und Zachary nicht aus dem Wege gegangen wäre. Wenn sie den Mut gehabt hätte … ja, wozu? Sich mal richtig gehen zu lassen, von sich aus aktiv zu werden?

Ironisch lachte Amy auf. Sie, Amy Willmott oder Bowes, wie ihr Mädchenname lautete, sich gehen lassen? Ein strebsames Mauerblümchen wie sie? Plötzlich kam ihr in den Sinn, wie andere sie gesehen haben mussten. Langweilig und mundfaul. Sie lachte noch einmal auf.

Wieso willst du im Internet surfen und nach alten Bekannten suchen? fragte sie sich selbst erstaunt. Sicherlich hatte keiner ihrer Mitschüler und Kommilitonen in der Zwischenzeit auch nur einen Gedanken an sie verschwendet. Aber plötzlich war sie neugierig zu erfahren, ob Zachary tatsächlich die blendende Karriere gemacht hatte, die sie ihm zugetraut hatte.

Oder war es nicht besser, wenn sie sich die Erinnerung an ihn so bewahrte wie die ganzen fünfzehn Jahre über? Wie er seine Lederjacke anzog, lässig eines seiner langen Beine über sein Motorrad schwang – das er wie immer verbotenerweise auf dem Lehrerparkplatz abgestellt hatte –, den Helm auf den Kopf drückte und den Motor aufdröhnen ließ.

In dieser Nacht konnte Amy lange nicht einschlafen, obwohl sie einen besonders anstrengenden Tag hinter sich hatte. Wach lag sie im Dunkeln, während sie versuchte, mit Entspannungsübungen und Atemtechnik Ruhe zu finden. Jedoch gelang es ihr nicht, ihre Erinnerungen zu verdrängen.

Schließlich seufzte sie resigniert, stand auf und ging zu ihrem kleinen Schreibtisch hinüber, auf dem ihr Laptop stand.

Sie staunte, wie rasch sie die Webseite ihrer alten Highschool fand. Aber bevor sie anfing, sich durch die Jahrgänge und Hunderte von Namen hindurchzuarbeiten, hielt sie plötzlich inne. Was tue ich hier eigentlich? frage sie sich kopfschüttelnd. Noch ein Mausklick – und sie war bei den Namen, die mit dem Buchstaben B begannen. Sie würde herausfinden, ob Zachary dort aufgeführt war. Einerseits war sie begierig zu erfahren, was aus ihm geworden war, aber gleichzeitig fürchtete sie zu lesen, dass ihm etwas zugestoßen sein könnte.

Eine schlechte Nachricht würde die Erinnerung an die unschuldige Schwärmerei, die sie so viele Jahre heimlich begleitet hatte, zerstören. Wenn er sie doch nur einmal beachtet, ihr nur einmal vorgeschlagen hätte, sich mit ihr zu verabreden, vielleicht hätte er dann herausgefunden, dass sie ihm gefallen hätte. Und möglicherweise wären sie sogar zusammengeblieben.

Aber diese Vorstellungen waren damals absolut einseitig gewesen.

Sie hatten viele Monate als Zweierteam im Chemieunterricht zusammengearbeitet, aber nur das Alphabet war der Grund dafür gewesen, dass sie zusammengekommen waren. Der Name Bowman stand in der Namensliste genau hinter ihrem Namen Bowes. Er hätte also Zeit und Gelegenheit genug gehabt, sie merken zu lassen, dass er sie anziehend fand, aber er hatte nie den Versuch gemacht, privat mit ihr zu reden.

Er hätte sie ja mal zu einem Kaffee einladen können. Oder ihr vorschlagen können, sie auf seinem Motorrad mitfahren zu lassen.

Ha!

Nichts dergleichen. Ganz selten einmal hatte er sie mit einem kurzen Lächeln angesehen, wenn er mit seinem Motorrad losfuhr und sie ihm verlangend hinterhersah.

