Sommer der Entscheidung

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Hat die Liebe noch eine Chance? In der Ehe von Tessa und Andrew MacRae kriselt es, seit ihre kleine Tochter tödlich verunglückt ist. Um in Ruhe über ihre Beziehung nachzudenken und endlich wieder zu sich selbst zu finden, will Tessa den Sommer auf dem Land verbringen. Gemeinsam mit ihrer Mutter fährt sie zu ihrer Großmutter, die ganz allein auf einer abgelegenen Farm lebt. Dabei kommen die drei Frauen, sich zum ersten Mal in ihrem Leben wirklich nah. Indem Tessa ihre Familiengeschichte aufarbeitet, hofft sie, die Schatten der Vergangenheit endgültig zu besiegen. Doch gerade als sie wieder Vertrauen in die Liebe fasst, droht eine andere Frau Tessas und Andrews Beziehung endgültig zu zerstören ...


  • Erscheinungstag 10.04.2009
  • ISBN / Artikelnummer 9783862783588
  • Seitenanzahl 544
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Sie gab es auf. Egal, was sie noch täte, ihre Großmutter würde doch nicht aufmachen. Tessa MacRae fand sich damit ab, den Rest des drückend schwülen Vormittags auf der Veranda vor dem Haus zu verbringen, die immerhin ein wenig Schatten versprach. Aber die Zeit, die sie tatenlos herumsaß, war nicht völlig verschwendet. Von der quietschenden alten Schaukel aus konnte sie einen Eindruck von dem Leben ihrer Großmutter gewinnen. Zwar war die Gegend als besonders prachtvoll bekannt, doch diese kleine Ecke des Shenandoah Valley konnte damit nicht gemeint sein.

Tessas Überlegungen wurden von dem Knarzen eines Fensters unterbrochen, das genau über ihrem Kopf geöffnet wurde.

„Bist du immer noch hier, Fräulein? Ich habe dich nicht eingeladen, und das hier brauche ich auch nicht!“

Tessa war siebenunddreißig Jahre alt und unterrichtete Englisch an der Highschool. Schon seit einigen Jahren war sie kein „Fräulein“ mehr, aber dies schien ihr nicht der richtige Zeitpunkt zu sein, um Einwände zu erheben. Auf Helen Henrys Tirade folgte ein Rascheln, und plötzlich war die Luft nicht mit dringend benötigtem Regen, sondern mit zerknülltem Papier erfüllt, das über das Blechdach auf die Erde fiel. Tessa versuchte, die Papierknäuel zu zählen. Ein Dutzend, mindestens. Und nach einer theatralischen Pause folgte noch mal ein halbes Dutzend.

Mit einem Knall wurde das Fenster über dem Vordach wieder zugeschlagen.

Als Tessa sicher war, dass der Hagelsturm aus Papier vorbei war, stand sie auf, um eines der Blätter zu betrachten, das ihr vor die Füße gefallen waren. Sie faltete das Knäuel auseinander und glättete es. Zwei Frauen und ein Mann waren darauf abgebildet, die sie mit breitem Grinsen und unnatürlich grauen Haaren von einem Golfplatz anstarrten. „‚Green Springs – das Domizil für den Lebensabend‘“, las sie laut. „‚Weil heute der erste Tag vom Rest Ihres Lebens ist.‘“ Während sie die Broschüre in ihrer Hand wieder zerknitterte, überlegte sie, wie viele weitere Faltblätter ihre Mutter Helen in den letzten Wochen zugeschickt haben mochte. Ohne dass noch mehr vom Himmel fiel, kehrte Tessa auf die Schaukel zurück, zog die Knie an, stützte ihr Kinn darauf und fuhr mit ihrer Inspektion der Umgebung fort.

Auf dem Weg in die Kleinstadt Toms Brook war Tessa wie immer von der großartigen blaugrünen Bergkette verzaubert gewesen, von den Sommerastern und der Wilden Zichorie, die am Wegesrand blühten, und von den gemütlichen Kühen und Pferden, die in der Hitze Virginias auf den hügeligen Weiden grasten. Aber das war nur ein Panorama, ein ländliches Stillleben. Etwas völlig anderes war die Farm ihrer Großmutter, die von der unerbittlichen Sonne geröstet wurde. Die Dürre, die die ganze Region heimgesucht hatte, war hier besonders schlimm. Bis zum vierten Juli in wenigen Tagen würde der Mais nicht kniehoch stehen, wie es die Bauernregel verlangte. Vielmehr sahen die Maispflanzen, die auf einem einige Hektar großen Feld gegenüber dem Haus standen, aus wie Bonsai, die sich schief und kümmerlich unter der Sonne wanden. Nur der Löwenzahn hielt sich noch recht wacker. Falls die Gegend nicht bald mit Regen gesegnet wurde, und zwar ordentlich, würde es in diesem Jahr keine Maisernte geben.

Und dann diese Hitze. Virginia gehörte eigentlich nicht zu den bekannten Sommeroasen, aber Tessa, die hier geboren und aufgewachsen war, konnte sich nicht daran erinnern, dass es im Juli jemals so heiß gewesen war. Während sie darauf wartete, dass Helen ihre Meinung änderte, leerte Tessa mehrere Flaschen mit Quellwasser, und vermutlich hatte sie ebenso viel wieder ausgeschwitzt. Kein Lüftchen regte sich, keine Biene summte. Die Schwalben, die sich unter der Dachrinne eine Festung gebaut hatten, hatten ihre Zugbrücke hochgezogen und sich in das kühle Innere der Burg zurückgezogen. Sogar die Eichelhäher hatten sich mit den Krähen auf einen Waffenstillstand geeinigt und hielten wahrscheinlich Seite an Seite ein Mittagsschläfchen in den Ästen von Helens Ahorn.

Das Fenster knarzte erneut. „Und wenn du schon mal dabei bist, nimm das hier auch gleich mit!“, rief Helen. „Glaubst du, ich brauche deine schicken Geschenke?“

Ein Morgenmantel flog hinter einem Nachthemd her. Beides hatte Tessa ihrer Großmutter zu ihrem letzten Geburtstag geschenkt.

Nun landete es auf der Kletterrose, die unkontrolliert an einem Spalier und am Verandageländer entlangrankte, und die sanften violetten und pinken Farben der Kleidungsstücke passten perfekt zu den Blüten, die die Rose seit Jahren hervorbrachte.

„Oder die Geschenke deiner Mutter!“, fügte Helen hinzu.

Tessa hoffte, ihre Mutter habe Helen nicht ein Klavier oder einen Safe geschenkt. Sie war erleichtert, als dann lediglich ein knallroter Pullover auf seinem Weg zur Stechpalme an ihr vorbeiflog, die neben der Kletterrose wuchs.

Wieder wurde das Fenster zugeknallt.

Während sie in der drückenden Hitze saß, starrte Tessa stoisch auf die Massanutten-Berge in der Ferne. Weder die Alleghenies noch die Massanutten, die den oberen Teil des Shenandoah-Tals flankierten, waren nur einfache Postkartenmotive. Man konnte sie berühren und sogar bewohnen. Seit Jahrhunderten lebten dort robuste Farmer, die die Abhänge als Herausforderung und das friedliche, blühende Tal dazwischen als die Belohnung ihrer Mühen ansahen. Das gesamte Tal war ein Beweis dafür, dass es das Landleben wirklich noch so gab, wie es von Millionen von Stadtmenschen idealisiert wurde. Nur heute schien alles wie ausgestorben zu sein auf der Fitch Crossing Road. Die ganze Zeit, die Tessa hier gesessen und darauf gewartet hatte, dass ihre Großmutter ihre Hände als Zeichen ihrer Aufgabe heben und sie ins Haus bitten würde, war kein einziges Auto vorbeigekommen. Nachdem sie von der Hauptstraße abgebogen und in Richtung Shenandoah River gefahren war, war Tessas kleiner grüner Toyota der einsame Held der Landstraße gewesen. Keine Traktoren, keine Anhänger mit Heu, keine Teenager, die den Sommernachmittag träge auf den Rücken von Pferden verbrachten.

Eigentlich hatte Helen die ganze Fitch Crossing Road für sich allein. Sollte Tessas Großmutter in diesem Haus sterben – und das hatte sie sich fest vorgenommen –, wäre ihr Leichnam sicherlich vertrocknet und mumifiziert, bevor jemand mitbekommen würde, dass sie nicht mehr da war.

Das Fenster knarzte und quietschte noch einmal. Tessa stellte sich vor, wie mittelalterliche Ritter begannen, siedendes Öl von Türmen auf die Eindringlinge zu gießen. Sie stellte die Füße wieder auf den Boden, legte ihre Hände in den Schoß und bemühte sich bewusst, die Verspannungen in ihrem Nacken zu lockern.

„Und vergiss das nicht!“, rief Helen.

Während der erste Papierangriff an einen Hagelsturm erinnert hatte, ähnelte dieser eher Schnee. Pastellfarbenen Schnee. Einer der kleinen Schnipsel segelte direkt vor Tessas Füße. Sie konnte erkennen, dass es die Ecke eines Schecks war. Wahrscheinlich einer der zahllosen, die ihre Mutter geschickt hatte – und die Helen nie eingelöst hatte. Tessa wartete darauf, dass das Fenster wieder zugeknallt wurde. Als endlich wieder Frieden herrschte, massierte sie sich den Nacken und sah sich um. Was war nur aus dem Hof geworden?

Helen kümmerte sich nicht um die Farm. Der alte Stoneburner Hof – wie er bis zum jüngsten Gericht genannt werden würde – war nie ein spektakuläres Anwesen gewesen. Es war ein Bauernhof, die Bleibe deutscher Immigranten, die heimlich Holz gefällt hatten, um daraus ihre erste Hütte zu bauen. Sie hatten die Felder mit Eseln und der Hilfe ihrer zahlreichen Söhne bestellt, und waren fröstelnd durch die von Bergen verdunkelten Nächte gezogen.

Helen, eine geborene Stoneburner, hatte die Farm fast sechzig Jahre lang so gut wie allein bewirtschaftet. Irgendwie hatte sie es geschafft, von den Erträgen zu leben und den Grund und Boden zu behalten, obwohl die Grundstückssteuern gestiegen waren. Lange hatte sie sich so durchgeschlagen, aber nun war es offensichtlich, dass diese Zeit vorbei war.

Das Land war verwahrlost. Auf dem Weg hatte Tessa auf der Auffahrt Schlaglöchern ausweichen müssen, die ungefähr so tief waren wie die Gräben, die die Straße säumten. Die Lilien und Pfingstrosen, die einst am Wegesrand blühten, wurden von Unkraut und hüfthohen Bäumchen überwuchert, und der Zaun, der den Gemüsegarten begrenzte, war kaputt und drohte umzukippen.

Auch das Haus wirkte heruntergekommen. Es gab in Virginia Tausende von Farmhäusern wie dieses: vor der Haustür eine breite, tiefe Veranda mit Blechdach, und eine weiße Holzverschalung, die eindeutig einen frischen Anstrich vertragen konnte. Eine Tür mit Fliegengitter trennte die hölzerne Haustür von der Außenwelt, um einen kühlen Luftzug und Nachbarn zu begrüßen.

Ein typisches Farmhaus, das zusehends verfiel. Die Probleme waren von außen offensichtlich und zu zahlreich, um sie aufzulisten. Und drinnen? Tessa mochte sich den Anblick kaum vorstellen. Alles, was sie wusste, war das, was aus den Erzählungen eines Nachbars alle wussten. Als Tessas Mutter Nancy Henry Whitlock ihr diese Unterhaltung geschildert hatte, war sie panisch durch die einzelnen Sätze gehetzt, als fürchte sie, niemals das Ende des Berichts zu erreichen.

„Ich habe keine Ahnung, woher Ron Claiborne überhaupt meine Telefonnummer hat, aber irgendwie hat er sie rausgefunden. Und dann will es wieder keiner gewesen sein, nehme ich an. Dann sagte er“ – und Nancy hatte seine Stimme imitiert: –, „‚Ma’am, es tut mir leid, es sag’n zu müssen, aber Ihrer Mama geht’s nich’ mehr gut. Sie geht nich’ mehr raus, un’ sie lässt auch kein’ mehr rein. Aber ich hab was geseh’n, durch die Tür. Un’ da is’ mir fast das Herz steh’ngeblieb’n. Sie wa’ immer so ordentlich … na ja, sie wa’ immer so … etepetete, wie alte Frauen nu’ mal sind. Wissen Se, was ich mein?‘“

An dieser Stelle hatte Nancy eine Pause gemacht, bevor sie mit ihrer eigenen, ungläubigen Stimme weitergesprochen hatte. „Als ob er dachte, ich wüsste wirklich nicht, worüber er redet.“

Tessa war sich immer noch nicht sicher, ob ihre Mutter über die Nachricht an sich oder eher über den Boten erschrocken gewesen war. Ein Claiborne? Ein trinkfester, lebenslustiger Claiborne zieht über eine Henry her? Tessa war natürlich die Erste gewesen, die Nancy angerufen hatte, nachdem sie das Telefonat mit Ron Claiborne beendet hatte. Nicht, dass Nancy sich von dieser oder irgendeiner anderen Unterhaltung aus der Fassung bringen ließ. Nein, Nancy war einem strikten Ritual gefolgt, das solche Situationen erforderten: Händeringen und Gestikulieren, Zähneknirschen vor Publikum, Litaneien der Sorte „Ich habe es dir ja gleich gesagt, dass es Probleme geben würde“ und „Wenn nur einmal jemand auf mich hören würde …“.

