Wild und ungezähmt – Im Bann des Wikingers (2 Miniserien)

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DAS WILDE VERLANGEN DES WIKINGERS von MICHELLE WILLINGHAM
"Mach mich los!" Wut klingt aus der Stimme des angeketteten Wikingers. Doch die schöne Irin Caragh Ó Brannon denkt gar nicht daran, ihn zu befreien! Schließlich wollten Styr Hardrata und seine ruchlosen Männer ihre Siedlung plündern. Dennoch: Sein Kampfesmut hat sie tief beeindruckt, und sie sehnt sich danach, seinen geschundenen Körper zu berühren, ihm das blonde Haar aus der Stirn zu streichen … Was ist nur mit ihr los? Was hat dieser Nordmann, das ihr Herz schneller schlagen lässt? Styr ist doch ihr Feind – und die Frau, die er bis aufs Blut verteidigt hat, seine Ehefrau …

SÜNDIGE STUNDEN MIT DEM WIKINGER von MICHELLE WILLINGHAM
Verzweifelt zieht die schöne Elena den verwundeten Krieger, der sie vor irischen Entführern gerettet hat, an sich und presst ihre Lippen auf seine. Als sein Kuss leidenschaftlicher wird, schiebt sie ihn von sich. Er ist der Freund ihres Mannes, und sie fühlt sich an ihre arrangierte Ehe gebunden. Doch während sie Ragnar pflegt, wird die Versuchung, dem Verlangen nachzugeben, immer stärker …

DIE SINNLICHE RACHE DES WIKINGERS von JOANNA FULFORD
"Niemals werde ich die Hure eines Mannes sein!" Astrid ist außer sich, als Leif Egilsson ihr anbietet, ihm übers Meer zu folgen. Aber hat sie eine Wahl? Schließlich ist der wilde Krieger ihre letzte Chance, einer Zwangsehe zu entgehen. Sie entscheidet sich für die Flucht – doch ihr grausamer Onkel durchkreuzt ihren Plan, legt Leif in Ketten und lässt ihn glauben, dass sie es war, die ihn verriet. Seine blaugrauen Augen, die ihr eben noch höchste Wonnen versprachen, starren sie nun hasserfüllt an. Und Astrid hat keine Zweifel: Sollten seine Männer ihn befreien, muss sie mit dem Schlimmsten rechnen – mit seiner gnadenlosen Rache …

DIE WILDE SCHÖNHEIT UND DER WIKINGER von JOANNA FULFORD
Lara tobt: Ihr Vater hat sie einem Wikinger versprochen. Finn ist zwar faszinierend, aber Lara will keine Ehe ohne Liebe. Doch in der Hochzeitsnacht sagt er ihr, dass er darauf warten wird, bis sie zur Liebe bereit ist. Und entfacht Laras Neugier – wie wäre es, in seinen Armen zu liegen? Als sie verschleppt wird, begreift sie, dass nur einer sie und ihr Herz retten kann: Finn ...


  • Erscheinungstag 30.06.2022
  • ISBN / Artikelnummer 9783751514675
  • Seitenanzahl 1024
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Cover

Michelle Willingham, Joanna Fulford

Wild und ungezähmt - Im Bann des Wikingers (2 Miniserien)

IMPRESSUM

HISTORICAL erscheint in der Harlequin Enterprises GmbH

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2013 by Michelle Willingham
Originaltitel: „To Sin With A Viking“
erschienen bei: Mills & Boon Ltd., London
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe HISTORICAL
Band 306 - 2014 by Harlequin Enterprises GmbH, Hamburg
Übersetzung: Wibke Sawatzki

Abbildungen: Harlequin Books S.A., alle Rechte vorbehalten

Veröffentlicht im ePub Format in 06/2014 – die elektronische Ausgabe stimmt mit der Printversion überein.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783733763862

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

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1. KAPITEL

Irland, 875

Der Stamm verhungerte langsam, aber sicher.

Caragh Ó Brannon betrachtete den fast leeren Getreidesack. Eine Handvoll Hafer war noch übrig; das würde kaum reichen. Sie schloss die Augen und fragte sich, was sie tun sollten. Ihre älteren Brüder Terence und Ronan waren vor zwei Wochen aufgebrochen, um mehr Nahrungsmittel zu besorgen. Sie hatte den beiden die goldene Brosche mitgegeben, die ihrer Mutter gehört hatte, in der Hoffnung, dass sie damit vielleicht ein paar Schafe oder Kühe erstehen konnten. Aber die Hungersnot war überall, und niemand trennte sich mehr von seinem Vieh.

„Haben wir genug zu essen, Caragh?“, fragte ihr jüngerer Bruder Brendan. Mit seinen siebzehn Jahren war sein Appetit dreimal so groß wie ihr eigener, und sie hatte sich alle Mühe gegeben, damit er möglichst keinen Hunger litt. Aber jetzt war es offensichtlich, dass ihnen die Nahrung schneller ausgehen würde, als sie gedacht hatte.

Statt einer Antwort zeigte sie ihm, was noch übrig war. Er schluckte; seine hageren Wangen wirkten schon ganz eingefallen. „Wir haben auch keine Fische fangen können“, sagte er. „Morgen versuchen wir es noch einmal.“

„Ich kann uns Eintopf machen“, bot sie an. „Ich schaue mal, ob ich wilde Zwiebeln oder Karotten finden kann.“ Obwohl sie sich Mühe gab, hoffnungsvoll zu klingen, wussten sie beide, dass die Wälder und Felder längst abgeerntet waren. Außer ein paar trockenen Grasbüscheln gab es dort nichts mehr zu holen.

Brendan legte ihr eine Hand auf die Schulter. „Unsere Brüder werden bald zurück sein. Und dann werden wir mehr als genug zu essen haben.“

Sie sah ihm an, wie verzweifelt er sich an diese Hoffnung klammerte, und lächelte ihm zuversichtlich zu, obwohl ihr gar nicht danach zumute war. „Bestimmt.“

Nachdem er mit seinem Fischernetz nach draußen gegangen war, sah Caragh zurück zur leeren Hütte. Sie hatte im letzten Winter beide Elternteile verloren. Ihr Vater war zum Fischen hinausgefahren und ertrunken. Von dem Verlust hatte sich ihre Mutter nie erholt. Sie hatte ihre Essensration immer an Brendan weitergegeben und behauptet, sie hätte schon gegessen. Als sie die Wahrheit herausgefunden hatten, war es bereits zu spät gewesen, und sie hatten nichts mehr für sie tun können.

So viele waren schon dem Hunger erlegen, und es lastete Caragh schwer auf dem Gewissen, dass ihre beiden Eltern bei dem Versuch gestorben waren, ihre Kinder zu versorgen.

Heiße Tränen traten ihr in die Augen, als sie die Schmiede ihres Vaters betrachtete. So sehr hatte sie sich daran gewöhnt, das Schlagen seines Hammers zu hören, das glühende Metall zu bewundern, das er zu Werkzeugen formte. Das Herz wurde ihr so schwer wie der Amboss, auf den er schlug, als sie sich bewusst machte, dass sie nie wieder sein lautes Lachen würde hören können.

Sein Boot war ihnen geblieben, aber sie brachte nicht den Mut auf, sich damit in die See hinauszuwagen. Ihre Brüder konnten segeln, aber auch von ihnen war keiner seit Vaters Tod aufs Meer gefahren.

Sie wünschte, sie könnten Gall Tír verlassen. Dieses trostlose Land hatte ihnen nichts mehr zu bieten. Doch ihnen fehlte der nötige Proviant für eine längere Reise. Dabei hätten sie schon nach der mageren Ernte im letzten Sommer gehen sollen. Da hätten sie zumindest noch genug Vorräte gehabt, um die Reise zu überleben. Doch selbst wenn sie jetzt augenblicklich lossegelten, würde ihnen binnen eines Tages das Essen ausgehen.

Die Hand des Todes überschattete alles, und Caragh spürte die Veränderungen, die die Entbehrung in ihr hervorrief. Sie konnte kaum noch längere Strecken zurücklegen, ohne außer Atem zu kommen, und selbst die geringsten Tätigkeiten wurden ihr fast zu viel. Sie war so dünn geworden, dass ihr Leinengewand schlaff an ihr herunterhing und die Knochen an ihren Knien und Ellenbogen sichtbar hervortraten.

Aber sie würde nicht aufgeben. Wie alle anderen würde sie ums Überleben kämpfen.

Also hob sie ihren Sammelkorb auf und trat nach draußen, ins Sonnenlicht. In der Ringburg war alles ruhig; niemand verschwendete viel Kraft auf lange Gespräche, wenn die Suche nach Nahrung so viel wichtiger war. Ihre älteren Brüder waren nicht die Einzigen, die ausgezogen waren, um etwas zu Essen zu beschaffen. Die meisten der gesunden Männer waren fort, insbesondere diejenigen, die Kinder zu versorgen hatten. Noch war keiner von ihnen zurückgekehrt.

Einige der älteren Frauen nickten ihr grüßend zu, als sie an ihnen vorbeiging. Auch sie trugen Körbe über dem Arm. Caragh wusste, sie würde ihr Versprechen, Gemüse und essbare Pflanzen zu finden, nicht halten können. Selbst wenn es da draußen noch etwas gab, würden die anderen es vor ihr finden. Stattdessen machte sie sich auf den Weg Richtung Küste. Vielleicht fand sie dort ein paar Muscheln oder Seetang.

Zwischendurch musste sie mehrere Male innehalten und sich ausruhen, weil ihr schwindelig wurde und alles vor ihren Augen verschwamm. Das Wasser war heute Morgen beinahe schwarz, die See lag still und unbewegt da. Ihr Bruder stand am Strand mit seinem Netz, warf es aus in die Wellen. Als er sie sah, winkte er ihr zu.

Doch dann machte sie eine Entdeckung, die sie vor Furcht erstarren ließ: Ein Langschiff tauchte am Horizont auf, so groß und breit, dass es mühelos über einem Dutzend Männer Platz bot. Ein riesiges gestreiftes Segel flatterte am Mast, und an beiden Seiten waren weiße und rote Schilde befestigt. Die bronzene Mastspitze glänzte in der Sonne, und am Bug prangte ein geschnitzter Drachenkopf, bei dessen Anblick ihr Herz noch schneller schlug.

„Sind das die Lochlannach?“, rief sie ihrem Bruder zu. Sie hatte so viele Geschichten gehört über die barbarischen Wikinger aus den Nordlanden, die über Unschuldige herfielen und ihre Ländereien plünderten. Wenn dies ihr Schiff war, dann blieb ihnen weniger als eine Stunde, bevor der Albtraum begann. Eine Gänsehaut überkam sie beim Gedanken daran, von einem von ihnen entführt oder gar beim lebendigen Leibe verbrannt zu werden, wenn sie in ihr Heim eindrangen.

„Geh zurück ins Haus“, befahl Brendan. „Bleib drinnen, Caragh, und was immer du tust, lass niemanden herein!“ Er zog sein Fischernetz ein und rannte zurück in Richtung der Ringburg.

„Was hast du vor?“ Sie bemühte sich, ihn einzuholen, voller Sorge, dass er irgendeine Dummheit beging.

Mit ungewohnter Kälte in seinen grauen Augen sah ihr Bruder sie an. „Sie haben Vorräte, oder nicht? Und Essen.“

Entsetzt starrte sie ihn an. „Nein! Du darfst nicht versuchen, sie zu bestehlen!“ Diese Nordmänner waren ruchlose Krieger, die ihren Bruder ohne zu zögern töten würden.

„Sie werden die Burg überfallen. Währenddessen ist ihr Schiff leer, und ich kann mir alles nehmen, was an Bord ist.“

„Und was wird aus uns?“, fragte sie. „Wir müssen derweil um unser Leben kämpfen, und vielleicht sind wir alle tot, wenn du zurückkehrst. Falls du überhaupt zurückkehrst“, fügte sie hinzu. „Nein, das kannst du nicht tun!“

Ihr Bruder betrat die Hütte ihres Vaters und durchsuchte die Schmiedewerkzeuge nach einem Schwert. „Dann versteck dich eben im Wald, wenn dir das lieber ist. Klettere auf einen der Bäume, so hoch du kannst, und warte ab, bis alles vorüber ist.“

„Ich werde den Stamm nicht im Stich lassen.“ Unter den Zurückgebliebenen waren viele ältere Leute, die zu schwach waren, um zu kämpfen. Auch wenn ihre eigene Kraft zur Neige ging, würde sie ihre Leute nicht im Stich lassen.

Ihre Hände zitterten, als die Furcht in ihr immer mächtiger wurde. Brendan ergriff eine ihrer Hände und drückte sie. „Wenn wir uns nicht ihre Vorräte nehmen, sterben wir so oder so. Entweder heute oder in ein paar Wochen. Das weißt du ebenso gut wie ich.“

Ja, sie wusste es. Aber der Gedanke, zu stehlen, gefiel ihr nicht. Sie hatten fast allen Besitz verloren, aber sie hatten immer noch ihre Ehre. Und die bedeutete ihr etwas.

„Wir könnten fragen“, sagte sie. „Wenn sie sehen, wie wenig wir noch besitzen, vielleicht teilen sie dann mit uns.“

Ihr Bruder sah sie finster an. „Seit wann sind die Lochlannach für ihr Mitgefühl bekannt?“ Er hatte ein Schwert gefunden und befestigte es an seinem Gürtel. „Ruf die anderen zusammen und führ sie fort von hier, wenn du möchtest. Wenn die Ringburg nicht verteidigt wird, vielleicht nehmen sie sich dann einfach, was sie wollen, ohne dass jemand verletzt wird.“

Sie starrte ihn an. Die Angst schien ihre Gedanken in ein undurchdringbares Netz zu verwandeln. „Geh nicht, Brendan. Die Gefahr ist viel zu groß!“

„Hab keine Angst, a deirfiúr.“ Er beugte sich herab und küsste sie auf die Stirn. „Ich möchte lieber im Kampf sterben als so, wie unsere Eltern gestorben sind.“

Sie wusste, dass nichts, was sie sagte, ihn umstimmen könnte. Aber sie konnte mit seinen Freunden reden. Möglicherweise hörte er ihnen zu, wenn er schon nichts auf ihre Warnungen gab.

Wenigstens konnte sie es versuchen.

Kein Mann gab gerne zu, dass seine Ehe gescheitert war.

Styr Hardrata starrte hinaus auf das graue Wasser, über dem Nebel waberte, und wachte über seine Ehefrau Elena. Sie stand am Bug des Schiffs, und ihr langes rotblondes Haar wehte hinter ihr im Wind. Sie war schön und stark, und das hatte ihn immer fasziniert.

Aber mittlerweile war diese Stärke zu einer Kälte zwischen ihnen geworden, bildete eine unsichtbare Mauer, die sie trennte. Sie gab sich selbst die Schuld für ihre Kinderlosigkeit, und er wusste nicht, was er tun sollte. Sie hatten schon so viel versucht. Jedes Mal, wenn er sie jetzt berührte, sah er nur Traurigkeit. Sie liebten sich nur noch aus Pflichtgefühl, nicht aus Leidenschaft.

Er hatte versucht, ihre wachsende Abneigung zu ignorieren, doch er hatte genug davon, dass sie jedes Mal zusammenzuckte, wenn er versuchte, sie an sich zu ziehen. Oder, was noch schlimmer war, dass sie Lust vorgab, obwohl er doch genau wusste, dass ihr seine Berührungen inzwischen zuwider waren.

Die Frustration nagte an ihm. Diesen Kampf wusste er nicht zu kämpfen; diese Schlacht konnte er nicht gewinnen. Langsam näherte er sich Elena, die am Bug des Schiffes stand, und stellte sich hinter sie. Er sagte nichts und starrte weiterhin auf die grauen Wellen hinab, die gegen die Bordwand schlugen.

„Ich weiß, dass du da bist“, sagte sie nach einer Weile. Aber sie drehte sich nicht zu ihm um, lächelte ihm nicht zu – da war nur die stumme Ergebenheit, die sie wie einen Panzer trug.

Da er nicht wusste, wie er auf ihre Kälte reagieren sollte, sagte er das Einzige, was ihm in den Sinn kam. „Wir werden bald ankommen.“ Und den Göttern sei Dank dafür. Ihr Schiff war von Unwettern geplagt worden, und seit drei Tagen hatte er nicht mehr geschlafen. Keiner von ihnen hatte das, nachdem der Sturm das Schiff beinahe zum Kentern gebracht hatte. Seine Gedanken waren wie benebelt und nur noch beherrscht von dem Wunsch, auf eine Bettstatt zu sinken und in tiefen Schlaf zu fallen.

Tatsächlich drängte es ihn danach, sobald er wieder festen Boden unter den Füßen haben würde, sich darauf auszustrecken und zwei Tage lang durchzuschlafen.

„Ich freue mich darauf, an Land zu kommen“, gab Elena zu. „Ich habe genug vom Reisen.“

Er streckte eine Hand aus, um sie ihr auf die Schulter zu legen, aber sie drehte sich immer noch nicht zu ihm um. Stattdessen stand sie reglos da und starrte aufs Wasser. Also zog Styr den Arm zurück und unterdrückte seine Enttäuschung.

Er wusste noch, wie überrascht er gewesen war über Elenas Entscheidung, Hordafylke zu verlassen und mit ihm in Éire einen Neuanfang zu wagen. Trotz der Schwierigkeiten, mit denen sie in ihrer Ehe zu kämpfen hatten, war er bereit zu glauben, dass sie noch nicht aufgegeben hatte. Er hielt an der Hoffnung fest, dass sie irgendwie das erloschene Feuer zwischen sich erneut entfachen konnten.

Also wartete Styr darauf, dass sie sprach, dass sie ihre Gedanken mit ihm teilte, aber sie blieb stumm. Tausende von Dingen gingen ihm durch den Kopf, die er zu ihr sagen könnte. Er wollte sie fragen, was für eine Art Haus sie bauen sollten. Ob sie gerne einen neuen Webstuhl hätte, oder vielleicht einen Hund, der ihr Gesellschaft leistete, während er zum Fischen hinausfuhr. Sie liebte Tiere.

„Möchtest du …“

„Lass uns jetzt bitte nicht reden“, sagte sie leise. „Mir ist nicht wohl.“

Die Worte erstickten jeden Gesprächsversuch im Keim, und Styr versteifte sich. „Ganz wie du willst.“ Dann ging er zum Heck des Schiffes. Er brauchte Abstand zu ihr, bevor er noch etwas sagte, was er später bedauern würde.

Die Enttäuschung wandelte sich in Ärger. Was, in Thors Namen, sollte er denn ihrer Meinung nach tun? Er würde sich nicht dazu herablassen, um ihre Zuneigung zu betteln. Alles, was in seiner Macht stand, um sie glücklich zu machen, hatte er getan, und es schien ihr nie genug.

Die Küste von Éire tauchte am Horizont auf, und er betrachtete die trostlosen, von der Sonne gebräunten Weiden. Er hatte Geschichten darüber gehört, wie grün das Land war, doch aus dieser Entfernung schien es ihm, als litte man dort unter einer Dürre.

Sein Freund Ragnar trat an den rudernden Männern vorbei und stellte sich neben ihn. „Ich verstehe immer noch nicht, warum du ausgerechnet hier sesshaft werden willst und nicht in Dubh Linn.“ Er deutete Richtung Osten. „Dort gibt es seit hundert Jahren schon Siedlungen. Du könntest unter deinesgleichen sein.“

„Ich möchte nicht, dass Elena von so vielen Leuten umgeben ist“, gab Styr zu. „Wir wollen einen Neuanfang, in einer einsameren Gegend.“ Während sie sich dem Land näherten, entdeckte er eine kleine Siedlung, ein kleines Stück von der Küste entfernt.

Ragnar setzte sich ihm gegenüber hin und nahm ein Ruder auf. Styr tat es ihm gleich. Die gewohnte Bewegung half ihm, die körperliche Anspannung zu lösen. Er war froh, dass sein Freund sich dazu entschieden hatte, ihn zu begleiten, gemeinsam mit einem Dutzend weiterer Freunde und Verwandte aus Hordafylke. Die Nähe seiner engsten Vertrauten machte es ihm leichter, seine Heimat hinter sich zu lassen. Ragnar kannte er seit seiner Kindheit und betrachtete ihn wie einen Bruder.

„Hat sie mit dir über diese Reise gesprochen?“, fragte Styr und deutete mit dem Kopf auf Elena. Auch sie kannte Ragnar schon seit ihrer Kindheit. Möglicherweise hatte sie ihm etwas anvertraut.

Ragnar wurde ernst. „Elena hat während der ganzen Reise kaum gesprochen. Aber sie hat Angst – soviel kann ich dir sagen.“

Styr zog kräftig am Ruder, spannte die Arme, während das hölzerne Ruderblatt die Wellen teilte. Angst wovor? Er würde sie vor jeder Gefahr schützen, und er war sehr gut in der Lage, für sie zu sorgen.