Selbst als sie einmal ihren ganzen Mut zusammengenommen und ihm gegenüber den Abschlussball erwähnte, hatte er nicht wie gehofft reagiert. Also verzichtete sie auf den Ball. Stattdessen war sie mit ihren Eltern zum Dinner in ein teures Restaurant gegangen, um ihren Abschluss zu feiern.

Den ganzen Abend sprachen ihre Eltern über ihre glänzenden Zukunftsaussichten und ermahnten sie, sich auf ihre Ausbildung zu konzentrieren und durch nichts ablenken zu lassen. Später würde sie noch genügend Gelegenheit für gesellschaftliche Aktivitäten haben – jetzt sei es erst einmal wichtig, sich um den Beruf zu kümmern. Dann würde sie auch genügend Chancen haben, interessante Leute kennenzulernen – junge Ärzte zum Beispiel.

Als Amy jetzt daran zurückdachte, versuchte sie, den Gedanken an Edward und die Schuldgefühle zu verdrängen, die jedes Mal hochkamen, wenn sie an seinen unerwarteten Tod vor einem Jahr dachte.

Sie schaute auf den Bildschirm ihres Laptops. Der Cursor blinkte neben dem ersten Namen auf der Liste ehemaliger Schüler. Sie brauchte nur ein paar Male zu klicken – und sie würde wissen, ob Zachary auf der Liste stand und welche Informationen es dort über ihn gab. Vielleicht würde sie ein altes Foto finden, auf dem er mit seinem unbändigen Haar und seinen dunklen Augen zu sehen war – das Bild also, das sie so viele Jahre in ihrem Gedächtnis gespeichert hatte.

Die Vorstellung, sie könnte erfahren, dass er seit Langem verheiratet war und mehrere Kinder hatte, störte sie mehr als die Furcht, er sei möglicherweise bei einem Unfall mit seinem Motorrad ums Leben gekommen.

Sie wusste, dass ihre momentanen Gedanken so gar nicht zu dem Leben passten, das sie bisher geführt hatte. Unterstützt und immer wieder neu motiviert von ihren Eltern, hatte sie sich bei einer der renommiertesten medizinischen Fakultäten eingeschrieben. Gleich nach ihrem Examen hatte sie Edward geheiratet. Es war eine Traumhochzeit – und sie war glücklich gewesen.

Edward Willmott war mit seinen blonden Haaren und blauen Augen fast das genaue Gegenteil von Zachary. Er war in einer schrecklichen Massenkarambolage auf der Autobahn gestorben. Das Kind, das Amy sich so gewünscht hatte, war immer wieder für das nächste Jahr geplant gewesen, weil Edward zuerst seine ehrgeizigen beruflichen Ziele verwirklichen wollte. Ein Schuldgefühl nagte an ihr, weil sie ihn oft nicht so akzeptiert hatte, wie er war, und sich erst bewusst geworden war, was sie an ihm verloren hatte, nachdem er gestorben und ihr Leben leer geworden war.

Sie hatte alles gehabt, was eine Frau sich wünschen konnte – was also brachte sie nun plötzlich dazu, in dieser Weise über Zachary nachzudenken?

„Schluss damit“, sagte sie laut, unterbrach die Internetverbindung und schaltete den Computer ab. „Du hast keinen Grund, Erkundigungen über ihn einzuziehen, schon gar nicht mitten in der Nacht. In vier Stunden musst du schon wieder aufstehen, weil du Frühdienst hast.“

Sie ging zurück ins Bett und nahm sich vor, ihre Gedanken im Zaum zu halten. Aber als sie nur drei Stunden später unausgeschlafen und missgelaunt aufwachte, merkte sie, dass sie ihre Träume nicht hatte kontrollieren können.

„Was wäre denn schon dabei gewesen, im Internet seinen Namen anzuklicken und herauszufinden, wie es ihm ergangen ist?“, sagte sie laut zu sich selbst, als sie eine Stunde früher als nötig in ihrem kleinen Wagen unterwegs zu dem Krankenhaus war, in dem sie arbeitete.

