Stille Küsse sind tief

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Ein übler Kater ist die gerechte Strafe für Annabelles kleinen Ausbruch am Vorabend. Wie konnte sie sich nur dazu hinreißen lassen, ihren Freundinnen den alten indianischen Tanz der fröhlichen Jungfrau vorzuführen? Und wie soll sie die heutige erste Reitstunde überstehen, ohne vom Pferd zu fallen? Wobei, von den muskulösen Armen ihres Reitlehrers würde sie sich gerne auffangen lassen...

Eine schüchterne Bibliothekarin. Das könnte genau die Frau sein, die Shane Stryker sucht. Und die ihn die Rothaarige vergessen lässt, die am Abend zuvor in der Bar so sinnlich getanzt hat. Doch als seine Reitschülerin dann vor ihm steht, traut er seinen Augen nicht: Annabelle ist die Frau aus der Bar. Und ihre zurückhaltende Art trifft ihn sogar tiefer ins Herz, als es jeder noch so verführerische Hüftschwung könnte.


  • Erscheinungstag 10.02.2014
  • Bandnummer 11
  • ISBN / Artikelnummer 9783862789092
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Susan Mallery

Stille Küsse sind tief

Aus dem Amerikanischen von Gabriele Ramm

MIRA® TASCHENBUCH

MIRA® TASCHENBÜCHER

erscheinen in der Harlequin Enterprises GmbH,

Valentinskamp 24, 20354 Hamburg

Geschäftsführer: Thomas Beckmann

Copyright © 2014 by MIRA Taschenbuch

in der Harlequin Enterprises GmbH

Deutsche Erstveröffentlichung

Titel der nordamerikanischen Originalausgabe:

Summer Nights

Copyright © 2012 by Susan Macias Redmond

erschienen bei: HQN Books, Toronto

Published by arrangement with

Harlequin Enterprises II B.V./S.àr.l

Konzeption/Reihengestaltung: fredebold&partner gmbh, Köln

Covergestaltung: pecher und soiron, Köln

Redaktion: Bettina Lahrs

Titelabbildung: pecher und soiron, Köln

Illustration: Matthias Kinner, Köln

Autorenfoto: © Harlequin Enterprises S.A., Schweiz

ISBN eBook 978-3-86278-909-2

www.mira-taschenbuch.de

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eBook-Herstellung und Auslieferung:

readbox publishing, Dortmund

www.readbox.net

1. KAPITEL

Shane Stryker war entschlossen genug, sich einem Kampf zu stellen, wenn es nottat, aber auch klug genug, den Rückzug anzutreten, wenn er merkte, dass er sich geschlagen geben musste. Die hübsche Rothaarige, die auf dem Bartresen tanzte, mochte zwar genau sein Typ sein, doch ihr nachzustellen wäre eine der dümmsten Entscheidungen, die er treffen konnte.

Sie hatte die Augen geschlossen, das lange lockige Haar schwang rhythmisch hin und her, und die sinnliche Musik tat ein Übriges, um Shane die Sinne zu benebeln. Entschieden schüttelte er den Kopf, um sich dagegen zu wehren – dagegen und gegen die unerklärliche Anziehungskraft, die er verspürte. Frauen, die auf Bartresen tanzten, bedeuteten nur Ärger. Da mochten sie noch so aufregend und verführerisch sein, sie waren nichts für ihn. Damit war endgültig Schluss.

Auch wenn er diese Frau hier nicht kannte, der Typ war ihm nur allzu vertraut. Aufmerksamkeit heischend. Tödlich – jedenfalls für einen Mann, für den die Ehe gleichbedeutend mit Treue und Monogamie war. Frauen wie diese Tänzerin wollten von jedem Mann im Raum begehrt werden.

Langsam, widerstrebend und voller Bedauern wandte er sich von der Frau ab und marschierte zum Ausgang. Er war in die Stadt gefahren, um ein Bier zu trinken und einen Burger zu essen. Eigentlich hatte er sich vorgestellt, mit ein paar Kumpels ein Spielchen machen oder einfach nur herumhängen zu können. Stattdessen war er auf eine barfüßige Göttin gestoßen, die einen Mann für ein Lächeln alle Hoffnungen und Träume vergessen lassen konnte. Deine Träume sind mehr wert, ermahnte er sich und blickte noch ein letztes Mal über die Schulter, bevor er hinaus in die warme Sommernacht trat.

Annabelle Weiss öffnete die Augen. „Es ist ganz einfach.“

„Von wegen.“ Ihre Freundin Charlie Dixon stellte ihr Bier hin und schüttelte den Kopf. „Nein.“

Schnell kletterte Annabelle vom Tresen herunter und stemmte die Hände in die Hüften. Auf diese Weise versuchte sie, einschüchternd zu wirken, was angesichts der Tatsache, dass Charlie mindestens zwanzig Zentimeter größer war als sie und über Muskeln verfügte, von denen Annabelle nicht einmal wissen wollte, dass man sie haben konnte, eine ziemlich sinnlose Geste war.

Sie wollte gerade weitere Argumente auffahren, vielleicht sogar einwerfen, dass es schließlich für die Kinder sei, als die – hauptsächlich weiblichen – Gäste ihr spontan applaudierten.

„Toller Tanz“, rief jemand.

Annabelle drehte sich im Kreis. „Danke schön“, rief sie. „Ich bin die ganze Woche hier.“ Erneut sah sie ihre Freundin an. „Du musst.“

„Ich bin mir ziemlich sicher, dass ich definitiv nicht muss.“

„Red du mit ihr“, wandte Annabelle sich an Heidi Simpson.

Heidi, eine hübsche Blondine, die sich erst kürzlich verlobt hatte und gerade dabei war, wieder einmal ihren Diamantring zu bewundern, blickte auf. „Was? Oh, tut mir leid, ich war abgelenkt.“

„Lass mich raten, du hast an Rafe gedacht“, grummelte Charlie. „Wir wissen es. Er ist wundervoll, du bist glücklich. So langsam nervt’s.“

Heidi lachte. „Wer ist jetzt die Zynikerin?“

„Das ist ja nun wahrlich nichts Neues. Ich war immer schon zynisch.“ Charlie schnappte sich ihr Bier und ging zu ihrem Tisch. Den, den sie verlassen hatten, als Annabelle angeboten hatte, ihren beiden Freundinnen den Tanz der glücklichen Jungfrau zu zeigen.

Als sie wieder saßen, wandte Annabelle sich an Charlie. „Pass auf, ich muss unbedingt Geld für mein Büchermobil auftreiben. Während unseres Stadtfestivals bietet sich dazu die beste Gelegenheit. Entweder der Tanz der glücklichen Jungfrau oder ein Ritt auf einem Pferd. Am Ende tust du dann so, als würdest du einem männlichen Opfer das Herz aus der Brust schneiden. Du kannst doch gut reiten und hast sogar ein eigenes Pferd.“

Charlie kniff die blauen Augen zusammen. „Ich tanze definitiv nicht auf einem Pferd.“

„Musst du ja auch gar nicht. Das Pferd soll tänzeln, und du musst anschließend dem Opfer das Herz herausschneiden.“

„Mason ist kein Pferd, das tanzt.“

Heidi beugte sich vor. „Annabelle, das ist dein Büchermobilprojekt. Du bist diejenige, die so wild darauf ist. Warum machst du es nicht selbst?“

„Ich kann doch gar nicht reiten.“

„Das kann man lernen. Shane könnte es dir beibringen. Ich habe gesehen, wie er mit den Rodeocowboys trainiert hat. Er ist sehr geduldig.“

„Ich glaube nicht, dass wir dafür noch genügend Zeit haben. Das Festival ist doch schon in zehn Wochen. Glaubst du wirklich, dass ich in so kurzer Zeit Reiten lernen könnte? Gut genug, um ein Pferd zum Tanzen zu bringen?“ Sie wandte sich an Charlie. „Vor mehr als tausend Jahren haben die Máa-zib-Frauen alles, was sie kannten, verlassen und sind hierher ausgewandert. Es waren starke Frauen, die sich ein neues Zuhause aufbauen wollten. Sie haben sich hier niedergelassen, und sicherlich steckt noch etwas von ihrer Kraft und Entschlossenheit in jeder Einzelnen von uns.“

Charlie trank einen Schluck Bier. „Hübsche kleine Rede und netter Versuch, aber nein, ich werde nicht auf oder mit meinem Pferd tanzen.“

Frustriert ließ Annabelle die Schultern hängen. „Dann habe ich nichts.“

Heidi drückte ihren Arm. „Ich habʼs doch schon gesagt, mach es selbst. Du bist diejenige, die ständig von den Máa-zib-Frauen redet, davon, dass sie ihre Töchter davor bewahrt haben, geopfert zu werden, indem sie ihre Heimat verlassen haben. Sie waren es leid, dass ihre Töchter getötet wurden, ehe sie überhaupt eine Chance hatten zu leben, deshalb sind sie hierhergekommen. Um frei zu sein. Sei genauso tapfer wie sie.“

Annabelle straffte sich. Sie war nun wirklich nicht der Typ, der eine Parade anführte, sondern eher still, ein Mensch, der hinter den Kulissen wirkte.