„Was weißt du noch?“, fragte er.

„Die Männer sind erschöpft. Sie brauchen Rast, und etwas zu essen.“

In seinem Gesicht sah Styr die gleiche Müdigkeit, die er selbst verspürte. „Von den Männern habe ich nicht gesprochen.“

Für einen Augenblick zog Ragnar das Ruder hoch und sah ihn voller Mitgefühl an. „Rede mit Elena, mein Freund. Sie leidet.“

Das war die offensichtliche Lösung, das wusste Styr. Doch Elena sprach kaum noch mit ihm, sagte ihm nie, was sie fühlte. Er konnte nur raten, was in ihr vorging, und wenn er Antworten verlangte, verschloss sie sich nur noch mehr vor ihm.

Er verstand die Frauen nicht. In einem Moment unterhielt er sich mit ihr, und im nächsten weinte sie leise vor sich hin, ohne dass er eine Ahnung hatte, warum. In solchen Augenblicken fühlte er sich vollkommen hilflos.

Während sich ihr Boot weiter der Küste näherte, betrachtete er Ragnar. „Ich habe ein Geschenk für sie. Etwas, das sie wieder zum Lächeln bringen soll.“ Er hatte den Elfenbeinkamm in Hordafylke gekauft. Darin war ein Bildnis der Göttin Freya geschnitzt. Als er ihn seinem Freund zeigte, zuckte Ragnar nur mit den Schultern.

„Ein hübsches Geschenk, aber es ist nicht das, was sie sich wünscht.“

Obwohl er wusste, dass sein Freund nur ehrlich war, war dies nicht das, was Styr jetzt hören wollte. „Glaubst du, das weiß ich nicht? Glaubst du, wir hätten es uns gewünscht, all die Jahre ohne Nachwuchs zu bleiben?“ Allmählich verlor er die Beherrschung und stieß die Worte lauter hervor, als er beabsichtigt hatte. Elena hatte die Arme in die Hüften gestemmt und drehte sich nicht zu ihnen um, dennoch zweifelte er nicht daran, dass sie ihr Gespräch mitbekommen hatte. Doch in ihrer kühlen, besonnenen Art würde sie ihn niemals darauf ansprechen.

„Ich habe den Göttern Opfer dargebracht“, fuhr er mit gesenkter Stimme fort. „Und ich war ihr ein guter Ehemann. Aber dieser Fluch zehrt an uns beiden. Es muss aufhören.“

Ragnar stand auf, um das Segel zu hissen. „Und wenn es das nicht tut?“

Styr sah auf seine Hände hinab. Darauf wusste er keine Antwort. Doch er hegte die Befürchtung, dass es in diesem Fall nichts gab, womit er seine Ehefrau jemals glücklich machen könnte. Er warf noch einen Blick auf sie, und genau in dem Moment drehte sie sich um. Schatten lagen auf ihrem bleichen Gesicht, und in ihren Augen stand so viel Schmerz, von dem er nicht wusste, wie er ihn heilen sollte.

Schließlich kümmerte er sich wieder um das Schiff, das sich langsam dem Ufer näherte. Die Distanz zwischen ihnen beiden zu überbrücken, dazu fühlte er sich nicht in der Lage.

Die Lochlannach waren hier. Caragh konnte kaum noch atmen, so schnell schlug ihr Herz. Ein Dutzend Männer watete durchs seichte Wasser, jeder von ihnen so groß, dass die Männer ihres Volkes neben ihnen wie Zwerge aussehen würden. Streitäxte und Schwerter hingen von ihren Gürteln, in den Händen trugen sie hölzerne Schilde. Einige der Männer trugen Kettenhemden und Helme mit schmalen Naseneisen. Ein Mann, möglicherweise der Anführer, überragte die anderen noch. Seine Augen wurden schmal, während er die Ringburg betrachtete, und Caragh duckte sich noch tiefer hinter den Stapel gestochenen Torfes, der sie verbarg.

Es war ihr gelungen, die meisten Dorfbewohner in Sicherheit zu bringen, abgesehen von Brendan und seinen Freunden. Um die jungen Männer sorgte sie sich, denn sie schienen fest entschlossen, die Lochlannach anzugreifen. Ohne Zweifel würden sie bei diesem Versuch allesamt abgeschlachtet werden.

Sie wusste nicht, was sie tun sollte. Sollte sie zu ihnen hingehen und herausfinden, was sie wollten? Ihr Anführer kam immer näher, und so groß war er, dass er Brendan um mehr als eine Haupteslänge überragte. Sein langes blondes Haar war im Nacken zusammengebunden, und er hatte die breiten Schultern eines Mannes, der es gewohnt war, sich auf dem Schlachtfeld durchzukämpfen. Der schwarze Umhang, den er trug, wurde auf einer Seite von einer goldenen Spange zusammengehalten. Darunter erspähte sie ein Kettenhemd, obwohl er keinen Helm trug. Keine Spur von Gnade lag auf seinen Zügen, als sei er nur gekommen, um zu plündern und alles Wertvolle an sich zu reißen.

Sie versuchte, ihr wild schlagendes Herz zu beruhigen, als sie in einiger Entfernung ihren Bruder erspähte, der sich langsam von hinten an die Nordmänner schlich. Vier weitere pirschten aus allen Richtungen heran; offenbar wollten sie die Männer überraschen.

Warum versuchte Brendan nicht, aufs Schiff zu gelangen? Mit Entsetzen begriff Caragh, dass er seinen Plan geändert hatte. Er hatte nicht mehr vor, die Vorräte der Wikinger zu plündern.

Stattdessen wollten er und seine Freunde sie offenbar im Kampf besiegen. Caragh schluckte und betete um ein Wunder. Wenn nur ihre älteren Brüder hier wären, um ihn aufzuhalten. Oder einer der Männer aus dem Dorf. Sie musste etwas tun, um Brendan zu schützen, aber was?

Langsam erhob sie sich aus ihrem Versteck, als sie plötzlich etwas abseits von den Nordmännern eine Frau entdeckte. Ihre Röcke waren vollgesogen mit dem Wasser, durch das sie watete, und sie sah zur Ringburg hinauf, als wäre sie besorgt.

Wenn diese Männer gekommen waren, um sie zu überfallen, hätten sie niemals eine Frau mit sich gebracht. Wer war sie?

Allerdings hatte Caragh keine Zeit, weiter darüber nachzudenken, denn ihr Bruder und seine Freunde schlugen zu. Binnen weniger Sekunden hatten sie die Frau umzingelt und zerrten sie von den Männern fort.

Ihr Schrei zerriss die Luft, und der Anführer der Wikinger setzte den jungen Männern nach. Die anderen Lochlannach folgten, aber ihre Bewegungen wirkten kraftlos, als hätten sie seit einiger Zeit nicht mehr gekämpft. Einzig der Anführer zeigte keine Schwäche, sondern stieß einen Kampfschrei aus und zückte seine Streitaxt.

Er würde sie umbringen.

Caragh biss sich so fest auf die Lippe, dass sie Blut schmeckte, während sie zusah, wie der Wikinger von den Jungen aus ihrem Dorf eingekreist wurde. Er schwang seine Streitaxt, und unter dem Kettenhemd zeichneten sich gewaltige Muskeln ab. Offenbar war sein kräftiger Körper an Schlachten gewohnt. Die Klinge traf einen der jungen Männer, die ihn zu bezwingen versuchten.

Fest schloss Caragh die Augen. Ihr Puls hämmerte so stark, dass ihr schwindelig wurde. Obwohl der nordische Krieger gegen eine Überzahl kämpfte, waren die Anstrengungen seiner jungen Gegner umsonst. Sie würden diesen Angriff mit dem Leben bezahlen – auch Brendan.

Dabei konnte sie nicht einfach zusehen. Caragh huschte zurück in die Schmiede, um eine Waffe zu suchen, die sie mit ihrer Kraft schwingen konnte. Wertvolle Zeit verstrich, während sie vergeblich versuchte, den Hammer ihres Vaters zu heben.

Irgendetwas. Egal was. Sie wirbelte herum und entdeckte einen hölzernen Stock in einer Ecke. Obwohl er dick und schwer war, konnte sie ihn wenigstens anheben.

So schnell sie konnte, lief sie aus der Hütte und entdeckte, dass noch weitere Dorfbewohner ihr Versteck verlassen hatten und die Lochlannach umzingelten. Ältere Männer griffen an, ihre eigenen Waffen gezückt. Einige von ihnen lagen bereits tot auf dem Boden. Anderen hingegen war es gelungen, mehrere Gegner gefangen zu nehmen und zu fesseln.

Doch Caragh richtete ihre ganze Aufmerksamkeit auf den Anführer der Wikinger. Er hatte den Ring seiner Angreifer durchbrochen und lief der Frau nach, wobei es in seinen Augen blutrünstig funkelte.

Und er rannte direkt auf ihren Bruder zu.

Ohne nachzudenken setzte Caragh ihm nach, so schnell, dass ihre Lungen schmerzten. Sie hatte keine Ahnung, wie sie den Krieger aufhalten könnte, aber sie umklammerte fest den hölzernen Stock und betete um die Kraft, die sie nicht hatte. Ihre Angst schien zu schrumpfen, zurückzutreten vor dem Drang, ihren Bruder zu retten. Brendan hielt die Frau mit beiden Armen umklammert, sodass er keine Hand freihatte, um sich zu verteidigen.

„Brendan, lass sie los!“, schrie sie, aber er hörte nicht auf sie. Der Wikinger hob seine Axt, bereit, zuzuschlagen.

Caragh hätte nicht sagen können, woher sie die Kraft nahm, als sie ihm den Stock mit voller Wucht gegen den Kopf hieb. Im letzten Moment drehte er sich um, und die Waffe traf ihn von der Seite. Schwer sank er zu Boden und ließ die Waffe fallen. Die Frau schrie auf und streckte die Arme nach ihm aus, während sie Worte in einer Sprache rief, die Caragh noch nie gehört hatte.

Sie konnte den Schmerz der Fremden nachfühlen, und als ihre Blicke sich trafen, wünschte Caragh, sie könnte sich irgendwie verständlich machen. Ihr erklären, dass sie keine Wahl gehabt hatte.

2. KAPITEL

Als Styr erwachte, fühlte er sich, als hätte ihm jemand den Schädel eingeschlagen. Er versuchte sich aufzusetzen, und Schmerz durchfuhr ihn.

Die Stille war nahezu unheimlich, und er brauchte einen Moment, um zu begreifen, was geschehen war. Der Geruch von brennendem Torf stieg ihm in die Nase. Als er noch einmal versuchte, sich aufzusetzen, bemerkte er, dass seine Handgelenke mit Ketten an einen Holzpfeiler gefesselt waren. Er war ein Gefangener.

Wo war Elena? Wurde sie auch in Gewahrsam genommen? Seine Augen gewöhnten sich langsam an die Dunkelheit, und er rappelte sich mit Mühe auf. Nur eine Frau, die an der gegenüberliegenden Wand stand und ihn misstrauisch betrachtete. Er lauschte aufmerksam in der Hoffnung, ein Wort in seiner eigenen Sprache zu erhaschen, irgendein Anzeichen darauf, dass seine Landsleute noch am Leben waren. Aber er hörte nichts.

Sein Vater hatte ihn die Sprache der Iren gelehrt, sowie viele weitere fremdländische Weisen. Da er stets auf Reisen war, wusste Styr, wie wertvoll es sein konnte, fremde Sprachen zu sprechen. Aber er stellte der Fremden keine Fragen und zeigte nicht, dass er ihre Sprache beherrschte. Vielleicht erfuhr er etwas über Ragnar und Elena, wenn sie nicht wusste, dass er sie verstehen konnte.

„Wohin habt ihr die anderen gebracht?“, fuhr er sie in einem nordischen Dialekt an, von dem er sicher war, dass sie ihn nicht verstand.

Sie zuckte bei seinem harschen Tonfall zusammen und zog sich noch ein wenig mehr zurück. Gut so. In der Dunkelheit konnte er ihre Züge nicht genau erkennen, aber es überraschte ihn, dass man sie hier mit ihm allein gelassen hatte. Wo waren die Männer? Warum war niemand sonst hier, um ihn zu bewachen?

Sorgfältig untersuchte er seine Fesseln genauer. Man hatte ihm die Arme hinter dem Rücken zusammengekettet, um einen dicken Balken in der Wand. Der Balken schien mindestens den Umfang seines Oberschenkels zu haben, denn selbst als er sich mit aller Kraft dagegenstemmte, gab er nicht nach.

„Lasst mich gehen“, verlangte er in der gleichen nordischen Sprache wie vorher. Um seine Worte zu unterstreichen, zerrte er an seinen Fesseln.

Als die Frau ins Licht trat, erschrak er. Ihr Gesicht war unglaublich dürr, die Augen lagen tief in den Höhlen. Ihr Handgelenk wirkte knochig. Obwohl er sie als diejenige erkannte, die ihn niedergeschlagen hatte, konnte er sich nicht vorstellen, wie ihr das gelungen sein mochte. Unmöglich konnte sie stark genug gewesen sein, ihn hierher zu schleppen und ihm Ketten anzulegen. Sie sah aus, als könnte ein starker Windstoß sie umwerfen.

Ihre Augen waren von einem merkwürdigen Blau, so dunkel, dass sie fast violett wirkten. Das braune Haar fiel ihr bis auf die Hüften hinab. Sie trug es offen, lediglich über den Schläfen hatte sie es geflochten.

Sie hätte schön sein können, hätte sie genug zu essen gehabt.

Er ertappte sich dabei, wie er sie mit Elena verglich. Seine Ehefrau war beinahe ebenso groß wie er selbst, mit langem rotblondem Haar und Augen in der Farbe des Meeres. Ihre Ehe war von ihren Familien arrangiert worden, um ihre Stämme zu vereinen. Obwohl sie eine ruhige, zurückhaltende Frau war, waren ihre ersten Ehejahre harmonisch verlaufen.

Ein Schauer überkam ihn, als er sich fragte, was sie ihr wohl angetan hatten. War sie noch am Leben?

Doch es würde wohl zu nichts führen, eine Antwort von dieser verwahrlosten Frau zu verlangen. Besser war es, sich Zeit zu nehmen und ihr Vertrauen zu gewinnen. Vielleicht konnte er sie dann dazu bringen, seine Ketten zu lösen, sodass er sich in der Nacht davonstehlen konnte.

„Ich verstehe deine Sprache nicht“, gab sie zu und kam vorsichtig näher. Sie war viel kleiner als Elena und reichte ihm gerade einmal bis zur Schulter. „Aber all das hier tut mir leid. Ich wollte nur … meinen Bruder schützen.“

Er antwortete nicht, sondern starrte sie nur an. Ihre Stimme verriet ihre Angst, aber es lag auch eine Sanftheit darin, als wollte sie ein verwundetes Tier beruhigen.

„Mein Name ist Caragh Ó Brannon“, erklärte sie. Dann legte sie sich eine Hand auf die Brust und wiederholte: „Caragh.“

Styr sagte immer noch nichts. Wenn sie seinen Namen erfahren wollte, musste sie ihn erst einmal freilassen. Unentwegt sah er sie an, versuchte sie mit Gedanken dazu zu bewegen, ihm die Fesseln abzunehmen.

„Wenn du es gestattest, kann ich deine Wunde versorgen“, bot sie an. „Es tut mir wirklich leid, dass ich dich geschlagen habe. Für einen Moment habe ich schon befürchtet, ich hätte dich umgebracht.“ Sie senkte den Blick auf ihre Hände, die sie ineinander verschlungen hatte. „So ein Mensch bin ich nämlich nicht.“ Sie seufzte. „Und ich habe keine Ahnung, warum ich das alles zu dir sage, obwohl du doch kein einziges Wort verstehen kannst.“

Das schien sie allerdings nicht davon abzuhalten, weiterzusprechen. Caragh begann einen wahren Redefluss, und Styr war so überrumpelt von ihrem ununterbrochenen Gerede, dass er Schwierigkeiten hatte, ihr zu folgen. Immer wieder entschuldigte sie sich, während sie eine Schüssel mit Wasser und eine Schale voll Suppe herbeischaffte. Schließlich begriff er, dass dies einfach ihre Art war, mit der Angst umzugehen. Indem sie ihren Feind zu Tode quatschte.

Als sie auf Armeslänge an ihn herangekommen war, hielt sie mitten im Satz inne. Voller Bedauern sah sie ihn an und stellte die Suppe vor seinen Füßen ab. Daneben stellte sie eine weitere leere Schüssel; vermutlich sollte diese seinen körperlichen Bedürfnissen dienen.

„Tut mir leid, dass ich dir das antun muss“, sagte sie leise. „Aber wenn ich dich gehen lasse, tötest du meine Familie.“ Wieder sah sie nach unten. „Und wahrscheinlich auch mich.“ Sie nahm ein Leinentuch und tauchte es in die Waschschüssel, dann zögerte sie erneut, während das Wasser in die Schüssel tropfte. „Ich hätte dich wohl nicht gefangen nehmen dürfen“, gab sie zu. „Aber wenn ich es nicht getan hätte, wärst du meinem Bruder gefolgt.“

Es beunruhigte Styr, dass es ihr überhaupt gelungen war, ihn gefangen zu nehmen. Wären er und seine Männer im Vollbesitz ihrer Kräfte gewesen, hätte das niemals geschehen können. Durch den Schlafmangel waren ihre Reflexe langsamer geworden, sodass sie auf den Überraschungsangriff zu spät reagiert hatten.

Mit dem feuchten Leinentuch berührte Caragh seine Stirn und wusch das getrocknete Blut ab. Die zarte Geste war so unerwartet, dass er nach Luft schnappte. Sie konzentrierte sich ganz auf die Tätigkeit, obwohl er am leichten Zittern ihrer Hand erkannte, dass sie immer noch Angst vor ihm hatte. Das kalte Wasser tat gut, aber er sagte kein Wort.

Warum machte sie sich die Mühe, seine Wunde zu versorgen? Er war ihr Feind, nicht ihr Freund. Niemand hatte ihn je auf diese Art berührt, und er verstand nicht, warum ausgerechnet dieses abgerissene Geschöpf es tat. Entweder war sie mutiger, als er geglaubt hatte, oder sie war zu närrisch, um zu begreifen, dass ein Mann wie er keine Gnade verdiente.

„Ich wünschte, du könntest mich verstehen“, murmelte sie, während ein Wassertropfen seine Wange hinunterrann. So intensiv sah sie ihn aus ihren dunklen blauen Augen an, dass er den Blick nicht von ihr lösen konnte. Als sie mit einem Finger den Wassertropfen wegwischte, reagierte sein Körper auf die Berührung mit unerwarteter Heftigkeit. Styr machte einen Schritt nach vorne, soweit es die Ketten zuließen.

Er musste sie zwingen, Angst vor ihm zu haben.

Sie fuhr zurück und stammelte: „Ich … Es tut mir leid, ich habe dir wieder wehgetan.“ Schnell deutete sie auf die Suppenschale am Boden. „Es ist nicht gerade viel, aber mehr zu essen habe ich einfach nicht für dich.“ Bedauernd zuckte sie mit den Schultern und zog sich zurück, während sie ihn mit einer Kopfbewegung aufforderte, sich zu bedienen.

Styr betrachtete die wässerige Suppe und sah Caragh dann fragend an. Wie stellte sie sich bloß vor, dass er etwas zu sich nehmen konnte, solange sie ihm die Hände hinter dem Rücken gefesselt hatte?

Für einen Moment beachtete sie ihn nicht, während sie sich selbst etwas von der Suppe in eine Schale gab. Sie nahm den Löffel zur Hand und begann langsam zu essen, als genieße sie jeden Löffel der Brühe. „Magst du keine …?“ Sie unterbrach sich. Offenbar wurde ihr gerade klar, dass er nur dann etwas essen konnte, wenn sie ihn fütterte.

Sie stieß den Atem aus. „Daran hätte ich denken sollen.“ Dann stand sie auf und griff nach einem weiteren Holzlöffel. Styr bemerkte, wie sie ihn musterte. Sie schien besorgt, aber sie nahm die Schale wieder auf.

Er konnte es nicht fassen. Nicht nur, dass sie seine Wunden versorgt hatte, sie bot ihm auch noch etwas zu essen an, und sie war drauf und dran, ihn selbst damit zu füttern!

Dafür, dass sie ihn gefangen genommen hatte, zeigte sie viel zu viel Gnade. Und es machte ihn rasend, dass er hier mit dieser gutherzigen Frau festsaß, die versuchte, das Beste aus der Angelegenheit zu machen, während Elena irgendwo dort draußen war. Er musste diese Ketten ablegen und seine Ehefrau finden.