Sie hielt vor einem Fußgängerübergang an, weil eine alte, offensichtlich gehbehinderte Dame sich anschickte, die Straße zu überqueren. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie im Rückspiegel einen Wagen, der sich rasch näherte. Sie wartete darauf, jeden Augenblick das Quietschen seiner Bremsen zu hören, aber der Fahrer dachte gar nicht daran, abzubremsen.

„Oh, mein Gott“, dachte Amy noch, als das andere Auto an ihr vorbeifuhr und die alte Dame erfasste, die gerade an Amy vorbeigegangen war. Sie wurde in die Luft geschleudert und schlug mit einem dumpfen, hässlichen Geräusch auf dem Pflaster auf. Der Fahrer, der den Unfall verursacht hatte, fuhr einfach weiter.

Amy sprang aus dem Wagen und griff automatisch nach ihrer Handtasche, um ihr Handy herauszunehmen. Noch bevor sie die alte Dame erreichte, die reglos auf der Straße lag, hatte sie die Notrufnummer gewählt.

„Notfallzentrale. Wie kann ich Ihnen helfen?“, sagte eine Frauenstimme, als Amy neben der alten Dame niederkniete und sie rasch untersuchte.

„Einen Krankenwagen und die Polizei“, rief Amy in ihr Telefon. „Ein Unfall am Fußgängerübergang ungefähr eineinhalb Kilometer südlich vom Krankenhaus, gegenüber dem Supermarkt. Eine alte Frau. Sie ist bewusstlos, atmet aber noch.“

Amy war erleichtert, als sie unter ihren Fingern an der Halsschlagader der Verletzten den Pulsschlag gefühlt hatte. Aber der Aufprall war so hart gewesen, dass Amy ihn in ihrem Wagen deutlich gehört hatte. Es war zu befürchten, dass die alte Dame eine Schädelverletzung erlitten hatte. Ihr Bein, das in einem unnatürlichen Winkel abgeknickt war, schien gebrochen.

Glücklicherweise war ihr Herzschlag zu spüren, und ihr Atem ging gleichmäßig. Bis zum Eintreffen des Krankenwagens konnte Amy nicht viel tun.

„Bewegen Sie sie bitte nicht“, hörte sie plötzlich eine tiefe Stimme hinter sich. Dann spürte sie eine Hand auf ihrer Schulter, die sie sanft, aber bestimmt wegschob. „Wenn ihr Rückgrat verletzt ist, muss sie ganz ruhig liegen bleiben.“

Amy drehte sich um. Hinter ihr stand ein Mann in Motorradkluft, der das Visier seines Helms aufklappte. Als sie in seine dunklen Augen blickte, stockte ihr der Atem. Amy wünschte, er würde seinen Helm abnehmen, damit sie seine Gesichtszüge erkennen konnte.

Sie schüttelte ihre Beklommenheit ab. „Ich weiß, dass ich sie nicht bewegen darf“, sagte sie mit leicht zittriger Stimme. „Ich bin Ärztin. Ich habe nur ihren Puls gefühlt und ihre Atmung kontrolliert.“

Nicht weit entfernt waren Sirenen zu hören. „Wenn der Krankenwagen da ist, wird sie mit Sauerstoff versorgt und bekommt einen Stützkragen umgelegt, der ihren Nacken stabilisiert“, erklärte sie. Sie warf ihm einen Blick zu und stellte fest, dass seine Augen noch immer auf sie gerichtet waren statt auf das Unfallopfer.

Dieses Mal war der Schock des Wiedererkennens so stark, dass sie schon befürchtete, er würde merken, was mit ihr los war.

Was war denn mit ihr los? Niemals hatte sie so reagiert, wenn sie einem Mann gegenüberstand, auch nicht bei Edward. Bisher war es nur einem einzigen männlichen Wesen in ihrem Leben gelungen, sie aus der Fassung zu bringen. Und das war Zachary gewesen.