Sie öffnete den Mund, um zu erwidern: „Das kann ich nicht“, aber irgendwie blieben ihr die Worte im Hals stecken. Denn wenn sie wollte, konnte sie. Sie konnte vieles. Aber ihr Leben lang hatte sie versucht, sich unauffällig zu verhalten, sich anzupassen. Angefangen bei ihren Eltern, denen sie es immer hatte recht machen wollen, bis hin zu sämtlichen Männern, mit denen sie ausgegangen war. Sie hatte sich immer als angepasst, aber nicht als stark angesehen.

Charlie starrte sie an. „Alles okay bei dir? Du siehst ein bisschen merkwürdig aus.“

„Ich bin ein Schwächling“, stellte Annabelle fest. „Eine Fußmatte, auf der alle herumtrampeln, und das ist die schlichte, ergreifende, wenn auch wenig schmeichelhafte Wahrheit.“

Heidi und Charlie tauschten besorgte Blicke aus. „Okay“, meinte Charlie langsam. „Du hast nicht gerade einen Anfall oder so was?“

„Nein, ich hatte gerade eine Eingebung. Ich war immer diejenige, die sich gebeugt hat, die die eigenen Wünsche und Bedürfnisse hintangestellt hat, um es anderen recht zu machen.“

„Du hast gerade auf dem Tresen getanzt“, meinte Heidi achselzuckend. „Unabhängiger kann man doch gar nicht werden.“

„Nur um das mal festzuhalten: Ich bin nicht betrunken. Ich habe Charlie nur den Tanz der glücklichen Jungfrau gezeigt, um sie davon zu überzeugen …“ Sie schüttelte den Kopf und stand auf. „Wisst ihr was? Ich mach es selbst. Ich lerne den Tanz auf dem Pferd. Und ich lerne Reiten. Es ist mein Büchermobil. Mein Spendenaufruf. Ich übernehme Verantwortung. Ich stelle mich der Herausforderung. Der Geist der Máa-zib-Frauen lebt auch in mir weiter.

„Auf gehtʼs, Mädchen“, ermunterte Charlie sie und grinste.

„Du warst gestern Abend aber früh zu Hause.“

Shane drehte den Wasserhahn in der Scheune zu, und als er hochschaute, sah er seine Mutter auf sich zukommen. Es dämmerte gerade erst, doch sie war bereits aufgestanden und angezogen. Und, viel wichtiger, sie hielt in jeder Hand einen Becher Kaffee.

Dankbar nahm er den Becher, den sie ihm reichte, und trank einen Schluck. Bilder einer feurigen Rothaarigen hatten ihn bis in seinen unruhigen Schlaf hinein verfolgt.

„Stimmt, Joʼs Bar war nicht ganz das, was ich erwartet hatte, auch wenn es hochinteressant dort war.“

May, seine Mutter, die mit Mitte fünfzig noch immer sehr attraktiv war, lächelte. „Du warst in Joʼs Bar? Ach Schätzchen, nein. Da gehen doch die Frauen aus der Stadt alle hin. Statt Sportsendungen kannst du dort die Shopping- oder Modesendungen im Fernsehen sehen. Du hättest deinen Bruder fragen sollen, wo sich die Männer zu einem Spielchen treffen. Kein Wunder, dass du so früh wieder zu Hause warst.“ Mit der freien Hand streichelte sie der Stute, die ihren Kopf über die Stalltür streckte, die Nüstern. „Hallo, meine Süße, hast du dich schon eingelebt? Ist es nicht toll in Foolʼs Gold?“

Die Stute nickte, als wollte sie bekunden, dass alles bestens war.

Shane musste zugeben, dass seine Pferde sich schneller eingelebt hatten, als er angenommen hatte. Die Fahrt von Tennessee hierher hatte ewig gedauert, aber die lange Reise hatte sich gelohnt. Er hatte zweihundert Morgen allerbestes Land etwas außerhalb der Stadt gekauft. Die Zeichnungen für ein Haus waren bereits fertig und, was noch viel wichtiger war, ebenso die Entwürfe für die Ställe. Die Bauarbeiten sollten noch in dieser Woche beginnen. Währenddessen hatten seine Pferde in den Ställen seiner Mutter Unterschlupf gefunden, und er selbst wohnte bei ihr im Haus – zusammen mit ihrem vierundsiebzigjährigen Freund Glen, seinem Bruder Rafe und dessen Verlobter Heidi. Das war definitiv kein Dauerzustand, aber übergangsweise würde es gehen.

Schließlich tat er genau das, was er immer hatte tun wollen, noch dazu an einem Ort, an dem er sich schon immer hatte niederlassen wollen. Er besaß Pferde und Land, und seine Familie war nahe genug, dass er sich wie zu Hause fühlen konnte, allerdings nicht so nahe, dass sie ihm im Wege sein würde, wenn sein Haus erst einmal fertig war. Nun musste er nur noch das Bild dieser Frau aus seinem Kopf bekommen.

„Mom, kennst du …“

Den Rest der Frage verkniff er sich. Seine Mutter gehörte zu den Frauen, die jeden in der Stadt kannten. Wenn man ihr einen Namen nannte, konnte sie ihm innerhalb von einer Viertelstunde die Details der letzten vier Generationen dieser Familie herunterrasseln.

Doch er hatte keine Lust auf weitere Komplikationen und Probleme. Davon hatte er bereits genug gehabt, schließlich war er mit einer von den Frauen verheiratet gewesen, die einen Mann um den Verstand bringen konnten. Einer der Gründe, warum er sich von ihr hatte scheiden lassen. Er hatte genügend Aufregung in seinem Leben gehabt, davon konnte er noch zehren, bis er neunzig war. Jetzt war es an der Zeit, sich häuslich niederzulassen. Zeit, eine vernünftige Frau zu finden, eine, die zufrieden damit war, dass ein Mann sie liebte.

Seine Mutter musterte ihn, und wieder einmal fiel Shane auf, wie sehr ihre Augen seinen eigenen ähnelten. Ihr Mund verzog sich zu einem kleinen, wissenden Lächeln.

„Bitte, bitte, sag, dass du mich fragen wolltest, ob ich ein paar nette Frauen kenne.“

Was sollʼs, dachte er und zuckte mit den Schultern. „Okay, kennst du eine? Jemanden, na ja, du weißt schon, jemanden Normales?“ Nicht so eine wie die Göttin, die auf dem Bartresen getanzt hatte.

Seine Mutter zitterte schon fast vor Aufregung. „Ja, und sie ist wirklich perfekt. Eine Bibliothekarin. Annabelle Weiss heißt sie. Sie ist bezaubernd. Heidi hat mir erzählt, dass Annabelle gern Reiten lernen möchte. Du könntest ihr Unterricht geben.“

Eine Bibliothekarin, so so. Im Geiste sah Shane eine unscheinbare Brünette vor sich, mit einer Brille auf der Nase, die Strickjacke bis oben hin zugeknöpft und mit praktischen Schuhen an den Füßen. Nicht gerade aufregend, aber das war okay. Er war jetzt in einem Alter, in dem er sich eine Familie wünschte, und nicht länger auf der Suche nach einer Frau, die sein Leben in Aufruhr versetzte.

„Was meinst du?“, fragte seine Mutter nervös.

„Das klingt, als wäre sie perfekt.“

„Na, zurück an den Tatort?“

Annabelle grinste ihre Freundin an. „Es hat keine Tat gegeben.“

„Das weißt du, und auch ich weiß das, aber die Gerüchteküche brodelt, so viel kann ich dir verraten.“

Annabelle hielt die Tür zu Joʼs Bar auf und wartete, bis Charlie vor ihr in den hell erleuchteten Raum getreten war. Es war Mittagszeit in Foolʼs Gold, und an vielen der Tische saßen bereits Frauen und aßen. Jo hatte mit ihrer Bar einen Treffpunkt für den weiblichen Teil der Bevölkerung geschaffen und für die Inneneinrichtung feminine Farben wie Mauve- und Cremetöne gewählt. Tagsüber waren die großen Fernsehgeräte an den Wänden entweder ausgeschaltet oder auf Shoppingsender und Realityshows eingestellt. Auf der Speisekarte gab es viele Salate und Sandwiches, deren Kalorienangaben jeweils dezent am Rand vermerkt waren.

Annabelle folgte Charlie zu einem Tisch und setzte sich.