Sein Gewissen plagte ihn, weil es ihm nicht gelungen war, Elena zu beschützen. Er wusste nicht einmal, ob sie noch lebte, und diese Schuld lastete schwer auf ihm. Was, wenn ein anderer Mann sie geschändet hatte? Wenn sie litt, wenn ihr Körper von Schmerzen geschüttelt wurde?

Styr beachtete die Suppe nicht weiter, sondern rief mit rauer Stimme: „Elena!“ Keine Antwort. Wieder und wieder rief er ihren Namen, in der Hoffnung, dass sie sich irgendwo innerhalb der Ringburg aufhielt und ihn hören konnte. Dann rief er nach Ragnar, nach jedem einzelnen seiner Männer, und versuchte herauszufinden, ob er der einzige Gefangene war. Oder vielleicht der Einzige, der noch am Leben war.

„Sie sind fort“, unterbrach ihn Caragh, als er kurz innehielt, um Atem zu schöpfen. „Ich weiß nicht, wohin, aber das Schiff ist nicht mehr hier.“ Errötend fügte sie hinzu: „Brendan hat die Frau als Geisel genommen. Ich sah noch, wie deine Männer die Waffen niederlegten, aber nicht mehr, was danach geschah.“

Sie sah zu Boden. Styr vermutete, dass sie noch mehr Informationen vor ihm verbarg. Schnell wandte er den Blick ab, damit sie nicht bemerkte, dass er ihre Worte verstanden hatte.

In seinem Inneren überschlugen sich die Gedanken, steigerten sich zu rasender Wut. Wo war seine Ehefrau? War sie noch am Leben? Und was war mit seinen Männern?

Als Caragh es schließlich wagte, einen Löffel voll Brühe an seine Lippen zu führen, preschte er mit dem Kopf nach vorne wie mit einem Rammbock, und die Schüssel flog durch den Raum. Ganz bleich im Gesicht hob Caragh sie auf und wischte die verschüttete Suppe weg.

In blindem Zorn trat er gegen die Wand, so dass Lehm und Weidenzweige in alle Richtungen flogen, bis er ein beachtliches Loch im Flechtwerk zustande gebracht hatte. Frustriert schrie er auf und zerrte an den Handfesseln in einem verzweifelten Versuch, sich loszureißen. Wieder und wieder zog er an den Ketten, doch sie gaben nicht nach.

Schließlich sah er ein, dass es aussichtslos war, und sah wieder zu Caragh hinüber. Sie hatte die Reste seiner Suppe in ihre eigene Schüssel gefüllt. Als er sie anstarrte, zeigte sie keine Anzeichen von Furcht. Im Gegenteil, sie sah ihn mit einem derart trotzigen Ausdruck im Gesicht an, als wolle sie sagen, dass er sich schämen sollte.

In dieser Nacht schlief Caragh unruhig und wachte mehrmals auf. Gott im Himmel, was hatte sie getan? Im Eifer des Gefechts war es ihr wie eine gute Idee vorgekommen, den Wikinger gefangen zu nehmen; inzwischen allerdings bedauerte sie diese Entscheidung. Sie hätte ihn nicht verschonen dürfen. Nachdem er bereits zwei der Ihren getötet hatte, hatte er ihren Bruder Brendan angreifen wollen. Er verdiente es nicht, zu leben.

Einige Stunden, bevor es dämmerte, stand sie schließlich von ihrer Bettstatt auf und schlich auf Zehenspitzen zur Feuerstelle, um ein weiteres Stück Torf nachzulegen. Funken stoben auf, und sie fachte das Feuer an, um den ausgekühlten Raum schnell zu wärmen. Im schwachen Licht der Glut betrachtete sie den Lochlannach, der sich auf dem Boden zusammengerollt hatte.

Den Umhang hatte sie ihm abgenommen, damit er nicht die Nadel der Spange, die diesen zusammengehalten hatte, als Waffe verwendete. Unter dem Kettenpanzer, der seine Brust schützte, trug er eine grobe Leinentunika, sein blondes Haar war am Hinterkopf zusammengebunden. Selbst im Schlaf übte sein Gesicht eine eigentümliche Faszination aus. Caragh setzte sich auf einen Hocker und betrachtete ihn.

Obwohl er ein grober Mensch war, sein Körper gestählt von vielen Kämpfen, konnte sie nicht leugnen, dass er gut aussah, wie ein gefallener Engel. Kein anderer Mann, den sie im Laufe ihres Lebens getroffen hatte, konnte mit seiner Ausstrahlung mithalten.

Er war die Art Mann, die eine Frau einfach an sich rissen und in Besitz nahmen. Ungebeten kam ihr der Gedanke in den Sinn, wie es wohl sein mochte, einen solchen Mann zu küssen. Er wäre nicht zärtlich, sondern stürmisch, würde ihren Mund erobern. Ein Schauer überlief sie, da sie sich so etwas nie zuvor vorgestellt hatte. Was für ein Wahnsinn, auch nur daran zu denken!

Doch sie hatte die Wut in seinem Blick gesehen, als die Frau gefangen genommen worden war. Er hatte um sie gekämpft und jeden Mann niedergestreckt, der sie bedroht hatte.

Im Schein des Feuers betrachtete Caragh sein Profil und fragte sich, was für ein Mann er wohl wirklich war. War er ein wilder Barbar, der sie töten würde, sobald sie ihn von den Fesseln befreite? Oder besaß er tatsächlich so etwas wie Ehrgefühl?

Er wälzte sich im Schlaf hin und her, und ihr wurde bewusst, dass er der kühlen Nachtluft ausgesetzt war, die durch das Loch in der Wand hereinströmte. Pragmatisch entschied sie, dass er ein wenig Unbequemlichkeit verdiente; schließlich hatte er selbst die Wand eingetreten.

Hättest du nicht dasselbe getan, wenn man dich gefangen genommen hätte? fragte sie ihr Gewissen. Hättest du nicht auch alles versucht, um zu entkommen?

Vielleicht hätte sie das. Aber er hatte ihre Leute getötet. Dafür verdiente er es, zu leiden.

Sie haben seine Frau geraubt, und er wollte sie beschützen.

Immer und immer wieder hatte er ihren Namen gerufen, Elena. Vermutlich war sie seine Ehefrau, oder vielleicht seine Schwester.

Dieser Gedanke nagte am meisten an ihr. Wenn die Lage umgekehrt gewesen wäre, wenn man sie ergriffen hätte, hätten ihre Brüder jeden erschlagen, der ihr auch nur zu nahe gekommen wäre. Sie konnte es diesem Mann nicht übel nehmen, dass er sein Familienmitglied hatte schützen wollen.

Aber wenn sie nicht eingegriffen hätte, hätte er Brendan getötet. Und wenn sie den Mann jetzt freiließ, würde er ihren Bruder ausfindig machen und Rache üben.

Vor Sorge krampfte sich ihr Magen zusammen, da sie keine Ahnung hatte, wo Brendan war. Sie hatte einen letzten flüchtigen Blick auf ihn erhascht, als er der Frau ein Messer an die Kehle gehalten und sie in Richtung des Schiffs geschleppt hatte. In dem Moment war Caragh so beschäftigt damit gewesen, ihren Gefangenen zu fesseln, dass sie kaum wahrgenommen hatte, was um sie herum geschah.

Einer der älteren Männer hatte ihr geholfen, den Gefangenen fortzuziehen, da sie alleine nicht die Kraft dazu gehabt hätte. Sobald sie den Wikinger in der Hütte angekettet hatte, war sie wieder nach draußen getreten – und hatte den Alten tot vorgefunden, von einem Schwert niedergestreckt. Beim Gedanken daran, dass er hatte sterben müssen, nur weil er ihr geholfen hatte, drehte sich ihr der Magen um.

Sie rief sich noch einmal alles vor Augen, woran sie sich erinnerte. Brendan und seine Geisel … und die anderen Lochlannach hatten ihre Waffen in den Sand fallen lassen, bevor sie ins Wasser gewatet waren.

Obwohl Brendan sich mit einigen seiner Freunde zusammengetan hatte, waren sie in der Unterzahl. Und Caragh zweifelte nicht daran, dass die Wikinger, auch ohne Waffen, vorhatten, ihm aufzulauern und Frau und Schiff zurückzuerobern. Sie brauchten keine Klingen, um Brendan zu töten.

Sie hätte ihm unmöglich helfen können, ohne die Aufmerksamkeit der Lochlannach wieder auf sich und die anderen Dorfbewohner zu lenken.

Warum hatte er sie von Gall Tír fortgelockt? Das war tollkühn und gefährlich. Hatte er etwa vor, den Feind in einem verzweifelten, wagemutigen Unterfangen fernab vom Dorf zu stellen?

Caragh schloss die Augen und versuchte sich der Möglichkeit zu stellen, dass ihr Bruder bereits tot war. Stunden waren inzwischen vergangen, und er war nicht zurückgekehrt. Ihr blieb nichts, als zu beten, dass er noch am Leben war.

Unglaube und Angst stiegen in ihr auf. Alle ihre Brüder hatten sie im Stich gelassen. Sie hatte nicht protestiert, als Terence und Ronan gegangen waren, da sie sicher gewesen war, dass die beiden bald mit der versprochenen Nahrung zurückkehren würden. Doch das war mittlerweile fast zwei Wochen her, und es gab keine Spur von den beiden.

Was, wenn keiner ihrer Brüder je zurückkehren würde? Wenn sie alle tot waren?

Der Gedanke, allein zu sein, niemanden zu haben, der sie beschützte, jagte ihr Angst ein.

Schweren Herzens überlegte sie, was die beste Vorgehensweise wäre. Ihren Gefangenen freilassen konnte sie nicht. Er würde sie auf der Stelle erschlagen. Seine dunklen, kalten Augen zeugten von einem mitleidlosen Gemüt. Nichts an ihm war sanft, und so sah sie keine andere Möglichkeit, als ihn angekettet zu lassen, bis ihre älteren Brüder zurückkehrten.

Falls sie zurückkehrten.

Sie schloss die Augen und rang die Zweifel nieder. Nein, Terence und Ronan würden zurückkehren. Sie mussten.

Caragh nahm das wollene brat auf, das sie im Winter als Decke nutzte, und ging so leise wie möglich zur brüchigen Wand hinüber. Sie bückte sich und befestigte es über dem Loch, sodass es den größten Teil des Winds abhielt.

Als sie sich umdrehte, sah sie, wie er sie beobachtete. Dicht presste sie sich an die Wand, während er sich erhob. Aus seinen dunkelbraunen Augen sah er sie unverwandt an, und sie konnte seine Miene nicht deuten. Aber sie würde nicht den Fehler machen, ihm einfach zu vertrauen. Zoll für Zoll tastete sie sich rückwärts. Er sagte etwas, das sie nicht verstand.

„Was willst du?“, fragte sie.

Sein Blick war noch immer auf sie gerichtet, und er schien einen Moment zu überlegen. „Wasser.“

Völlig verblüfft hörte sie, wie dieser Mann ihre Sprache sprach. „Du verstehst Irisch?“

Aber er wiederholte nur: „Wasser.“

Sie ging und füllte einen Holzbecher mit Wasser, wobei sie die ganze Zeit seinen Blick im Rücken spürte. Zögernd trat sie auf ihn zu, wagte nicht, ihm zu nahe zu kommen, nachdem er bereits die Schale mit Brühe verschmäht hatte. Aber da seine Hände hinter seinem Rücken gefesselt waren, hatte sie keine Wahl.

Sie schluckte ihre Angst hinunter, führte den Becher an seine Lippen und neigte ihn leicht. Er trank, und im matten Licht sah sie raue Bartstoppeln auf seinen Wangen. Sie waren von derselben hellblonden Farbe wie seine Haare, und als sie den Becher senkte, wurde ihr Blick von seinen Lippen wie magisch angezogen. Sie waren fest, sein Mund so streng, dass sie sich fragte, ob er jemals lächelte. In seinen dunklen Augen spiegelte sich ebenso große Sorge, wie sie selbst verspürte.

„Wo ist sie?“, fragte er in ihrer Sprache.

Caragh trat einen Schritt zurück. „Also sprichst du tatsächlich Irisch.“ Das hieß, er hatte jedes Wort verstanden, das sie zu ihm gesagt hatte.

„Wo?“ Die Kälte in seiner Stimme zeugte von seinem Wunsch nach Rache, und sie zog sich noch weiter zurück. Obwohl er ihr nichts tun konnte, solange er noch angekettet war, zweifelte sie nicht daran, dass er jeden töten würde, der die Frau namens Elena bedrohte.

Alles Blut wich aus ihren Wangen; dennoch konnte sie nur ihre Worte von gestern wiederholen. „Ich habe dir doch bereits gesagt, ich weiß es nicht.“ Während sie verzweifelt versuchte, die Angst zu vergessen, die in ihr brodelte, gab sie zu: „Brendan hat sie als Geisel genommen und die Segel gesetzt.“

Sein Gesicht verzerrte sich vor Wut und Enttäuschung. „Ich muss sie finden. Lass mich frei.“ Er sprach den Befehl mit stahlharter Stimme, als wäre er gewohnt, dass seinen Anweisungen Folge geleistet wurde.

Auch wenn sie sein Bedürfnis verstand, konnte sie ihn nicht einfach losketten. „Ich kann dich nicht freilassen“, erklärte sie. „Dann würdest du mich töten.“ Im Geiste sah sie schon, wie er die Ketten nahm und um ihren Hals legte.

„Ich töte keine Frauen. Nicht einmal solche, die versuchen, mir den Schädel zu spalten.“ Er lehnte sich wieder gegen seine Fesseln, versuchte, den Balken zu bewegen.

„Es tut mir leid, dass ich dich verwundet habe, aber ich musste Brendan schützen.“

„Und ich musste meine Ehefrau schützen!“, fuhr er sie wütend an. „Sie ist unschuldig und hat euch nichts getan!“

„Es war falsch von den Männern, euch hinterrücks anzugreifen“, gab sie zu und verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe versucht, meinen Bruder davon abzubringen, aber er wollte nicht hören.“ Auch wenn das kaum einen Unterschied machte, erklärte sie: „Wir standen kurz vor dem Verhungern und brauchten Vorräte.“

„Und da dachtet ihr, ihr nehmt sie euch einfach.“ Sein Tonfall klang jetzt verbittert. Er schnaubte abfällig. „Wir hätten das, was wir haben, mit euch geteilt, wenn ihr nur gefragt hättet.“

„Euch anzugreifen war nicht meine Idee“, stellte sie klar. Der Gedanke, vor diesem Mann als eine gemeine Diebin zu gelten, beschämte sie.

„Caragh, lass mich gehen.“

„Noch nicht, Lochlannach.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich kenne nicht einmal deinen Namen.“

„Ich bin Styr Hardrata, und meine Ehefrau heißt Elena.“

„Ich habe sie gesehen. Sie ist wunderschön.“ Caragh ging wieder zu dem Topf mit der Suppe, die inzwischen kalt war, und stellte ihn näher an den Herd. „Und ich kann dir versichern, dass mein Bruder ihr nichts antun wird. Er ist erst siebzehn … und handelt manchmal ein wenig überstürzt, fürchte ich.“

„Dann hat er also vor, Lösegeld für sie zu verlangen oder sie als Sklavin zu verkaufen, ja?“

Daran hatte sie noch nicht gedacht, aber sie bezweifelte es. „Ich habe keine Ahnung, was er vorhat.“ Wenn sie ehrlich war, glaubte sie nicht, dass Brendan überhaupt darüber nachgedacht hatte, was er jetzt tun sollte. Alles war so schnell gegangen. „Ich weiß nur, dass ich dich nicht freilassen kann, bis meine älteren Brüder zurückgekehrt sind. Sobald sie hier sind, kannst du gehen, wohin es dir gefällt.“

„Und solange soll ich hierbleiben und mich nicht darum kümmern, was dem Rest meiner Familie zustößt? Erwartest du etwa, dass ich hier untätig rumsitze und abwarte?“

Sie zuckte mit den Schultern. „Ich werde nicht zulassen, dass du meinem Bruder etwas antust.“

Seine dunklen Augen funkelten. „Wenn ihr durch seine Schuld etwas zugestoßen ist, töte ich ihn. Darauf kannst du dich verlassen.“

Sie hatte keine Schwierigkeiten, ihm das zu glauben. Diesen Mann umgab etwas Finsteres, wie ein seelenloses Wesen, das nicht zögern würde, Vergeltung zu üben. Ihn kümmerte es nicht, dass Brendan jung und unbedacht war. In den Augen des Wikingers sah sie nur den Wunsch nach Rache.

Ihre Hände zitterten, als sie erneut Suppe in eine Schüssel gab. „Möchtest du etwas essen?“

„Das Einzige, was ich möchte, ist freigelassen zu werden.“ Er warf ihr einen finsteren Blick zu, und sie kämpfte erneut darum, ihre Angst in den Griff zu bekommen.

Ohne auf seine Worte einzugehen, sagte sie: „Wir haben nur wenig zu essen. Wenn du etwas möchtest, teile ich das, was da ist, mit dir. Aber wenn du es nur wieder umstoßen möchtest, sag es gleich, dann behalte ich es lieber für mich.“

Für eine Weile schwieg er und starrte nur in die Flammen. „Ich schätze, ich sollte lieber bei Kräften bleiben für den Tag, wenn du mich endlich freilässt.“

„Es tut mir wirklich leid, dass ich dir wehgetan habe. Aber ich hatte keine Wahl.“ Sie ergriff die dampfende Schale mit beiden Händen. So vorsichtig, als näherte sie sich einem Drachen, ging sie auf den Krieger zu.

Er verharrte reglos, und als sie vor ihm stand, sagte er: „Du siehst aus, als hättest du seit Wochen nichts Ordentliches mehr gegessen.“

Damit hatte er recht, aber das wollte sie ihm nicht sagen. „Wir hatten eine Trockenperiode und haben im letzten Sommer einen Großteil der Ernte verloren. Viele sind während des Winters gestorben, und es ist noch zu früh im Jahr, um die neue Ernte einzubringen.“

Caragh setzte ihm die Schale an die Lippen, und dieses Mal trank er. Die Suppe war nicht besonders gut, wässerig mit ein wenig Seegras. Aber es gab nichts anderes.

„Was ist mit Tieren?“, fragte er. „Rinder oder Schafe?“

Sie schüttelte den Kopf. „Sind schon weg. Meine Brüder sind losgezogen, um mehr Nahrung zu besorgen.“ Ihm kam es vielleicht so vor, als hätten sie sich mehr bemühen können, aber sie wusste es besser. Sie hatten alles, was sie hatten, hergegeben, um etwas zu essen zu bekommen. „Glaube mir einfach, es gibt nichts mehr zu essen. Wir haben alles versucht.“

„Ihr lebt direkt am Meer“, bemerkte er. „Da gibt es keinen Grund zu hungern.“

Wenn es nur so einfach wäre. „Die Fischer haben uns schon vor Monaten verlassen und ihre Boote mitgenommen“, erklärte Caragh. „Wir können nur die kleinen Fische an der Küste fangen, und sie reichen nicht aus.“ Sie erwähnte das Boot ihres Vaters nicht, das sie seit Monaten nicht angerührt hatte und von dem sich auch die anderen fernhielten.

Styr sah sie abschätzig an. „Es gibt keinen Grund zu hungern, wenn man das Meer kennt.“

Als sie die Schüssel wegnahm, bemerkte sie, dass die eine Seite seines Gesichts rot und geschwollen war. Morgen früh würde er sicher einen großen blauen Fleck dort haben. Der Anblick seiner Verletzung nahm sie mit, da sie wusste, dass es ihre Schuld war. Sie holte ein Leinentuch und tauchte es in kühles Wasser. Ohne zu fragen, ging sie zu ihm und betupfte die wunde Stelle, kühlte die Prellung, damit sie nicht noch mehr anschwoll.

Ungläubig starrte er sie an. „Machst du das immer so, dass du deinen Feind erst niederschlägst und dann seine Wunden versorgst?“ Er sah sie misstrauisch an, als wäre er nicht gewöhnt, dass jemand sich um ihn kümmerte. Jetzt kam sie sich dumm vor und legte rasch den Lappen beiseite.

„Ich habe noch nie zuvor jemanden gefangen genommen.“ Ihre Wangen brannten heiß, und sie entfernte sich von ihm. Sie wünschte, sie hätte ihn niemals auch nur berührt. Alles an diesem Mann war bedrohlich, von seiner rauen Schönheit bis zu seiner gewaltigen Kraft. Es war, als hätte sie ein wildes Tier angekettet, und sie durfte nicht vergessen, dass sie ihm nicht trauen konnte.

„Wie lange dauert es, bis deine Brüder zurückkehren?“, fragte er.

Sie zuckte mit den Schultern. „Vor zwei Wochen sind sie gegangen, und ich kann unmöglich wissen, wann sie wieder hier sein werden.“

„Und wenn sie nicht zurückkommen?“

Caragh schüttelte den Kopf. Das wollte sie sich gar nicht erst vorstellen. Noch konnte sie ihre Ängste im Zaum halten. Ronan und Terence hatten geschworen, dass sie zurückkehren würden, und sie glaubte ihnen.