Was das Problem an sich betraf, konnten weder Nancy noch ihre Tochter das ganze Ausmaß erahnen. Helen hatte sich geweigert, Nancy oder Tessas Vater Billy in das Haus zu lassen, als sie sich selbst ein Bild hatten machen wollen. Stattdessen hatte Helen sich lieber mit ihnen im Stehcafé verabredet, das zum Walton-and-Smoot-Drugstore gehörte, aber auch erst, nachdem Nancy ihr mit dem Gesundheitsamt und dem Sheriff gedroht hatte.

Nancy zufolge hatte Helen bei dem Treffen ungepflegt ausgesehen, aber das sollte nichts heißen, denn Nancy brauchte jeden Morgen mindestens eine Stunde, um sich zurechtzumachen. Für sie gab es nichts Schlimmeres als ein liebloses Make-up.

Helen sei an dem Morgen mürrisch gewesen, hatte Nancy später berichtet. Auch das war nichts Neues. Menschen, die Helen kannten, sagten über sie, sie sei an guten Tagen eine muntere, starke und klare Persönlichkeit. Doch sie hatte selten gute Tage. Häufiger war sie übel gelaunt und mürrisch. Eine Frau, die sich nichts bieten ließ.

Also war dies alles in dieser Hinsicht nichts Neues gewesen. Dann jedoch hatte die Geschichte eine überraschende Wendung genommen: Helen hatte zugegeben – und das konnte Tessa noch immer nicht glauben –, dass sie langsamer wurde. Bill hatte sich nicht davon abbringen lassen, geduldig nachzufragen, und da hatte sie zugegeben, nein, sie könne nicht mehr so wie früher, und nein, das Haus sei nicht so sauber, wie es hätte sein sollen, und ja, sie wisse jetzt auch nicht mehr so recht weiter. Helen Stoneburner Henry, die starke Superfrau im Hauskittel, hatte eingeräumt, dass sie möglicherweise, aber auch nur möglicherweise, ein wenig Hilfe gebrauchen könnte.

Natürlich hatte Tessa gleich gewusst, wie die Unterhaltung weitergegangen war, auch ohne dass sie dabei gewesen wäre. Während Billy vorsichtig versucht hatte, mehr von Helen zu erfahren, hatte Nancy sicherlich die Leute vom Gesundheitsamt zitiert, mit denen sie gesprochen hatte: Es waren kleine, unwichtige Informationen, die Nancy zusammengetragen hatte, um eine alternde Verwandte für unzurechnungsfähig erklären zu lassen. Dann hatte sie wahrscheinlich zum Abschluss die Vorzüge jedes Altersheimes im Umkreis von zehn Meilen aufgezählt.

„Ihr werdet mich nicht in irgendein schickes Altersheim stecken, das Hunderte von Meilen von hier weg ist. Nicht, solange ich lebe. Und ihr kommt mir nicht mehr ins Haus. Jedenfalls nicht ohne Tessa. Die hat wenigstens noch ein Quentchen Verstand!“ Mit dieser wütenden Erklärung habe die Unterhaltung geendet, hatte Tessas Vater berichtet.

Also wartete Tessa. Der Spaß würde schon noch früh genug anfangen, und Tessa war wenig erfreut über die Ironie der Angelegenheit. Sie stand zwischen zwei Frauen, die sie wirklich nicht noch besser kennenlernen wollte, und würde mit ihnen den restlichen Sommer verbringen müssen. Sie würde die Zeit damit zubringen, den beiden wie zwei tänzelnden Boxern im Ring zuzusehen, die pausenlos Täuschungsmanöver durchführten. Darüber hinaus würde sie den ganzen Juli und August damit beschäftigt sein, das Haus zu streichen und zu reparieren, sollte es drinnen genauso aussehen wie draußen.

Aber war das wirklich wichtig? Was erwartete sie andererseits zu Hause in Fairfax? Wer wartete dort auf sie?

Eine Staubwolke verkündete, dass es tatsächlich noch Leben auf der Fitch Crossing Road gab. Tessa wandte den Kopf, um die Wolke beim Näherkommen zu beobachten. Im Zentrum des Staubwirbels war eine schwarze Limousine, der neue Mercedes ihrer Mutter. Nun bedeckte ihn der Sand von Fitch Crossing. Der Wagen wurde langsamer, und die Wolke legte sich. Nancy fuhr immer noch zu schnell, als sie in die Auffahrt einbog. Knapp verfehlte sie den Graben auf der einen Seite, steuerte zu stark gegen, aber es gelang ihr, das Auto gerade noch rechtzeitig auszurichten, um nicht in den anderen Graben zu rasen, der die Auffahrt säumte.

Tessa rührte sich nicht. Sie hatte das Gefühl, der restliche Sommer ginge in diesem Moment für sie zu Ende. Ihr Leben ginge zu Ende. Sie war nicht stark genug für das, was auf sie zukam. Sie würde nie wieder stark genug sein. Dennoch saß sie hier, die gehorsame Tochter, die besorgte Enkelin, die Friedensstifterin. Tessa MacRae, Highschool-Lehrerin für Englisch, Frau eines erfolgreichen Rechtsanwaltes, Überlebende. Die schwerste Zeit ihres Lebens hatte sie schon hinter sich, und sie erinnerte sich selbst daran, dass auch nichts passieren könnte, was das in den Schatten stellen würde.

Sie versuchte sich mit diesen Gedanken zu trösten, aber es gelang ihr nicht. Sie wartete ab, bis die Wagentür ins Schloss fiel und ihre Mutter die Hälfte des zugewucherten Weges zurückgelegt hatte, bevor sie aufstand.

Nancy Whitlocks Herz schlug immer schneller, wenn sie ihre Tochter sah. Dieses Phänomen hatte seinen Anfang bei Tessas Geburt im Kreißsaal genommen. Nach schmerzhaften, scheinbar ewig dauernden Wehen hatte Nancy so viele Schmerzmittel bekommen, dass ihr Herz eigentlich hätte stillstehen müssen. Aber ein erschöpfter Blick auf das verschrumpelte und verschmierte Baby, das sie aus sich herausgepresst hatte, reichte aus, um zu verstehen, dass alles, alles, was sie durchgemacht hatte, diesen einen Moment wert war.

Über die Jahre hatte Nancy darauf gewartet, dass die Eintönigkeit des Mutterdaseins einsetzen würde. Ihre Freunde integrierten ihre Kinder in das Alltagsleben. Sie sprachen über andere Dinge, freuten sich auf die Abende, die sie einmal wieder ausgehen konnten, machten regelmäßige Termine ab, um miteinander Tennis oder Golf zu spielen. Doch diese anderen Vergnügungen hatten für Nancy nie eine große Rolle gespielt.

Als sie jetzt auf ihre Tochter zuging, bemerkte sie, wie blass Tessa war. Sie hatte abgenommen und wirkte angespannt. Ihre sonst aufrechte Haltung verriet, wie müde sie war. Tessa stand auffällig ruhig da, als halte sie alle ihre Instinkte völlig unter Kontrolle. Nie war sie nervös. Falls es sie juckte, gab sie dem Reiz nicht in der Öffentlichkeit nach. Sie war eine Marmor-Madonna, erschreckend schön und beherrscht. Zumindest war sie das in Nancys Augen einmal gewesen: eine Schönheit, ausgeglichen und voller Anmut. Jetzt allerdings sah sie erschöpft aus, gequält und älter als siebenunddreißig Jahre.

„Ich wollte schon früher da sein.“ Nancy begann zu sprechen, bevor sie die Veranda erreicht hatte. Die Worte tropften langsam hervor und wurden dann zu einem Wasserfall. „Der Verkehr in Richmond war furchtbar. Dann musste ich noch tanken. Mittlerweile wäre ich fast verhungert. Ich hätte dir ein Sandwich mitgebracht, für alle Fälle, aber ich weiß ja, dass du so etwas nicht anrührst. Überhaupt isst du nicht genug. Du bist viel zu dünn! Warum bist du immer noch hier draußen? Oder bist du auch gerade erst angekommen?“

„Gram macht die Tür nicht auf. Und nein, ich war pünktlich hier.“

Der letzte Satz sollte keine Rüge sein. Tessa war nur sachlich.

Tessa war pünktlich. Selbstverständlich war sie pünktlich. Nancy war diejenige, die sich ablenken ließ, die stets vergeblich versuchte, irgendwo entspannt rechtzeitig anzukommen. Nancy wusste, dass sie oft genug alle, die sie liebte, mit ihrer Art enttäuschte. Entsprechend überging sie auch den zweiten Satz ihrer Tochter.

„Sie macht nicht auf? Warum liegen denn ihre Sachen hier herum?“ Sie deutete auf den Rosenstrauch. „Und was ist mit dem ganzen Papier?“

Tessa zuckte mit den Schultern.

„Vielleicht ist sie krank.“ Nancy rannte die Stufen hoch so schnell sie konnte. Sie riss die Tür mit dem Fliegengitter auf und drehte die Klinke. Als nichts passierte, fing sie an, mit der Faust zu hämmern: „Mutter! Mutter!“

„Ich glaube nicht, dass das etwas bringt.“

Nancy hämmerte weiter. „Vielleicht ist ihr etwas passiert.“

„Solange nichts mit ihren Ohren ist, bringt uns das gar nichts.“

Abrupt hörte Nancy auf, die Tür zu bearbeiten. „Fällt dir vielleicht etwas Besseres ein, Tessa? Anscheinend hast du ja bisher nichts unternommen und hier nur herumgesessen. Wer weiß? Vielleicht liegt sie längst tot im Flur.“

„Sie war ganz lebendig, als ich hier angekommen bin, sehr lebendig, als sie die Sachen aus dem Fenster geschmissen hat, und ebenfalls lebendig, als sie das Fenster zugeknallt und die Vorhänge geschlossen hat.“

„Meinst du wirklich, sie will uns nicht hineinlassen?“

„So viel ist klar.“

Nancy trat einen Schritt zurück und starrte die Haustür an. Wie alles andere hier brauchte auch die eine neue Lackierung. Das Dach musste repariert werden; die Veranda benötigte neue Dielen; die Fenster mussten geputzt werden; das Fliegengitter in der Tür, die sich vor der eigentlichen Haustür befand, musste geflickt werden.

Die hölzerne Haustür hatte einige Generationen von Stoneburners überlebt, und das konnte man ihr ansehen. Nancy war vor vielen Jahren durch diese Tür hinausgegangen und hatte nie zurückgeblickt. Jetzt klopfte sie noch einmal kräftig daran, nur so.

„Ich glaube, sie wird schon irgendwann herunterkommen“, sagte Tessa. „Wenn sie uns lange genug bestraft hat.“

„Bestraft?“

„Dafür, dass wir darauf bestanden haben, dass sie so lebt, wie wir es für richtig halten.“

„Ich nehme an, du glaubst, ich hätte nicht das Recht dazu.“ Nancy konnte spüren, wie sie ihre Schultern hängen ließ. Sie war sechzig, aber sie sah jünger aus. Viel jünger, wenn sie ausgeruht und einigermaßen zufrieden war. Im Moment traf nichts davon zu. Zwischen ihren Brüsten, die in einem Büstenhalter eingeklemmt waren, wie ihn auch die eiserne Jungfrau getragen hätte, bahnte sich der Schweiß seinen Weg. Nancy hätte sich gern die figurformende Fein-strumpfhose vom Körper gerissen und sich damit an einem Pfosten der Veranda aufgehängt. Seit einer Woche hatte sie keine Nacht mehr durchgeschlafen, aus Sorge, was ihr in diesen Tagen bevorstehen würde. Die Tränensäcke unter ihren Augen warfen ihren eigenen Schatten, und sie hatte das Gefühl, sie könnte das zweite Kinn förmlich spüren, das ihr gerade wuchs.

Tessa seufzte nicht. Sie war ein ruhiger, dunkler See, und was immer unter der Oberfläche verborgen war, blieb unsichtbar. „Jetzt sind wir hier“, sagte Tessa. „Zum Umkehren ist es zu spät. Ich habe mir den Rest des Sommers freigehalten, genau wie du. Wir können eigentlich nur sitzen bleiben und erst einmal abwarten.“

„Worauf sollen wir warten? Sie hat sich eingeschlossen wie in einem Gefängnis.“

„Hast du keinen Schlüssel?“

„Wozu brauche ich einen Schlüssel? Sie schließt die Tür nie ab. Das habe ich ihr hundert Mal gesagt, dass sie die Tür abschließen soll …“

„Nun gut, es sieht so aus, als habe sie dieses eine Mal auf dich gehört.“

Nancy guckte ihre Tochter kurz an und sah den Schatten eines Lächelns um ihren Mund. Die beiden Frauen waren sich überhaupt nicht ähnlich. Tessa war groß und hatte schmale Hüften und kleine Brüste. Sie hatte leicht schräge grüne Augen und glatte braune Haare.

Nancy war zwar schon älter, aber sie sah sich immer noch als Teenager und Cheerleader. Stämmig, blond und so forsch, wie man mit Arthritis und Bluthochdruck eben forsch sein konnte. Ihre Haare kräuselten sich je nach Wetterlage; sie bekam Hitzepusteln in der Sonne. Sie machte regelmäßig Sport, um die ewig drohenden Pfunde loszuwerden, und ließ ihr Haar von dem besten Friseur in Richmond bändigen. Sie trug ein teures Sonnenschutzmittel unter einer noch exklusiveren Tagescreme und Rouge, mit dem sie versuchte, ihr eckiges Gesicht optisch ein wenig abzurunden.