„Alle reden davon, dass du auf dem Tresen getanzt hast.“

Annabelle lachte. „Ist mir egal. Es war ja für einen guten Zweck. Selbst wenn ich dich damit nicht überzeugen konnte, an meinem Festival teilzunehmen. Aber das ist schon okay. Ich werde es selbst machen.“ Sie verzog ein wenig das Gesicht. „Aber du versicherst hoffentlich allen Leuten, dass ich nicht betrunken war, oder?“

Sie hatte am Abend zuvor nämlich nicht einmal ein Glas Wein getrunken. Ihre Tanzeinlage auf dem Tresen war eher aus einem Gefühl der Unruhe heraus entstanden und weniger dem Bedürfnis entsprungen anzugeben, und sie hatte definitiv nichts mit ihrem Alkoholpegel zu tun gehabt.

Charlie grinste. „Ich schwöre, ich halte mich strikt an die Geschichte mit dem einen Glas Wein. Die Archäologen waren jedoch fasziniert. Ich glaube, der Tanz der glücklichen Jungfrau hat dir bei ihnen zu noch mehr Ansehen verholfen.“

„Ja, weil sie so ein wilder Haufen sind“, meinte Annabelle ironisch.

Im vergangenen Herbst hatten Arbeiter, als sie auf einer Baustelle ein Stück vom Berg gesprengt hatten, Gold der Máa-zib entdeckt. Archäologen waren in Scharen nach Foolʼs Gold gepilgert, um sich der Schätze anzunehmen. Sobald die Fundstücke untersucht und katalogisiert wären, sollten sie der Stadt zurückgegeben werden.

„Bist du eigentlich an der Sache beteiligt?“, fragte Charlie.

„Ich bin eher eine inoffizielle Hilfskraft“, erwiderte Annabelle. „Dadurch, dass ich an der Uni die Kultur der Máa-zib als Nebenfach belegt habe, verfüge ich gerade über genügend Wissen, um die Profis hin und wieder zu ärgern.“

„Die meisten Profis müssen auch ab und zu geärgert werden.“

Annabelle war Charlie für ihre Loyalität dankbar. „Dann ist meine Arbeit hier getan.“

Die Tür wurde geöffnet, und Heidi kam herein. Als sie die beiden anderen sah, winkte sie und kam zu ihnen an den Tisch.

„Shane hat Ja gesagt“, erzählte Heidi aufgeregt. „Er bringt dir bei, wie man das mit dem Pferdetanz macht. Oder besser gesagt, er bringt dir das Reiten bei. Ich glaube, seine Mom hat den Tanz gar nicht erwähnt.“

„Ist wahrscheinlich auch besser, ihm das schonend beizubringen“, meinte Charlie.

„Du hast recht.“ Heidi lachte. „Er ist ein erfolgreicher Pferdetrainer. Die Sache mit dem Tanzen wird nicht unbedingt sein Ding sein. Du musst es ihm ganz vorsichtig unterjubeln.“

Das ist es, was ich so mag, dachte Annabelle glücklich. Ihre Freundinnen und – meistens jedenfalls – ihr derzeitiges Leben. Sie hatte einen wunderbaren Job in einem Ort, den sie wirklich gern mochte. Sie gehörte dazu. Und wenn sie ein wenig neidisch wurde, wenn sich das Licht in Heidis Verlobungsring mit dem funkelnden Diamanten fing, na ja, dann war das auch okay.

In Wahrheit war ihr der Diamant völlig egal, aber das, was er repräsentierte, erfüllte sie mit Neid. Liebe. Wahre Liebe. Rafe versuchte nicht, Heidi zu verändern, sondern liebte sie so, wie sie war. So etwas hatte Annabelle noch nie erlebt. Die Erkenntnis, die sie am Abend zuvor gewonnen hatte, war ihr noch immer frisch im Gedächtnis. Sie wollte mehr als eine Liebe, die an Bedingungen geknüpft war. Sie wollte alles – oder nichts. Leidenschaftliche, manchmal vielleicht chaotische Liebe und eine Partnerschaft, in der beide mit ganzem Herzen dabei waren.

Leider standen die Männer nicht gerade Schlange, um sich auf so etwas einzulassen.

„Okay, ich werde dran denken.“ Annabelle zog einen Schnellhefter aus ihrer großen Umhängetasche. „Kommen wir jetzt aber zum Wesentlichen. Ich habe die Informationen eingeholt, so wie versprochen“, sagte sie und schob Heidi die Fotos, die sie bei den beiden Blumenläden im Ort gemacht hatte, zusammen mit den Preislisten zu.

Heidi seufzte. „Du bist echt wundervoll, und ich weiß die Hilfe wirklich zu schätzen.“

Charlie plusterte sich auf. „Hey, ich habe den Kuchen für dich probiert. Das würde ich nicht für jeden machen.“

Skeptisch musterte Heidi sie. „Bist du sicher?“

„Okay, okay, wenn es um Kuchen geht, wahrscheinlich doch. Aber ich habe es getan, weil du meine Freundin bist.“

„Ihr zwei seid die Besten“, sagte Heidi und strahlte. „Ehrlich, ich weiß nicht, wie ich euch danken soll.“

Charlie hob die Hand. „Ich schwöre dir, wenn du anfängst zu heulen, bin ich sofort verschwunden. Du bist echt zu gefühlsduselig. Bist du sicher, dass du nicht schwanger bist?“

„Ja, bin ich. Es liegt nur daran, dass alle so nett sind und so hilfsbereit, was die Hochzeit angeht.“

Heidi war gerade einmal seit zwei Wochen verlobt, was nicht sonderlich erwähnenswert gewesen wäre, wenn man einmal von der Tatsache absah, dass die Hochzeit schon Mitte August stattfinden sollte. Damit blieben kaum zwei Monate Zeit, um alles zu planen. Heidis einzige Familie bestand aus ihrem Großvater, sodass Annabelle und Charlie angeboten hatten, ihr bei den Vorbereitungen zu helfen.

Jetzt schauten sie sich die Blumenfotos genauer an. Heidi studierte die Arrangements und die Preise, hielt jedoch inne, als Jo an ihren Tisch trat, um sich zu erkundigen, was sie zum Mittag essen wollten.

„Übrigens“, meinte Jo, während sie ihnen die Speisekarten reichte, „der Partyraum soll in ungefähr einem Monat eröffnet werden. Du hattest doch wegen der Brautparty danach gefragt.“

Interessiert beugte Heidi sich vor. „Gestaltest du ihn so, wie du gesagt hast?“

Jo grinste. „Na klar, genauso feminin wie den Rest der Bar, mit besonders schmeichelnder Beleuchtung. Viele Tische, eine separate Bar, großer Flachbildschirm und eine kleine Bühne. Im Moment bin ich dabei, ein Menü auszuarbeiten. Wir können Appetithäppchen und Fingerfood anbieten oder normale warme Gerichte. Was du willst.“

„Champagner?“, fragte Heidi.

„Reichlich.“

„Das klingt doch gut“, meinte Annabelle. „Sollen wir deine Brautparty hier feiern?“

„In den Raum passen bis zu sechzig Leute rein“, erzählte Jo ihnen.

„Da bräuchten wir niemanden von deiner Gästeliste zu streichen“, stellte Charlie fest.

„Also, ich finde, das hört sich nach einem super Plan an“, sagte Heidi glücklich.

Annabelle nickte. „Wir sagen dir noch Bescheid wegen des Datums.“

„Okay.“ Jo nahm ihre Bestellungen auf. Salat für Annabelle und Heidi und einen Cheeseburger für Charlie.

„Und eine Portion Pommes für alle“, fügte die Feuerwehrfrau hinzu und sah ihre Freundinnen dann grimmig an. „Ich kenne euch beiden doch. Sonst klaut ihr mir wieder meine Pommes.“

„Das würde ich doch nie tun“, log Annabelle fröhlich.

„Hallo, ich bin Annabelle Weiss.“

Shane blickte von dem Sattel, den er gerade polierte, auf und kam abrupt auf die Füße. Statt einer grauen Maus mit Brille auf der Nase, eingehüllt in eine zu große Strickjacke und mit Wollstrümpfen, die ihr bis zu den Knöcheln hinuntergerutscht waren, erblickte er die zierliche, rothaarige Tänzerin aus der Bar, die ihn leicht amüsiert mit ihren grünen Augen anschaute.

Sie trug eins dieser engen Kleider mit Spaghettiträgern, das Frauen gern anzogen und Männer nur allzu gern anschauten. Was natürlich genau das war, was die Frauen damit bezweckten. Es war weiß und über und über mit Blümchen bedruckt. Schmale Stoffstreifen waren zusammengeflochten worden, um das Teil zusammenzuhalten. Es saß hauteng und umschmeichelte ihre beeindruckenden Kurven bis kurz oberhalb der Knie.