Viel mehr Sorgen machte sie sich derzeit um Brendan. Ihr jüngster Bruder hatte nicht über die Folgen seines Handelns nachgedacht, und es war nicht ausgeschlossen, dass er dafür mit seinem Leben zahlen würde.

Immer noch mit einigem Abstand zu dem Wikinger spülte sie die Schüssel aus und legte sie zum Trocknen beiseite. „Wenn sie nicht zurückkehren, dann werde ich dich freilassen. Es ist gnädiger, durch deine Hand zu sterben, als qualvoll zu verhungern.“

Er setzte sich und lehnte sich gegen den Pfeiler. Und obwohl sie unendlich müde war, setzte Caragh sich neben dem Feuer hin. Gedankenverloren hob sie einen Kamm auf und fuhr sich damit durch die langen dunklen Locken in der Hoffnung, dass es sie beruhigte. Dabei versuchte sie, seinen Blick nicht zu beachten, der die ganze Zeit auf ihr ruhte.

„Warum haben sie dich hier alleingelassen?“, fragte Styr schließlich. „Wollen deine Brüder ihre Schwester nicht beschützen?“

Ohne ihn anzusehen zerrte sie an dem Kamm. Oh ja, sie war ein wenig eingeschüchtert beim Gedanken an die Zukunft, und auch verletzt, dass sie ohne sie gegangen waren. Aber das würde sie ihm bestimmt nicht sagen. „Ich kann auf mich selbst aufpassen.“

„Kannst du das?“ Er sah sie fragend an, und unter seinem Blick war sie sich unangenehm bewusst, wie dürr sie war.

„Ich gebe die Hoffnung nicht auf. Meine Brüder werden zurückkehren, und …“

„Und du bist bis dahin verhungert.“ Sein Spott ärgerte sie. Er tat ja gerade so, als ob sie selbst nichts täte. „Die Frauen meines Volks würden nach Essen jagen, das ganze Land durchstreifen, anstatt zu Hause zu warten.“ Er zuckte mit den Achseln, und seine Gleichgültigkeit machte sie umso wütender. „Aber du bist ja auch Irin.“

Wie konnte er es wagen, sie zu verspotten, nachdem sie ihre eigene Essensration an ihn abgetreten hatte? „Und was soll das bitte heißen?“, fragte sie.

Er bedachte sie nur mit einem hämischen Blick, als ob sie schon wüsste, welche Beleidigung er in seine Worte gelegt hatte. Oh, sie war vielleicht kein schwertschwingender Krieger, aber sie war nicht schwach. Ganz und gar nicht.

Wütend funkelte sie ihn an. Was nahm er sich heraus, sie zu kritisieren? „Und was hättest du in meiner Lage getan?“

„Verlass diesen Ort. Finde einen Mann, der dich schützt und für dich sorgt, wenn deine Brüder diese Verantwortung nicht übernehmen wollen.“

„Ich soll meinen Körper verkaufen, meinst du wohl.“ Obwohl er vielleicht nicht unrecht hatte, war ihr der Gedanke, sich das Überleben mit ihrem Körper zu erkaufen, zuwider. Da würde sie lieber sterben.

„Das bräuchtest du gar nicht.“ Der Blick seiner dunklen Augen hielt sie fest, seine Stimme klang plötzlich tiefer. „Die meisten Männer werden schwach, wenn es um eine Frau in Not geht. Und dein Gesicht ist hübsch genug.“

Er schien die Worte ohne Hintergedanken auszusprechen, und doch fühlte Caragh, wie sie errötete. Es stimmte nicht ganz. Die Männer ihres Stammes wollten eine demütige, bescheidene Frau, die wenig sprach. Nicht eine, die offen ihre Meinung sagte und alles infrage stellte.

„Lieber würde ich überleben, indem ich meinen Verstand benutze“, erklärte sie und fügte dann hinzu: „Und wenn ich uns morgen früh noch etwas zu essen besorgen will, sollten wir jetzt besser schlafen.“

„Wenn du mich jetzt freilässt, musst du für mich schon mal nichts zu essen finden.“

Darauf ließ sie sich nicht ein. „Das geht nicht.“

„Weil du zu viel Angst hast?“

„Ich habe dich gefangen, oder etwa nicht?“, gab sie zurück. „Ist das schon einmal einer von euren Frauen gelungen?“

Er schnaubte. „Nur weil ich bewusstlos war. In meiner Heimat wollten mich schon viele Frauen einfangen, aber gelungen ist es nur einer.“

Damit meinte er zweifellos seine Ehefrau. Caragh verschränkte die Arme vor der Brust und starrte ihn finster an. „Sie muss wahrlich eine Engelsgeduld haben.“ Ein derart arroganter Mann konnte eine Frau vor eine schwere Prüfung stellen.

„Wir verstehen uns ausgesprochen gut“, antwortete er brüsk. Doch Caragh glaubte einen traurigen Unterton in seiner Stimme zu vernehmen, fast, als wolle er nicht über Elena sprechen.

„Ich hoffe, du findest sie bald, und dass ihr nichts geschehen ist.“ Das war die Wahrheit. Caragh hatte den Schmerz in Elenas Gesicht gesehen, als sie deren Mann niedergeschlagen hatte. Sie wollte den beiden nicht noch mehr Kummer bereiten.

Styr stand wieder auf und trat vor, soweit die Ketten es zuließen. „Oh, ich werde sie finden“, versprach er, und ein gefährliches Funkeln trat in seine Augen. „Und ich werde nicht hier darauf warten, dass deine Brüder mich töten. Eines Tages wirst du aufwachen, und ich werde verschwunden sein.“

3. KAPITEL

Die Stunden, die Styr allein verbrachte, waren zermürbend. Nicht nur, dass sein Magen knurrte, Caragh blieb auch noch von Sonnenaufgang bis zum Abend fort. Es war, als wolle sie ihn für seine Bemerkung über die Frauen in diesem Land bestrafen. Styr nutzte die Zeit, um seine Ketten zu überprüfen und herauszufinden, wie die Handschellen daran befestigt waren. Offenbar hatte man eiserne Stifte benutzt, die man ohne einen Hammer und eine Ahle nicht entfernen konnte.

Er hatte versucht, den Stützpfeiler loszutreten, aber auch das brachte nichts. Auch der Versuch, seine Hände aus den Schellen herauszuwinden, hatte ihm nur blutige Handgelenke eingebracht.

In seinem ganzen Leben war er noch nie der Gefangene irgendeines Mannes gewesen, noch viel weniger der einer Frau. Obwohl Caragh ihn vermutlich irgendwann freilassen würde, war ihm das einfach nicht früh genug. Elena war diesen Männern ausgeliefert, und auch wenn sie ihre Schwierigkeiten miteinander hatten, war sie immer noch seine Ehefrau. Es war seine Pflicht, sie zu schützen, und er würde erst ruhen, wenn er sie befreit hatte.

Das Bild von Elenas Gesicht verfolgte ihn, die Angst, dass jemand sie verletzt oder entehrt haben könnte. Ein Mann beschützt sein Weib, hatte sein Vater immer wieder gesagt. Er ist gnadenlos mit jenen, die sie bedrohen.

Styr drehte sich so, dass er das obere Ende des Pfeilers sehen konnte. Es gab eine Möglichkeit, sich zu befreien; allerdings nahm er damit in Kauf, Caraghs Heim zu zerstören. Ganz genau betrachtete er den Aufbau, die Art und Weise, wie der Pfeiler die Decke stützte. Möglich wäre es …

Wo war Caragh jetzt? Hatte sie überhaupt vor, zurückzukehren? Sein Mund war vor Durst ganz trocken, und der volle Eimer Wasser am anderen Ende des Raums schien ihn zu verhöhnen.

Auf einmal schwang die Tür auf und ein jüngerer Mann betrat die Hütte. Sein Mund verzog sich zu einem spöttischen Grinsen. „Ah, das ist also Caraghs neues Haustier. Ich hörte, sie hat einen Lochlannach gefangen.“

Styr antwortete nicht und tat so, als verstünde er kein Wort. Dennoch verlagerte er fast unmerklich sein Gewicht, brachte sich in Position, falls er kämpfen musste.

„Warum behält sie dich hier? Braucht sie so dringend einen Mann?“ Sein Feind umkreiste ihn, als wolle er ihn einschätzen. Aus seinem Auftreten und dem besitzergreifenden Tonfall schloss Styr, dass dieser Mann Caragh begehrte, sie ihn aber verschmäht hatte.

„Sie hätte dich nicht am Leben lassen sollen, Lochlannach.“ Vor Wut verfärbte sich das Gesicht des Mannes dunkelrot, als er eine Klinge zog. „Du hast unsere Angehörigen getötet.“

Nicht einen Moment ließ Styr seinen Gegner aus den Augen, denn er hatte nur eine Möglichkeit, sich zur Wehr zu setzen. Er zog die Ketten straff, bis sie sich fest um den hölzernen Pfahl spannten.

Der Mann hob sein Messer, zielte auf sein Herz und stieß zu. Styr ergriff den Pfeiler und schwang seine Beine hoch, brachte den Mann zu Fall. Die Klinge streifte sein Bein, aber der Schnitt war nicht tief.

Mit beiden Beinen umschlang er den Hals des Mannes und drückte zu, bis dieser nach Luft schnappte. Er spürte, wie eine Kälte ihn ergriff, die bittere Erkenntnis, dass ihm keine andere Wahl blieb – es ging um das Leben dieses Mannes oder sein eigenes. Die Augenblicke verstrichen, und der Körper seines Gegners erschlaffte immer mehr.

Einen Moment später flog die Tür auf, und Caragh kam hereingerannt. „Nein! Lass ihn los!“

Styr hielt den Mann solange fest, bis dieser das Bewusstsein verlor. „Wäre es dir lieber gewesen, wenn er mich getötet hätte?“ Er kam wieder auf die Füße, ohne das Blut zu beachten, das an seinem Bein herablief.

Bei diesem Anblick wurde Caragh blass. Ihr Blick wanderte kurz zu dem anderen Mann, und so etwas wie Bedauern flackerte darin auf.

Sie bückte sich, hob das zu Boden gefallene Messer auf und versteckte es unter ihren Besitztümern. Damit waren sie beide unbewaffnet. Als der Mann wieder zu sich kam, half sie ihm auf die Füße. Dann befahl sie ihm ruhig: „Verlass mein Haus, Kelan.“

Der Blick, den dieser ihr zuwarf, war mörderisch. Mit heiserer Stimme presste er hervor: „Warum hast du ihn am Leben gelassen? Er hat es nicht verdient, Caragh!“

„Geh!“, wiederholte sie. „Er ist mein Gefangener, nicht deiner.“ Obwohl ihre Stimme ruhig und fest klang, schien sie sich in der Gegenwart dieses Mannes nicht wohl zu fühlen.

Kelan musterte sie von oben bis unten. „Bei ihm bist du nicht sicher.“

Ihre Miene schien sich zu verschließen, die dunkelblauen Augen blickten kalt. „Das geht dich nichts mehr an.“

Wieder wurde Kelan tiefrot im Gesicht. „Er hat unsere Leute auf dem Gewissen, oder hast du das vergessen?“

„Unsere Brüder haben ihn zuerst angegriffen“, erinnerte sie ihn.

„Du verteidigst einen Mörder?“ In seiner Stimme lag Unglauben und Wut. „Er ist nicht das Geringste wert!“

Statt einer Antwort wies sie ihm wortlos die Tür. Obwohl Kelan sich daraufhin verzog, wusste Styr, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis er wieder angreifen würde. Und beim nächsten Mal wäre er vielleicht nicht in der Lage, sich zu verteidigen. Sein Entschluss, sich zu befreien, wurde umso drängender.

Caragh schloss die Tür und ließ für einen Augenblick den Kopf hängen. Ihre Schultern sackten zusammen, und Styr begriff, dass sie gegen die Tränen kämpfte. Die ganze Welt schien auf ihren Schultern zu lasten, und er sah, wie sie sich verstohlen die Augen wischte, bevor sie ihn wieder ansah.

Ihr Blick wanderte zu seinem blutenden Bein. „Er hat dich verletzt.“

Er zuckte mit den Achseln. „Das ist nichts. Nur ein kleiner Schnitt.“ Aber trotz seiner Worte tauchte sie bereits wieder ein Tuch in Wasser, um die Wunde zu versorgen.

Sie war einfach zu weichherzig, zu vertrauensvoll und leichtgläubig, besonders einem Mann wie ihm gegenüber, der keine Vergebung kannte.

„Was war er für dich?“

Sie presste die Lippen zusammen, zuckte aber nur mit den Achseln. „Er ist ein Mitglied unseres Clans, nichts weiter.“

„Nein. Da ist mehr.“ Die Spannung zwischen den beiden war Styr nicht entgangen.

Caragh seufzte. „Er hat einmal um mich geworben. Aber ich habe ihn zurückgewiesen.“ Bevor er eine weitere Frage stellen konnte, sah sie ihn streng an. „Und ich will nicht weiter darüber sprechen.“

Sobald sie seinen Oberschenkel mit dem feuchten Tuch berührte, zuckte er zusammen.

„Tut mir leid. Ich werde vorsichtig sein“, versicherte sie. Aber es war nicht die Berührung des Tuchs auf seiner Wunde gewesen, die ihn zurückschrecken ließ. Es war das Gefühl ihrer weichen Finger, gefährlich nahe an seiner Lende. Er redete sich ein, dass jeder Mann in dieser Situation so reagiert hätte, konnte aber nichts dagegen tun, dass sich seine Erregung zeigte.

Styr presste die Zähne zusammen, drückte seine Schläfe gegen den hölzernen Pfeiler, damit der Schmerz in seiner Kopfwunde erneut aufflammte. Irgendwie musste er sich von Caraghs Berührungen ablenken. Nur allzu leicht konnte er sich vorstellen, wie sie ihre Finger an seinem Schenkel hinaufwandern ließ, ihn in die Hand nahm. So etwas hatte Elena nie getan, sie lag für gewöhnlich einfach unter ihm, während er sich mit ihr vereinte.

Manchmal … hätte er sich gewünscht, dass sie seine Berührungen erwiderte. Dass sie ihn begehrte, statt sich ihm einfach nur hinzugeben.

Zischend atmete er aus, als Caragh damit fertig war, die Wunde zu reinigen. „Es muss nicht genäht werden“, stellte sie fest. „Du hattest recht.“

Den Göttern sei Dank. Sie trat zurück, und als er die leichte Rötung ihrer dunkelblauen Augen sah, fiel ihm wieder ein, dass sie geweint hatte.

„Du warst lange fort“, sagte er. „Ist etwas passiert, das dich so mitgenommen hat?“

Sie zuckte mit den Achseln. „Ich bin meilenweit gelaufen, habe aber nichts zu essen gefunden.“ Ihre Augen begannen wieder zu glänzen. „Ich war wütend über mich selbst. Ich hatte einen Hasen gesehen, ihn aber mit meinem Stein verfehlt. Er ist mir entkommen, weil ich zu schnell außer Atem gekommen bin.“ Ärgerlich verzog sie das Gesicht. „Heute Abend wird uns das Essen ausgehen.“

Die Verzweiflung in ihrer Stimme ging ihm näher, als ihm lieb war. Die Nachricht sollte ihn doch eigentlich erfreuen, denn sobald sie keine Nahrung mehr hatte, musste sie ihn freilassen.

Dennoch hörte er sich selbst sagen: „Du lebst am Meer. Wie könnte euch da die Nahrung ausgehen?“

„Unsere Netze sind schon seit einiger Zeit leer geblieben.“

„Fahr weiter hinaus. Die großen Fische finden sich in tieferen Gewässern.“

„Das kann ich nicht.“ Sie zitterte leicht, als hätte sie Angst vor dem Meer. Die tiefen Wellen bargen auch Gefahren, das stimmte, aber Styr liebte das Abenteuer, das die Seefahrt ihm bot. Den Wind zu zähmen war, als stehle man Macht von den Göttern selbst. Sogar während des Sturms, den sie auf dem Weg hierher erlebt hatten, hatte er sich an der gewaltigen Macht der Wellen erfreut. Es war Freiheit in ihrer reinsten Form.

„Außerdem brauchst du einen Köder“, fuhr er fort. „Geh mit einer Fackel hinaus auf den Strand und such am Ufer nach Krebsen. Schau dort nach, wo Seegras wächst.“

„Seit Wochen schon haben wir keine Krebse mehr gesehen. Es gibt …“

„Vertrau mir“, sagte er entschieden. „Die meisten von ihnen kommen nachts heraus. Ihr braucht sie als Köder für eure Angeln.“

„Ich sollte dich hier nicht allein lassen. Kelan könnte zurückkehren.“

Ungläubig sah er sie an. „Caragh, ich kann mich selbst verteidigen. Hast du vergessen, dass ich ihn besiegt habe, obwohl ich gefesselt bin?“

Ohne ihn weiter zu beachten, öffnete sie seufzend ihren Korb und holte ein Bündel Klee heraus. „Ich fürchte, das ist alles, was ich finden konnte. Für heute Abend reicht mein Getreide noch, aber das war es dann.“

„Du lässt also zu, dass dir die Nahrung ausgeht, und gibst einfach auf. Du verhungerst, ohne es auch nur versucht zu haben.“ Er stand auf und hoffte, sie damit provozieren zu können. In ihren Augen sah er Hoffnungslosigkeit, und die körperliche Schwäche setzte ihr noch mehr zu.

„Es ist nicht so, als hätten wir es nicht versucht.“ Sie ließ den Korb fallen und wandte sich ihm zu. „Glaubst du etwa, wir haben nicht das gesamte Ufer nach Nahrung abgesucht? Glaubst du nicht, wir haben alles getan, was wir konnten?“

„Ich glaube, du wartest lieber auf deine Brüder, damit sie dich retten, statt dich selbst zu retten.“ Bewusst versuchte er ihren Ärger zu schüren, da er sicher war, dass dieser stärker war als ihre Angst. Wut war eine gute Waffe gegen die lähmenden Zweifel.

„Vielleicht hätte ich Kelan erlauben sollen, dich zu töten“, murmelte sie. „Dann hätten wir eine Person weniger zu füttern.“

„Du hast mir heute nichts zu essen gegeben“, erinnerte er sie. „Und wie es aussieht, hast du auch selbst nichts gegessen.“

Endlich brach der Zorn aus ihr heraus. Tränen der Frustration strömten ihre Wangen hinab. „Ich habe seit zwei Wochen nichts mehr gegessen außer etwas Grünzeug und Suppe, die fast nur aus Wasser besteht. Ich kann mich nicht erinnern, wann ich das letzte Mal Fleisch hatte, und vor Hunger kann ich kaum noch laufen, ohne erschöpft zu sein.“ Sie riss das wollene Tuch ab, mit dem sie das Loch in der Wand verdeckt hatte.

„Und dann musstest du kommen und das einzige Heim zerstören, das ich habe.“ Sie legte sich das brat um Kopf und Schultern, klammerte sich daran, als könnte sie so auch ihre Gefühle fest im Griff halten. „Ich weiß nicht mehr, was ich tun soll. Es ist so entmutigend, sich so viel Mühe zu geben, wenn das alles schließlich zu nichts führt.“

Darauf antwortete er zunächst nichts. Für ihre Probleme war er nicht verantwortlich. Er war ihr Gefangener und hatte keinen Grund, ihr seine Hilfe anzubieten.

Doch als er ihr gequältes Gesicht sah, musste er an seine Ehefrau denken. Litt auch Elena Hunger? Gab es jemanden, der sich um sie kümmerte? Oder hatte man sie einfach ihrem Schicksal überlassen?

Wenn Caragh starb, würde ihn keiner der anderen befreien. Sie war seine einzige Hoffnung, hier rauszukommen. Und das konnte er nur erreichen, wenn er ihr Vertrauen gewann.

„Lass mich frei, und ich helfe dir, etwas zu essen zu besorgen“, sagte er schließlich. „Dann kannst du mir helfen, meine Frau und meine Männer zu finden.“

Langsam schüttelte sie den Kopf, ein bedauerndes Lächeln auf den Lippen. „Du würdest mich auch nur hier allein lassen, sobald ich dich befreie.“

Natürlich musste sie das glauben. Aber er würde hier nicht untätig stehen und auf ihre Brüder warten. Styr würde weiterhin versuchen, sich zu befreien, was auch immer er dafür tun musste.

Caragh nahm einen Zweig aus ihrem Korb mit Feuerholz und hielt ihn in die Flammen, bis sie eine kleine Fackel hatte. „Ich schätze, ich könnte ja mal versuchen, Krebse zu finden. Warte hier, ich bin bald zurück.“

Als ob er eine Wahl hätte.