„Ich glaube, sie will uns nur zeigen, wer hier der Boss ist“, sagte Tessa. „Wenn Gram sicher ist, dass wir verstanden haben, worum es ihr geht, wird sie uns bestimmt reinlassen. Bis dahin sollten wir es uns bequem machen.“

Nancy brauchte noch nicht einmal über diesen Vorschlag nachzudenken: „Nein.“

„Nein?“

„Hast du hinten geguckt, ob da die Tür offen ist?“

„Es wird abgeschlossen sein.“

„Also hast du sie nicht kontrolliert.“

„Ich hatte ein komisches Gefühl, einfach hineinzustürmen, wenn es ihr so offensichtlich wichtig ist, mich nicht hineinzulassen.“

„Also gut, dieses Problem habe ich nicht. Es gehören zwei dazu, dieses Spiel zu spielen. Sie ist nicht die einzige Henry, die dickköpfig ist. Ich habe eine lange Reise hinter mir, und ich werde die Nacht nicht hier auf der Veranda verbringen. Die Mücken werden uns auf…“

„Für Mücken ist es noch viel zu früh“, unterbrach Tessa sie. „Kannst du nicht einfach noch ein bisschen warten, ob sie uns nicht hineinlässt, jetzt, wo wir zu zweit sind?“

Nancy war kurz davor zu explodieren. Für diese Reise hatte sie ihr ganzes Leben, ihre ganzen Termine umorganisiert. Sie hätte die Chance gehabt, nächste Woche die Gastgeberin eines Brunchs des Gartenclubs zu sein. Auf diese Ehre hatte sie schon lange gewartet, und vielleicht würde sie diese Gelegenheit nie wieder bekommen. Sie hatte ihren Mann in Richmond gelassen und fürchtete nun, er habe zu viel Zeit, darüber nachzugrübeln, was alles in ihrer Ehe fehlte, jetzt, da sie nicht wie sonst immer bei ihm war. „Und wofür das alles?“ Nancy sprach es laut aus, als könne Tessa ihre Gedanken lesen. „Bestimmt nicht, um hier draußen zu stehen und darum zu betteln, in das innere Heiligtum des Hauses meiner Mutter eingelassen zu werden.“

Sie machte auf dem Absatz kehrt und ging die Stufen hinunter. Nancy drehte sich nur einmal um, um zu sehen, ob ihre Tochter ihr folgte. Tessa kam nach, aber sie sah nicht glücklich aus.

„Gut“, sagte Nancy. „Wir finden es schon raus. Vom Obstkeller führt noch eine Tür in die anderen Kellerräume.“

Tessa antwortete nicht.

Die rückwärtige Haustür war ebenfalls abgeschlossen, und der Obstschuppen war verriegelt. Die meisten Fenster im Erdgeschoss waren geschlossen und wahrscheinlich auch fest abgeriegelt. Alle, bis auf eines. Nancy stand unter diesem Fenster, das in das Zimmer führte, das ihre Mutter den Salon nannte. Sie sah hinauf. Der Garten war an dieser Stelle etwas abschüssig, daher war das Fenster zu hoch und Nancy konnte nicht hineinsehen. Aber es stand offen. Weit offen, und es war groß genug, damit Nancy hineinklettern konnte.

„Bist du damals als Teenager immer so rausgeschlichen?“, fragte Tessa.

„Wohin hätte ich wohl schleichen sollen? Sieh dich doch um. Das hier ist Niemandsland. Wahrscheinlich gibt es sogar ein Straßenschild, das darauf hinweist, dass hier nichts ist. Ich bin sicher, dass ich am Anfang der Straße daran vorbeigekommen bin.“

„Du hattest doch sicherlich Freunde, die einen Wagen hatten.“

„Ich hatte keine Zeit für Freunde. Wenn ich mit allen Aufgaben fertig war, die mir deine Großmutter auftrug, war es zu spät, um Spaß zu haben.“

„Auch wenn es vielleicht eine gute Idee ist, durch ein Fenster hineinzuklettern, würde ich nicht vorschlagen, damit hier und jetzt anzufangen. Es ist zu hoch.“

Nancy registrierte den vernünftigen Ton in Tessas Stimme. Sie hörte sich eher an wie eine Mutter, die sich Mühe gibt, geduldig mit einem widerspenstigen Vorschulkind umzugehen. Ein Diplomat, der Kriegsparteien bittet, einzulenken. In dieser Hitze war das eine fatale Mischung. Nancy richtete sich zu ihren ganzen ein Meter vierundsechzig auf. „In der Garage steht eine Leiter. Früher jedenfalls stand dort eine.“

Tessa legte ihre Hand auf Nancys Arm. „Lass uns warten.“

Nancy schüttelte sie ab. „Also, wir müssen von vornherein die Regeln klären. Deine Großmutter darf nicht bestimmen, wie es hier diesen Sommer ablaufen wird. Wenn sie jedes Mal, wenn wir ihr helfen wollen, Barrikaden aufstellt, wird sich hier im Haus nichts verändern.“ Sie ging auf die freistehende Garage zu, die genauso verfallen war wie das Haus.

„Du zeigst ihr also, wer hier der Boss ist?“

„So würde ich das nicht ausdrücken.“

„Es ist egal, wie du es ausdrückst.“

Nancy wurde in ihrer Hast gebremst und wandte sich um: „Ich habe mit ihr zweiundzwanzig Jahre lang gelebt. Was auch immer du glaubst, über deine Großmutter zu wissen, ich weiß es besser.“

Tessa stand ruhig da, aber ihr Gesichtsausdruck sagte alles. Sie verstand nicht, was ihre Mutter trieb – und würde es nie verstehen. Es war egal, wie sehr Nancy versuchte, an ihre Tochter heranzukommen und ihre Unterstützung zu gewinnen, Tessa würde ihre Mutter nie als etwas anderes als eine leichtgewichtige, hübsch verpackte Last empfinden. Genau wie ihr Vater.

„Es wird ein langer, heißer Sommer werden“, sagte Nancy. „Und er wird dir noch länger vorkommen, wenn du den Rest der Zeit damit verbringst, mich falsch einzuschätzen, Tessa.“

Ohne Tessas Reaktion abzuwarten, ging sie wieder zur Garage hinüber. Erst als sie ein lautes Klappen hörte, hielt sie inne und drehte sich um. Tessa zuckte mit den Schultern und trat ein wenig zurück, um das Fenster über ihrem Kopf sehen zu können.

Das Fenster, das gerade noch offen gewesen war, wurde nun fest geschlossen. Nancy sah zu, wie die alte Frau drinnen die Vorhänge zuzog und sich gegen die Welt draußen abschottete.

Panik war für Helen Henry ein alter Feind, den sie gewöhnlich überwältigen konnte, so wie sie mit ihren zweiundachtzig Jahren die meisten ihrer Feinde überwältigt hatte. Nun krallte er sich in ihre Eingeweide und legte seine Hände um ihren Hals, so dass sie kaum noch atmen konnte. Das lag zum Teil daran, dass im Haus mittlerweile kein einziges Fenster mehr offen war und die Innentemperatur langsam auf die 40 °C zuging. Aber eben nur zum Teil.

Sie stand mit ihrem Rücken an dem schmalen Streifen Wand neben dem Salonfenster und rang nach Atem. Als das Fenster noch offen war, hatte sie von dort mit anhören müssen, wie ihre einzigen lebenden Verwandten das Für und Wider diskutierten, ihr Haus zu stürmen. Erst dann unterlag sie der Angst, die schon seit einer Woche nur eine Handbreit entfernt war.

Jetzt waren sie hier. Früher oder später würden sie hereinkommen. Dann würden sie alles sehen.

Verzweifelt ließ sie den Kopf sinken. Sie bemerkte, dass ihr an ihrem blauen Hauskleid zwei Knöpfe fehlten, so dass es über ihren hängenden Brüsten auseinanderklaffte. Sie hatte Tausende Knöpfe, die sie hätte annähen können, aber es fehlte ihr die Energie dazu. Ihre Figur war birnenförmig, und sie trug dieses Kleid und andere, die ähnlich geschnitten waren, um ihre breiten Hüften zu verbergen. Gebärfreudiges Becken, hatte ihre Mutter ihr damals gesagt. Leider nur zu wahr, dachte Helen grimmig.

„Mutter!“

Auf Nancys Ruf knirschte Helen mit den Zähnen, die größtenteils noch ihre eigenen waren. Es war allgemein bekannt, dass die Zähne eines Stoneburners ihre Besitzer häufig überlebten. Sie überlegte kurz, ob sie dafür beten solle, dass auch sie im Vollbesitz ihrer Zähne sterben möge, und zwar auf der Stelle. Aber sie bezweifelte, dass sie der Herr nur auf Grund solch eines fadenscheinigen Vorwands zu sich nehmen würde. Sie musste sich das Beten aufsparen, für den Fall, dass es richtig ernst werden würde.

In dieser Situation musste sie entweder einlenken oder zum Angriff übergehen. Ängstlich war sie nicht. Sie hatte es in ihrem Leben nicht leicht gehabt, aber sie war durchgekommen. Sie hielt die Panik mit einer Hand in Schach, während sie mit einer Machete in der anderen einen Pfad durch ihren persönlichen Dschungel schlug. Die Hand, die das Messer hielt, war das Einzige, was sie nach außen preisgab. So hielt sie es seit dem Tod ihres Mannes, und diese Seite musste sie auch jetzt zeigen.

Wenn sie diese Hand jetzt nicht ins Spiel brachte, würden ihre Tochter und ihre Enkelin ihre anderen, verletzlichen Seiten sehen. Sie würden sich auf sie stürzen, und durch ihre Schwäche wäre sie eine leichte Beute. Vor ihrem inneren Auge sah sie Nancy und Tessa mit Wolfskörpern, und sie war darüber nur wenig beschämt.

„Mutter!“

Sie dachte, gehört zu haben, wie Tessa versuchte, ihre Mutter zum Schweigen zu bringen. Sie hätte ihrer Enkelin sagen können, dass alle Versuche in diese Richtung vergebens waren. Allerdings war sie sich sicher, dass Tessa das selbst wusste, aber nicht anders konnte. Nach außen erschien Nancy vielleicht flatterhaft, manchmal sogar töricht, aber Helen kannte die eiserne Entschlossenheit, die ihre Tochter auch auszeichnete. Was sie wollte, bekam sie normalerweise. Und so und nicht anders war sie es auch gewöhnt.

Helen zog den Vorhang ein kleines Stück zur Seite und linste aus dem Fenster. Die beiden Frauen standen immer noch da, während die Sonne auf sie niederbrannte. Nancy verblühte wie eine Nelke im Sonnenlicht. Helen verspürte einen Hauch von Sympathie zu ihrer Tochter. Der Schweiß rann ihr den eigenen Rücken herab, und das Kleid war auch unter ihren Armen nass. Unglücklicherweise war sie selbst diejenige, die alle diesen Qualen aussetzte.

Helen ließ den Vorhang zurückfallen und richtete sich auf. Es war so weit. Wenn sie noch länger wartete, hätte sie dazu nicht mehr die Kraft. Sie hatte keine andere Wahl, und ihre einzige Chance bestand darin, so zu tun, als hätte sie alles im Griff, auch wenn das nicht der Wahrheit entsprach.

Sie bahnte sich ihren Weg zur Haustür und versuchte, nicht allzu genau den Zustand der Zimmer auf dem Weg dorthin wahrzunehmen. Der schwere Riegel quietschte, als sie ihn zurückschob, als sei er nicht häufig benutzt worden – was zutraf. Die Luft, die hereinströmte, war zwar heiß, aber immerhin war es ein Luftzug. Sie atmete tief ein; dann schloss sie hinter sich die Tür, trat unsicher auf die Veranda hinaus und ging zur Brüstung.

Der Morgenmantel und das Nachthemd, die sie aus dem Fenster geworfen hatte, lagen ganz in der Nähe, sie hätte danach greifen können. Erneut überkam sie ein Gefühl der Scham. Bislang hatte sie keins der beiden Kleidungsstücke je getragen. Sie hatte noch genug alte, die sie auftragen konnte. Aber manchmal hatte sie sie aus dem Schrank genommen, um sie anzuschauen und den seidigen Stoff mit ihren schwieligen Fingerspitzen zu berühren. Sie nahm das Hemd und den Morgenmantel vom Boden und legte sie über den Arm. Dann streckte sie die Hand nach einem Pullover aus, den Nancy ihr zu Weihnachten geschenkt hatte. Die Zweige der Stechpalme pieksten ihr in die Finger.

Die beiden waren noch nicht wieder nach vorne gekommen. Aber sie war sich sicher, dass sie schon unterwegs waren. Welcher Dummkopf würde lange in der prallen Sonne stehen, wenn es nicht unbedingt sein musste? Sie überlegte, was eine gute Begrüßung wäre, wenn sie die beiden sah.

Aber sie hatte keine Zeit mehr, sich Worte zurechtzulegen.

Zuerst tauchte Tessa auf, was nicht weiter verwunderlich war, denn Nancy war wahrscheinlich noch damit beschäftigt, einen Plan auszuhecken und sich unnötigerweise aufzuregen. Tessa hielt inne, als sie ihre Großmutter auf der Veranda sah, aber sie sagte nichts. Dafür bekam sie von Helen Pluspunkte. Sie konnte sich darauf verlassen, dass Tessa kein Theater veranstalten würde. Ihre Enkelin war in Krisenzeiten so souverän wie Jackie Kennedy.