Es war einfach lächerlich. Die Unterhaltung der beiden jungen Krankenschwestern am Abend zuvor über das Internet hatte mit Macht die Erinnerung an ihre Zeit auf der Highschool zurückgebracht. Und jetzt brachten die dunklen Augen dieses Mannes, die sie an Zachary erinnerten, aus dem seelischen Gleichgewicht.

„He, Doc“, sagte der Sanitäter aus dem Krankenwagen, der sich neben sie niedergekniet hatte. „Suchen Sie sich jetzt schon einen Job außerhalb des Krankenhauses? Sie wollen uns wohl arbeitslos machen.“

„Ich habe nur die Stellung gehalten, bis Sie ankamen, Harry“, meinte Amy und lächelte den jungen Mann an, den sie gut kannte. Sie rückte zur Seite, um ihm Platz zu machen. „Sie war gerade dabei, die Straße zu überqueren. Als sie merkte, dass der andere Wagen nicht anhielt, wollte sie noch ausweichen, aber sie hat wohl ein Problem mit der Hüfte und konnte sich nicht schnell genug bewegen. Sie ist heftig mit dem Kopf auf das Pflaster geschlagen.“

Inzwischen hatte man Harry die medizinische Ausrüstung gebracht. Vorsichtig hob er den Kopf der alten Dame an und legte ihr einen Stützkragen um. Dann betteten er und sein Kollege die Verunglückte vorsichtig auf eine fahrbare Liege, schoben sie zu dem Krankenwagen und hoben sie hinein.

Amy warf einen Blick über die Schulter. Ein Streifenwagen war ebenfalls angekommen, und einer der jungen Polizeibeamten versuchte, die inzwischen angewachsene Menge der Zuschauer zurückzuhalten, ein zweiter sprach mit dem Motorradfahrer und notierte sich seine Aussagen auf einem Notizblock.

Inzwischen hatte er seinen Motorradhelm abgenommen und hielt ihn gegen die Hüfte gestemmt. Er fuhr mit der Hand durch die Luft. Offensichtlich ärgerte ihn die Befragung. Da er Amy den Rücken zukehrte, konnte sie sein Gesicht nicht erkennen. Aber auch so war sein Anblick recht beachtlich – breite Schultern, schmale Hüften, lange Beine. Aber sein dunkles Haar war, anders als damals bei Zachary, sehr kurz geschnitten.

Zachary war wegen seiner Haare von den Lehrern oft ermahnt worden. Aber seine widerspenstigen Locken hatten ihm irgendwie ein verwegenes Aussehen gegeben.

Was fällt dir eigentlich ein? Fassungslos über sich selbst schüttelte Amy den Kopf. Da stand sie gerade nach einem schrecklichen Unfall mitten auf der Straße und hatte nichts Besseres zu tun, als ihre Tagträume weiterzuspinnen. Reiß dich zusammen, ermahnte sie sich.

Sie ging zu Harry hinüber, der gerade die hintere Tür des Krankenwagens schloss, und warf einen Blick auf die alte Dame. Sie würde sich nachher im Krankenhaus sofort nach ihrem Befinden erkundigen. Hoffentlich würde die Polizei Amy nicht weiter aufhalten, denn sie musste ins Krankenhaus. Ihren Kollegen von der Nachtschicht, die so lange ausharren mussten, bis sie kam, würde es nicht gefallen, wenn sie sich zu sehr verspätete.