Er lehnte sich wieder an den Pfeiler und war fest entschlossen, alles zu tun, um zu entkommen.

Unzählige Male überprüfte Styr die Ketten hinter seinem Rücken, hob die Schellen so hoch, wie er konnte, auf Schulterhöhe. Mit seinem ganzen Körpergewicht stemmte er sich dagegen, wobei er einen Fuß gegen den Pfeiler setzte. Obwohl seine Handgelenke schon brannten, ging er langsam rückwärts an dem Pfosten hoch, schob die Ketten allmählich höher und höher. Nachdem er mehrmals wieder runtergefallen war, begriff er, dass er die Ketten gespannt halten musste. Zoll für Zoll kämpfte er sich hoch, presste die Zähne zusammen. Der Gedanke an die Freiheit ließ ihn den Schmerz ertragen, während er die Ketten drehte und sich höher und höher arbeitete.

Es dauerte eine Weile, bis er so hoch gelangt war, dass seine Schultern das Stroh des Daches berührten. Schweißperlen standen ihm auf der Stirn, als er um sein Gleichgewicht kämpfte. Wenn er die Arme nur noch ein wenig höher bekam, konnte er die Ketten über das obere Ende des Pfeilers schieben. Der Dachbalken, den dieser stützte, war dünner, vielleicht so dick wie sein Unterarm.

Jeder Muskel seines Körpers schrie vor Schmerz, aber er drängte ihn zurück. Er musste es schaffen, um Elenas willen.

Beinahe hätte er sich eine Schulter ausgekugelt, als er die Ketten über das obere Ende des Pfeilers stülpte. Jetzt hing er von seinen Handgelenken an dem schmaleren Balken, und unter seinem Gewicht bog sich das Holz.

Komm schon, flehte er innerlich. Zerbrich schon.

Er rang nach Luft, schwang an dem Balken hin und her und fürchtete schon, dass es seine Handgelenke sein würden, die zuerst brachen. Noch einmal rief er sich das Bild von Elena in Erinnerung, ihre traurigen, gequälten Augen.

Sie braucht dich.

Mit einem gewaltigen Kraftakt schaffte er es schließlich, den dünneren Balken zu zerbrechen, und landete hart auf den Knien. Einige Momente lang konnte er sich nicht bewegen und presste nur eine Wange gegen die Erde. Seine Handgelenke waren blutig, und Schmerz pulsierte darin.

Aber er hatte es geschafft. Er war frei; frei zu gehen, wohin er wollte. Auch wenn seine Hände immer noch in Ketten lagen, war er nicht länger an Caraghs Hütte gebunden.

Schwer atmend erhob Styr sich auf die Knie. Es wäre besser, bis morgen früh zu warten, wenn Elena weg war. Er kannte das Land nicht und würde seine Reise sorgfältig planen müssen.

Das hieß, er müsste Essen und Vorräte sammeln – so denn welche zu finden waren. Der Gedanke ernüchterte ihn, denn er war weit genug gereist, um zu wissen, dass er nicht einfach so blindlings in die Wildnis stolpern konnte, um Elena, Ragnar und die anderen zu finden. Da sie mit dem Schiff weggebracht worden waren, könnten sie überall entlang der Küste sein.

Er würde selbst ein Schiff oder Boot brauchen, um ihnen zu folgen. Und er musste diese Ketten loswerden.

Langsam stand er auf, begierig, diesen Ort endlich zu verlassen. Die Tür bereitete ihm einige Schwierigkeiten, aber als er schließlich hinaustrat, atmete er den süßen Duft der Freiheit. Alles war ruhig, der Nachthimmel von dunklen Wolken überzogen. In der Ferne sah er den Schein einer einzelnen Fackel.

Caragh.

Mit beiden Händen ergriff er die Ketten, damit ihr Rasseln ihn nicht verriet, während er sich hinaus in die Nacht schlich. Geräuschlos machte er sich auf zum Strand, wo er sie sah, wie sie verloren auf den Sand starrte. Ganz allein, niemand, der ihr helfen könnte.

In ihrem Gesicht sah er die sture Entschlossenheit, zu überleben. Auch wenn sie daran fast zerbrach, sie würde weitersuchen. Er hatte schon Männer gekannt, die längst aufgegeben hätten.

Sie ging am Wasser entlang, und ihre Fackel warf Schatten auf den Sand. In dem fahlen Licht wirkte ihr Gesicht unbewegt. Ihre Haut schimmerte golden, das braune Haar fiel ihr in wilden Locken über die Schultern.

Sie war viel zu sanftherzig, als gut für sie war. Was für eine Frau nahm einen Nordmann gefangen und teilte dann ihr letztes Essen mit ihm? Warum machte sie sich die Mühe, seine Wunden zu versorgen, nachdem er sie bedroht hatte?

Und warum gab es keinen Mann, der für sie sorgte? Keinen Ehemann, keinen Liebhaber … wenn man einmal von Kelans Angebot absah. Und aus der kühlen Art zu schließen, mit der sie ihn behandelt hatte, wollte sie diesen Mann nicht in ihrer Nähe wissen.

Styr hielt sich in den Schatten, er wusste genau, dass er nicht hier sein sollte. Er sollte die Umgebung der Ringburg überprüfen, nach versteckten Vorräten suchen oder nützliche Informationen über die Bewohner sammeln.

Stattdessen konnte er seine Augen nicht von Caragh nehmen, als wäre sie eine Vision, gesendet von der Göttin Freia, um ihn zu versuchen. Wie die Frauen aus seiner Heimat besaß sie eine bewundernswerte innere Stärke. Obwohl das Schicksal ihr ein schweres Los zugedacht hatte, stellte sie sich allen Schwierigkeiten.

Ihn gefangen zu nehmen war die Tat einer verzweifelten Frau gewesen, es geschah nicht aus Grausamkeit. Tief in sich spürte er die Gewissheit, dass sie verhungern würde, wenn er sie jetzt allein ließ.

Das sollte ihn nicht bekümmern. Ihretwegen hatte er nicht nach seiner Ehefrau und seinen Männern suchen können. Er schuldete ihr nichts.

Und doch brachte er es nicht über sich, einfach wegzugehen. Vielleicht lag es an der Art, wie sie seine Wunden versorgt hatte – oder daran, dass sie ihren Bruder hatte schützen wollen. Loyalität gegenüber der Familie konnte er verstehen.

Er verfluchte sie und sich selbst für diese Schwäche, doch er konnte nicht gehen, solange sie nicht genug Nahrung hatte, um noch ein wenig länger zu überleben. Also drehte er sich um und ging zurück in ihre Hütte, um einen Plan auszuarbeiten, wie er an ein Boot gelangen könnte.

Sobald er Fische für Caragh gefangen hatte, würde er auch seine eigenen Vorräte haben. Dann konnte er seine Frau suchen gehen.

Caragh saß auf einem großen Stein und suchte den Sand nach Zeichen von Bewegung ab. Styr hatte behauptet, dass sie zu dieser Nachtzeit Krebse finden könnte, aber sie bezweifelte es.

Sein Vorwurf, dass sie lieber auf ihre Brüder wartete, statt sich selbst zu retten, hatte sie getroffen. Natürlich wollte sie aus eigener Kraft leben. Sie hatte alles getan, um Nahrung zu finden.

Jeder Atemzug war ein Kampf ums Überleben, und an den Hunger hatte sie sich gewöhnt. Die Leere in ihr erinnerte sie beständig daran, wie grausam das Schicksal sein konnte. Doch die Worte des Lochlannach hatten sie verletzt.

Wieder einmal ließ der Schwindel alles vor ihren Augen verschwimmen, und sie atmete tief und gleichmäßig, um bei Bewusstsein zu bleiben. Allmählich verklang das Rauschen in ihren Ohren, und sie konnte sich wieder aufs Wasser konzentrieren.

Aus den Augenwinkeln bemerkte sie eine Bewegung und hob ihre Fackel. Verblüfft bemerkte sie, dass Styr recht behalten hatte. Es gab nachts Krebse im Wasser. Schnell bückte sie sich und hob einen in ihren Korb. Auch wenn an einem einzelnen nicht viel Fleisch dran war, konnte sie sich, wenn sie genug fing, eine gute Suppe daraus kochen.

Nach und nach entdeckte sie weitere, und während sich ihr Korb füllte, hob sich auch ihre Stimmung.

Nachdem eine weitere Stunde verstrichen war, entschied sie, dass sie genug gefangen hatte. Auch wenn es nur etwa ein Dutzend war, würden sie ihr helfen, sich morgen auf den Beinen zu halten. Erleichtert lächelnd bedeckte sie den Korb, um ihren Fang zu schützen.

Es war schon spät, aber hungrig, wie sie war, kümmerte sie das kaum. Sie dachte nur noch daran, einige der Krebse zu kochen und zu essen. Schnell lief sie nach Hause, öffnete die Tür und fand den Wikinger genau so vor, wie sie ihn zurückgelassen hatte. Als er sie sah, schien sein Blick zu sagen: Hab ich’s dir nicht gesagt?

„Du hattest recht“, gab sie zu und zeigte ihm die Krebse, die sie gefangen hatte. Aber es interessierte sie nicht mehr, was er darüber dachte; sie konnte einfach nicht aufhören zu lächeln. „Daraus mache ich uns jetzt eine Suppe.“

Der Lochlannach schüttelte den Kopf. „Mach das nicht. Du kannst heute Nacht Fische fangen, wenn du die Krebse als Köder benutzt. Stell die Angeln dort auf, wo die Flut kommt, und morgen früh wirst du Seebarsche und Flundern haben.“ Er fuhr fort, ihr zu erklären, welche Art von Schnur und Haken sie verwenden musste.

Caragh hob die Hände, sie wollte es gar nicht hören. „Nein. Wir sollten jetzt essen. Du musst ebenso hungrig sein wie ich.“

„Heute Nacht essen wir das Getreide“, sagte er. „Morgen früh gibt es Fisch.“

„Falls wir dann Fisch haben.“

„Das werden wir“, versprach er. „Ich hatte recht mit den Krebsen, oder etwa nicht?“

Sehnsüchtig betrachtete sie ihren Korb. So gerne hätte sie sie jetzt gegessen. Aber sie waren kleiner als ihre Handfläche, und der Gedanke an große Fische machte ihr den Mund wässerig.

„Ich habe Angst, die Krebse zu verlieren“, gestand sie. „Was, wenn ich sie als Köder benutze und nichts dabei herum­kommt?“

„Die Gefahr besteht“, räumte er ein. „Aber ich habe mich mein ganzes Leben lang von dem ernährt, was das Meer hergibt. Ich weiß, wie man Fische fängt.“

Caragh betrachtete ihn. Wenn er recht hatte, könnte das ihre Rettung bedeuten. Ihr selbst war es nie gelungen, mehr zu fangen als die kleinen Fische, die in seichteren Gewässern schwammen.

Sie holte die Angelschnüre ihres Bruders hervor, und Styr erklärte ihr genau, wie sie die Panzer mit den Haken durchstoßen musste. „Leg die Leinen aus, und morgen früh wirst du schon sehen.“

Er schien so zuversichtlich, dass es funktionieren würde, aber Caragh war nicht so sicher. Das Meer war unberechenbar, und es war schon so oft vorgekommen, dass sie nichts gefangen hatte.

Sie legte die Angelschnüre mit den Ködern wieder in ihren Korb und ging langsam an Styr vorüber. Seine Haltung war unbewegt, beinahe arrogant, so überzeugt war er davon, dass seine Methode erfolgreich sein würde. Aber als er sich umdrehte, um sie anzusehen, war da noch etwas in seinem Blick, fast, als ob er Mitgefühl mit ihr hätte.

Er fixierte sie aus seinen dunklen Augen, als wollte er sie so dazu bewegen, seinem Plan zu vertrauen. Die Brust wurde ihr eng, dabei wollte sie hoffen, wollte es so verzweifelt. Noch einmal betrachtete sie seine Wunden. Der Schnitt in seinem Bein blutete nicht mehr, aber sein Kopf war, wo sie ihn getroffen hatte, immer noch geschwollen.

„Danke für deine Hilfe“, sagte sie. „Ich bete, dass es funktioniert.“

In dem schwachen Licht bemerkte sie, dass seine Haltung sich verändert hatte. Irgendetwas war ungewöhnlich an der Art, wie er saß. Sie runzelte die Stirn und wollte schon auf ihn zugehen, als er sagte: „Geh und leg die Angeln aus, bevor deine Fackel erlischt.“

„Du hast recht.“ Sie nahm ihren Korb und die Fackel auf. „Wenn ich heute Nacht Fische fange, verspreche ich, dass ich dich morgen früh freilasse.“

Er nickte nur. Obwohl sie nicht wusste, ob es sicher war, ihm dies zu versprechen, war sie eine Frau, die ihr Wort hielt. Ihr Leben hing von diesen Fischen ab.

Styr schlich nach draußen und folgte Caragh heimlich. Sofort fiel ihm auf, dass sie die Köder an der falschen Stelle auslegte. Die großen Fische würden nicht in die Nähe der Gruben kommen, an denen sie ihre Schnüre ausgelegt hatte. Von seinem Versteck aus beobachtete er, wie sie von einer Angel zur nächsten ging, die sie dutzendweise an verschiedenen Stellen im flachen Wasser ausgelegt hatte. Er wartete ab, bis sie weit genug weg war, dann kniete er sich hin, hob mit seinen zusammengeketteten Händen die erste Angelschnur auf und trug sie hinaus ins tiefere Wasser.

Bei Thor, er sollte sich nicht auf diese Art einmischen. Aber er hatte keine Wahl. Er würde Nahrung und Vorräte brauchen, wenn er Elena suchen wollte.

Es war gerade Ebbe, und Styr kniff die Augen zusammen, um nach der besten Stelle zu suchen. Obwohl seine Beinkleider völlig durchnässt wurden, watete er zu einer Sandbank, die Schnur mit dem Köder hinter sich herziehend, bis er die richtige Stelle gefunden hatte. Das Glück war auf seiner Seite, als sein Fuß gegen einen Stein stieß, der groß genug war, die Schnur an Ort und Stelle zu halten. Er kniete sich ins Wasser und hantierte mit seinen gefesselten Händen, bis es ihm gelungen war, die Schnur mit dem Stein zu sichern.

Als er sich umdrehte, konnte er zu seiner Überraschung die Umrisse eines Bootes ausmachen, das an der Küste festgemacht war. Davon hatte Caragh nichts gesagt; im Gegenteil, sie hatte behauptet, dass die Fischer alle Boote mitgenommen hätten. Dies hier war ein Stück von der Siedlung entfernt angebunden, fast, als ob jemand versucht hätte, es zu verbergen.

Damit hatte er einen Weg gefunden, diesen Ort zu verlassen; eine Möglichkeit, seine Ehefrau und seine Männer zu finden. Den Göttern sei Dank.

Mit einem raschen Blick auf Caragh sah er, dass sie bereits auf dem Weg zurück zur Hütte war. Schnell sprang Styr auf und eilte auf die Küste zu. Dort tauchte er wieder in die Schatten und rannte so schnell er konnte auf die Hütte zu. Obwohl sie, wenn sie genauer hinsah, erkennen würde, dass er nicht mehr an den Pfeiler gekettet war, hoffte er, dass er sich rechtzeitig schlafend stellen konnte. Bis morgen früh wären vielleicht seine Kleider getrocknet, obwohl er das bezweifelte. Er lehnte sich gegen den Pfosten und rollte sich zusammen, um die Ketten zu verbergen.

Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür. „Styr?“, flüsterte Caragh.

Er gab keine Antwort in der Hoffnung, dass sie sich schlafen legen und ihn in Ruhe lassen würde. Der Wind pfiff durch das Loch in der Wand und seine nassen Klamotten fühlten sich noch unangenehmer an.

Fest hielt er die Augen geschlossen und reagierte nicht auf die Schritte, die sich näherten. In Gedanken beschwor er sie, ihn in Ruhe zu lassen. Bevor ihm klar war, was geschah, hatte sie seinen Mantel über ihn gelegt. Die Wolle war warm; sie musste ihn neben das Feuer gelegt haben.

Ihr Duft haftete an dem Mantel, und Styr war wie gebannt. Nie hatte jemand so etwas für ihn getan. Er bezweifelte, dass sie sich der Bedeutung dieser Geste bewusst war. Die Freundlichkeit war für Caragh so natürlich wie das Atmen.

Innerlich fluchte Styr, was für ein verdammter Narr er gewesen war. Jetzt war es ihm völlig unmöglich, sie zurückzulassen, selbst wenn sie Fische fingen. Sollte sie verhungern, würde ihn das den Rest seines Lebens verfolgen.

Ob sie es wollte oder nicht, er würde Caragh mitnehmen, wenn er seine Ehefrau suchte.

Jemand musste sich um sie kümmern.

4. KAPITEL

Da waren keine Fische. Caragh fluchte und starrte auf den leeren Haken der siebten Schnur, die sie überprüft hatte. Sieben Krebse – alle weg. Sie stand kurz vor einem Zusammenbruch, denn wenn sie nicht auf den Lochlannach gehört hätte, dann hätte sie gestern Krebsfleisch essen können, statt nur das restliche Getreide zuzubereiten. Tränen der Wut traten ihr in die Augen, aber sie würde nicht weinen. Was sollte das schon nützen?

Auch die achte und neunte Angelschnur waren ohne Fang. Als Caragh die zehnte erreichte, musste sie sich erst einmal auf den Fels setzen. Fast zitterte sie vor Furcht, was sie wohl vorfinden würde. Oder eben nicht vorfinden würde.

„Hast du etwas gefangen, a chara?“, durchbrach die Stimme einer älteren Frau die Stille. Caragh sah auf und entdeckte Iona, die an den Strand gekommen war.

„Nein.“ Sie hob die zehnte Leine auf und sah, dass der Krebs noch am Haken baumelte. „Aber nimm dies.“ Sie nahm den Krebs ab und reichte ihn der alten Frau. „Es ist nicht viel, aber vielleicht hilft es dir ein wenig.“

Lächelnd schüttelte Iona den Kopf. „Du bist wirklich ein Schatz, Caragh, aber nein, vielen Dank. Ich sehe, was vor mir liegt, und meine Tage sind gezählt. Warum ihn an eine alte Frau wie mich verschwenden, wenn ein junges Mädchen wie du ihn viel mehr brauchen kann?“

Ohne auf die Worte einzugehen, trat Caragh vor und drückte Iona den Krebs in die Hand. „Koch ihn, und du hast ein wenig Fleisch und Brühe. Bitte.“ Behutsam schloss sie Ionas Finger über dem Tier.

Der Blick der älteren Frau wurde weich. Sie hob eine Hand und legte sie Caragh auf die Stirn. „Du bist ein gutes Mädchen. Wie habe ich mir gewünscht, dass Kelan und du geheiratet hättet.“

Das Lächeln gefror Caragh auf dem Gesicht. Einst hatte der gut aussehende Mann sie zum Lachen gebracht. Er konnte so charmant erzählen, dass sie gerne seine Gesellschaft teilte. Damals hoffte sie, dass sie eine glückliche Zukunft zusammen haben würden. Doch dann hatte er all das weggeworfen für jemand anderen.

Iona wollte immer noch glauben, dass ihr Sohn ein guter Mann war, und Caragh hatte nicht vor, ihr diese Illusion zu rauben. Sie selbst hatte erst zu spät gemerkt, dass Kelan seine Hände nicht bei sich behalten konnte. An dem Tag, an dem sie hatten heiraten wollen, hatte er sie im Stich gelassen, sie vor ihren Freunden und ihrer Familie gedemütigt. Und als sie ihn suchen gegangen war, hatte sie ihn bei einer anderen Frau gefunden. Selbst jetzt, ein Jahr später, hatte die Bitterkeit über diesen Tag nicht nachgelassen.

„Er will dich noch immer“, sagte Iona. „Du solltest ihm seine Fehler vergeben.“

Caragh antwortete nicht darauf. Sie hatte Kelan geliebt, und er hatte diese Liebe mit Füßen getreten.

Plötzlich wurde Ionas Blick abwesend, sie starrte auf die Wellen hinaus. „Vor dir liegt eine schwierige Reise. Und sie wird dir das Herz brechen.“

Der unheimliche Tonfall der alten Frau drang Caragh bis ins Mark. Sie klang wie eine Wahrsagerin, während sie weitersprach. „Aber du wirst gestärkt daraus hervorgehen. Der Pfad, den du jetzt verfolgst, wird zu einer Enttäuschung führen.“

„Das macht mir nicht gerade Mut“, erklärte Caragh mit einem traurigen Lächeln, „falls es das war, was du vorhattest.“

„Ich sage nur, was ich sehe“, erwiderte Iona. „Und du wirst dein Glück finden, sobald du gelernt hast, loszulassen, was niemals sein sollte.“ Mit diesen rätselhaften Worten drehte sich die alte Frau um und ging nach Hause.