Rein technisch gesehen war sie bedeckt, ohne dass irgendein Stückchen Haut sichtbar war, das nicht hätte sichtbar sein dürfen. Aber die Form ihres Körpers genügte, um selbst den stärksten Mann in die Knie zu zwingen. Shane musste es wissen – er war nur ein oder zwei Herzschläge davon entfernt, zu Boden zu gehen.

Instinktiv versuchte er, sich selbst zu schützen. Einen Schritt nach vorn zu gehen, das kam gar nicht infrage – dadurch würde er ihr viel zu nahe kommen. Also machte er einen Schritt nach hinten und wäre fast über den Hocker gestolpert, auf dem er gesessen hatte. Der Hocker drohte umzukippen, und Shane versuchte, ihn festzuhalten. Genau wie die Frau. Irgendwie berührten sich dabei ihre Finger, und, verdammt, jetzt hatte es ihn erwischt. Begehren und Verlangen durchzuckten ihn wie ein Blitz.

„Sie sind Shane, oder?“

Hastig trat er den Rückzug an und schaffte es immerhin, kurz zu nicken, während er den Lappen, den er in den Händen hielt, nervös zusammenknüllte.

„Heidi hat gesagt, dass Sie bereit wären, mir das Reiten beizubringen.“ Hatte sie eben noch so ausgesehen, als würde sie sich amüsieren, wirkte sie auf einmal leicht verwirrt. So als fragte sie sich, warum niemand ihr erzählt hatte, dass er nicht mehr alle Tassen im Schrank hatte.

„Auf einem Pferd“, brachte er hervor, hätte sich im nächsten Moment aber am liebsten selbst in den Hintern getreten. Worauf denn wohl sonst, wenn nicht auf einem Pferd? Glaubte er etwa, sie wollte lernen, auf dem Elefanten seiner Mutter zu reiten?

Annabelles Mundwinkel zuckten. Es war ein perfekter, sinnlicher Mund. „Auf einem Pferd wäre schon gut. Sie scheinen ja diverse Exemplare davon zu haben.“

Shane versuchte sich daran zu erinnern, dass er normalerweise durchaus eine gute Figur abgab, wenn er es mit Frauen zu tun hatte. Er war intelligent, witzig und konnte sogar charmant sein, wenn es die Gelegenheit erforderte. Jetzt allerdings war sein Blut derart in Wallung geraten, dass sein Hirn nichts anderes konnte, als immer und immer wieder zu schreien: „Sie ist es, sie ist es.“

Die Chemie zwischen Mann und Frau, dachte er grimmig. Die konnte selbst den klügsten Mann in einen sabbernden Idioten verwandeln. Sein Verhalten in diesem Augenblick war der beste Beweis für diese Theorie.

Als ihm bewusst wurde, dass er noch immer einen alten Lappen in der einen und die Lederpflege in der anderen Hand hielt, stellte er beides auf die abgewetzte Arbeitsplatte.

„Das heißt, Sie möchten ein bisschen zum Vergnügen reiten?“, fragte er, sehr darum bemüht, seiner Stimme einen neutralen Klang zu geben.

Annabelle seufzte. Dabei hob und senkte sich ihr Busen, und es kostete Shane all seine Willenskraft, den Blick abzuwenden.

„Ehrlich gesagt ist es ein wenig komplizierter“, gab sie zu.

Kompliziert? Konnte er sich gar nicht vorstellen. Sie war eine wunderschöne Frau. Er war ein Mann, der sie unbedingt haben musste, sonst würde für ihn die Welt untergehen. Was war einfacher?

Nur leider redete sie nicht über das, was er gerade dachte, und wenn sie wüsste, was ihm durch den Kopf ging, würde sie bestimmt mit der Mistgabel auf ihn losgehen, anschließend schreiend davonlaufen und ihn dann noch mit ihrem Wagen platt fahren, um ihm endgültig den Garaus zu machen. Er könnte es ihr nicht einmal verdenken.

Aber er war schlau genug, diese Gedanken zu vertreiben. Immerhin war er ein ganz normaler Kerl, der ein ganz normales Leben führen wollte. Er kannte Frauen wie sie. Genauer gesagt, er hatte eine Frau wie sie gekannt. Er hatte sie geheiratet und war dann während ihrer gesamten Ehe von ihr gequält worden. Frauen wie sie wollten Männer – alle Männer. Erst wenn sämtliche Kerle hinter ihnen her waren, waren sie glücklich. Auf keinen Fall würde er diesen Fehler noch einmal begehen und sich mit einer dieser wilden Frauen einlassen, die ihn mit einem einzigen Blick antörnen konnten. Im Augenblick klang langweilig sehr vielversprechend.

„Ich bin die Bibliothekarin hier im Ort …“, begann sie.

„Sind Sie sicher?“

Die Worte waren heraus, ehe er darüber nachdenken konnte.

Erstaunt hob Annabelle die Augenbrauen. „Ziemlich. Es ist mein Job, und bisher hat mir noch keiner gesagt, ich solle verschwinden, wenn ich bei der Arbeit aufgetaucht bin.“

Na toll, Stryker, dachte er. Ganz toll.

„Ich hatte jemanden mit ʼner Brille erwartet. Sie wissen schon. Weil Bibliothekare so viel lesen.“

Jetzt runzelte sie die Stirn. „Ich glaube, Sie sollten öfter mal Ihren Stall verlassen.“

„Mag sein.“

Sie zögerte, so als wüsste sie nicht genau, ob er witzig oder einfach nur unglaublich langsam war. „Okay.“

Leider konnte er ihr auf keinen Fall die Wahrheit sagen. Zuzugeben, dass er noch nie so eine umwerfende Frau getroffen hatte und dass er nur deshalb wie ein unglaublicher Idiot klang, weil all sein Blut vom Kopf in südlichere Regionen geflossen war, würde wohl nur dazu führen, dass sie ihn wegen sexueller Belästigung verklagte. Das Einzige, was er jetzt machen konnte, war, noch einmal von vorn anzufangen.

„Erzählen Sie mir, was Sie sich vorgestellt haben“, sagte er und schaute ihr dabei in die Augen, um ja nicht in Versuchung zu geraten, auf die sich stetig hebende und senkende Brust zu schauen oder auf die lackierten Zehen ihrer winzigen Füße, die einfach unglaublich niedlich aussahen. „Lassen Sie mich raten. Sie wollten schon seit Ihrer Kindheit Reiten lernen?“

Annabelle lachte. „Haben Sie mich mal angesehen? Pferde sind riesige Tiere. Warum sollte jemand so Kleines wie ich sein Leben auf einem Tier riskieren, das mich mit einem Gedanken zerschmettern könnte?“

Während sie sprach, drehte sie sich ein wenig und streckte eins ihrer tollen Beine vor, um ihm den zwölf Zentimeter hohen Absatz ihrer Sandaletten zu zeigen.

Er vermutete, dass sie es getan hatte, um zu verdeutlichen, wie klein sie war. Seine Gedanken schweiften jedoch in eine ganz andere Richtung … sie war klein und leicht genug, dass er sie ohne Umstände tragen konnte. Ihm schoss ein Bild durch den Kopf, von ihnen beiden, an eine Wand gelehnt, ihre Beine um seine Taille geschlungen, während sie …

Shane ballte die Hände zu Fäusten, um das erotische Bild zu vertreiben, erinnerte sich hastig daran, dass seine Mutter wusste, dass er sich mit Annabelle traf, während er gleichzeitig versuchte, sich mit Pferderennstatistiken abzulenken. Als das alles nichts half, stellte er sich selbst ein paar Kopfrechenaufgaben.

„Größe hat damit nichts zu tun“, sagte er schließlich und hätte dann am liebsten den Kopf gegen die Wand geschlagen. „Jockeys sind auch klein, und trotzdem können sie schnelle, kräftige Pferde kontrollieren.“

Ihre Augen funkelten amüsiert. „Sicher. Logik. Das letzte Refugium der Männer.“

Er brachte ein Lächeln zustande. „Ich muss mit dem arbeiten, was ich habe. Also, wir haben festgestellt, dass Reiten kein Kindheitstraum ist.“

„Wohl kaum. Obwohl, ich wäre gern Ballerina geworden. Wie auch immer, ich muss Reiten lernen, weil ich Spenden für ein Büchermobil zusammenbekommen will. Wir haben Anfang des Jahres gerade das Medienzentrum fertiggestellt. Es ist wirklich toll geworden.“

„Ist ein Büchermobil nicht ein wenig anachronistisch?“

„Sie meinen, weil man heutzutage alles aus dem Internet beziehen kann, sogar Bücher?“

Er nickte.