„Dann kommt halt rein.“ Helen machte einen Schritt auf die Tür zu. „Es hat nicht den Anschein, als würdet ihr meine Andeutungen verstehen und endlich nach Hause fahren.“

„Ich hatte Angst, du würdest anfangen, die ganzen Möbel aus dem Fenster zu schmeißen.“ Tessa ging die Treppe hinauf und hielt auf der obersten Stufe an. „Wie geht es dir, Grandma?“

„Genauso, wie es mir ging, als du mich das letzte Mal gefragt hast. Und da damit deine Frage beantwortet ist, kannst du jetzt auch wieder gehen.“

Nancy bog um die Ecke und starrte ihre Mutter an. „Ich nehme an, du findest das witzig, Mutter? Steht nicht in der Bibel, man soll Gäste willkommen heißen?“

„Vielleicht halten einige Leute eine Klapperschlange, die sich die Stufen hinaufwindet, für einen Gast, aber mein gesunder Menschenverstand sagt mir, mich nicht blind auf Bibelverse zu verlassen.“

Nancy ging auf sie zu. „Redet eine Christin so über ihre Lieben, die ihr helfen wollen?“

Helen wich nicht von der Stelle. „Ich habe euch nicht darum gebeten.“ Nancy wollte gerade etwas erwidern, als Tessa einen Schritt vorwärts machte und sich mit entschiedener Miene zwischen die beiden Frauen stellte.

„Hört zu“, sagte Tessa. „Wenn ihr beiden nicht aufhört euch anzuzicken, wird dieser Sommer für uns alle furchtbar. Grandma, es wäre nett gewesen, wenn du mich gleich hineingelassen hättest, als ich angekommen bin. Aber ich nehme an, es ist dein Recht, mich warten zu lassen. Es ist schließlich dein Haus.“

„Da hast du verdammt recht.“

„Und du hattest auch das Recht, dir um Gram Sorgen zu machen“, wandte sich Tessa an ihre Mutter.

„Wir brauchen keinen Schiedsrichter, Tessa, und natürlich habe ich mir Sorgen gemacht.“

Tessa ging ein Stück zurück, um beide ansehen zu können. „Lasst uns einfach hineingehen und den Rest vergessen.“

Helen wusste, dass dies der Augenblick war, um noch ein letztes Mal pathetisch zu werden. „Ich will euch hier nicht haben. Ich kann sehr gut für mich alleine sorgen. Das tue ich schließlich schon seit Jahren.“

Nancy wollte anfangen, all die Anzeichen aufzulisten, nach denen Helen offensichtlich für niemanden sorgen konnte, aber Tessa unterbrach sie mit einer Handbewegung. „Lass uns dir helfen“, sagte sie zu ihrer Großmutter.

Helen atmete tief ein und wurde still. Hilfe. Dieses Wort hatte für sie nur eine vage Bedeutung. Andere mochten sich etwas darunter vorstellen, sie nicht. Doch sie bemerkte den Gesichtsausdruck ihrer Enkelin. Tessa war wie Helen, selten zeigte sie ihre Gefühle. Aber jetzt, in diesem Moment, war Besorgnis in ihren Augen zu lesen. Es war die Sorge eines Menschen um einen anderen, nicht die Angst eines Verwandten, die tief aus dem Herzen kommt und auf schönen, gemeinsamen Erinnerungen beruht. Helen besann sich wieder. Sie hatte keine andere Wahl.

„Ich will kein Wort hören, versteht ihr? Ich will kein Wort davon hören, dass ich den Hof vernachlässigt habe. Glaubt ihr, ich wüsste das nicht?“

Tessa antwortete nicht. Nancy seufzte. „Lasst uns einfach hineingehen.“

„Es ist mir egal, was ihr denkt“, sagte Helen. „Ich gehe hier nicht weg. Es sei denn, der Herr nimmt mich zu sich.“ Sie wartete die Antwort nicht ab, sondern drehte sich um und humpelte steif zum Haus.

Sie hörte, wie hinter ihr Tessa ihrer Mutter zuflüsterte: „Du hast gehört, was sie gesagt hat, oder?“

„Mein Gehör ist ausgezeichnet.“

Helen wies die beiden nicht darauf hin, dass auch sie ausgezeichnet hören konnte. Sie schob die Tür auf und ging dann ein Stück zur Seite. Sie sah die beiden anderen an.

Auf der Schwelle machte Tessa einen Schritt aus dem Weg, um ihre Mutter zuerst hineingehen zu lassen. Helen sah Nancy an, deren Augen einen Moment brauchten, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen. Tessa kam nach ihr in den Flur und pfiff leise durch die Zähne. Und nach dieser Warnung sprach sie als Erste.

„Mein Gott“, sagte sie leise zu sich selber.

Ohne hinzusehen wusste Helen genau, was ihre Tochter und ihre Enkelin sahen. Stapel, Stapel und noch mehr Stapel, die an den Wänden standen, die nichts als schmale Gänge in der Mitte des Raumes freiließen und die sich zu Festungen auftürmten, die sich bis knapp unter die Decke erstreckten. Müslipackungen zu dünnen Paketen zusammengelegt, leere Marmeladengläser, die vor den Fenstern standen und im Sonnenlicht glitzerten, Zeitschriften und Bücher, die sie aus den Mülleimern in Toms Brook, Mauertown und Woodstock gerettet hatte und die ignorante Mitbürger wegwerfen wollten. Decken und Handtücher waren sorgsam zusammengelegt und formten einen eigenen Stapel. Defekte Küchengeräte, die sie irgendwann einmal reparieren würde, sobald sie die rechten Ersatzteile gefunden hätte, Plastiktüten, die mit Plastiktüten gefüllt waren – war es nicht Verschwendung, sie wegzuwerfen, wenn man sie noch einmal benutzen konnte? Kataloge aus dem Gartencenter, deren Abbildungen zu schön waren, um sie sich nicht noch einmal anzuschauen, Plastikblumentöpfe, die darauf warteten, neu bepflanzt zu werden.

Und noch mehr Dinge, viel mehr.

„Nun guckt nicht so. Es sind nur meine Sachen“, bemerkte Helen. „Ich benutze das alles noch. Einige lernen es eben nie, klarzukommen, zu sparen und mit ihren Dingen sorgsam umzugehen oder Altes noch einmal zu benutzen, anstatt alles wegzuschmeißen und immer neu zu kaufen. Ich jedenfalls bin stolz darauf, dass ich es anders mache. Es gibt nichts, was ich brauche und nicht hier habe. Überhaupt nichts! Und wer kann das schon von sich behaupten?“

Weil sie den Schock und das Mitleid in den Gesichtern der beiden einzigen Menschen, die sie auch nur ein wenig liebten, nicht mehr ertragen konnte, drehte Helen sich um. Sie ging die vollgestellte Treppe hinauf, den Flur entlang und in ihr Schlafzimmer. Dort schloss sie die Tür hinter sich.

2. KAPITEL

Tessa wurde plötzlich klar, dass Nancy sich hinsetzen musste, um sich von diesem Anblick zu erholen. Aber natürlich gab es keinen freien Stuhl, alle Sitzgelegenheiten dienten als Unterlagen für einen Stapel „Zeug“, wie Helen es ausdrückte. Also half Tessa ihrer Mutter, dicke Musterbücher mit Tapeten und Polsterstoffen von einem Sessel zu heben, der in der Ecke stand. Sie mussten einige Male gehen, um die Bücher auf die Veranda zu bringen, weil sonst nirgendwo Platz für den Kram war oder er einen der Pfade in die restlichen Räume vollgestellt hätte.

Nachdem Tessa den letzten Rest nach draußen bugsiert hatte, fand sie Nancy in der Ecke. Sie hatte den Kopf auf die Hände gestützt.

„Nun gut“, räumte Tessa ein. „Es ist schlimmer, als wir es uns vorgestellt haben.“

„Ich warte nur darauf, dass mir eine Ratte über die Füße läuft.“

Zum ersten Mal übertrieb Nancy hier nicht. Das Haus sah wirklich danach aus. Wenn man einen Stapel aus der bisherigen Ordnung brachte, würde man bestimmt ein Dutzend Kakerlaken aufschrecken. Vielleicht hatte Helen auch angefangen, Nagetiere zu sammeln, in der Hoffnung darauf, die Tierchen seien irgendwann zu irgendetwas nütze.

„Was glaubst du, hatte sie mit den Tapeten- und Bezugsmustern vor?“, fragte Nancy. „Vielleicht wollte sie diese ganzen Stapel übertapezieren, damit wir sie nicht mehr sehen können?“

„Es klebt ein Etikett darauf. Sie stammen von einem Inneneinrichter aus Strasburg. Ich nehme an, sie sah sie in einem Müllhaufen liegen, als sie in der Stadt war. Sie hat sie mitgenommen.“

Nancy stöhnte.

„Du hattest recht.“ Tessa konnte einem anderen Menschen recht geben, wenn es angemessen war, obwohl sie sich dabei seltsam fühlte. „Ich nehme an, ich dachte …“ Sie wusste nicht, wie sie ihre Gedanken ausdrücken sollte.

„Du dachtest, ich würde hier ein Problem erfinden, weil ich sonst nichts Besseres zu tun habe.“ Nancy sah sie an. „Denkst du, ich wüsste das nicht?“

„Jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt, um in die Mysterien unserer Beziehung abzutauchen. Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut, dass ich das Ausmaß des Problems falsch eingeschätzt habe.“

„Es ist ernst.“ Nancy deutete mit einer Handbewegung in den Raum. „Ein Streichholz, Tessa, ein Funken würde reichen, um das alles in Flammen zu setzen.“

„Wenn du das übernehmen möchtest, gehe ich raus und lenke sie ab. Es würde uns eine ganze Menge Zeit sparen.“

Nancy lächelte, und Tessa wurde es überraschend warm ums Herz. Zwar lächelte Nancy häufig – zu häufig –, aber ihre Mundwinkel blieben dabei normalerweise zu lang oben, als bezwecke sie damit, bemerkt und für ihr lebenslustiges Wesen geliebt zu werden. Dieses Lächeln hier verfolgte keinen Zweck. Es erschien einfach und verschwand ebenso schnell.

„Können wir heute Nacht im Haus schlafen, oder gefährden wir damit unsere Gesundheit?“

„Mit der Hitze da draußen müssen wir wahrscheinlich mit spontaner Selbstentflammung rechnen.“ Tessa hielt inne. „Und ob in den Betten Platz für uns ist?“

„Ich habe sie jahrelang bearbeitet, damit sie eine Klimaanlage einbauen lässt. Ich habe ihr sogar vor einigen Jahren einen Installateur besorgt, der das ganze Haus neu verkabelt hat, aber weiter bin ich nicht gekommen. Sie war wütend. Und die Hitze belastet ihr Herz. Ich verstehe sie nicht. Ich habe doch das Geld. Für mich ist es eine Kleinigkeit.“

„Für sie aber nicht.“

„Na, jetzt ist sie oben. Wir sollten entscheiden, was wir tun wollen, solange wir noch die Chance dazu haben.“

„Oder bevor sie wieder loszieht, um Müll einzusammeln.“ Tessa fuhr mit dem Zeigefinger über eine Pyramide aus Vasen, die aus einem Blumengeschäft zu stammen schienen. „Wann warst du das letzte Mal hier?“

„Es ist viel zu lange her, wie man sieht.“ Nancy zählte die Jahre an den Fingern ab. „Letzten Sommer? Nein, das kann nicht stimmen. Ich habe sie häufiger gesehen, aber dann haben wir uns immer irgendwo anders getroffen. Wir haben uns beim Gottesdienst gesehen oder im Drugstore. Und immer hat sie hinterher gesagt: ‚Du brauchst nicht mit nach Hause zu kommen, ich muss noch etwas erledigen‘ oder ‚Ich komme schon alleine klar‘.“ Nancy zog die Stirn kraus. „Ich weiß, dass wir hierher zurückgekommen sind, nachdem Kayley gestorben war. Ich …“ Sie sprach nicht weiter.

Auch Tessa schwieg. Nachdem Kayley starb. Das war vor drei Jahren. Sie nahm an, dass alle ihre Zeit so einteilten. Vor Kayley, nach Kayley. Bevor Kayley starb, war ich glücklich. Danach war ich verzweifelt. Kayleys Todestag markierte den Beginn einer neuen Zeitrechnung.

An jenem Tag wurde Tessas fünfjährige Tochter von einem Auto erfasst und starb. Der Fahrer des Wagens war betrunken.

„Das war das letzte Mal, dass ich hier drinnen gewesen bin. Da bin ich mir sicher.“ Nancy sprach schon wieder zu schnell. „Bitte entschuldige, ich habe nicht nachgedacht, was ich sage …“

„Kayley ist tot. Wir können nicht so tun, als wäre es nicht passiert.“ Tessa legte ihre Hände in den Rücken und presste sie gegen ihr Kreuz, sie streckte sich, indem sie leicht hin- und herschwankte. „Nach der Beerdigung bin ich auch hierhergekommen. Das Haus sah so weit in Ordnung aus, oder?“ Natürlich hätte an diesem Tag auch der Shenandoah das Haus überfluten können, und sie hätte es nicht gemerkt, selbst wenn das Wasser ihr bis zu den Knien gestanden hätte.

„Damals sah es nicht so aus“, gab Nancy zu. „Tessa, was bin ich nur für eine Tochter?“

Tessa verzog das Gesicht. „Eine Tochter, die nie ins Haus ihrer Mutter eingeladen wurde. Sie wollte nicht, dass du es erfährst. Wenn du dich nicht durchgesetzt hättest, hätten wir es nie herausgefunden.“

„Und was machen wir jetzt?“ Nancy rang ihre Hände im Schoß. Sie sah aus, als würde sie gleich anfangen zu weinen.