Caragh rieb sich über die Arme, als eine Meeresbrise über den Sand fegte. Ihr war kalt, und ihr Magen krampfte sich vor Hunger zusammen. Ohne die letzten beiden Angelschnüre auch nur anzusehen, schritt sie zurück in ihre Hütte. Dort wollte sie Styr in aller Deutlichkeit sagen, was sie von seinem Vorschlag hielt. Die Krebse als Köder zu benutzen hatte ihr rein gar nichts gebracht.

Sie stieß die Tür auf – und ihr blieb beinahe das Herz stehen. Styr stand ein gutes Stück entfernt von dem Pfeiler, an den sie ihn angekettet hatte. „Wie … wie hast du dich befreien können?“ Seine Hände waren immer noch hinter dem Rücken gefesselt, aber er konnte sich frei bewegen.

„Ich sagte doch, dass mir das eines Tages gelingen würde“, erklärte er unbekümmert. „Hast du was gefangen?“

Caragh trat ein und starrte den Pfeiler an, entdeckte den zerborstenen Balken am oberen Ende. Wie es ihm gelungen sein mochte, so hoch zu klettern und seine Ketten darüberzustreifen, war ihr ein Rätsel. „Nein. Kein einziger Fisch hat angebissen.“

„Du hast die Schnüre an der falschen Stelle ausgelegt.“

„Hab ich nicht!“, protestierte sie. „Ich hab sie an der ganzen Küste verteilt.“

„Sie lagen im zu flachen Wasser.“

„Und woher willst du das wissen?“ Ihr kam ein Verdacht. Hatte er sich schon vor heute Morgen befreit?

„Weil ich dir letzte Nacht gefolgt bin.“ Er kam näher, und als er vor ihr stand, fühlte sie sich von seiner hoch gewachsenen Gestalt eingeschüchtert. Um ihm auch nur in die Augen zu sehen, musste sie den Kopf in den Nacken legen.

„Eine deiner Schnüre habe ich verlegt“, sagte er. „Hast du die überprüft?“

Sie schüttelte den Kopf. „All die anderen …“

„Die anderen Köder wurden von der Flut fortgespült. Oder kleinere Fische haben sie gegessen.“ Mit der Schulter schob er die Tür auf und trat dann beiseite, um ihr den Vortritt zu lassen.

Doch sie rührte sich nicht. „Wenn du dich befreit hast, warum bist du dann noch hier?“

„Ich bin nicht frei.“ Sein Tonfall war jetzt barsch und voller Ungeduld. „Du musst mir immer noch diese Schellen abnehmen.“

Darauf antwortete sie nicht. Sie konnte ihm einfach nicht trauen. Also trat sie zur Tür hinaus und führte ihn zu einem Felsvorsprung, von dem aus man hinunter an den Strand sehen konnte.

„Dort.“ Er nickte in Richtung Meer, aber sie konnte nicht erkennen, welche Stelle er meinte. „Wate ins Wasser, bis du zu einer Sandbank kommst. Ich habe die Schnur unter Wasser befestigt.“

„Da gehe ich nicht raus“, protestierte sie. „Die Flut kommt.“

„Willst du Fisch oder nicht?“

Sie starrte ihn an. Meinte er das ernst? Der Gedanke, ins Wasser zu waten, ließ sie schaudern, obwohl langsam der Sommer kam und die Morgenluft bereits wärmer wurde. „Woher weiß ich, dass du mich nicht anlügst?“

„Ich werde mit dir kommen.“ Schon ging er vor, bis er knietief im Wasser stand. Immer weiter arbeitete er sich durch die Wellen zur Sandbank vor, während seine Arme immer noch von den Ketten gefesselt waren.

Er drehte sich zu ihr um, aber Caragh konnte sich immer noch nicht rühren. „Siehst du etwas?“, rief sie.

„Komm und schau selbst nach.“ Seine Miene konnte sie nicht deuten. Obwohl sie nicht die geringste Lust hatte, nass zu werden, trat auch sie ins Meer und verzog das Gesicht, als es kalt ihre Beine umspülte.

Als sie seine Seite erreichte, sagte er: „Greif neben meinem Fuß ins Wasser. Dort liegt der Stein, mit dem ich die Schnur beschwert habe.“

Sein muskulöser Oberschenkel war ihr ganz nah, und sie streifte kurz seine Wade, als sie sich nach dem Stein bückte. Darunter fühlte sie die Angelschnur, und zu ihrem Erstaunen bemerkte sie, dass etwas daran zappelte. Etwas, das kräftig an der Schnur zog, und aufgeregt holte sie die Leine ein. Langsam ging sie zurück, ohne die Schnur loszulassen, und bewegte sich langsam wieder in flacheres Wasser.

„Styr, wir haben einen Fisch!“ Auch wenn sie nicht erkennen konnte, wie groß er war, wurde sie von Freude erfüllt. Als sie den Fisch schließlich aus dem Wasser zog, stellte sie fest, dass er nicht allzu groß war und ihr etwa vom Handgelenk bis zum Ellbogen reichte. Aber es war Nahrung.

Lachend nahm sie ihn in die Hand und stellte sich vor, wie gut er schmecken würde. Dem Himmel sei Dank.

Der Wikinger kam aus dem Wasser, und sie drückte den Fisch an sich, ohne sich darum zu kümmern, wie lächerlich sie aussehen musste. Jetzt hatte sie die Hoffnung, mehr als nur ein paar Tage zu überleben.

Aber einen Moment später trübte sich ihre Stimmung. „Was ist?“, fragte Styr, während er sie zu ihrer Hütte begleitete.

„Ich … ich sollte ihn mit den anderen teilen“, gab sie zu.

Stirnrunzelnd sah er sie an. „Haben sie je etwas mit dir geteilt?“

„Es ist nicht recht, so viel zu haben und niemandem davon abzugeben.“ Sie dachte an Iona und einige der anderen älteren Dorfbewohner.

„Wir werden ihn nicht ganz aufessen“, bestimmte er. „Etwa die Hälfte verwenden wir als neuen Köder.“

Ungläubig sah sie ihn an. „Wir haben letzte Nacht fast alle Köder verloren. Ich werde jetzt nicht den halben Fisch dafür hergeben, nur um ihn auch noch zu verlieren!“

Neben der Tür blieb er stehen, und seine Miene war unnachgiebig. „Letzte Nacht habe ich es dich auf deine Weise versuchen lassen. Aber ganz offensichtlich brauchst du meine Führung.“

Seine Führung? Er sprach, als wäre er ein Meeresgott, der die Elemente unter seiner Gewalt hatte. „Und was schlägst du vor?“ Ohne zu wissen, ob er ihr überhaupt folgen würde, öffnete sie die Tür, trat ein und griff nach einem Messer, um den Fisch auszunehmen.

„Letzte Nacht habe ich ein Boot gesehen, das an der Küste angebunden war“, sagte Styr. „Damit werden wir genug Fische fangen, um sie über die nächsten Monate einzulagern. Und dann nehmen wir das Boot und suchen meine Ehefrau und meine Leute.“

Wir? Ein kalter Schauer überlief sie bei dem Gedanken. Auf keinen Fall würde sie mit diesem Mann in ein Boot steigen. Er würde sie nur als Geisel nehmen und mit ihr weit weg segeln.

„Ich werde nicht mit dir kommen.“

„Oh doch, das wirst du.“ Sein Tonfall war gebieterisch, und er baute sich vor ihr auf, um sie allein durch seine Gestalt einzuschüchtern. „Ich werde dein Leben gegen das meiner Ehefrau und meiner Männer eintauschen.“

Sie erwiderte seinen Blick. „Nicht, solange du mein Gefangener bist.“

In seine dunklen Augen trat ein Funkeln, und er runzelte die Stirn. „Ich habe mich bereits selbst befreit, søtnos, meine Süße. Und ich werde einen Weg finden, diese Ketten loszuwerden. Mit deiner Hilfe“, er lehnte sich vor, und sie spürte seinen warmen Atem an ihrer Wange, „oder ohne sie.“

Styr frühstückte die kümmerliche Portion Fisch, die Caragh mit ihm teilte. Die andere Hälfte lag noch auf dem Brett, wo sie ihn ausgenommen und entschuppt hatte. Wie er es ihr gesagt hatte, hatte sie auch den Abfall nicht weggeworfen.

Auch wenn sie offensichtlich nicht mit ihm ins Boot steigen wollte, wusste er, dass sie es tun würde. Der kleine Fisch hatte ihren Appetit geweckt, und sie hatte ihn überraschend köstlich zubereitet, mit Kräutern und Salz gewürzt. Doch keiner von ihnen war von dem bisschen Nahrung wirklich gesättigt, also versuchte er weiter, sie zu überreden.

„Die größeren Fische finden wir ein paar Meilen von der Küste entfernt“, sagte er. „Dann haben wir noch mehr Köder und werden damit mehr fangen, als wir überhaupt essen können.“

Mit traurigem Gesicht starrte sie auf ihren leeren Teller. Er hätte gedacht, dass sie es kaum erwarten könnte, aber stattdessen schien der Gedanke, zur See zu fahren, ihr Angst zu machen.

„Vor der Dämmerung sind wir wieder zurück“, versprach er. „Darauf gebe ich dir mein Wort.“

Sie antwortete immer noch nicht. Er stand auf und setzte sich ihr gegenüber, wartete darauf, dass sie sprach. Dass sie irgendetwas sagte.

Doch genau wie Elena verschloss sie sich ihm. Sie wollte nicht aufs Meer fahren, und sie traute ihm nicht im Geringsten. Das konnte er ihr nicht verübeln, aber er hatte schon zwei Nächte hier verbracht. Das Bedürfnis, seine Ehefrau und seine Männer zu finden, war schon mehr als ein Sehnen. Er musste sie einfach retten und nach Hause holen.

„Pack den Fisch ein, und alle Angelsachen, die ihr besitzt“, befahl er. „Wir fahren aus.“

Sie stand auf und beschäftigte sich für einen Augenblick damit, den Holzteller zu spülen, den sie gemeinsam benutzt hatten. Dann stellte sie sich ans Feuer, und Styr sah, dass ihr Rock ihr feucht an den Beinen klebte.

„Ich habe Angst“, gab sie zu. „Seit Monaten bin ich nicht mehr mit dem Boot ausgefahren.“

Obwohl er spürte, dass mehr dahintersteckte, drängte er sie nicht. „Zieh dich um und nimm eine warme Decke mit“, forderte er sie auf. „Ich werde vor der Tür auf dich warten.“

Caragh sah ihn aus ihren dunkelblauen Augen an und nickte. „Ich werde mitkommen. Aber nur, weil ich glaube, dass du mir helfen kannst, Fische zu fangen. Und weil auch die anderen deine Hilfe brauchen.“ Sie legte ihm eine Hand auf den Arm, und die Berührung ihrer kühlen Finger durchfuhr ihn wie ein Schock. „Wenn wir Fische fangen, werde ich dir dabei helfen, deine Ehefrau zu finden.“

„Nimm mir erst die Ketten ab“, verlangte er ruhig. „Du hast es versprochen.“

Als ihr Blick seinem begegnete, stand Unsicherheit darin. „Noch nicht“, flüsterte sie. „Vielleicht heute Abend.“

Wut stieg in ihm auf, dass sie ihr Wort nicht halten wollte. „Du sagtest, du lässt mich frei, wenn wir Fische fangen. Und das haben wir.“

Immer noch hielt sie seinen Arm fest und sah jetzt zu Boden. „Nur einen.“

Er trat jetzt so dicht vor sie, dass er sie an die Wand drängte. Sie hob die Hände, um ihn wegzustoßen, aber er rührte sich nicht. „Du strapazierst meine Geduld, meine Liebe.“

„Ich bin nicht ‚deine Liebe‘.“

„Nein, das bist du allerdings nicht“, stimmte er zu. Doch er spürte ihre Hand auf seinem Kettenpanzer, und auch wenn es ihr nur darum ging, sich zu befreien, kamen ihm auf einmal Bilder in den Sinn … Bilder davon, wie sie ihre Hände tiefer gleiten ließ …

Verdammt sollte sie sein, dass sie solche Vorstellungen he­raufbeschwor.

„Dein Bruder hat Elena geraubt. Und dafür wird er büßen.“

Sie machte einen tiefen Atemzug und sah ihn ernst an. „Versprich mir, dass du Brendan nicht tötest. Er ist doch nur ein Junge.“

Styr trat zurück und gab sie frei. „Wenn ihr nichts geschehen ist, dann lasse ich ihn vielleicht gehen. Aber wenn er ihr auch nur ein Haar gekrümmt hat, dann kann ich dir dieses Versprechen nicht geben.“ Er ging zur Tür und drehte sich noch einmal zu ihr um. „Und ich werde ihn auch nicht verschonen, wenn du mir nicht diese Ketten abnimmst.“

Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er hinaus. Der Himmel war von grauen Wolken verhangen, es sah nach Regen aus. Dennoch durfte er nicht länger warten. Hätte er auf der Stelle gehen können, dann hätte er es getan. Er hasste es, auf jemand anderen angewiesen zu sein, hasste die Ketten, die ihn daran hinderten, Elena aufzuspüren.

Viel schlimmer noch, er konnte keine Vorräte mitnehmen. Alles, was er besaß, war auf seinem Schiff, und ihm blieb nichts als die Kleider, die er am Leib trug, und seine Streitaxt, die sie ihm weggenommen hatte.

Nach einigen Minuten ging die Tür auf. Er drehte sich um und sah Caragh, die in jeder Hand zwei Körbe hielt. Das Kleid, das sie jetzt trug, war dunkelblau gefärbt. Zwar war es nur ein einfacher Schnitt mit langen Ärmeln, doch die Farbe stand in Kontrast zu ihrem Haar und brachte ihre blauvioletten Augen zur Geltung.

Beunruhigt stellte Styr fest, dass sie wunderschön aussah. Er nickte ihr knapp zu und ließ sich seine ungehörigen Gedanken nicht anmerken.

„Dieses Kleid ist zu gut, um darin fischen zu gehen“, sagte er. „Du solltest ein anderes anziehen.“

„Ein anderes habe ich nicht“, erwiderte sie achselzuckend. Mit einem Anflug von Bedauern fügte sie hinzu: „Ich hätte dies hier meinen Brüdern mitgeben sollen, damit sie es verkaufen.“

Ohne weitere Erklärung führte sie ihn hinunter zum Strand, bis er das kleine Boot sah, das in einiger Entfernung angebunden war. Das Hauptsegel war gerafft, aber das Schiff schien seetüchtig.

„Wenn du mir nicht die Ketten abnimmst, musst du alle Arbeit alleine machen“, erinnerte er sie. „So kann ich dir nicht helfen.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, als hätte sie daran noch nicht gedacht. Schließlich schüttelte sie den Kopf. „Ich schaffe das schon.“

Styr ging ein kleines Stück ins Wasser und drehte ihr den Rücken zu. „Du kannst auf meinen Rücken klettern, dann wirst du nicht wieder so nass.“

„Das ist … sehr nett von dir.“ Sie klang überrascht. Er spürte, wie sie unter seine gefesselten Arme schlüpfte, sich an seinem Hals festhielt und ihm die Beine um die Hüften schlang. Mit den Handschellen war es nicht ganz einfach, dennoch bemerkte er, wie leicht sie war. Sie war viel zu dünn.

Heute mussten sie noch mehr Fische finden, egal, wie lange es dauerte. Keine Frau sollte derart hungern müssen, und er war fest entschlossen, dafür zu sorgen, dass sie heute eine richtige Mahlzeit zu sich nehmen konnte.

Er setzte sich ans Heck des Bootes und übernahm das Steuer, während sie den Anker lichtete. Anschließend saßen sie nebeneinander und übernahmen jeweils ein Ruder, um das Boot aufs offene Meer zu bringen. Zwar ließen ihm die Ketten einigen Spielraum, seine Arme zu bewegen, doch das Rudern fiel Styr nicht leicht, da sie in seinem Rücken gefesselt waren. Schließlich drehte er sich um und setzte sich rückwärts auf die Bank, beugte sich vor und bewegte dann das Ruder hinter sich. Das war ausgesprochen unbequem, aber Caragh hatte weder die Kraft noch die Erfahrung, das Boot alleine zu bewegen.

Schweigend entfernten sie sich immer weiter vom Ufer, und als sie weit genug gekommen waren, forderte er sie auf, das Segel zu hissen. Er erklärte ihr, wie sie es festbinden musste, um den Wind einzufangen, und das Haar wehte ihr ins Gesicht, während sie den Anweisungen folgte.

Wieder kamen ihm gefährliche Gedanken, als er ihren weiblichen Körper betrachtete, die geschwungenen Hüften. Sie war so anders als Elena. Während der Körper seiner Ehefrau schlank und durchtrainiert war, wirkte Caragh zart und zerbrechlich.

Dennoch hatte sie Kurven an Stellen, wo er gar nicht erst hinsehen sollte; ausgesprochen überraschende Kurven, wenn man bedachte, wie dünn sie war.

Er rief sich wieder Elena in Gedanken und hoffte, dass es ihr gut ging. Der Drang, sie zu suchen, war stark, und umso mehr wuchs seine Frustration, weil er ihm nicht nachgeben konnte. Der Wind blies ihm ins Gesicht, und das vertraute Gefühl von Freiheit hellte seine finstere Stimmung etwas auf. Allmählich wurde das Boot schneller, und er zeigte Caragh, wie sie das Segel ausrichten musste. Sie lernte schnell, doch nach wie vor sah er die Angst in ihrem Blick.

„Bist du nicht gern auf dem Wasser?“

Sie schüttelte den Kopf. „Im letzten Winter ist mein Vater ertrunken. Das Boot wurde ans Ufer gespült, aber er war nicht mehr darauf.“ Sie rieb sich die Arme, als wäre ihr kalt. „Meine Brüder glauben, dass es verflucht ist.“

„Ich habe fast mein ganzes Leben auf Booten verbracht“, antwortete er. „Du hast nichts zu befürchten.“

Obwohl sie nickte, konnte er sehen, dass sie nicht wirklich beruhigt war. Sie rückte näher an ihn heran und saß jetzt nur noch wenige Fuß entfernt, während das Boot weiter Richtung Süden fuhr. „Warum bist du hierher, nach Éireann, gekommen?“

Dafür gab es so viele Gründe, dass er sie gar nicht alle hätte aufzählen können. Um seine Ehe zu retten. Um dem Konflikt zu entgehen, der um die Führung seines Bruders, des jarl, entstanden war. Und der wichtigste Grund von allen: um über das Meer in fremde Länder zu segeln, eine andere Lebensweise als seine eigene kennenzulernen.

Achselzuckend erwiderte er ihren Blick. Über seine Beweggründe wollte er nicht sprechen. Um sie abzulenken, forderte er sie auf, das mit Steinen beschwerte Netz an einer Seite des Bootes auszuwerfen, sodass sie es im Wasser hinter sich herzogen.

„Du gibst nichts von dir selbst preis, oder?“

Diese direkte Frage traf ihn. „Warum sollte ich? Dies ist kein Ausflug unter Freunden. Ich helfe dir dabei, Nahrung zu finden, weil ich sie brauchen werde, wenn ich meine Ehefrau und die anderen finden will.“

Caragh musterte ihn. „Du hast recht. Das hier ist reine Notwendigkeit. Und ich denke auch nicht, dass ein Lochlannach wie du jemals mit jemandem wie mir befreundet sein will.“ Sie straffte die Schultern, und ihm wurde bewusst, dass er sie beleidigt hatte. Aber es war wichtig, klare Grenzen zu ziehen, sicherzustellen, dass sie ihn als das wahrnahm, was er war – ihr Feind.

„Hol das Netz ein“, befahl er. Sie griff danach, aber mit ihren dünnen Armen gelang es ihr nicht, das schwere Netz hochzuziehen. Selbst als sie sich mit all ihrem Gewicht dagegenstemmte, half es nicht das Geringste.

„Allmählich bereue ich, dass ich dir nicht die Ketten abgenommen habe“, murmelte sie.

Vorsichtig richtete Styr sich auf und kam näher, bis sie Rücken an Rücken standen. „Leg deine Arme um meine, und dann nimm das Netz in die Hände.“

Sie zögerte. „Was hast du vor? Mich über Bord zu werfen?“

„Wenn ich dich hätte töten wollen, hatte ich bereits mehr als genug Gelegenheiten dazu“, erinnerte er sie. „Ich will dir lediglich helfen, das Netz einzuholen.“

Leicht spreizte er die Beine, um das Gleichgewicht besser zu halten, und wartete, dass sie ihre Arme bei ihm unterhakte. Als sie dann das Netz noch einmal fasste, lehnte er sich nach vorne. Sie wurde von den Füßen gerissen, während sie am Netz zog. Trotz allem musste sie lachen. „Das ist auch eine Art, Fische zu fangen, würde ich sagen.“

Wie gehofft gelang es ihnen, das Netz wieder einzuholen. Es waren nur ein paar wenige kleine Fische darin, aber auch einige Austern, die Caragh einsammelte.