Der junge Polizist schien zu ahnen, was sie bewegte. „Wäre es Ihnen recht, wenn ich später ins Krankenhaus komme und Sie da befrage, Doktor?“

„Das wäre großartig.“ Erleichtert lächelte Amy ihm zu. Dann würde sie ja doch noch fast pünktlich auf der Station ankommen. „Ich bin Dr. Willmott. Und ich arbeite auf der Notaufnahmestation.“

„Danke für Ihre Unterstützung“, sagte Harry, als Amy zu ihrem Wagen gehen wollte. „Wahrscheinlich sehe ich Sie ja in ein paar Minuten. Sie haben bestimmt gleich Dienstbeginn.“

Amy nickte und winkte ihm zu. „Ich bin um kurz nach sechs auf der Station.“

Sie eilte zu ihrem Wagen, der immer noch vor dem Fußgängerüberweg stand. Sie war enttäuscht, als sie bemerkte, dass der Motorradfahrer nicht mehr zu sehen war. Als sie von Weitem den Motor einer schweren Maschine aufdröhnen hörte, beschleunigte sich ihr Pulsschlag.

„Zum Teufel auch“, murmelte sie, als sie ihren Sicherheitsgurt festmachte und sich vorsichtig in Bewegung setzte. Durch das offene Fenster sah sie, wie der Motorradfahrer den Gang einlegte und Gas gab. Wie sehr hatte sie sich damals gewünscht, Zachary würde sie mal auf seinem Motorrad mitnehmen. Sie hatte davon geträumt, wie ihre langen Haare im Wind flattern würden. Und sie hatte sich vorgestellt, was für ein Gefühl es sein würde, die Arme um seine Hüften zu schlingen und ihren Kopf an seine Schulter zu lehnen.

Hör endlich auf mit deinen Fantasien, ermahnte sie sich. Sie bog mit ihrem Wagen auf den Parkplatz des Krankenhauses ein und manövrierte ihn auf einen der Plätze, die für die Ärzte reserviert waren. Von dort waren es nur ein paar Schritte bis zum Hintereingang des Krankenhauses.

„Da bist du ja endlich“, sagte die Dame am Empfang. „Die Kollegen haben sich schon erkundigt, wo du bleibst.“

„Ich bin nur fünf Minuten verspätet, Louella“, meinte sie. „Ich wäre mehr als pünktlich gewesen, wenn dort drüben nicht der Unfall passiert wäre …“ Sie zeigte mit der Hand in die Richtung.

„Auf dem Fußgängerüberweg beim Supermarkt?“ Louella nickte. „Harry hat davon kurz berichtet, als er eben das Unfallopfer einlieferte. Er hat auch gesagt, dass du ihm geholfen hast.“

„Wer behandelt die Verletzte?“, wollte Amy wissen.

„Ben Finchley und der neue Kollege, der heute hier angefangen hat.“

Ben war einer der besten Ärzte der Abteilung. Amy wusste, die alte Dame war in guten Händen.

„Ein Neuer? Weißt du mehr über ihn?“ Sie warf einen Blick auf den Tagesplan, der an der Wand hing, und erschrak fast, als sie die endlose Liste von Patienten sah. „Ich hoffe, der neue Kollege ist kein Anfänger, der uns mehr Arbeit macht, als dass er uns hilft.“

„Glaube ich nicht“, erwiderte Louella. „Das letzte Jahr hat er in einer Notaufnahmestation in einem Krankenhaus in Südafrika verbracht, wie ich gehört habe. Ich glaube, in Johannesburg.“

Überrascht blinzelte Amy. Sie fragte sich, ob er einer der Ärzte war, die man mit Prämien nach England zurückzulocken versuchte, um dem eklatanten Ärztemangel im Land abzuhelfen. Amy hatte es nie für vertretbar gehalten, auf diese Weise Ärzte aus Gegenden, in denen sie dringend benötigt wurden, abzuziehen. Wenn man die Ärzte hier besser bezahlte, wären solche Methoden nicht erforderlich.

Wie auch immer – sie war froh, dass sie Verstärkung auf der Station erhielten. „Du meinst also, Louella, dass er gut in unser Team passen wird?“

„Davon bin ich überzeugt. Und er ist auch sonst eine echte Bereicherung. Er ist absolut das, was man einen Frauenschwarm nennt.“

„Louella! Was soll dein Mann Sam davon halten?“ Amy musste lachen. Sich mit Louella zu unterhalten war immer amüsant.