Tessa hatte sich das auch schon gefragt. Kleinigkeiten schienen jetzt riesig. War es ungefährlich, in diesem Haus zu schlafen? Gab es überhaupt einen Platz, um zu schlafen und zu essen? Konnte man das einzige Bad benutzen? Auch wenn man die Fenster wieder öffnete, würde es genug Luft geben, um die Räume ein wenig zu kühlen?

Und was war geschehen, dass Helen es hatte so weit kommen lassen?

„Wir können es nicht abfackeln“, stellte Tessa fest. „Sie würde mit verbrennen, nur um uns zu ärgern. Und wir können nicht anders, als hier zu übernachten. Morgen würde sie uns nicht mehr hereinlassen.“

„Ich bin überrascht, dass sie uns heute die Tür geöffnet hat.“

„Mom, sie weiß, dass sie Hilfe braucht. Aber es hat so lange gedauert, bis sie es zugeben konnte, weil sie Angst hat.“

„Sie hatte noch nie in ihrem ganzen Leben vor etwas Angst. Du hättest sie sehen sollen, als ich noch ein kleines Mädchen war. Sie hat …“

Tessa hörte nur mit halbem Ohr zu, als ihre Mutter die alten Geschichten aus ihrer Kindheit erzählte. Wie ihre Großmutter rigoros gegen Mokassin- und Klapperschlangen vorgegangen war und einmal sogar gegen einen großen Schwarzbären, der dem Hühnerstall einen Besuch abstatten wollte. Sie wusste, es hatte keinen Sinn, dagegen zu argumentieren. Sie schaute kurz auf ihre Uhr, eine schmale Uhr mit Goldarmband und kleinen Juwelensplittern, die die Ziffern darstellten. Sie hatte sie zu ihrem letzten Geburtstag von Mack, ihrem Mann, geschenkt bekommen. Das war seltsam. Hatte er immer noch nicht begriffen, dass ein Augenblick dem nächsten glich, seitdem Kayley fort war? Es war nur ein weiteres Anzeichen dafür, dass er sie nicht mehr verstand.

Sie sah Nancy an, der die Luft ausgegangen war. „Es dauert noch ungefähr sieben Stunden, bis es dunkel wird. In der Zeit können wir eine ganze Menge hinausschaffen.“

Nancy war angeschlagen, das sah Tessa. „Ist das dein Ernst?“

„Als Erstes muss das Altpapier weg. Mindestens das muss nach draußen, bevor es Abend wird.“

„Wo um Himmels willen sollen wir es hinbringen?“

„Erst einmal in den Vorgarten. Wir können es mit einer Plane abdecken, ich bin sicher, dass sie eine hat.“

„Wahrscheinlich hat sie ein Dutzend, eine riesige Auswahl an Größen und Farben. Alle fein säuberlich zusammengefaltet und in der Dusche oder im Ofen verstaut.“

„Morgen kümmern wir uns darum, jemanden zu finden, der uns hilft, es zu entsorgen.“

„Sie wird niemanden ins Haus lassen. Das sollte dir langsam klar sein.“

Tessa befürchtete, dass Nancy recht hatte. Es hatte länger als eine Stunde gedauert, bis Helen sie hereingelassen hatte. Niemand, der nicht zur Familie gehörte, dürfte näher als bis zur Veranda kommen. So leicht es auch sein würde, einige Leute dafür zu bezahlen, den ganzen Inhalt des Hauses wegzuschaffen, es wäre nicht möglich, ohne dass Helen sich wahnsinnig aufregen würde.

„Willst du es ihr sagen, dass wir das Haus aufräumen, oder möchtest du, dass ich das übernehme?“

„Ich mach’s schon.“ Nancy rührte sich nicht von der Stelle.

„Lass mich das machen. Ich bin nur ihre Enkelin, mir muss sie nicht so viel beweisen.“

„Sie wird einen Anfall bekommen.“

Tessa vermutete dasselbe. Auf eine Art hatte Helen schon begriffen, dass die Stapel wegmussten. Vielleicht wünschte sie sich sogar, dass sie verschwanden, denn dann könnte sie sich wieder frei im Haus bewegen. Tessa konnte noch immer nicht recht glauben, was sie hier sah. Warum würde jemand so viele nutzlose Dinge horten, dass er nicht mehr genügend Platz hatte, um ein normales Leben zu führen? Sie hatte schon von Messies gehört, aber nun gewann der Begriff für sie eine neue Bedeutung.

„Ich bringe es lieber gleich hinter mich“, sagte sie.

„Du solltest dir vielleicht eine Schnur um die Hüfte binden, für den Fall, dass du verloren gehst. Ich hätte dir zu Brotkrumen geraten, aber das würde die Mäuse aus ihrem Versteck locken.“ Nancy stand auf. „Ich schaffe in der Zwischenzeit die Zeitungen raus. Wenigstens ein paar.“

„Wir müssen auf unsere Rücken aufpassen. Nimm immer nur kleine Stapel.“

Nancy berührte ihre Tochter am Arm. „Du musst entschieden wirken, Tessa. Wir dürfen sie nicht bedauern. Entweder fliegt das Zeug raus oder sie. So einfach ist das.“

„Das weiß sie bestimmt. Du hast ihr ja schon mit dem Gesundheitsamt gedroht.“

„Ich hätte sie schon vor Monaten hergeschickt, wenn ich geahnt hätte, dass es so schlimm ist.“

Die Behörden einzuschalten wäre vielleicht der vernünftigere Ansatz gewesen, aber was hätte das für Helen bedeutet? Die Farm, das Haus waren ihr Leben. Im Gegensatz zu ihrer Mutter glaubte Tessa nicht daran, dass es eine gute Idee war, ihre Großmutter in ein schickes Altersheim in eine fremde Stadt zu stecken. Es würde nichts bewirken, außer dass sie früher sterben würde.

Sie ließ Nancy zwischen den Stapeln zurück und machte sich auf den Weg in den ersten Stock. Helen hatte auch die Treppe so vollgestopft, dass immer nur genau der Raum für einen einzelnen Fuß auf jeder Stufe frei war. Ein falscher Tritt, und man hätte leicht fallen können. Tessa nahm sich vor, gleich nachdem die alten Zeitungen draußen waren, die Treppe freizuräumen. Das Letzte, was Helen brauchte, war ein gebrochener Hüftknochen.

Sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, wann sie das letzte Mal im ersten Stockwerk gewesen war. Das Haus war riesig, hier und dort waren über die Zeit immer noch Räume angebaut worden, wenn man noch mehr Platz für die unzähligen Kinder oder alten Verwandten brauchte, die eingezogen waren, um hier den Lebensabend zu verbringen. Sie blieb auf dem Treppenabsatz stehen und versuchte sich zu erinnern, wo das Schlafzimmer war.

Die Haufen im oberen Flur bestanden aus Kleidung. Tessa fiel auf, dass Helen immerhin sehr gut organisiert war. Overalls und Jeans lagen auf einem Stapel, offensichtlich war hier das Ordnungskriterium der Stoff. Ein weiterer Haufen sah nach Hemden aus, der nächste bestand aus Kleidern. Zusammengerollte Socken bildeten einen Hügel, ein Stapel Schuhkartons beinhaltete keine Schuhe, sondern abgetragene Unterwäsche. Diese Haufen waren nicht so hoch wie die im Erdgeschoss, aber trotzdem gingen sie bis zum Knie, und es waren viele. Tessa suchte sich ihren Weg durch dieses Labyrinth. Hier war die Ruhestätte für Geschirrhandtücher und Bettwäsche, aus der man nur noch ein Halloweenkostüm hätte nähen können. Sie kam zu einem Turm, der aus abgenutzten Handtüchern bestand, und lehnte sich vorsichtig dagegen, als ihre Hüfte den Stapel berührte.

„Gram?“

Helen antwortete nicht, selbstverständlich. Das wäre ja zu einfach gewesen. Tessa erinnerte sich an eine Reise, die sie, Mack und Kayley vor vier Jahren nach London gemacht hatten. Mack war dort zu einer Konferenz gefahren, und sie und Kayley, die damals vier Jahre alt war, waren ihm nachgereist, um sich die Stadt anzugucken. Gemeinsam hatten sie an eine Bootstour die Themse hinunter nach Hampton Court unternommen. Kayley war von dem Labyrinth im riesigen Garten des Gutshauses fasziniert gewesen, sie hatte gekichert und sich versteckt, wie es Kinder schon seit dem achtzehnten Jahrhundert taten.

Alle ihre Freunde hatten Tessa und Mack gesagt, dass Kayley noch zu klein sei, um eine so weite Reise zu genießen, dass das kleine Mädchen sich noch nicht einmal an den Urlaub erinnern würde, wenn es älter sei. Tessa bedauerte es, dass ihre Tochter nur so wenige, kurze Jahre gehabt hatte. Die Bücher, die sie ihr nicht vorgelesen, die Spaziergänge, die sie nicht mit ihr gemacht und die Spiele, die sie nie gespielt hatte. Aber gerade deswegen war sie so froh, dass sie nicht auf ihre Freunde gehört und Kayley in jenem Sommer mit nach England genommen hatte.

Sie bahnte sich ihren Weg zum nächstgelegenen Schlafzimmer, das über dem Eingangsbereich des Hauses lag, von wo aus Helen ihre Geschütze abgefeuert hatte. Sie klopfte und drehte an der Klinke, als niemand antwortete. Der Raum war dunkel, die Vorhänge zugezogen. Sie machte Licht und sah, dass Helen nicht hier war. Natürlich nicht, Helen konnte auch gar nicht hier drinnen sein, denn es gab in diesem Zimmer keinen Platz. Lediglich ein schmaler Gang führte zum Fenster. Der Rest des Raumes war bis auf Hüft- oder Schulterhöhe mit Plastiktüten angefüllt.

„Großartig.“ Tessa schnüffelte und war erleichtert, keinen Geruch von schimmelndem Abfall wahrzunehmen. Wenn sie Glück hatten, hatte Helen hier oben schlichtweg nur noch weitere ihrer „Sammlungen“, vielleicht noch unsortiert, untergebracht.

Zurück im Labyrinth des Flures stieß sie auf ein weiteres Schlafzimmer, das eine Bibliothek mit alten Büchern beherbergte. Im Raum lag der muffige Geruch eines Antiquariats, obgleich Tessa bezweifelte, dass diese Bücher besonders selten oder wertvoll waren. Aber nur die Hälfte des Raumes war vollgestopft. Es gab einen freien Weg zu einem Bett. Tessa nahm an, dass sie oder ihre Mutter heute Nacht hier schlafen sollte.

Das nächste Zimmer war ebenfalls zur Hälfte aufgeräumt, und Tessa fühlte sich in ihrer Theorie bestätigt.

Im nächsten Zimmer fand sie dann endlich Helen.

Die Tür war nur angelehnt, und als auf das Klopfen niemand antwortete, ging Tessa hinein: Da saß Helen am Fenster und blickte auf den Teich.

Helen war schon immer groß gewesen: Sie hatte breite Schultern und Hüften, schwere Knochen und pralle Brüste. Doch trotz ihrer physischen Größe wirkte sie jetzt klein und verletzlich. Sie war geschrumpft, so, als hätte man ihr alle Lebensenergie ausgesaugt, die ihr zuvor geholfen hatte, selbstbewusst durchs Leben zu gehen. Ihre Haare waren dünn und weiß, und solange sich Tessa erinnern konnte, waren sie zu einem unattraktiven Bob frisiert. Helen schnitt sich selbst die Haare, was schon immer ein Fehler gewesen war, doch jetzt sah es so aus, als hätte sie seit Monaten nicht mehr daran gedacht.

Tessa kannte Fotos von Helen, als sie noch eine junge Frau war. Es gab nicht viele, denn diese Art von Eitelkeit hatte keinen Platz in Helens strikt protestantischer Familie. Als die Wirtschaftskrise kam, war es mit solchen Oberflächlichkeiten sowieso vorbei. Aber es gab einmal eine Zeit, in der Helen als „eine Frau mit einer guten Figur“ galt, eine Frau, nach der sich die Männer umdrehten und die Aufsehen erregte, wenn sie einen Raum betrat.

Inzwischen zeugten tiefe Falten in ihrem Gesicht von dem Leben, das nicht einfach gewesen war. Auch hatte Helen sich angewöhnt, ständig die Augen zusammenzukneifen, um besser sehen zu können, denn sie lehnte es ab, ihre Brille regelmäßig ihrer Sehstärke anpassen zu lassen. Sie zögerte einen Besuch beim Augenarzt hinaus, obwohl sie mittlerweile zum Lesen ein Vergrößerungsglas brauchte, das auch nicht ausreichte, um scharf zu sehen.

„Gram?“

Helen drehte sich nicht um und schwieg.

„Ich muss mit dir reden.“ Tessa kam näher. Das Schlafzimmer war erstaunlich groß. Es hatte eine Reihe Fenster an der hinteren Wand, wo Helen jetzt saß. Hier war der Fußboden ebenfalls zugestellt, aber nicht so schlimm wie in den übrigen Räumen. Stoff war säuberlich auf Regalen gestapelt, die aus einfachen Brettern und Backsteinen bestanden; Nähutensilien hingen an einer Leiste. Natürlich gab es auch hier überall Haufen, aber sie waren an die Wände geschoben, so dass es in der Mitte des Zimmers Platz gab.

„Ich will nicht reden“, sagte Helen schließlich. „Reden ist sinnlos.“

„Dann, fürchte ich, wirst du mir einfach zuhören müssen.“ Tessa ging hinüber zu den Fenstern, stellte sich neben den Stuhl ihrer Großmutter und starrte hinaus auf den Teich.