Im Laufe der nächsten Stunde befestigte sie auf seine Anweisungen hin immer wieder Köder an den Haken und warf Angelschnüre aus. Die Beschäftigung schien sie von ihrer Angst abzulenken, besonders dann, wenn es ihnen gelang, ein paar kleine Fische zu fangen. Aber je länger er sie beobachtete, desto mehr störten ihn seine Fesseln. Er wollte die Segel in der Hand haben, das Meer beherrschen, die Fische fangen. Nutzlos in Ketten gelegt zu sein steigerte seinen Unmut noch.

Nachdem sie eine Angelschnur ausgelegt hatte, schob sich Caragh eine Locke hinter das Ohr. Plötzlich schien sie unruhig zu sein. „Was meinst du, fangen wir heute noch mehr?“

Er zuckte nur mit den Schultern und sah aufs Meer hinaus.

Sie warf ihm einen Blick zu und sprach dann mit tiefer Stimme, als wollte sie ihn nachäffen. „Nein, du könntest nicht einmal einen Hering fangen, Caragh, schwach, wie du bist.“

In ihrer eigenen Stimme setzte sie die gespielte Unterhaltung fort. „Das weiß ich, aber ich versuche es wenigstens.“

„Das reicht nicht“, antwortete sie sich selbst, wobei sie ihn wieder nachmachte. „Und wenn du keine Fische fängst, dann werfe ich dich kleines nutzloses Ding über Bord und segle davon.“

Er starrte sie an und konnte kaum glauben, was sie da tat. „Du bist verrückt“, murmelte er.

„Und du bist ausgesprochen schlecht gelaunt“, schoss sie zurück.

„Weil du mich gefesselt hast! Soll ich mich darüber etwa freuen? Mit dir freundlich übers Fischen und das Wetter plaudern? Ich bin immer noch dein Gefangener, dem du nicht traust.“

„Ich habe nicht den geringsten Grund, einem Mann zu trauen, der meinen Bruder töten will.“

„Vielleicht töte ich ihn nicht.“

„Vielleicht? Wenn Elena auch nur irgendetwas zugestoßen ist, wirst du ihn dafür verantwortlich machen.“

„Und zwar völlig zu Recht.“ Styr war bewusst, dass Caragh den Jungen nur schützen wollte, aber siebzehn Jahre war alt genug, um die Folgen seines Handelns zu begreifen. „Er kann sich nicht für das, was er getan hat, hinter deinem Rockzipfel verbergen.“

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu. „Dann weißt du ja jetzt, warum ich dir die Ketten nicht abnehmen will. In dem Augenblick, in dem ich das tue, wirst du Brendan nachjagen.“

„Für das, was er getan hat, muss er geradestehen, Caragh.“

Sie schaute auf das unbewegte Meer hinaus, und er sah den Kummer in ihrem Blick. „Dann bleibt mir keine Wahl, als mit dir zu gehen, denn nichts, was ich sage, kann dich umstimmen.“

„Ich bin ein Mann der Tat, nicht der Worte.“

„Das habe ich bereits gemerkt.“ Wieder ahmte sie seine Stimme nach: „Krieger reden nicht, Caragh. Sie töten. Und ich bin gut darin, Leute zu töten.“

„Vor allem solche, die zu viel reden“, brummte er, aber er konnte die Belustigung nicht ganz verbergen. Plötzlich bemerkte er einen Zug an einer der Angelschnüre und stellte sich neben Caragh. Wieder presste er seinen Rücken an ihren, um ihr mehr Kraft zu verleihen.

Wie zuvor hakte sie sich bei ihm unter, dann zog sie an der Schnur und lehnte sich zurück. „Etwas hat angebissen.“

Styr zog kräftig, um ihr zu helfen, den Fisch ins Boot zu ziehen. Die Schnur bewegte sich heftig, und Caragh keuchte auf, als sie in ihre Hand schnitt.

„Nicht loslassen!“, befahl er. „Immer gleichmäßig unter Spannung halten.“

Weiter und weiter zog er, und Caragh begann wieder zu reden, ermutigte ihn, ihr zu helfen. Schließlich reichte sie ihm die aufgerollte Leine und nahm das Handnetz, um den Fisch an Bord zu ziehen. Es war eine Flunder, länger als ihr Unterarm.

Beim Anblick des Fischs brach sie in Jubelschreie aus. „Es hat geklappt! Styr, wir haben was zu essen!“ Gleichzeitig lachte und weinte sie. So groß war ihre Freude, dass sie ihm die Arme um die Schultern schlang und ihn fest an sich drückte.

Reglos und völlig verblüfft stand er da. Eine derart unbekümmerte Geste hatte er bei Elena nie erlebt, und er wusste nicht, wie er damit umgehen sollte.

Sein Körper allerdings wusste es nur zu genau. Obwohl die Umarmung kurz gewesen war, hatte er gefühlt, wie ihre Brüste ihn gestreift hatten, ihre Hüften sich an ihn gepresst hatten. Der spontane Ausbruch von Zuneigung hatte nichts zu bedeuten, dennoch war ihm, als hätte sie etwas in ihm geweckt, das schon viel zu lange unterdrückt worden war. Nur selten berührte ihn jemand auf solche Weise, und er war so überrumpelt, dass er wieder zu seinem Platz am Ruder zurückkehrte.

„Tut mir leid“, sagte sie. „Es ist nur, dass ich nie zuvor einen so großen Fisch gefangen habe.“ Vor Aufregung war ihr Gesicht ganz gerötet, während sie die Flunder in einer Ecke des Bootes verstaute.

Styr brummte eine Antwort und wies sie dann an, noch eine Angelschnur auszuwerfen. Während sie das tat, sah er, dass ihr Gesicht vor Freude schier glühte. Die Sonne brachte ihr Haar zum Glänzen, und ihr Lächeln steckte ihn trotz all seiner Vorbehalte an und hellte seine düstere Stimmung ein wenig auf.

Mit einem vagen Schuldgefühl wandte er den Blick wieder aufs Meer. Es war schon lange her, dass eine Frau ihn derart angelächelt hatte. Erst recht, wenn er dieses Lächeln so wenig verdient hatte.

„Hast du immer noch Angst vor dem Meer?“, fragte er.

Immer noch unbekümmert lächelnd schüttelte Caragh den Kopf. „So schrecklich ist es eigentlich gar nicht. An jenem Tag war das Wetter sehr schlecht gewesen, und mein Vater hätte gar nicht ausfahren dürfen.“ Sie sah wieder aufs Wasser und seufzte. „Ich vermisse ihn so sehr, und der Gedanke, ihn verloren zu haben, schmerzt.“

Dann schaute sie ihn wieder an und lächelte entschuldigend. „Ich weiß, ich hätte dich nicht umarmen dürfen. Das war leichtsinnig von mir.“

Styr schwieg aus Angst, dass sie erkennen könnte, wie sehr es ihn getroffen hatte. Wäre er nicht an Elena gebunden, hätte er die Umarmung vielleicht sogar genossen, sie an sich gezogen. Doch die Ehre gebot ihm, sich von dieser Frau fernzuhalten und jeder Anziehung, die er verspüren mochte, zu widerstehen.

Jetzt kniete sie sich im Boot hin, ihr blaues Kleid war feucht vom Meerwasser. „Dieser Fisch bedeutet Leben“, erklärte sie. „Für dich ist er vielleicht nicht viel wert, aber für mich ist er alles.“

„Er reicht aus, uns die Reise überstehen zu lassen, wenn wir ihn haltbar machen.“ Er musste sich selbst an sein Ziel erinnern.

Sie nickte. „Wir finden sie, Styr. Und wer weiß, wenn du zurückkommst, vielleicht gelingt es uns ja trotz allem, Frieden zwischen unseren Völkern zu schließen.“

„Nein“, antwortete er bestimmt. Hier, so nahe bei Caragh, konnte er nicht bleiben. Der Gegensatz zwischen dieser Frau und seiner Gemahlin stellte eine Gefahr für ihn dar. Obwohl er sich nichts hatte zuschulden kommen lassen, spürte er doch, dass es unklug wäre, in ihrer Nähe zu bleiben. „Wir werden uns woanders niederlassen.“

Ihr Lächeln erlosch, und sie wandte ihre Aufmerksamkeit wieder den Angelschnüren zu.

Nachdem sie noch fünf weitere Fische gefangen hatten, kehrten sie zur Küste zurück. Caragh war völlig erschöpft, aber lange nicht mehr in so guter Stimmung gewesen. Sie hatte mehr Nahrung, als sie in den letzten Monaten zu Gesicht bekommen hatte. Es reichte nicht nur für sie selbst, sondern war genug, um es mit den anderen zu teilen. Die Sonne stand schon tief am Horizont, und Styr folgte ihr dichtauf, als sie die letzte Flunder nach Hause trug. Zwar glaubte sie nicht, dass jemand versuchen würde, den Fisch zu stehlen, aber sie wusste, dass einige verzweifelt waren – besonders Kelan. Hoffentlich konnte sie ihnen mit dem Fisch, den sie übrig hatte, über den schlimmsten Hunger hinweghelfen.

Eine nach der anderen besuchte sie die Familien, und zu sehen, wie sie sich beim Anblick der unverhofften Nahrung freuten, hob ihre Stimmung noch mehr. Ionas Ehemann Gearoid bestand darauf, ihr zum Dank ein kleines Fass Met zu schenken. Ohne auf ihre Proteste zu achten, hob er sich das Fass auf die Schultern und trug es schwankend zu ihrer Hütte. Als er Styr entdeckte, der neben dem Feuer wartete, stutzte er.

„Ist alles in Ordnung mit dir, Caragh?“ Obwohl der alte Mann in ruhigem Ton sprach, entging ihr nicht die Sorge in seinem Blick. Keiner von ihnen hatte ihren Entschluss, Styr zu fesseln, gutgeheißen; sie alle hatten ihn lieber tot sehen wollen.

„Mir geht es gut. Und ohne die Hilfe dieses Lochlannach wären wir heute Abend alle noch hungrig.“

Offenbar war es Gearoid nicht recht, sie hier mit ihm alleinzulassen, aber Caragh brachte ihn entschlossen zur Tür.

„Er hat nicht versucht, mir etwas anzutun“, versicherte sie. „Ich bin in Sicherheit, das verspreche ich dir.“ Das war zwar nur die halbe Wahrheit, aber sie wollte nicht, dass die anderen sich Sorgen machten. „Geh zurück zu Iona und lass dir den Fisch schmecken.“

„Wenn du unsere Hilfe brauchst, dann kannst du jederzeit danach fragen.“ Er drückte ihr die Hand und humpelte dann zu seiner Ehefrau zurück.

Nachdem er fort war, ging Caragh wieder ins Haus und machte sich daran, den Fisch auszunehmen und zu säubern. Die Arbeit machte ihr nicht das Geringste aus, und sie legte die Reste sorgsam zur Seite. Daraus könnte sie noch eine Suppe oder Eintopf kochen. So groß war ihre Freude, dass sie, nachdem sie die Fische zum Braten über das Feuer gelegt hatte, an den Arbeitsplatz ihres Vaters trat.

Schweigend stand sie im Dunkel und atmete den Aschegeruch der Schmiede ein. Wenn sie die Augen schloss, konnte sie beinahe das herzliche Lachen ihres Vaters hören.

Begehe ich einen Fehler, Vater? Soll ich das Risiko wagen? Während sie nach einer Ahle und dem Hammer ihres Vaters griff, fragte sie sich immer noch, was sie tun sollte. Styr hatte ihr heute seine Wertschätzung bewiesen, indem er mit ihr zum Fischen ausgefahren war. Sie hatten genug gefangen, um eine Weile zu überleben – oder um Brendan suchen zu gehen.

Tief in ihrem Herzen wusste sie, dass der Wikinger ihr das Leben gerettet hatte. Dafür hatte er die Freiheit verdient.

Mach, dass er Brendan nichts antut, betete sie innerlich. Dann atmete sie tief ein, nahm die Ahle und den Hammer mit und kehrte zu ihrer Hütte zurück.

Styr saß noch neben dem Feuer, als sie zurückkehrte, und sobald er den Hammer und die Ahle sah, erhellte sich seine Miene.

„Ich schulde dir Dank“, sagte Caragh, „weil du mir heute geholfen hast, Fische zu fangen. Und als Gegenleistung werde ich mein Versprechen erfüllen und dir die Ketten abnehmen.“ Aufmerksam beobachtete sie ihn, entgegnete seinen Blick. „Alles, worum ich dich bitte, ist, dass du meinen Bruder leben lässt. Zeig Erbarmen.“

Da Styr nicht antwortete, konnte sie nur beten, dass er Brendan verschonen würde. Sie ging um ihn herum und griff nach seinen Handgelenken. Seine Haut war übersät mit getrocknetem Blut und blauen Flecken. Offenbar hatte er sich bei dem Versuch, sich selbst zu befreien, verletzt.

Vorsichtig hämmerte sie den Bolzen, der die Schellen geschlossen hielt, heraus, bis die erste Hand frei war, dann die zweite.

Styr zog die Arme nach vorne und bewegte die Handgelenke, dann atmete er erleichtert auf. „Ich danke dir.“

Dass er jetzt ohne Fesseln vor ihr stand, machte ihr seine Gegenwart umso mehr bewusst. Auch wenn sie nicht glaubte, dass er ihr etwas tun würde, konnte sie das Gefühl der Unruhe nicht ganz abschütteln. Also wandte sie sich wieder den Fischen über dem Feuer zu und bemerkte: „Es überrascht mich, dass du dich nicht sofort auf den Weg machst.“

„Wie ich schon sagte, morgen früh werde ich das Boot deines Vaters nehmen. Und du wirst mitkommen.“

Weil sie Brendan schützen wollte, widersprach sie nicht. „Ich werde nicht als deine Geisel mitkommen“, erklärte sie allerdings.

Seine Miene wurde hart, und in seinen Augen schien die stumme Warnung zu liegen, dass er sie genau so einsetzen würde, wie es ihm notwendig erschien.

Ihre Hände zitterten, als sie ihm den Fisch servierte. Du Närrin, schalt sie sich selbst. Dieser Mann bedeutete Gefahr. Er hatte ihr vielleicht geholfen, Nahrung zu beschaffen, aber sie durfte ihm nicht trauen.

All diese Zweifel waren jedoch vergessen in dem Moment, als sie den herrlich zarten Fisch auf ihrer Zunge schmeckte. „Himmlisch“, entfuhr es ihr, während sie das erste Stück so schnell verschlang, dass sie sich beinahe verschluckt hätte. Das zweite Stück verschwand fast ebenso schnell, und sie bereitete rasch noch mehr zu, da sie wusste, dass Styr ebenso hungrig war wie sie. Um nicht zu schnell zu essen, goss sie jedem von ihnen einen Becher Met ein, und der süße Geschmack des Honigs war köstlich. Obwohl sie wusste, wie unklug es war, zu schnell zu trinken, konnte sie sich kaum zurückhalten.

„Langsam“, ermahnte sie Styr. „Oder dir wird schlecht.“

Sie gehorchte und konzentrierte sich stattdessen auf das Getränk. Davon wurde sie ein wenig benommen, und ein angenehmer Nebel schien sie zu umgeben. „Bist du satt geworden?“

Er nickte und lehnte sich neben dem Feuer zurück. „Wenn du den Rest in Salz einlegst, können wir ihn einige Tage aufbewahren.“

Zustimmend nickte sie und schnitt den übrigen Fisch in etwa handtellergroße Stücke, die sie mit Salz bedeckte. Bei der Arbeit merkte sie, dass sie bereits etwas wackelig auf den Beinen war, und der Raum schien sich immer weiter zu entfernen. Dennoch trank sie einen weiteren Schluck Met.

Nachdem sie den Fisch eingelegt hatte, wusch sie sich die Hände und stakste unsicher zum Feuer zurück.

Styr runzelte die Stirn. „Wie viele Becher Met hast du getrunken?“

„Zwei. Drei vielleicht.“

„Du hattest wirklich genug.“ Er nahm ihr den Becher aus der Hand. „Mehr als genug.“

Ihre Lippen verzogen sich zu einem trägen Lächeln. „Er schmeckt so gut.“ Während er den Rest ihres Bechers leerte, blieb ihr Blick an seinem Mund hängen. Oh, und was für ein wunderschöner Mund das war. Fest und männlich. Was für eine Schande, dass dieser Mann bereits verheiratet war. Es musste aufregend sein, ihn zu küssen.

„Bist du so schlimm wie die anderen Lochlannach?“, frage sie, während sie sich die Hände am Feuer wärmte. „Plünderst du die Häuser und raubst die Frauen?“

Mit undeutbarem Blick sah er sie an. „Was glaubst du denn?“

„Ich glaube, du könntest … wenn du wolltest.“ Ihr Kopf war noch immer vernebelt, und sie sprach einfach aus, was ihr in den Sinn kam. Ein unsicheres Lachen entfuhr ihr. „Aber dieses Mal habe ich dich geraubt.“

Bei der Erinnerung daran blickte er finster drein. Schnell fügte sie hinzu: „Du bist nicht annähernd so ein schlechter Mann, wie ich gedacht hatte.“

„Hör auf.“ Er schnitt ihr das Wort ab, streckte eine Hand aus und umfasste ihr Kinn. Obwohl er ihr offenbar drohen wollte, tat es nicht weh. „Hör auf, so zu tun, als wäre ich harmlos.“ Seine Hand wanderte weiter in ihren Nacken, und prickelnde Schauer jagten ihr über den Rücken. Seine Berührung hatte eine Macht in sich, eine Kraft, die sie erstarren ließ.

Plötzlich führten ihre verräterischen Gedanken ihr Bilder vor Augen, die über einen Kuss weit hinaus gingen. Sie stellte sich seine nackte Haut vor, und wie es wohl wäre, mit den Fingern darüber zu streichen. Seine Hand immer noch im Nacken, streckte sie ihre Hände aus und legte sie ihm auf die Brust.

5. KAPITEL

Styr rührte sich nicht. Er wusste, dass Caragh nicht bei klarem Verstand war, dass der Met ihr die Sinne vernebelte. Doch als sie sich an seine Brust schmiegte, wollte ein Teil von ihm sie in seine Arme ziehen. Er sehnte sich danach, eine Frau zu umarmen, den süßen Duft ihrer Haut einzuatmen.

Unter ihren Fingerspitzen pochte sein Herz schneller, sein verräterischer Körper reagierte auf ihre Nähe.

Sachte befreite er sich aus ihrem Griff und trat zurück. „Hast du genug gegessen?“

Ein sanftes Lächeln erschien auf ihrem Gesicht. „Ja, habe ich, zum ersten Mal seit vielen Monaten.“ Geschäftig sammelte sie das hölzerne Geschirr ein, spülte es ab und räumte es weg. Doch statt anschließend mit dem Aufräumen fortzufahren, setzte sie sich neben das Feuer und lächelte ihn an. Da ging ihm auf, dass Elena sich nach einer Mahlzeit nie einfach hinsetzte, um auszuruhen. Sie verbrachte ihre Zeit damit, zu räumen, zu richten und zu schrubben.

Caragh zog die Beine an, ihr Gesicht vom Feuerschein wie vergoldet. Unentwegt ging ihm die Erinnerung daran durch den Kopf, wie sie ihn berührt, ihren Kopf an sein Herz gepresst hatte. Die Sehnsucht nach Zärtlichkeit nagte an ihm, und er verfluchte seine Bedürfnisse, die er nicht unter Kontrolle hatte.

So lange war es schon her, dass Elena zu ihm gekommen war. Immer wieder hatte er versucht, sie zu verführen oder auch nur zu umarmen, nur um jedes Mal fortgestoßen zu werden. Sie litt unter ihrer Kinderlosigkeit wie unter einer offenen Wunde, die nicht heilen wollte.

Manchmal wünschte er, dass sie von vorne beginnen könnten. Dass sie einfach nur Freunde sein könnten, ohne diese ständige Spannung zwischen ihnen. Das letzte Mal, dass sie derart ungezwungen miteinander hatten umgehen können, war in ihrer frühen Jugend gewesen. Sobald sie verlobt worden waren, war Elena ernsthafter geworden und hatte alles darangesetzt, eine gute Ehefrau zu sein. Dabei hatte sie die Vergeblichkeit ihrer Bemühungen, Kinder zu bekommen, nicht akzeptieren können.

Schließlich stand Caragh auf und stellte das restliche Essen beiseite. „Was möchtest du als nächstes tun?“, fragte sie.