„Schön wärʼs. Wir haben eine Menge Leute hier in der Gegend, die nicht nur ziemlich zurückgezogen und weit abgelegen wohnen, sondern auch keinen Computer haben. Ältere Ehepaare, die in den Bergen wohnen und im Winter gar nicht in die Stadt kommen. Ein paar Leute im Rollstuhl. Diese Art von Menschen. Im Moment haben wir einen klapprigen alten Lieferwagen, der für diese Fahrten genutzt wird, aber da passt nicht viel rein. Außerdem hoffe ich, dass wir genügend Geld sammeln können, um ein paar Laptops anschaffen zu können, um diese abgeschieden lebenden Menschen in die wunderbare Welt der Computer und des Internets einzuweihen. Um ihnen sozusagen eine ganz neue Welt zu eröffnen.“

Shane hätte nicht gedacht, dass es heutzutage überhaupt noch Menschen gab, die von Computern keine Ahnung hatten, aber natürlich musste es noch reichlich Leute geben, die entweder unfähig oder unwillig waren, den Schritt ins elektronische Zeitalter zu wagen.

„Ich habe mir mein Traumauto schon ausgesucht“, fuhr Annabelle voller Enthusiasmus fort. „Es ist riesig und hat Vierradantrieb. Das ist wichtig, damit man auch im Winter damit in die Berge fahren kann.“

„Wie viel müssen Sie zusammenbekommen?“

„Einhundertfünfunddreißigtausend Dollar.“

Er öffnete den Mund und schloss ihn wieder. „Das ist eine Menge Auto.“

„Ein Teil des Geldes würde für die Bücher und die Computer draufgehen.“

So viel zu der Idee, ihr einfach nur einen Scheck zu überreichen. „Und was hat das Reiten mit der ganzen Sache zu tun?“

Sie lächelte. „Da können wir gleich mal testen, ob Sie im Geschichtsunterricht aufgepasst haben. Ich möchte bei einer Zeremonie reiten, in der das Máa-zib-Erbe gefeiert wird.“

Shane verzog das Gesicht. „Das ist schon lange her.“ Er machte eine kleine Pause, bevor er nickte, als ihm ein paar Details, die er in der vierten oder fünften Klasse gelernt hatte, wieder einfielen. „Sie haben sich vor achthundert Jahren hier niedergelassen. Vielleicht auch schon früher. Es waren Maya-Frauen, die hier ihre eigene Kultur gegründet haben. Und habe ich nicht vor Kurzem erst etwas über irgendwelche Máa-zib-Goldfunde in den Nachrichten gehört?“

„Sie waren ein guter Schüler.“

„Nicht wirklich. Ich wäre viel lieber draußen gewesen.“

„Ich nicht. Ich habe meine Nase immer in irgendein Buch gesteckt. Wie auch immer, ja, das sind die grundlegenden Fakten. Am Ende des Sommers findet ein Festival statt, mit authentischem Máa-zib-Handwerk und Vorlesungen, mit einer Parade und mit mir auf einem Pferd, um den traditionellen Ritt der Kriegerinnen vorzuführen. Eigentlich ist es eher ein Tanz. Genauer gesagt nennt man es den Tanz des Pferdes.“

„Sie wollen auf einem Pferd tanzen?“

„Nein. Das Pferd soll tanzen, während ich es reite.“

Dieses Mal dachte Shane an den Hocker, als er einen Schritt nach hinten machte. „Haben Sie ein Tanzpferd?“

„Ähm, nein. Ich dachte, dass wir daran vielleicht auch arbeiten könnten.“

Er machte noch einen Schritt von ihr fort. „Sie wollen, dass ich Ihnen beibringe, wie man reitet, und ich soll einem Pferd beibringen zu tanzen?“

„Ist das nicht möglich?“

Sie schaute ihn an und brachte ihn damit so aus dem Konzept, dass er sich nicht mehr rühren konnte. Selbst als sie näher kam, blieb er regungslos stehen. Sie lächelte ihn an und legte eine Hand auf seinen Arm.

„Heidi hat gesagt, dass Sie unglaublich gut mit Pferden umgehen können. Es ist nur ein kleiner Tanz. Lediglich ein paar Schritte. Für einen guten Zweck.“

Das, was sie da gerade machte, war ja an sich nichts Ungewöhnliches. In weiten Teilen des Landes würde man es als etwas Tolles ansehen, wenn eine schöne Frau den Arm eines Mannes berührte, auf jeden Fall würde man es nicht als gefährlich deklarieren. Aber Annabelle war ja auch nicht irgendeine Frau. Sie war diejenige, die auf dem Tresen in einer Bar getanzt hatte, diejenige, die er – vermutlich sehr zur Erheiterung der Schicksalsgöttin – einfach unwiderstehlich fand.

Warum konnte sie nicht so sein, wie er sich die typische Bibliothekarin vorstellte? Altbacken, Strickjacke tragend und langweilig? Vielleicht waren Bibliothekarinnen aber auch gar nicht so. Vielleicht waren sie alle so wild wie Annabelle, und diese Sache mit der Strickjacke war einfach nur ein großer Witz, den sie sich mit der Allgemeinheit erlaubten, weil die viel zu sehr mit sich selbst beschäftigt war, um die Wahrheit zu erkennen? Wie auch immer, er war verloren. Verloren wegen eines Paars grüner Augen und wegen eines sexy Lächelns, das ihn wie ein Schlag in die Magengrube traf. Okay, es war kein Schlag, und der Körperteil, der auf Annabelle reagierte, war auch nicht unbedingt die Magengrube.

Am liebsten hätte er Nein gesagt, aber das brachte er nicht über die Lippen. Nicht nur, weil das Büchermobil eine gute Sache war, sondern auch, weil seine Mutter ihn mit einem sehr strafenden, enttäuschten Blick bedenken würde. Auch wenn er schon einige Jahre zuvor die Dreißig überschritten hatte, konnte er diesen Blick nicht ertragen.

„Ich bin ein Macho“, brummte er und unterdrückte dann ein Stöhnen, als ihm bewusst wurde, dass er das laut ausgesprochen hatte.

Annabelle hob die Augenbrauen und machte einen Schritt zurück. „Ich bin …“ Sie räusperte sich. „… sicher, dass das der Wahrheit entspricht. Großer, tougher Cowboy und so.“

Innerlich fluchend überlegte Shane, wie er aus der Nummer wieder rauskommen sollte.

Bevor er weiter darüber nachdenken konnte, hörte er ein lautes Wiehern von einer der umzäunten Weiden. Er drehte sich um und sah den weißen Hengst am Gatter stehen, die dunklen Augen auf Annabelle gerichtet.

Auch sie wandte den Blick in die Richtung. „Oh, wow, das ist ja ein wunderschönes Pferd. Wie heißt es?“

„Khatar. Es ist ein Araberhengst.“

Und ein Mistvieh, dachte Shane. Die Art von Pferd, das jeden wissen lassen wollte, dass er das Sagen hatte. Khatars vorheriger Besitzer war zu aggressiv gewesen und hatte versucht, den Willen des Pferdes zu brechen. Jetzt musste Shane versuchen, dieses Fehlverhalten wieder auszubügeln, was sich als eine ziemliche Herausforderung darstellte. Aber er würde es schaffen – er musste. Es stand einfach viel zu viel Geld auf dem Spiel, denn ansonsten war das Pferd in Topform.

Er drehte sich wieder zu Annabelle um. Selbst mit ihren hohen Absätzen reichte sie ihm kaum bis zur Schulter. Wenn er sie auf einen seiner ruhigeren Wallache setzte, würde sie vermutlich in ein oder zwei Wochen reiten können. Was das Tanzen anging, damit würde er sich später beschäftigen. Wenn er wieder in der Lage war, in ganzen Sätzen zu reden.

„Wann wollen Sie anfangen?“, fragte er, beeindruckt, dass er die Worte tatsächlich fehlerfrei aneinandergereiht bekommen hatte.

Sie schaute ihn an und lächelte. „Wie wäre es mit morgen?“

„Sicher.“ Je eher sie anfingen, desto eher wären sie damit durch. Es wäre besser, wenn Annabelle schnellstens wieder aus seinem Leben verschwand. Sie konnte dann andere Männer quälen, und er könnte aufhören, sich wie ein Idiot zu benehmen. Das wäre doch für sie beide ein Gewinn, oder?

2. KAPITEL

Annabelle hatte keine Ahnung, was den Anbau von Obst und Gemüse anging. Zum einen war sie in der Stadt groß geworden, und zum anderen hatte sie, wie sie fröhlich zugab, keinen grünen Daumen, sondern eher den schwarzen Todesfinger. Wenn sie einer Pflanze zu nahe kam, zuckte die nahezu sichtbar zurück. Wenn sie es wagte, eine mit nach Hause zu nehmen, mickerte das arme Ding vor sich hin, bevor es innerhalb weniger Wochen einging. Sie hatte es mit viel Wasser, mit wenig Wasser, mit Dünger, Sonnenlicht und klassischer Musik probiert. Nichts half. Inzwischen weigerte man sich bei Plants for the Planet, einer kleinen Gärtnerei im Ort, sogar schon, ihr etwas anderes als Schnittblumen zu verkaufen. Annabelle versuchte, das nicht allzu persönlich zu nehmen. Der botanische Zyklus des Lebens entzog sich nun einmal völlig ihrer Kenntnis.