Der kleine Weiher war, wie auch der Rest der Farm, ausgedörrt und trocken. Sie erinnerte sich an bessere Zeiten, als kleine Wellen gegen die Äste von den Trauerweiden am Uferrand schwappten. Sie schätzte, dass der Teich um ein Drittel geschrumpft war, die Fische darin mussten um ihren Lebensraum kämpfen, und das neu entstandene Ufer hatte sich zu einer schlammigen Ebene verwandelt.

„Es war ein schrecklich heißer Sommer, oder?“, erkundigte sich Tessa.

Helen gab keine Antwort.

Tessa fragte sich, ob sich das Leben ihrer Großmutter verändert hatte. Hatte sie angefangen, die ganzen Dinge zu sammeln, nur um etwas zu tun zu haben? Lag der Sinn der sich türmenden, nutzlosen Objekte darin, die schmerzende Leere in ihrem Leben zu füllen, die mit dem Alter und der Einsamkeit gekommen war?

„Wir müssen die Zimmer aufräumen“, sagte Tessa leise. „Du weißt das doch, oder? Das Haus ist nicht mehr sicher, weder für deine Gesundheit noch sonst. Und du brauchst doch Raum, um dich sicher bewegen zu können, ohne zu fallen. Wenn du über etwas stolperst, könntest du dir die Hüfte oder einen Arm brechen.“

Wieder sagte Helen nichts.

„Es wäre am einfachsten, wenn du uns erlaubst, jemanden zu bestellen, der alles abtransportiert“, fügte Tessa hinzu. „Das würde es beschleunigen.“

Endlich kam Leben in Helen: „Hier kommt keiner rein! Und euch will ich hier auch nicht haben!“

Tessa legte vorsichtig ihre Hand auf Helens Schulter.

„Daraus hast du vorhin keinen Hehl gemacht. Ich dachte schon, ich müsste auf der Türschwelle übernachten.“

Helen schnaufte verächtlich. „Du? Dafür bist du doch viel zu weich. Du weißt ja gar nicht, wie es sich hier lebt.“

„Nun, dann werde ich es diesen Sommer eben lernen. Ich gedenke nämlich, ihn hier zu verbringen.“

„Du wirst hierbleiben?“

„Was hast du erwartet? Dass wir uns einmal ansehen, wie du hier lebst, um dann wieder wegzufahren und dich in dieser Situation alleine lassen?“

„Ich brauche eure Fürsorge nicht.“

Tessa überlegte lange, wie sie es formulieren sollte. „Vielleicht nicht, aber du könntest etwas Gesellschaft brauchen, nicht wahr, Gram? Und es gibt hier viel zu tun. Mehr, als eine Person allein schaffen kann.“

Helen schwieg, so dass Tessa Angst bekam, sie würde gar nicht darauf antworten. Dann seufzte die alte Frau: „Ich weiß gar nicht, wie das passieren konnte.“

Tessa spürte, wie Mitleid sie erfasste und ihre Abwehr überwand, die sie seit ihrer Ankunft so sorgsam aufgebaut hatte, weil sie entschlossen war, nichts an sich heranzulassen. Sie verstand nur zu gut, was ihre Großmutter ihr sagen wollte. Tessa hatte selbst mit angesehen, wie ihr eigenes Leben außer Kontrolle geraten war, und genau wie Helen schien sie nicht die Kraft zu haben, die Entwicklung aufzuhalten.

Zu dem Zeitpunkt, als sie angefangen hatten, die alten Zeitungen, Zeitschriften und Pappkartons aus dem Erdgeschoss zu schaffen, war die Sonne schon hinter dem Horizont verschwunden. Jede Bewegung fiel ihnen jetzt ein wenig leichter, da alle Fenster offen waren und sie dort, wo schon Platz war, Ventilatoren aufgestellt hatten und so die Temperatur fast erträglich wurde.

Nancy hielt die Hände über den Kopf und reckte sich. „Ich brauche eine Dusche. Viel dringender noch brauche ich einen Drink und etwas zu essen, obwohl es gleich eh Zeit für das Abendessen ist.“

Tessa ging es ähnlich, aber sie befürchtete, dass es nicht allzu gut um die Wasservorräte stand. Wenn schon der Teich nahe dran war, auszutrocknen, wie viel Wasser mochte im Brunnen sein?

Sie hatte einen Monat, wahrscheinlich eher zwei Monate vor sich, in denen es weder eine Klimaanlage noch einen ausreichenden Wasservorrat geben würde, um ein anständiges Bad zu nehmen. Einen Sommer mit drei Frauen, die außer einiger Gene nicht viel gemeinsam hatten.

„Warum machst du nicht hier weiter, und ich schaue mal, wie es mit dem Abendbrot aussieht. Ich glaube, ich komme an den Herd und wenigstens an einen der Schränke“, sagte Tessa.

Nancy streckte sich weiter. „Ich habe einige Lebensmittel mitgebracht. Sie stehen auf dem Tisch. Gott sei Dank nichts, was schlecht werden kann, nur einige Dosen und Packungen, ein bisschen Obst und Brot. Ich hatte ja keine Ahnung, was uns hier erwartet. Ich habe Angst, in den Kühlschrank zu schauen.“

Für Tessa war ihre Mutter eine interessante Kombination aus Armeegeneral und Puderquaste. Auf ihre eigene, beschränkte Weise war Nancy genial. Niemand konnte so wie sie ein Kaffeekränzchen oder ein großes Abendessen organisieren. Keiner war so wie sie in der Lage, die oberen Zehntausend aus Richmond zu bezirzen. Sie duzte die meisten Beamten aus der Landesregierung und kannte die präzisen Details über Herkunft, finanzielle Situation und politische Verstrickungen jeder einzelnen einflussreichen Familie. Praktische Dinge jedoch, wie ein aufgeschrammtes Knie, die Suche nach dem Sicherungskasten oder das Teilen eines Liters in Zentiliter, schienen sie zu überfordern. Soviel Tessa wusste, kochte Nancy niemals. Sarah, Nancys Haushaltshilfe, bereitete jede einzelne Mahlzeit vor, bis vielleicht auf eine Schale Müsli oder ein Sandwich. Insofern war Tessa überrascht, dass ihre Mutter sich über diese Frage Gedanken gemacht und dementsprechend vorgesorgt hatte.

„Erdnussbutter?“, fragte Tessa.

„Sarah hat die Tüte gepackt, aber ich glaube, Erdnussbutter ist drin. Außerdem bat ich sie um Thunfisch und ein Glas Mayonnaise.“

„Gut, dann mache ich Sandwiches.“

„Bist du sicher? Du kannst auch erst mal unter die Dusche gehen, dann mache ich mich solange in der Küche nützlich. Noch kann ich mich bewegen. Noch stehe ich auf meinen zwei Beinen.“

„Schon gut, du kannst ruhig gehen.“ Tessa hatte Nancy bereits über den Zustand der Schlafzimmer informiert. „Such dir einfach ein Zimmer aus. Bettwäsche ist im Flur. Tonnenweise.“

„Es ist lange her, dass ich hier geschlafen habe“, stellte Nancy fest.

„Wo war dein Zimmer?“

„Es ist das, das zum Wald hinausgeht.“

Das Bücherzimmer. „Gram war so aufmerksam, dir ein paar Bücher hinzulegen, damit du über den Sommer etwas zu lesen hast.“ Tessa versuchte, dabei nicht zu lächeln.

Nancy schloss ihre Augen für einen kurzen Moment, als stellte sie sich den Anblick bildlich vor. „Ich hole meine Tasche.“ Sie ging auf die Haustür zu, dann drehte sie sich um. „Und Wein. In der Lebensmitteltüte ist auch eine Flasche Wein, das ist mir gerade noch eingefallen.“

Helen war Alkohol gegenüber nicht abgeneigt. Tessa wusste, sie hätte nichts dagegen, wenn sie ein Gläschen tranken, vielleicht würde ihre Großmutter sogar eines mittrinken, wenn es ihnen gelänge, sie zum Essen herunterzulocken.

„Tessa, ich …“, Nancy hielt inne. „Oder denkst du, wir sollten lieber auf den Wein verzichten? Ich habe einfach nicht nachgedacht. Ich wollte es dir nicht unter die Nase reiben. Ich weiß, wie du darüber denkst …“

„Ist schon in Ordnung.“

Nancy war sensibel genug, nicht weiter auf das Thema einzugehen, und verließ den Raum.

Der Pfad zur Küche war nun breiter. Tessa hatte bereits den ganzen Müll in zwei Kategorien eingeteilt, zumindest in ihrem Kopf. Die Verteilung war, soweit sie es bis jetzt einschätzen konnte, etwa gleich groß: Die erste Hälfte bestand aus Dingen, die einfach weggeschmissen werden mussten, bei der zweiten wurde es schwieriger. Stapel mit alten Briefen, Rechnungen, von denen man nicht sagen konnte, ob sie schon bezahlt waren oder nicht, Kartons mit Fotos, Dinge, die vielleicht noch jemand verwenden konnte, wenn auch nicht Helen sie behalten sollte. Zunächst hatte Tessa gehofft, sie könnten einfach alles entsorgen, aber nachdem sie einige Stunden aufgeräumt hatten, wurde ihr klar, dass es so einfach nicht sein würde.

Die Küche war ein glänzendes Beispiel für die zweite Kategorie: Es wunderte niemanden, dass Helen auch Essen hortete. Falls ein riesiges Unglück über die USA hereinbrechen sollte, müssten sich die Bewohner der Fitch Crossing Road und das Städtchen Toms Brook keine Gedanken über ihre Versorgung machen. Jetzt verstand Tessa auch Helens Sammlung von Marmeladengläsern im Wohnzimmer. Sie benutzte sie, um alles Mögliche darin aufzubewahren: Gewürze, Getreide, Nudeln, Müsli. Sie kochte ihre eigene Konfitüre und nutzte die restlichen Gläser für sonstige Zwecke. Die eingemachten Lebensmittel – und davon gab es eine ganze Menge – waren in normale Weckgläser abgefüllt. Da Tessa solche Weckgläser bisher noch nicht im übrigen Haus gefunden hatte, fragte sie sich, wo Helen sie wohl verborgen hielt. Sie malte sich lieber gar nicht aus, was sie noch alles im Keller finden würde.

Nancy hatte die Tüten mit den Lebensmitteln an dem einzig verfügbaren Platz in der Küche abgestellt: auf Helens kleinem runden Tischchen vor dem Fenster.

Tessas Aufgabe bestand darin, zunächst eine Arbeitsfläche freizuräumen, um die Sandwiches zu machen. Auf der erstbesten Ablage stapelten sich alte Kochbücher, knapp einen Meter hoch. Sie legte sie so auf den Boden neben der rückwärtigen Tür, dass im Notfall noch Platz für einen Fluchtweg blieb.

Danach wischte sie die Fläche mit einem sauberen Schwamm ab – einen von vielen – und legte Brot, Thunfischkonserven und Mayonnaise darauf. Hinreichend sorgfältig ineinander gestapelte Schüsseln fand sie im Hängeschrank.

Sie erinnerten Tessa an eine russische Matroschka. Als sie ein kleines Mädchen war, hatte ihr Vater ihr einmal einen Satz solcher Puppen, in Form von Katzen in verschiedenen Farben, von einer Dienstreise mitgebracht. Sie hatte sie Kayley geschenkt, als ihre Tochter alt genug war, das Prinzip zu verstehen. Kayley hatte den kleinen Katzen Namen gegeben und stundenlang mit ihnen gespielt.

Tessa starrte aus dem Fenster, als sie hinter sich ein Geräusch hörte. Es war schon eine Weile her, dass sie den Thunfisch aus der Tüte genommen hatte, und sie hatte die Dose noch nicht einmal geöffnet.

„Du machst Abendbrot?“

Tessa war überrascht, als Helen im Türrahmen stand. „Was hältst du von Thunfisch?“

„Ich habe Vorräte, weißt du, oder glaubst du, ich esse nichts?“

„Gram, wir wussten doch nicht, was du hier haben würdest, und deswegen hat Mom einige Lebensmittel mitgebracht.“ Sie machte eine Pause. „Und Wein. Möchtest du ein Glas?“

Helen schlurfte zur Theke. „Hatte seit Jahren keinen Wein mehr.“

„Heißt das, dass du keinen möchtest?“

„Ich nehme an, ein Glas könnte nicht schaden.“

„Wo sind die Gläser?“

Helen gluckste. „Überall, wo du hinsiehst.“

Tessa war überrascht, dass ihre Großmutter so etwas wie einen Witz über ihre Situation machen konnte. Sie nahm ein Glas aus dem Trockengestell und stellte es beiseite. Es hatte einen Sprung. Morgen, wenn Helen nicht hinsah, würde es direkt in den Müll wandern. Das nächste Glas sah besser aus, es hatte sogar einen Aufdruck mit einem Fred-Feuerstein-Comic. Circa 1965.

„Ihr habt alle meine Zeitungen rausgeschmissen. Wer hat euch das erlaubt?“

„Warum waren sie überhaupt im Wohnzimmer?“ Tessa nahm die Weinflasche aus der Papiertüte. Sie war dankbar dafür, dass Nancy auch an einen Korkenzieher gedacht hatte. Das ersparte ihr, in allen Schubladen danach suchen zu müssen.