„Sam weiß, dass ich treu bin, aber ich habe auch Augen im Kopf“, versicherte ihre Kollegin. „Und er weiß auch, dass ich einen guten Geschmack habe. Hätte ich mich sonst für ihn entschieden? Aber jetzt gebe ich dir erst einmal die Liste der Patienten. Und dann mache ich Schluss und gehe nach Hause.“

Ein paar Minuten später hatte sie Amy die Liste übergeben und verabschiedete sich fröhlich. Offensichtlich freute sie sich auf zu Hause.

Eine Sekunde lang dachte Amy daran, dass ihr eigenes Leben zurzeit ganz anders verlief. Auf sie wartete niemand daheim. Sie hatte einen Job, der ihr gefiel, und sie gab sich Mühe, nicht mehr daran zu denken, was in ihrem Privatleben fehlte.

Nachdem sie bereits eine Reihe von Patienten versorgt hatte, bekam sie endlich die Gelegenheit, mit Ben Finchley zu sprechen, der wie sie auf einen Kaffee in die kleine Krankenhausküche gekommen war. „Hallo, Ben“, sagte sie. „Was ist mit der alten Dame, die Harry heute früh eingeliefert hat? Ich war dabei, als sie angefahren wurde.“

„Du meinst Ruth?“ Zu Amys Überraschung lachte er auf. „So etwas wie diese alte Lady habe ich noch nie erlebt. Sie machte einen so zerbrechlichen und schwachen Eindruck, dass ich schon das Schlimmste befürchtete. Aber als wir sie röntgten, stellte sich heraus, dass ihr bis auf ein gebrochenes Schienbein und ein paar Abschürfungen nichts passiert war.“

„Reden wir von derselben Patientin? Von der alten Frau, die von einem Wagen erfasst, herumgewirbelt und in die Luft geschleudert wurde? Ich habe selbst gesehen und gehört, wie schwer sie auf das Pflaster schlug.“

„Von genau der rede ich“, bestätigte Ben. „Wie du waren wir ebenfalls zuerst überzeugt, sie müsste sich mehrere Knochen gebrochen und möglicherweise das Rückgrat verletzt haben. Aber stattdessen war sie bei Bewusstsein und putzmunter. Da sie nun schon mal im Krankenhaus sei, wolle sie die Gelegenheit nutzen und sich ein neues Hüftgelenk einsetzen lassen. Das habe sie schon lange machen wollen, aber noch keine Zeit dafür gehabt.“

Die Geschichte klang so unglaublich, dass Amy amüsiert den Kopf schüttelte. Dankbar griff sie nach dem Becher Kaffee, den Ben ihr eingegossen hatte. „Als wir versuchten, ihr ein Schmerzmittel zu geben, bevor wir ihr Bein in Gips legten, lehnte sie ab“, fuhr Ben fort. „Davon würde ihr immer schlecht, meinte sie. Das sei beim letzten Mal, als sie im Krankenhaus war, auch so gewesen – als ihr mit zwölf Jahren der Blinddarm herausgenommen wurde.“

Über Amys Schulter hinweg sah Ben, wie jemand den Raum betrat. „He, Amy, dann kann ich dir ja gleich unseren neuen Kollegen vorstellen. Er kommt geradewegs vom anderen Ende der Welt. Darf ich vorstellen – Amy Willmott. Und das hier ist Zachary Bowman.“

2. KAPITEL

Amy stockte der Atem. Sie hatte das Gefühl, als würden sich Traum und Wirklichkeit vermischen.

Autor

Josie Metcalfe
Als älteste Tochter einer großen Familie war Josie nie einsam, doch da ihr Vater bei der Armee war und häufig versetzt wurde, hatte sie selten Gelegenheiten, Freundschaften zu schließen. So wurden Bücher ihre Freunde und Fluchtmöglichkeit vor ihren lebhaften Geschwistern zugleich.
Nach dem Schulabschluss wurde sie zur Lehrerin ausgebildet, mit dem...
Mehr erfahren