Was sie jedoch wusste, war, dass Obst, das an Bäumen wuchs, später reif wurde als solches an Ranken oder Büschen. Dass Erdbeeren als Erstes auf den Markt kamen, dass Kirschen allerdings, die an Bäumen wuchsen und daher erst später im Sommer reif sein müssten, Mitte Juni zu haben waren. Sie wusste auch, dass mehrere Familien ihre Sommer in kleinen Wohnwagen auf den Obstplantagen verbrachten. Sie ernteten die unterschiedlichen Obstsorten, und nachdem Ende September, Anfang Oktober die Weinlese vorüber war, zogen sie weiter.

Annabelle fuhr zu den im Kreis aufgebauten Trailern und parkte ihr Auto. Noch ehe sie die Tür öffnen konnte, kamen Kinder aus den Wohnwagen gerannt, hüpften von Schaukeln und verließen den Schatten der Bäume, die diesen Platz umgaben. Sie umrundeten ihren Wagen, lachten, rissen die Fahrertür auf und drängten sie, endlich auszusteigen.

„Hast du sie mitgebracht? Hast du sie mitgebracht?“

Annabelle stand da, die Hände in die Hüften gestemmt. „Was mitgebracht? Habt ihr irgendetwas bestellt?“

Die Kinder im Alter von ungefähr vier bis elf oder zwölf Jahren strahlten sie erwartungsvoll an. Ein kleiner Junge schoss hinter ihr längs und zog den Hebel, um den Kofferraum aufzumachen. Sofort sausten die Kinder dorthin und begannen, in den Bücherkisten zu stöbern, die sie mitgebracht hatte.

„Es ist dabei!“

„Das ist meins.“

„Der zweite und der dritte Teil der Serie. Cool!“

Als die Kinder ihre bestellten Bücher gefunden hatten und verschwunden waren, um sich von den neuen Geschichten und deren Zauber gefangen nehmen zu lassen, waren in der Zwischenzeit auch die Mütter aus den Wohnwagen herbeigekommen. Die meisten von ihnen hatten Babys oder Kleinkinder auf dem Arm.

Annabelle begrüßte die Frauen, die sie kannte, und wurde den wenigen vorgestellt, die sie bisher noch nicht getroffen hatte. Maria, eine schmale Frau Anfang vierzig, stützte sich auf ihrem Stock ab, als sie Annabelle zur Begrüßung umarmte.

„Die Kinder haben den ganzen Morgen immer wieder auf die Uhr geschaut“, sagte sie und ging voran zu einem kleinen Tisch, der vor dem größten Trailer stand. Marias Ehemann war der Vorarbeiter der Erntehelfer und sprach für sie, wenn sie mit den örtlichen Farmern reden mussten. Für die jüngeren Frauen war Maria die inoffizielle „Mutter der Kompanie“.

„Das freut mich“, erwiderte Annabelle und setzte sich auf einen der Klappstühle. „Als ich in ihrem Alter war, habe ich auch den ganzen Sommer lang nur gelesen.“

„Die Kinder hier auch. Seit dem letzten Jahr, als du uns das erste Mal besucht hast, wollen die Kleinen unbedingt Bücher haben.“

Nachdem Annabelle im vergangenen Jahr nach Foolʼs Gold gezogen war, hatte sie in ihrer freien Zeit immer wieder die Gegend erkundet. Bei einem dieser Streifzüge war sie auf diesen kleinen Wohnwagenpark gestoßen, hatte mit mehreren der Frauen gesprochen und sich mit den Kindern angefreundet. Maria war die Erste gewesen, die sie willkommen geheißen hatte, und sie war begeistert gewesen, als Annabelle vorgeschlagen hatte, diese kleine Gemeinschaft mit Büchern zu versorgen.

In diesem Jahr hatte Annabelle unterschiedliche Leselisten aufgestellt, jeweils für das entsprechende Alter der Kinder. Außerdem versuchte sie, Spenden einzusammeln, damit die Familien, wenn sie weiterreisten, einige der Bücher mitnehmen konnten. Auf jeden Fall genügend, um bis zum nächsten Jahr, wenn sie wiederkamen, versorgt zu sein.

Maria hatte bereits Eistee und Kekse auf den Tisch gestellt, und Annabelle goss ihnen beiden ein Glas ein.

„Leticia bekommt in dieser Woche ihr Baby“, erzählte Maria. „Ihr Mann ist schon ganz hektisch. Männer haben echt keine Geduld mit der Natur, wenn es um ihre Kinder geht. Jeden Tag fragt er: ‚Kommt es heute?ʻ So als würde das Baby ihm eine Antwort geben.“

„Er klingt aufgeregt.“

„Ist er. Und er hat Angst.“ Sie rief etwas auf Spanisch.

Sì, Mama“, ertönte die Antwort.

Maria lächelte. „Sie schreiben die Titel der Bücher auf, die sie sich ausgesucht haben, und die, die sie gern beim nächsten Mal hätten.“

„Nächste Woche komme ich wieder.“ Annabelle senkte die Stimme. „Übrigens … Ich habe auch ein paar von den Liebesromanen dabei, die du so gern liest.“

Grinsend erwiderte Maria: „Oh, wie schön. Die mögen wir alle gern.“

Annabelle würde den Menschen hier gern mehr anbieten, deshalb war sie so sehr darauf aus, das Geld für das Büchermobil zusammenzubekommen. Mit etwas Glück wäre sie dann im nächsten Jahr in der Lage, viel mehr als nur drei oder vier Bücherkisten im Kofferraum ihres Wagens mitzubringen. Sie könnte den Leuten freien Internetzugang bieten. Maria und ihre Freundinnen könnten mit Familienmitgliedern in unterschiedlichen Ländern E-Mails austauschen und verschiedene Möglichkeiten aus dem Netz nutzen, um die Schulausbildung ihrer Kinder zu fördern.

„Blanca hat sich verlobt“, erzählte Maria jetzt glücklich seufzend.

„Herzlichen Glückwunsch.“

„Ich hab dir doch gesagt, dass es da draußen gute Männer gibt.“

„Ja, in Bakersfield, das hast du mir erzählt.“ Marias älteste Tochter hatte eine Ausbildung zur Krankenschwester gemacht und war dann nach Kalifornien gezogen.

„Er ist Arzt.“

Annabelle lachte. „Der Traum jeder Mutter.“

„Sie ist glücklich, und das ist das Wichtigste, aber natürlich finde ich es auch schön, sagen zu können, dass meine Tochter einen Arzt heiratet. Warst du in letzter Zeit mal im Krankenhaus?“

„Wie überaus subtil.“

„Du brauchst einen Mann.“

In dem Moment kam ein kleiner Junge auf sie zugerannt, in der Hand eine kleine Dose. Er blieb vor Annabelle stehen und strahlte sie an. „Die ham wir gefunden und gesammelt. Weil du uns Bücher bringst.“

Sie nahm die Dose mit den gesammelten Pennys. „Vielen Dank, Emilio. Das hilft uns sehr.“

Während er wieder davonsauste, hielt sie vorsichtig das kostbare Geschenk in den Händen. Natürlich waren es nur ein paar Dollar, aber für die Kinder, die die Pennys gesammelt hatten, entsprach das einem Vermögen.

„Du hast ein wunderbares Heim für deine Kinder geschaffen“, sagte sie zu Maria. „Ihr alle. Ihr könnt stolz auf sie sein.“

„Das sind wir auch. Aber glaub ja nicht, dass ich vergessen habe, worüber wir gerade gesprochen haben. Dass wir dir nämlich einen netten Mann suchen müssen.“

„Ich wäre bereit für einen netten Mann“, gab Annabelle zu. Sie dachte an die Erkenntnis, die sie nach ihrem Tresentanz gewonnen hatte. „Einer, der mich um meiner selbst willen haben möchte. Nicht jemand, der mich verändern will. Leider hatte ich noch nicht das Glück, diesen Mann zu finden.“

„Irgendwann wird aus der Pech- eine Glückssträhne.“

„Das hoffe ich.“

Kurz schoss ihr das Bild von Shane durch den Kopf, eine leibhaftig gewordene Cowboyfantasie. Der Mann sah einfach umwerfend aus, verhielt sich allerdings ein wenig merkwürdig. Sie war noch am Überlegen, wie sie auf höfliche Weise herausfinden konnte, ob er als Baby mal auf den Kopf gefallen war.