„Ich habe sie noch nicht gelesen.“

„Das ist gefährlich, wenn mal ein Feuer ausbrechen sollte, Gram. Also, wenn du die Zeitungen nicht liest, wenn sie erscheinen, dann wirst du sie auch später nicht lesen. Außerdem waren es so viele, dass du bis Weihnachten nicht mal einen Bruchteil davon gelesen hättest.“

„Ich bin schon ganz gut vorangekommen.“

Nancy tauchte im Flur auf: „Mutter, diesen Zeitungen zufolge schmückt das World Trade Center immer noch die Skyline von Manhattan, Präsident Clinton beteuert immer noch, nie Sex mit dieser Frau gehabt zu haben, und die Frauen in Afghanistan dürfen immer noch nicht aus dem Haus, solange sie nicht von Kopf bis Fuß von einem Schador bedeckt sind.“

„Die Menschen werfen viel zu viel weg. Eine Verschwendung ist das. Keiner geht mehr richtig mit den Dingen um. Und was habt ihr mit meinen Zeitschriften gemacht?“

Tessa wartete darauf, dass ihre Mutter Öl in das Feuer goss. Sie rang mit dem Korkenzieher, bis es ihr gelang, den Korken aus dem Flaschenhals zu holen. Dann schenkte sie Helen ein Glas ein, stellte es vor sie hin und suchte nach einem zweiten für sich.

„Es waren einige sehr interessante Zeitschriften dabei“, räumte Nancy ein. Tessa war überrascht und schwieg. „Ich kann verstehen, warum es dir schwerfiel, dich von ihnen zu trennen.“

„Ich habe mir noch nicht mal die Hälfte davon angesehen.“

„Sag mir, welche dich am meisten interessieren, und ich such dir die letzten Ausgaben heraus“, sagte Tessa, die dem Urteil ihrer Mutter nur ein Stück weit traute.

„Hast du Abos?“

„Abos? Wozu? Arztpraxen werfen sie weg, sobald sie zu alt geworden sind.“

Und Helen bewahrte sie davor, auf die Halde gebracht zu werden. Das Motto des alten Stoneburner Hofes kam ans Licht. Das Alte, das Überholte musste bewahrt und versorgt werden. Es war Helens Pflicht, weil es sonst niemand tat.

„Mom, möchtest du auch ein Glas Wein?“, fragte Tessa ihre Mutter.

„Morgen hole ich die ganzen alten Sachen wieder rein“, versprach Helen. „Ihr werdet euch wundern. Ihr hattet nicht das Recht dazu, alles hinauszuwerfen.“

Sie nahm ihr Glas in die Hand, quetschte sich an ihrer Tochter vorbei und war schnell zwischen den Stapeln verschwunden. Tessa und Nancy hörten sie durch die Stille wieder langsam nach oben gehen.

„Ich bringe ihr nachher ein Sandwich“, sagte Tessa.

„Das funktioniert hier alles nicht, weißt du.“ Nancy klang müde. „Ich konnte zwei Minuten lang duschen, bevor das Wasser nur noch tropfte, dann habe ich mich mit einem Handtuch aus der Eisenhower-Ära abgetrocknet. Mutter isst nichts, und ich bin mir nicht sicher, ob sie sich wäscht. Sie wird uns nicht machen lassen, was einfach getan werden muss. Wir tragen die alten Sachen hinaus, sie schleppt sie wieder herein. Es herrschen hier 40 °C, mindestens. Die Fliegengitter müssen repariert werden, denn abends sehnen sich die Moskitos nach einem guten Tropfen und einer Party.“ Sie schlug zur Betonung auf ihren Unterarm. „Sie ist völlig verrückt geworden, und wenn wir mit ihr diskutieren, machen wir es nur noch schlimmer.“

Tessa reichte ihrer Mutter das Weinglas. „Und was schlägst du vor?“

Sie starrten einander an. Nancy hob das Glas wie zu einem Trinkspruch, aber sie sagte nichts. Tessa stieß wortlos mit ihr an. Sie tranken, ohne zu reden, und schlugen lethargisch auf die Moskitos ein, während sie dem Zirpen der Grillen lauschten, das durch die klaffenden Löcher der Fliegengitter zu ihnen drang.

3. KAPITEL

Am Mittwochmorgen wachte Tessa auf, als die ersten Sonnenstrahlen durch das Fenster drangen. Am Tag zuvor hatte sie die alten, staubigen Vorhänge abgenommen und die meisten Stapel und Kartons aus ihrem Zimmer entfernt. Sie und Nancy waren beim Frühstück übereingekommen, wenn sie weiterhin im Haus übernachten wollten, mussten sie erst einmal ihre Zimmer bewohnbar machen.

„Als ich endlich eingeschlafen war, habe ich geträumt, dass ich eine unbekannte Straße entlanggehe, und Dinge fingen an, vom Himmel herunterzufallen. Ich bin aufgewacht, und überall um mein Bett herum waren diese Bücherstapel. Ich lag mit offenen Augen da und habe darauf gewartet, dass sie auch auf mich herunterfallen würden.“

Tessas Träume waren auch nicht viel besser gewesen, bis auf die Tatsache, dass ihr Albtraum immer der gleiche war, egal, wo sie schlief.

Am Dienstag waren sie hauptsächlich damit beschäftigt, ihre Zimmer aufzuräumen und die Gegenstände, die dort lagerten, wegzuwerfen. Helen hatte sich in ihrem Raum verkrochen und weigerte sich, auch nur zu den Mahlzeiten herunterzukommen. In gewisser Weise war es gut, dass sie nicht da war. Denn solange sie oben in ihrem Zimmer blieb, konnte sie ihre Drohung nicht wahr machen und den Abfall zurück ins Haus bringen, den Tessa und Nancy bereits entsorgt hatten. Sie sprach nicht mit Tessa, wenn sie ihr Essen und etwas zu trinken brachte. Sie saß an ihrem Fenster und nähte.

An diesem Morgen konnte Tessa hören, wie ihre Großmutter im Raum nebenan umherging. Tessa wusste, dass die Waffenruhe – der Begriff war eigentlich ein Euphemismus – nicht lange währen würde. Irgendwann würde ihre Groß-mutter nach draußen gehen und sehen, was sie alles fortgeschafft hatten. Helen würde an die Decke gehen.

Tessa richtete sich im Bett auf und umfasste ihre Knie. Das alte Stoneburner Haus war in gewissem Sinne auch das Haus, in dem sie aufgewachsen war, aber nun fühlte sie sich fremd. Als kleines Mädchen war sie während der Sommerferien nie zu ihrer Großmutter gefahren oder hatte überhaupt mal hier übernachtet. Sie war mit ihren Eltern immer nur für kurze, absolut notwendige Besuche herkommen, dennoch hatte Helen ihr immer Angst eingejagt. Ihre Großmutter hatte eine laute Stimme und war ihr damals riesig erschienen. Sollte sie Kinder gemocht haben, hatte sie es nie gezeigt. In Helens Haus gab es keine überquellenden Keksdosen, keine Bilderbücher, die man sich zusammen anschauen konnte, oder verwöhnte Haustiere, die Tessa hätte knuddeln können. Tessa sollte hinausgehen und spielen, aber der große Garten hatte sie eingeschüchtert. Als sie ein Teenager war, hatte sie sich Ausreden einfallen lassen, um nicht mit ihren Eltern mitfahren zu müssen, wenn es mal wieder an der Zeit war, die Großmutter zu besuchen.

In diesem Gebäude fühlte sie sich nicht zu Hause. Irgendwann würde es ihr gehören, nahm sie an. Wenn Helen starb, würde die Farm möglicherweise direkt ihr zufallen und nicht Nancy, denn ihre Mutter hatte schon deutlich gemacht, wie wenig sie das Land mochte, insbesondere die Landschaft in Virginia. Aber es würde Tessa Schwierigkeiten bereiten, das Grundstück zu verkaufen, wenn es so weit wäre.

Nebenan murmelte Helen etwas. Tessa schwang ihre Füße aus dem Bett und zog die Sachen an, die sie sich am Abend zuvor herausgelegt hatte. Unglücklicherweise hatte sie keine große Auswahl. Aus Versehen hatte sie den Koffer mit den meisten Kleidern zu Hause vergessen. Somit musste sie an diesem Nachmittag zurück nach Fairfax fahren, um sie zu holen, wenn sie nicht jeden Abend dieselben zwei Outfits per Hand waschen wollte. Auch wenn ihr Haus bei reibungslosem Verkehr in nur eineinhalb Stunden zu erreichen war, hatte sie keine Lust, sich auf den Weg zu machen. Sie und Nancy mussten so viel es ging aufräumen, bevor es sich Helen anders überlegte und sie hinauswarf.

Unten war Nancy dabei, das Waschbecken zu polieren, und starrte dabei aus dem Küchenfenster. Sie drehte sich nicht um, als Tessa hereinkam.

„Hast du eine Ahnung, wie viel Geschirr ich schon in diesem Waschbecken abgewaschen habe?“, fragte Nancy.

„Ich wette, es ist immer noch dasselbe Waschbecken.“

„Wahrscheinlich ist es genau das, das damals auf Eselskarren hier raufgeschafft wurde.“

„Gab es irgendetwas, was du gemocht hast, als du hier gelebt hast?“ Tessa wusste, dass ihre Stimme müde klang, sie hatte zu wenig geschlafen. Daran änderte auch die Tatsache nichts, dass ihr Zimmer jetzt ordentlich aussah.

„Wenn du so fragst, nein.“ Nancy spülte eine Tasse ab und beschäftigte sich damit länger als nötig. „Da ist Kaffee, er ist noch heiß.“

„Ich bringe Gram eine Tasse hoch, sie ist schon wach.“

„Tessa, lass das. Wir sind nicht hier, um sie zu bedienen. Sie kann auch herunterkommen und sich einen Kaffee holen, wenn sie will.“

„Aber sie ist alt, verwirrt, aufgeregt. Ich …“

„Du wirst es nicht besser machen, wenn du sie behandelst, als wäre sie eine dieser Sachen hier.“ Nancy sah ihre Tochter an und knetete dabei ihre Hände. Sie hatte schon geduscht, und ihre Haare und ihr Make-up waren frisch gerichtet. Tessa fragte sich, wann ihre Mutter wohl aufgestanden sein mochte, um diesen perfekten Zustand zu erreichen.

„Sieh mal“, sagte Nancy, „ich glaube, ich weiß es besser als du. Sie will nicht, dass man sich um sie kümmert, okay?“

„Dann sollen wir sie also ignorieren?“

„Darüber wird sie sich nicht beschweren. Wir sind ihretwegen hier, oder? Wir verbringen unseren ganzen Sommer auf dieser Farm, damit sie es besser hat.“

„Mein Leben ist gut so, wie es ist.“ Helen humpelte in die Küche. Tessa hatte noch nicht einmal gehört, dass sie die Treppe heruntergekommen war. Für solch eine große Person bewegte sie sich extrem leise. „Ich habe euch nicht um Hilfe gebeten.“

„Ich habe uns Kaffee gemacht“, sagte Nancy. „Passend zur drohenden Auseinandersetzung.“

„Kein Streit!“ Tessas Ton war scharf. Sie war selbst überrascht. „Seht mal, ihr beiden, ich weiß zwar nicht, warum ihr so miteinander umgeht, aber ich spiele da nicht mit. Wir haben hier eine Aufgabe, die uns mindestens einen Monat kostet, wenn nicht gar zwei …“

Helen fiel ihr ins Wort. „Ich wollte nicht …“

Tessa hob die Hand, um sie zu unterbrechen. „Es tut mir leid, Gram, aber es ist uns egal, ob du uns gebeten hast zu kommen oder nicht. Wir sind hier, und wir bleiben hier. Wenn wir wegfahren, wirst du das Haus nicht wiedererkennen. Die Situation lässt sich also nicht umgehen. Wir können uns vertragen oder auch nicht, und so, wie ich die Sache sehe, ist es eure Entscheidung. Aber wenn ihr aufeinander einhacken müsst, dann macht das, wenn ich nicht dabei bin, okay? Ich will es einfach nicht mit anhören.“

Sie verließ das Haus durch die Hintertür und ging einfach drauflos. Bevor sie es wusste, wurde sie immer schneller, bis sie rannte. Laufen war für sie nie eine Möglichkeit gewesen, um sich zu beruhigen. Bis Kayley starb, half ihr Yoga, mit dem üblichen Stress eines normalen, glücklichen Lebens klarzukommen. Nach dem Tod ihrer Tochter konnte sie sich nicht mehr konzentrieren, und Yoga schien sinnlos – wie alles andere auch.

Sie lief die Fitch Crossing Road hinunter, rannte die Hügel herauf und herab, bevor sie überhaupt darüber nachdachte, was sie da tat. Auf einmal ergab das Laufen einen Sinn. Und auch im übertragenen Sinne war es unschlagbar.

Tessa war sich nicht sicher, wie weit sie gekommen war, als sie von der Hitze und der ungewohnten Anstrengung eingeholt wurde. Sie lief langsamer, dann ging sie einfach nur noch schnell. Sie war schon über das Grundstück ihrer Großmutter hinaus. Die Felder waren hier gepflegter, als sei erst vor kurzem gepflügt worden, auch wenn die Maisfelder, die sich von der Straße bis zum Fluss erstreckten, nicht gerettet werden konnten. Tessa vermutete, dass sie bis zur Claiborne Farm gelaufen war.

In einiger Entfernung sah sie rechts von sich ein Backsteinhaus, und davor standen mehrere Autos aufgereiht wie Perlen an einer Schnur. Ein kleiner Wohnwagen stand hinter dem Haus, in direkter Nähe zu einem Obstgarten.

Ein Mann auf einem Traktor fuhr die Auffahrt hinunter und ihr entgegen. Tessa winkte und murmelte etwas zur Begrüßung. Hier war sie nicht in der Stadt. Auf dem Lande ignorierten Nachbarn sich nicht, außer wenn sie ignoriert werden wollten, obwohl sie eigentlich Hilfe brauchten. Der Mann – sie nahm an, dass es Mr. Claiborne war – schaltete den Motor ab und kletterte vom Traktor, um mit ihr zu sprechen.

„Oh, Sie brauchen gar nicht anzuhalten“, sagte Tessa. „Ich wollte Ihnen nur Hallo sagen.“

Der Mann, er war Ende fünfzig und gertenschlank, wischte die Hand an seiner Jeans ab und reichte sie ihr: „Ron Claiborne.“

Sie begrüßte ihn freundlich. „Tessa MacRae. Ich bin die Enkelin von Helen.“

„Wie geht es ihr?“

Sie zog die Schultern hoch. „Wir sind Ihnen sehr dankbar, Mr. Claiborne. Sie hat ihre Probleme lange vor uns versteckt.“ Tessa hatte das Gefühl, dass von ihr mehr als nur diese einfache Aussage erwartet wurde, eine Erklärung, warum eine Familie so ahnungslos darüber sein konnte, wie schlecht es einer älteren Verwandten ging. Aber Tessa wusste nicht, was sie sonst noch hätte hinzufügen können.

Mr. Clairborne kam ihr zu Hilfe. „Helen redet nicht viel mit Leuten. Ich kann mir vorstellen, wie das abgelaufen ist.“

„Jedenfalls vielen Dank, wenigstens wissen wir jetzt Bescheid. Wir sind hier, um Ordnung zu schaffen und das Haus leer zu räumen. Dann sehen wir weiter.“

„Sie können sicher Hilfe brauchen.“

„Schon, aber Helen lässt niemanden ins Haus.“

„Kein Wunder.“ Er nahm seine Kappe ab – das Werbegeschenk eines Lagerunternehmens – und kratzte sich am Kopf. „Was haben Sie damit vor, ich meine, mit den Sachen, die Sie nicht mehr brauchen?“

Eine Sekunde lang überlegte Tessa, ob Dinge horten eine Art Lebensaufgabe für die Leute auf der Fitch Crossing Road war; dann wurde ihr jedoch klar, dass er ihr nur seine Hilfe angeboten hatte. „Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Im Moment tragen wir die Sachen nur raus und legen eine Plane darüber. Aber ich nehme an, dass wir jemanden damit beauftragen müssen, alles abzutransportieren.“

„Sie brauchen niemanden damit zu beauftragen. Ihre Großmutter ist meine Nachbarin, seitdem ich hier lebe. Ich habe mir erst kürzlich einen kleinen Pferdeanhänger gekauft, der wird für den ganzen Krempel reichen. Ich bring ihn heute rüber zu Ihnen und stell ihn in den Garten. Wenn Sie ihn vollgeladen haben, rufen Sie einfach an, und ich schaffe das Zeug zur Mülldeponie. Und falls Sie jemals meinen Pick-up brauchen, um irgendwas zu transportieren, rufen Sie einfach an, und ich sag meinem Sohn Zeke, er soll mit dem Wagen zu Ihnen kommen. Das ist das Mindeste, was wir tun können.“ Er machte eine Pause. „Es tut mir leid, dass ich mich nicht früher gemeldet habe. Ich habe mir ein oder zwei Mal Ausreden einfallen lassen, um nach ihr zu sehen, aber ich hätte Sie in jedem Fall früher anrufen sollen.“

Von ihrer Mutter hatte Tessa immer nur gehört, die Claibornes seien unbedeutende Proleten, Säufer und Schläger. Komisch, wie Menschen sich wohl irren können. Dieser Mann war offensichtlich sehr anständig. Sie versuchte zu lächeln. „Sie haben mehr getan, als andere tun würden, und wir würden Ihren Anhänger sehr gern ausleihen, wenn Sie ihn nicht brauchen.“

Er nickte und setzte die Mütze wieder auf. „Ich komme später bei Ihnen vorbei.“

Tessa hob die Hand zum Abschied und machte kehrt, um zurückzugehen. Sie war die Hälfte des Weges zum Haus ihrer Großmutter schon gegangen, als ihr Handy klingelte. Sie hatte es in die Hosentasche gesteckt, um Mack nach dem Frühstück anzurufen, um ihm Bescheid zu sagen, dass sie zurückfahren würde, um ihren Koffer zu holen. Zu dem Zeitpunkt wäre er dann schon weg, und so vermied sie, mit ihm reden zu müssen. Es gab scheinbar nicht mehr viel, das sie sich noch zu sagen hatten. Sie holte das Telefon aus der Tasche und sah nach, wer anrief. Einen Moment überlegte sie, ob sie einfach nicht rangehen sollte, aber nach dem dritten Klingeln hob sie ab. Ein paar Dinge ließen sich einfach nicht vermeiden.

„Tessa?“

Sie räusperte sich. „Hallo, Mack, bist du auf dem Weg zur Arbeit?“

„Noch nicht.“

Stille. Sie fragte sich, ob er überlegte, was er als Nächstes sagen sollte.

Er verzichtete auf den Smalltalk. „Neben deinem Bett steht ein Koffer, ich glaube, er ist gepackt. Ich habe ihn erst heute Morgen dort entdeckt. Auf deiner Seite.“

„Ich weiß. Ich weiß allerdings nicht, wie ich ihn dort vergessen konnte. Ich glaube, ich war so mit Gram beschäftigt.“

„Wie geht es ihr?“

„Du glaubst nicht, wie es hier aussieht. Das Haus ist eine Katastrophe.“

„Lässt sie euch helfen?“

Mack hatte Helen Henry immer gemocht, auch wenn er Nancy nicht übermäßig leiden konnte. Als Rechtsanwalt war es sein Beruf, den Dingen auf den Grund zu gehen – und den Menschen. Mack hatte in Helen etwas entdeckt, das den anderen entgangen war. Ihm hatten die Ausflüge aufs Land Spaß gemacht, und er hatte sie dazu genutzt, Kayley etwas über Bauernhöfe und Landwirtschaft zu erzählen. Mit Helen konnte er über das Wetter oder die Fleischpreise des Schlachtviehs reden wie ein Bauer, der mit seinen Kumpels bei der lokalen Southern States Co-op einen Plausch hält. Jetzt aber hörte Tessa die Besorgnis in seiner Stimme. Sie schämte sich ein bisschen, dass sie ihn bislang nicht angerufen hatte, um zu erzählen, wie es lief.

„Sie ist nicht gerade glücklich über unsere Anwesenheit“, sagte Tessa, „aber bis jetzt lässt sie uns die Zimmer zumindest ausräumen.“

„Ausräumen?“

„Du glaubst nicht, was sie alles angesammelt hat. Es ist Wahnsinn, Mack. Es ist nicht so, dass wir einfach nur ein wenig Staub wischen und die Fenster putzen müssen.“

„Hört sich an, als hättest du für eine Weile alle Hände voll zu tun.“

Sie fragte sich, ob ihn das eher beunruhigen oder freuen würde. „Ich schätze, ich komme erst Ende August zurück, bevor die Schule wieder anfängt.“

„Dann brauchst du den Koffer bestimmt.“

Sie hatte nicht erwartet, dass er über ihre Abwesenheit traurig war, aber seine deutliche Sorglosigkeit versetzte ihr einen Stich. Sie war sich nicht ganz klar darüber, woher das kam.

Doch er schien auch zu bemerken, was er nicht gesagt hatte. „Sobald ich heute hier weg kann, mache ich mich auf den Weg und bringe dir den Koffer. Brauchst du sonst noch etwas?“

„Das ist doch nicht nötig. Ich hatte vor, mich heute Nachmittag wegzuschleichen, und den Koffer zu holen.“

„Aber sie brauchen dich doch dort?“

Das konnte sie nicht leugnen.

„Ich gehe nicht zu meinem Treffen heute Abend, aber ich muss vielleicht länger im Büro bleiben. Es wird schon dunkel sein, bis ich bei euch bin.“

Sein Treffen. Freunde in schweren Stunden, die Selbsthilfegruppe, die seit dem Tod ihrer Tochter seine Stütze war. Seine, wohlgemerkt, nicht ihre. Wenn er die Gruppe ihretwegen ausfallen ließ, dann hieß das einiges.

Sie gab nach. „Ja, das wäre eine große Hilfe. Das bedeutet mir mehr, als du ahnst.“

Es herrschte wieder Stille. In der Ferne konnte sie das Haus ihrer Großmutter ausmachen. „Tja, ich bin fast zu Haus, ich war joggen, ich …“

„Joggen? Bei dieser Hitze?“

„Vielleicht fange ich ernsthaft damit an. Das wird mir guttun. Ich brauche Kraft, um das Gezanke der beiden durchzustehen.“

Sein Lachen klang nicht echt. „Pass gut auf dich auf.“

„Du auch. Bis heute Abend.“

Sie klappte ihr Telefon zusammen und verlangsamte ihren Schritt. Sie hatte sich nicht auf diesen Tag gefreut, und jetzt konnte sie sich auch nicht mehr auf diesen Abend freuen.

Sie fragte sich, ob Mack auch denselben, traurigen Widerwillen verspürte, sie zu sehen. Falls das der Fall war, war es eines der wenigen Dinge, in denen sie übereinstimmten.

4. KAPITEL

Die Episkopalkirche, in der sich Macks Selbsthilfegruppe traf, war kühl und dunkel, eine Oase in der Realität der Welt draußen. Alle Gruppenräume waren ähnlich gestaltet: Die Außenwände bestanden aus Backstein, innen waren sie mit dunklem Holz vertäfelt. In einigen Nischen standen Skulpturen aus gedrehtem Metall zu Dekorationszwecken. Es waren nicht direkt Kruzifixe, dafür waren die Kunstwerke zu abstrakt, aber dennoch symbolisierten sie das Leiden Jesu Christi. Mack war immer der Meinung gewesen, dass sowohl der Raum als auch die Skulpturen dem Grund äußerst angemessen waren, weswegen Menschen hierherkamen: um den Tod eines Kindes zu verarbeiten.

Ein entfernter Freund hatte Mack zu seinem ersten Treffen mitgenommen. Alleine hätte er sich das niemals zugemutet. Bis dahin war er ein Mann gewesen, der seine Probleme immer allein in den Griff bekommen hatte.

Als sein Vater überraschend beim Golfen zwischen dem siebzehnten und achtzehnten Loch in Pebble Beach starb, flog Mack nach Kalifornien, weinte bei der Beerdigung, tröstete seine verzweifelte Mutter und machte sich danach daran, die Finanzen zu ordnen, damit die Zukunft seiner Mutter gesichert war.

Als Kayley starb, vergaß er, sich zu rasieren oder sich die Zähne zu putzen.

Dieser Freund, dessen erwachsener Sohn einige Jahre zuvor bei einem Fallschirmsprung ums Leben gekommen war, besuchte Mack drei Wochen nach Kayleys Beerdigung. Er suchte für Mack Kleidung heraus, half ihm, sich in das Auto zu setzen und fuhr ihn zu diesem Treffen. Seitdem ging Mack jede Woche hin. Sein Freund besuchte die Treffen nur noch sporadisch, aber Mack war noch nicht so weit, dass er ohne die Gruppe auskam.

Tessa war nur einmal da gewesen, um ihn zu unterstützen. Mack hatte die Hoffnung schnell aufgegeben, dass sie ein zweites Mal kommen würde.

An diesem Abend war der Raum noch leer. Das Treffen würde erst in einer Stunde beginnen, und Mack war nur hier, um Informationsbroschüren auszulegen, die er in seinem Büro kopiert hatte. Gleich danach wollte er zu Helen fahren und Tessa ihren Koffer bringen.

Der Raum war schon für die Versammlung hergerichtet. Mack öffnete seine Aktentasche und legte die Broschüren auf einen Tisch neben der Tür. Erin, eine andere Teilnehmerin, die normalerweise immer früher kam, um zu sehen, ob die Stühle und Tische auch richtig aufgestellt waren, würde sie dort finden und später bei Bedarf austeilen.

Mack verharrte eine Weile reglos im Raum. Er musste sich überwinden, nach Toms Brook zu fahren. Wenn er nach Kayleys Tod überhaupt Ruhe gefunden hatte, dann hier. Tessa hielt seine regelmäßigen Besuche bei der Selbsthilfegruppe für eine Art Sucht, aber er wusste, dass er sie brauchte wie der Ertrinkende den Rettungsring.

Der Raum war kühl und still. Er starrte an die Wand über dem Tisch, aber statt der gewohnten dunklen Holzvertäfelung erblickte er dort das Gesicht seiner Frau. Früher hätten sie nicht so unterschiedliche Meinungen zu einem Thema gehabt. Von Anfang an hatten sie dieselben Haltungen, Werte, Hoffnungen und Träume. Sie waren zwei unterschiedliche Menschen, aber sie sahen die Welt durch dieselben Augen und atmeten im selben Rhythmus.

Jetzt waren sie einander fremd geworden.

„Mack?“

Er sah auf, Erin stand im Türrahmen. Sie war Ende zwanzig, die frühere „Miss Butter“ aus Minnesota. Nach dem Studium war sie in den Süden gezogen, um für das Landwirtschaftsministerium zu arbeiten. Ihr rundes Gesicht war für den Mittleren Westen typisch: offen, freundlich, von nichts als einem Haufen Sommersprossen verunstaltet. Ihr Haar war flachsblond, und ihr Lächeln hatte etwas von einem Ausflug auf den Jahrmarkt. Ihr hatte er vom ersten Augenblick an vertraut, als sie sich damals getroffen hatten. Aber nun traute er sich selbst nicht mehr, wenn es um Erin Foster ging.

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