Außerdem bedeutete umwerfendes Aussehen nicht notgedrungen, dass der Mann auch nett war, und sie hatte die Nase voll davon, immer die falschen Entscheidungen zu treffen, wenn es um die Typen in ihrem Leben ging. Der nächste Mann, den sie in ihr Leben und in ihr Bett lassen würde, musste sie so mögen und lieben, wie sie war.

„Warte“, brüllte Shane, während er den Teenager auf dem Pferd beobachtete. „Warte.“

Elias, neunzehn und überzeugt davon, es besser zu wissen, riss an den Zügeln. Der Wallach kam abrupt zum Stehen. Eliasʼ Lasso landete ungefähr einen Meter vor dem Kalb, das hektisch davonrannte.

„Das verdammte Kalb lacht mich aus“, stieß Elias wütend hervor.

„Zu Recht“, brummte Shane. „Warum bist du eigentlich hier, wenn du nicht auf mich hörst?“

„Ich höre doch auf dich.“

„Nein. Du machst, was du willst, und du siehst ja, wohin das führt.“

Elias murmelte etwas vor sich hin und zog das Lasso wieder ein. „Wenn ich zu lange warte, verfehle ich das Tier.“

„Zu langes Warten ist definitiv nicht dein Problem.“

„Jetzt klingst du genau wie meine Freundin.“

Shane lachte leise. „Mit ein bisschen Übung wirst du auf beiden Gebieten besser werden. Jetzt versuch es noch mal.“

„Siehst du, du musst einfach mit mir arbeiten, Shane. Was hast du hier, was besser sein kann als das Rodeo?“

„Ein Leben.“

„Das kann nicht so toll sein. Du sitzt hier in diesem Nest fest. Als ich erst mal aus meiner kleinen Heimatstadt raus war, habe ich geschworen, nie wieder dorthin zurückzukehren. Ich fasse es immer noch nicht, dass du überall leben könntest und dich ausgerechnet für dieses Kaff hier entschieden hast.“

Shane dachte an das Land, das er sich gekauft hatte, an das Haus und die Ställe, die er bauen wollte. „Ich habe hier alles, was ich brauche.“

Elias verzog das Gesicht. „Na ja, hilf mir zu gewinnen, und dann kümmere ich mich um alles, was ich brauche.“

„Junge, du bist mutig, aber du brauchst noch reichlich Übung. Und ich bin raus aus dem Zirkus.“

Elias nickte in Richtung Weide, wo Khatar alles, was auf der Farm vor sich ging, beobachtete. „Wie viel hast du für den verschwendet? Mit dem, was du für ihn bezahlt hast, hättest du ʼne ganze Ranch kaufen können.“

„Er ist es wert.“

„Träum weiter.“

„Er ist perfekt“, stellte Shane klar, ohne dem Hengst auch nur einen Blick zuzuwerfen.

„Wenn er dich nicht vorher umbringt.“

„Zugegeben, er hat einen schlechten Ruf. Aber ich glaube nicht, dass er wirklich so hinterhältig ist, wie alle glauben. Bist du eigentlich hier, um zu üben, oder willst du nur rumnörgeln? Ich hab weiß Gott Besseres zu tun, als hier herumzustehen und mir von dir kluge Ratschläge erteilen zu lassen – über Dinge, von denen du keine Ahnung hast.“

Elias grinste. „Ich bin hier, um zu lernen.“

„Dachte ich mir.“

„Bis um drei. Dann muss ich mich auf den Weg nach Wyoming machen.“ Elias öffnete den Mund, um noch mehr zu sagen, schloss ihn jedoch wieder und stieß einen leisen Pfiff aus. „Allerdings hätte ich auch nichts dagegen, mir vorher noch ein wenig anderweitig die Zeit zu vertreiben.“

Während der Teenager redete, verspürte Shane ein Kribbeln im Nacken. Er brauchte sich nicht umzudrehen, um zu wissen, wer da auf die Ranch gekommen war, brauchte gar nicht erst hinzuschauen, um sich darüber im Klaren zu sein, dass sein Nachmittag gerade Gefahr lief, völlig aus dem Gleichgewicht zu geraten.

Geschickt schwang Elias sich aus dem Sattel. Er ließ die Zügel los, nahm seinen Hut ab und ging hinüber zum Zaun.

„Hallo“, rief er mit großen Augen und einem idiotischen Grinsen auf den Lippen.

Shane fügte sich dem Unvermeidlichen und drehte sich um, damit er Annabelle zusehen konnte, wie sie näher kam.

Heute trug sie statt des Sommerkleides Jeans und ein T-Shirt, was ja eigentlich nichts Bemerkenswertes war, bei ihr aber unglaublich sexy aussah. Die Jeans umschmeichelten ihre Kurven, und auch wenn ihre Beine nicht übermäßig lang waren, waren sie doch äußerst wohlgeformt. Ihre roten Locken hatte sie zu einem Zopf gebändigt. Als sie Shane jetzt mit ihren grünen Augen ansah, wäre er am liebsten auf die Knie gefallen und hätte sie angefleht. Worum, wusste er nicht genau, aber in diesem Moment würde er alles nehmen, was sie ihm zu geben bereit war. Wobei … wenn es dazu führte, dass ihnen heiß wurde, es lange Zeit in Anspruch nahm und in mehreren Bundesstaaten verboten war, würde ihm das noch besser gefallen.

„Gehört die zu dir?“, fragte Elias leise.

„Nein, aber lass die Finger von ihr.“

„Aber ich …“

„Nein.“

Elias stieß einen verärgerten Laut aus und drehte seinen Hut zwischen den Fingern.

„Hallo, Shane“, sagte Annabelle, als sie vor ihm stehen blieb. „Da bin ich, bereit für die erste Reitstunde.“ Sie lächelte und hielt einen ihrer winzigen Füße hoch. „Ich hab mir Cowboystiefel gekauft. Toll, oder? Allerdings, wenn ich ganz ehrlich sein soll, ist mir jede Entschuldigung, neue Schuhe kaufen zu können, willkommen.“ Ihr Lächeln wurde noch breiter. „Da bin ich mir mit der Mehrheit meiner Geschlechtsgenossinnen einig.“

„Sie sind wirklich hübsch“, warf Elias ein.

„Danke schön.“

Shane fügte sich ins Unvermeidliche und stellte die beiden einander vor. „Annabelle, das ist Elias.“

„Freut mich, dich kennenzulernen“, sagte sie locker.

„Ganz meinerseits.“ Elias musterte sie von Kopf bis Fuß. „Eigentlich bin ich schon fast auf dem Weg nach Wyoming. Meine Grandma hat in ein paar Tagen Geburtstag. Aber ich könnte auch noch eine Weile hierbleiben.“

„Nein, könntest du nicht“, erklärte Shane knapp, während er Annabelle beobachtete, um zu sehen, ob sie mit dem Jungen flirten würde.

„Das sollten wir die Lady entscheiden lassen.“

Annabelle musterte die beiden und runzelte die Stirn. „Tut mir leid, meinst du mich?“

„Elias will wissen, ob er noch bleiben soll“, erklärte Shane. „Ihretwegen.“

Noch immer perplex, runzelte Annabelle die Stirn. „Ich verstehe noch immer nicht.“

„Wir könnten zusammen essen gehen“, bot Elias an. „Oder zu mir.“

„Du hast letzte Nacht hier bei mir geschlafen“, erinnerte Shane ihn.

„Ich könnte mir ein Motelzimmer mieten.“

„Du hast eine Freundin.“

Elias wandte sich an Annabelle. „Es ist nichts Ernstes.“

„Du bist neunzehn.“

Wütend funkelte Elias ihn an. „Bring mich nicht dazu, dir wehzutun, alter Mann.“

Annabelle schüttelte den Kopf. „Ehrlich gesagt bin ich immer noch ein wenig verwirrt. Ich bin, äh, hier, um Reiten zu lernen.“

Shane zwinkerte Elias zu. „Das war eine Abfuhr.“

„Als wenn du es besser könntest.“

Shane wusste, dass der Junge damit wahrscheinlich recht hatte. Wichtiger noch, aus reinem Selbstschutz wäre es schlau, sich von Annabelle Weiss fernzuhalten. Selbst wenn sie eine noch so große Versuchung darstellte.

„Also, wegen der Reitstunde …“, begann sie.

Elias seufzte. „Liegt es am Alter? Alle halten mich eigentlich immer für ziemlich reif.“

Kopfschüttelnd klopfte Shane ihm auf die Schulter. „Tatsächlich?“

„Du halt dich da mal lieber raus, Alter. Das geht nur mich und die Lady was an.“

Alter Mann?

Annabelle riss die grünen Augen auf. „Willst du etwa mit mir ausgehen?“

„Wenn man das fragen muss, hab ich irgendwas falsch gemacht“, murmelte Elias.

„Auch etwas, was die Freundin sagt?“, fragte Shane leise.

Elias warf ihm einen wütenden Blick zu. „Sei still.“

Erneut klopfte Shane ihm auf den Rücken. „Mach dir nichts draus, Junge. Irgendwann lernst du es auch noch.“

„Ich kann das schon ganz gut.“

„Ach ja?“

Shane wandte seine Aufmerksamkeit wieder Annabelle zu. Es war genauso, wie er vermutet hatte: Überall, wo sie auftauchte, machte sie nur Ärger. Einerseits bedauerte er sein Angebot bereits, ihr zu helfen, andererseits fragte er sich, wie er es überleben sollte, wenn er sie nicht mehr sah. Sie war die Art von Frau, die …

Abrupt wurde er aus seinen Gedanken gerissen, als sich eine ganz andere Art von Ärger aus Richtung Weide näherte.

Annabelle gab ja zu, dass sie sich bisher nicht gerade mit Ruhm bekleckert hatte, wenn es um ihre Beziehungen mit Männern ging, aber so verwirrend hatte sie sie noch nie empfunden. Der junge Cowboy versuchte sie anzumachen, was ja ganz schmeichelhaft war, aber keinen Sinn ergab. Sie war doch viel zu alt für ihn. Sicher, ihre neuen Stiefel waren ziemlich niedlich, aber der Mann, der derart auf Schuhe stand, musste vermutlich erst noch geboren werden.

Wahrscheinlich liegt es an der Größe, dachte sie seufzend. Nur weil sie so klein war, hielten die Leute sie für wesentlich jünger, als sie war. Oder inkompetent. Oder beides.

Was Shane anging, der live und in Farbe noch viel besser aussah als in ihrer Erinnerung, so wirkte er eher amüsiert, als dass er sich zu ihr hingezogen fühlte. War wahrscheinlich auch besser so. Zumindest kam er ihr an diesem Tag schon etwas normaler vor. Vielleicht hatte er sich beim letzten Mal, als sie ihn kennengelernt hatte, nicht so gut gefühlt.

„Nicht bewegen“, sagte Shane auf einmal leise.

Sie blinzelte ihn an. „Wie bitte?“

„Nicht bewegen. Ganz ruhig stehen bleiben. Elias?“

„Alles klar, Chef.“ Der Teenager schlüpfte zwischen den Latten des Zaunes hindurch und begann, einen großen Bogen zu schlagen.

„Es wird nichts passieren“, sagte Shane, ohne den Blick von ihr zu wenden.

Annabelle erkannte, dass dies hier kein merkwürdiges Spiel war, sondern dass es tatsächlich ein Problem gab. Sie erstarrte, als sie sich vorstellte, dass sich ihr womöglich eine riesige Schlange näherte. Eine mit einem fiesen, giftigen Biss, der innerhalb von sechs schmerzhaften Sekunden töten konnte. Oder vielleicht wurde sie von etwas noch Schlimmerem angegriffen, obwohl sie sich im Moment nicht vorstellen konnte, was das sein könnte.

„Ein Bär?“, fragte sie hoffnungsvoll. Zerfleischt zu werden klang immer noch besser, als es mit einer Schlange zu tun zu bekommen. „Ist es ein Bär?“

„Ein Pferd.“

„Was?“

Sie drehte sich um und sah den weißen Hengst, über den sie am Tag zuvor geredet hatten. Anscheinend hatte er sich eigenmächtig aus seinem Gatter befreit und kam jetzt auf sie zugetrabt.

Es war ein wunderschönes Tier – so wie aus einem Film. Seine Mähne und der Schweif schimmerten, er war muskulös, und die Hufe glänzten schwarz in der Sonne. Die dunklen Augen suchten ihren Blick, während er direkt auf sie zukam.

Er sieht so freundlich aus, dachte sie, während ihre Nervosität schwand. Fast so, als wollte er sie beruhigen.

Sie legte die Hand auf die Brust, knapp unterhalb ihrer Kehle. „Oh, ihr habt mich aber erschreckt. Ich dachte schon, es wäre eine Schlange. Auch auf die Gefahr hin, das typisch weibliche Klischee zu bedienen, aber vor denen habe ich echt Angst.“ Sie drehte sich zu dem Hengst. „Hallo, mein Großer. Du bist aber ein Schöner. Ich hätte gedacht, ich müsste vor Pferden Angst haben, weil ihr so groß seid, aber du bist ein Lieber, oder?“

„Annabelle, bleib ruhig.“ Shanes Stimme klang ernst, fast ängstlich.

„Okay“, sagte sie, „kein Problem.“

„Geh langsam rückwärts.“

Aus dem Augenwinkel sah sie Elias, der sich mit einem Strick näherte. Der Junge rannte geduckt auf sie zu. Ein bisschen übereifrig, dachte sie, als Khatar bei ihr angekommen war.

„Hallo, Baby“, murmelte sie und streckte die Hand aus, um dem großen Tier über den Kopf zu streichen. „Was bist du für ein hübsches Pferd.“

Khatar kam noch näher und schmiegte seinen Kopf an ihren. Sie lächelte ihn an und streichelte seinen Hals.

„Du bist aber stark“, fuhr sie fort. „Sagen das alle Mädchen? Ich wette, du bist bei den Stuten äußerst beliebt.“

Leise schnaubend legte er den Kopf auf ihre Schulter und drängte sich noch weiter gegen sie. Dadurch geriet sie fast aus dem Gleichgewicht, schaffte es aber gerade noch, stehen zu bleiben. Lächelnd schlang sie ihm beide Arme um den Hals.

„Was ist los?“, fragte sie, trat einen Schritt zurück und strich ihm noch einmal über den Hals. „Bist du einsam? Ignoriert dich der böse alte Shane?“

Sie blickte über die Schulter und sah, dass die beiden Männer sie anstarrten. Elias hatte die Augen weit aufgerissen, und der Mund stand ihm offen. Shane sah überrascht, aber nicht ganz so komisch aus.

„Was ist?“, fragte sie.

„Bleib ruhig“, meinte Elias und klang merkwürdig verzweifelt.

„Ich bin ruhig. Was ist los mit euch beiden?“ Sie schaute sich um und erwartete schon fast, doch eine oder gleich mehrere Schlangen zu entdecken.

Shane und der Teenager flüsterten sich ein paar Worte zu, bevor Elias den Hengst umrundete. Khatar, der noch immer mit ihr schmuste, trat beiläufig mit dem Hinterbein aus. Elias sprang zurück.

„Annabelle, bitte, komm weg da.“

Shane klang streng. Daher tat sie, was er gesagt hatte.

„Reite ich auf ihm?“, fragte sie.

„Nein!“ Die Antwort der beiden Männer kam synchron.

„Okay, okay.“ Erneut wandte sie ihre Aufmerksamkeit Khatar zu. „Bist du wertvoll? Ist das das Problem? So hübsch, wie du aussiehst, bist du wahrscheinlich richtig teuer. Obwohl, ich vermute mal, ‚gut aussehend’ ist wohl die bessere Beschreibung, oder?“

Erneut flüsterten Elias und Shane miteinander.

„Annabelle, wir werden Khatar jetzt ein Halfter umlegen“, verkündete Shane bestimmt.

„Soll ich das machen?“, fragte sie. „Er scheint mich zu mögen.“

„Nein. Ich will, dass du langsam rückwärts gehst, während ich zwischen dich und ihn trete.“

Sie nahm den großen Kopf des Pferdes noch einmal in beide Hände und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nüstern. „Sei brav zu Shane, hörst du?“

Der Hengst ließ den Blick zu Shane wandern und legte die Ohren an.

Annabelle wusste zwar nicht viel über Pferde, aber das schien ihr kein gutes Zeichen zu sein.

„Warum kann ich nicht bei ihm bleiben?“, erkundigte sie sich. „Dann ist er ganz ruhig.“

„Sie ist nicht verrückt, Chef“, sagte Elias. „Schau ihn dir an.“

Sie ist nicht verrückt. Wow – vielleicht sollte sie sich einen Aufkleber mit diesem Spruch für ihr Auto machen lassen. Damit konnte sie bestimmt ihre Chancen beim anderen Geschlecht verbessern. Die Männer würden ihr die Bude einrennen.

Shane zögerte eine Sekunde, nickte dann aber. „Sei vorsichtig“, sagte er zu ihr. „Pass auf seine Hufe auf. Er schlägt gern aus.“

„Woher weißt du das? Hat er dich schon mal getreten?“

„Nein, aber …“

Sie verschränkte die Arme vor der Brust. „Hat dieses Pferd irgendetwas Gemeines getan, seit du es bekommen hast?“

„Nein, aber …“

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