Ihre Stimme klang voller Energie, voller Tatendrang, der Erinnerungen in ihm heraufbeschwor: daran, wie es war, die nackte Haut einer willigen Frau zu berühren, tief in sie einzudringen. Er spürte, wie er hart wurde, und verfluchte sich selbst dafür, so viel Met getrunken zu haben.

Bei Odins Blut, er musste sich von dieser Frau fernhalten. Zweifellos hatte die Göttin Freia ihn zu ihr geführt, um ihn zu prüfen. Aber so sehr sie ihn auch versuchte, er würde Elena nicht betrügen.

„Wir sollten schlafen gehen, damit wir für die morgige Reise ausgeruht sind“, antwortete er deshalb und legte noch ein Stück Torf ins Feuer. Dann zog er sich ans andere Ende des Raums zurück und versuchte sie aus seinen Gedanken zu verdrängen.

„Ich kann noch nicht schlafen“, wiedersprach Caragh. „Es ist zu früh.“ Ohne zu fragen ging sie zu einer Truhe im hinteren Teil des Raums und kam mit einem Brett in der Hand zurück. „Geh noch nicht zu Bett“, bat sie. „Wir könnten ein Spiel spielen.“

„Ich spiele nicht.“ Ein- oder zweimal hatte er sich an den Würfelspielen der anderen beteiligt, aber keine rechte Freude an diesem Zeitvertreib gefunden.

Caragh trat auf sein Lager zu, sodass er ihr nicht ausweichen konnte. Dann legte sie das Spielbrett zwischen ihnen auf den Boden, und er erkannte es als eine Variante des Duodecim scripta, des „Zwölflinienspiels“, das er aus seiner Heimat kannte. „Woher hast du das?“

„Mein Bruder hat es von einem Reisenden aus Burgund gewonnen.“

Das Spielbrett bestand aus zwei einander gegenüberliegenden Dreiecken; die Spielsteine waren aus Knochen geschnitzt. Dazu gehörten drei Würfel aus Horn. Während sie ihm die Steine reichte, erklärte sie die Regeln, die dem Spiel, wie er es kannte, sehr ähnlich waren.

„Du musst erst deine Steine in dein Heimfeld bringen und sie dann herauswürfeln. Wer von uns als erstes keinen Stein mehr auf dem Brett hat, ist Sieger.“

Noch einmal nippte er an seinem Met und beobachtete, wie sie ihre Spielsteine auslegte. Eine lange dunkle Locke hing ihr über der Schulter, und ihre Wangen waren noch rosig vom Trinken. Fröhlichkeit und eine Spur von Herausforderung lagen in ihrem Blick, als sie fragte: „Bist du bereit zu verlieren, Lochlannach?“

Sein Kampfgeist war geweckt. Als sie ihm die Würfel reichte, streiften seine Finger kurz ihre warme, zarte Hand. „Und was, wenn du verlierst?“

„Dann muss ich dir Tribut zollen. So wie du mir, wenn ich gewinne.“ Sie stützte sich auf einen Arm, und das Kleid glitt ihr an einer Schulter hinab und gab ihre nackte Haut frei. Rasch warf Styr die Würfel und zwang sich, den Blick von ihr abzuwenden, während er seinen ersten Zug machte.

„Was bietest du mir denn an?“ Gespannt fragte er sich, woran sie wohl dachte.

„Deine Waffen und den Mantel“, antwortete sie. „Seit ich dich gefangen genommen habe, gehören sie mir.“

„Und was willst du von mir, falls du durch ein gottgesandtes Wunder tatsächlich gewinnen solltest?“

Sie lächelte. „Mehr Essen für mich und meine Angehörigen.“

Bei ihrer aufrichtigen Antwort entspannte er sich wieder. Ihm wurde klar, dass sie die Grenzen zwischen ihnen respektierte. Vorhin allerdings, als sie ihm die Hände auf die Brust gelegt hatte, da hatte sie ausgesehen wie eine Frau, die auf einen Kuss wartete.

Bei den Göttern, wenn er unverheiratet gewesen wäre, er hätte sie genommen. Hätte ihren Mund erobert, den schlanken Körper an sich gezogen und diese Kurven mit den Händen umschmeichelt. Er hätte sie berührt und gekostet, bis er ihren Lippen ein kehliges Stöhnen entlockt hätte …

Verdammt sollte er sein, aber diese körperliche Enthaltung brachte ihn allmählich um den Verstand. Sobald er Elena gefunden hatte, musste er sie unbedingt dazu bringen, ihn wieder zu begehren. Sein Blut kochte über, vor Erregung konnte er kaum noch klar denken.

Mit größter Mühe riss er seine Gedanken wieder in die Gegenwart. „Was glaubst du, wo dein Bruder Elena und die anderen hingebracht hat?“

„Möglicherweise nach Áth Cliath oder Dubh Linn“, sagte sie und zog einen ihrer Spielsteine. „Dort ist er als Kind schon einmal mit meinem Vater gewesen. Aber wo er auch ist, ich weiß nicht, was er mit seinen Gefangenen vorhatte. Vielleicht hat er sie auch bereits irgendwo an der Küste freigelassen.“

Das konnte Styr sich nicht vorstellen. Wenn seine Männer sich hatten gefangen nehmen lassen, dann nur, um Elenas Sicherheit zu gewährleisten. Wahrscheinlicher war, dass sie Brendan und die anderen Iren bereits getötet hatten.

Er führte noch einen seiner Spielsteine und schlug damit einen von Caraghs Steinen. „Im Morgengrauen segeln wir los, um sie zu finden. Wir haben schon genug Zeit verschwendet.“

Diesmal schlug sie einen seiner Spielsteine. „Deine Frau ist unversehrt“, versprach sie. „Da bin ich ganz sicher.“

Während er würfelte, hörte er Caragh langsam ausatmen. Anscheinend dachte sie über ihren nächsten Spielzug nach. Sie hatte ihm immer wieder von dem Met nachgeschenkt, und er hatte getrunken, um die verräterischen Stimmen in seinem Kopf zum Schweigen zu bringen.

Caragh war dabei, ihn zu besiegen, und lächelte triumphierend, während sie ihre Spielsteine führte. Im goldenen Schein des Feuers schien ihr Gesicht zu leuchten, und ihre blauen Augen waren voller Aufregung. Ihr Kleid war von derselben dunklen Farbe, und Styr runzelte die Stirn, als er sich an etwas erinnerte.

„Du hast das Kleid behalten, obwohl du gesagt hast, dass du es hättest verkaufen sollen. Gab es dafür einen Grund?“

„Es sollte mein Hochzeitskleid sein.“ Sie warf die Würfel und überlegte, welchen ihrer Steine sie ziehen sollte.

„Was ist passiert?“

Schulterzuckend nahm sie einen weiteren seiner Spielsteine an sich. „Ich fand Kelan im Bett einer anderen Frau.“ Obwohl sie ruhig sprach, entging ihm nicht der Anflug von Ärger in ihrer Stimme.

„Du kannst froh sein, dass du ihn los bist.“ Styr konnte sich nicht vorstellen, dass Caragh mit einem solchen Mann verlobt gewesen war. Es erklärte Kelans eifersüchtiges Verhalten, aber Styr war es ein Rätsel, warum sie dessen Antrag überhaupt angenommen hatte.

„Vielleicht hast du recht.“ Sie schüttelte den Kopf und presste die Lippen zu einem dünnen Strich zusammen, während sie das Spielbrett betrachtete.

Für Styr gab es da kein Vielleicht. Warum sollte Caragh sich zu einem solchen Kerl herablassen?

Ungerührt nahm sie einen ihrer Steine vom Brett. „Meine Brüder wurden sehr wütend und wollten Kelan meinetwegen töten. Das habe ich ihnen verboten.“

„Er hat die Hoffnung nicht aufgegeben, oder?“ Er nahm einen seiner eigenen Steine auf.

„Nein. Er möchte, dass ich ihm verzeihe, aber ich kann einfach nicht vergessen, was er getan hat. Angeblich liebt er mich, und es sei nur ein Moment der Schwäche gewesen.“

Verächtlich schnaubte Styr. „Er liebt dich?“ Kopfschüttelnd bewegte er einen Spielstein. „Das glaubst du doch nicht etwa?“

„Ich habe es einmal geglaubt.“ Konzentriert schaute sie aufs Spielbrett und schob einen Stein auf eines der dunkleren Dreiecke. „Liebst du nicht auch deine Ehefrau?“

„Die Ehe hat mit Liebe nichts zu tun. Ich schulde Elena meinen Schutz, und ich werde sie finden.“ Die Vorstellung von Liebe hatte man ihm schon als kleiner Junge ausgetrieben. Seine Eltern hatten seinen Bruder und ihn dazu erzogen, künftige jarl zu sein, wie es ihre Pflicht gewesen war. Liebe hatte dabei keine Rolle gespielt.

Geistesabwesend griff er sich ans Kinn und strich über die Narbe, die ein Schlag seines Vaters hinterlassen hatte. Schon früh hatte er gelernt, nicht zu weinen oder irgendwelche Gefühle zu zeigen. Gefühle waren etwas für Weichherzige und brachten einen Mann in der Schlacht nicht weiter.

Schnell machte Styr seinen nächsten Zug, um nicht noch mehr von sich preiszugeben. Tatsächlich lag ihm viel an Elena, und er wünschte sich, dass sie in ihrer Ehe glücklich war. Doch seit klar war, dass sie keine Kinder zur Welt bringen konnte, hatte sie damit begonnen, ihn zurückzuweisen. Offensichtlich liebte sie ihn nicht, falls sie das je getan hatte. Inzwischen war es sogar selten, dass er sie lächeln sah.

Natürlich könnte er sich scheiden lassen, aber er wollte nicht zugeben, dass er als Ehemann versagt hatte. Und sie hatte zugestimmt, hierher zu kommen, also war auch sie noch nicht bereit, ihre Ehe einfach so aufzugeben. Was wäre er für ein Mann, wenn er sie aus ihrer Heimat fortholte, nur um sie in der Fremde alleinzulassen?

Nein, irgendwie würden sie ihre Probleme schon lösen.

„Elena ist eine gute Ehefrau“, gestand er. „Ich respektiere sie.“

Doch Caragh sah noch immer verwirrt aus, als verstehe sie nicht ganz. „War eure Ehe arrangiert?“

Styr nickte. „Ich war mit meinem Vater einer Meinung, dass sie eine gute Partie wäre. Und auch ihre Familie hat der Verbindung zugestimmt.“ Nur Elena selbst schien von dem Gedanken an eine Heirat eingeschüchtert gewesen zu sein. Nach der Verlobung hatte sie kaum mehr ein Wort mit ihm gewechselt.

Jetzt kam ihm der Gedanke, dass sie vielleicht gegen diese Ehe gewesen sein könnte. Damals hatte niemand ihm gegenüber so etwas angedeutet … Hatte man sie zur Heirat gezwungen?

Caragh nahm noch einen Spielstein an sich; jetzt hatte sie nur noch zwei Steine auf dem Brett. „Es tat weh, dass Kelan zu einer anderen Frau gegangen ist“, gab sie zu. „Ich habe ihn erwischt, wie er sie umarmt und …“, sie schloss die Augen, „… berührt hat.“

„Gut, dass du ihn nicht geheiratet hast.“

„Irgendwie kann ich mich des Gedankens nicht erwehren, dass ich etwas hätte anders machen müssen.“ Sie schenkte ihm ein bedauerndes Lächeln. „Dann hätte ich jetzt schon einen Ehemann und Kinder. Vielleicht habe ich zuviel geredet, oder ich hätte mehr auf mein Äußeres achtgeben müssen.“

„Caragh, mit dir ist alles in Ordnung.“

Darauf ließ sie sich nicht ein. „Warum bin ich dann immer noch alleine?“ Die Worte zeugten von ihrem gebrochenen Herzen.

Styr würfelte noch einmal und trank noch einen Schluck Met. Ganz offensichtlich war einer Frau wie Caragh die Liebe sogar sehr wichtig. Er war versucht, aufmunternde Worte zu sagen, ihr zu versichern, dass ein Mann schon ein Narr sein müsste, um sie nicht zu wollen. Aber er schwieg, damit sie nicht zu viele seiner eigenen Wünsche erriet.

Der Blick ihrer blauen Augen hielt ihn fest, als könnte sie so die Antwort erlangen. Um ihm nicht zu begegnen, wandte er sich dem Brett zu und nahm seinen letzten Stein auf.

„Du hast gewonnen“, räumte sie ein und zog die Knie an. „Da muss ich dir wohl deinen Mantel zurückgeben.“

„Nein, die Streitaxt“, korrigierte er. „Häng meinen Mantel über das Loch, das ich in deine Wand geschlagen habe.“ Wären sie länger geblieben, hätte er es vielleicht repariert. Aber da sie morgen abreisten, spielte es wohl kaum eine Rolle.

Sobald sie ihm die Waffe ausgehändigt hatte, begann Caragh gähnend, die Spielsteine einzusammeln. Styr half ihr dabei, und als sie das Spiel verstaut hatten, drehte sie sich so schnell um, dass sie stolperte. Er fing sie auf, damit sie nicht hinfiel. Doch sie ließ die Hände einen Augenblick zu lange auf seinen Armen liegen.

„Deine Gemahlin ist eine glückliche Frau“, murmelte sie, während sie ihm tief in die Augen sah. Viel zu sehnsüchtig blickte sie ihn an; viel zu gefährlich. Die Wärme ihrer Hände auf seiner Haut war viel angenehmer, als sie sein durfte. Styr spürte, wie die Berührung auf ihn einwirkte wie ein Balsam. Augenblicklich verschloss er sich vor diesem Gedanken.

„Caragh, nicht. Du hast zu viel getrunken.“

Nickend schürzte sie die Lippen. „Ja, das habe ich. Aber für einen Augenblick … hast du genauso einsam ausgesehen, wie ich mich fühle.“ Kurz schloss sie die Augen, als müsste sie allen Mut zusammennehmen. „Und da habe ich mich gefragt, ob zwischen dir und deiner Ehefrau alles in Ordnung ist. Du sahst einen Moment lang traurig aus.“

Styr schüttelte ihre Hände ab und ging zur Seite. „Was zwischen Elena und mir ist, geht dich nichts an.“ Ihm war es egal, wie hart die Worte klangen. Der einzige Grund für die Kälte zwischen seiner Ehefrau und ihm war, dass sie kein Kind empfangen hatte, sonst nichts. Sobald sie schwanger wäre, würde alles wieder gut werden. Davon war er überzeugt.

Die Richtung, die seine Gedanken in letzter Zeit nahmen, gefiel ihm gar nicht. Je mehr Zeit er in Caraghs Gegenwart verbrachte, desto mehr sehnte er sich danach, für ihre Sicherheit zu sorgen, dafür, dass sie genug zu essen hatte. Wenn es sich dabei um eine Art geschwisterliche Zuneigung gehandelt hätte, wäre das vielleicht nicht weiter Besorgnis erregend gewesen. Aber davon konnte man ganz und gar nicht sprechen. Er musste sich eingestehen, dass er sich zu ihr hingezogen fühlte, so sehr er sich selbst auch dafür verabscheute.

„Entschuldige“, sagte sie leise. „Du hast recht. Es geht mich nichts an.“ Damit zog sie sich auf ihr Lager zurück und deckte sich mit einem Laken zu.

Noch einmal schürte Styr das Feuer und sah zu, wie die Funken aufstoben. Der Met hatte sein Urteilsvermögen getrübt, und das gefiel ihm ganz und gar nicht.

Er war einsam.

Und er müsste lügen, wenn er behaupten wollte, dass er es nie in Betracht gezogen hatte, die Ehe zu beenden. Der Grund für die Kinderlosigkeit könnte genauso gut an ihm liegen; möglicherweise konnte er keine zeugen. Welches Recht hatte er da, Elena zu einer Ehe zu verdammen, die niemals Kinder hervorbringen konnte, wenn er doch wusste, wie verzweifelt sie sich welche wünschte?

Von solchen Zweifeln geplagt legte er sich auf seine Bettstatt und fragte sich, was wohl passieren mochte, wenn er sie erst einmal gefunden hatte.

Das Geräusch der Tür, die geöffnet wurde, weckte ihn. Angestrengt starrte Styr in die Dunkelheit, da das Torffeuer nur wenig Licht spendete.

Der Eindringling sagte kein Wort, sondern lief geduckt in Richtung des Proviantkorbs, den Caragh vorbereitet hatte. Styr beschlich ein starker Verdacht, wer der Dieb sein könnte. Er beobachtete, wie der Mann den Korb nahm und sich davonstahl.

Behutsam, um Caragh nicht zu wecken, griff Styr nach der Streitaxt und folgte dem Eindringling. Als er ihn einholte, sah er, dass es sich tatsächlich um Kelan handelte, wie er befürchtet hatte.

„Lass den Korb los“, befahl er.

Kelan wirbelte herum, und die Klinge in seiner Hand glänzte im Morgennebel. Er ließ den Korb fallen und kam auf Styr zu.

„Hast du so wenig Ehrgefühl, dass du einer Verhungernden das Essen stiehlst?“, wollte Styr wissen. „Obwohl sie alles, was sie hat, mit euch geteilt hat?“

„Mit dir hat sie es ebenso geteilt“, sagte der Mann anklagend. „Und du bist nicht mehr als ein Mörder. Das macht sie zur Verräterin am eigenen Volk.“ Mit dem Messer durchschnitt er den Nebel, während er langsam um Styr herumging.

Dieser duckte sich und schwang dann seine eigene Waffe. Hinter sich hörte er, wie die Tür aufschwang und Caragh nach ihm rief.

„Bitte, hört auf zu kämpfen“, flehte sie, als Kelan einen neuen Vorstoß machte.

„Er ist ein Dieb, Caragh“, rief Styr zurück. „Ich hätte ihn töten sollen, solange ich es noch konnte.“

Sie eilte zum Korb und nahm ihn an sich. Styr wehrte mit seiner Axt einen weiteren Hieb ab und versetzte seinem Gegner dann einen Faustschlag, der ihn am Kinn traf. In Kelans Augen sah er Verzweiflung und Feigheit.

Caragh kam näher. „Hört auf. Ich will nicht, dass einer von euch beiden verletzt wird.“

„Du teilst schon das Bett mit ihm, nicht wahr, Caragh? Treibst es mit dem Feind.“ Kelan spuckte auf den Boden.

Mit hochrotem Kopf taumelte Caragh zurück. „Keineswegs. Bis gestern Abend war er mein Gefangener.“

„Schätze, es hat ihm gefallen, von dir angekettet und benutzt zu werden“, höhnte Kelan. Als Caragh schockiert eine Hand auf den Mund legte, versetzte er ihr einen Schlag mit dem Handrücken, der sie zu Boden schickte. Dann griff er nach dem Korb mit dem Fisch und wollte davonlaufen. Aber Styr stürzte sich auf ihn. Ohne auf das Messer zu achten, warf er seinen Gegner zu Boden, fest entschlossen, Caragh zu beschützen.

Blinder Zorn raste in Styr. Kelan war nichts als ein ehrloser Dieb, der für seine Taten bestraft werden musste. Er hob die Axt und machte sich bereit, seinem Feind die Kehle aufzuschlitzen, als ihn plötzlich starke Arme packten und zurückzogen. Zwei Männer, ebenso stark wie er, zerrten ihn von Kelan herunter, und Styr versuchte vergeblich, sich zu befreien.

„Kelan wollte mir mein Essen stehlen“, erklärte Caragh den beiden. Sie hatte sich vor ihnen aufgebaut, und aus der Ähnlichkeit zwischen ihr und ihnen schloss Styr, um wen es sich handelte.

„Nimm deine Habseligkeiten und verlass die Ringburg“, richtete der Größere von den beiden sein Wort an Kelan. „Solltest du jemals wieder Fuß in Gall Tír setzen, ist dein Leben verwirkt.“

Der Angesprochene warf ihm einen mörderischen Blick zu, aber er machte sich auf den Weg zu seiner eigenen Hütte innerhalb der Ringburg. Sobald er außer Sicht war, entspannte Caragh erleichtert ihre Schultern.

„Lass den Lochlannach los, Ronan.“ An Styr vorbei legte sie dem Größeren eine Hand auf den Arm. „Terence, du auch. Er wollte mich nur verteidigen.“

Offenbar ihre Brüder. Und ihren finsteren Blicken nach zu urteilen überlegten sie immer noch, ob sie ihn töten sollten oder nicht. Hinter ihnen entdeckte er zwei Pferde, beladen mit großen Bündeln, die wahrscheinlich Nahrung und Vorräte enthielten.

Caragh trat an seine Seite. „Dies ist Styr Hardrata.“ Ihre Stimme klang gefasst, aber ihm entging nicht das warnende Funkeln in ihren Augen. Da er nicht genau wusste, was sie ihm damit sagen wollte, schwieg Styr.

„Und warum genau spielt meine Schwester Gastgeberin für einen Lochlannach?“, wollte Ronan wissen. „Wurdet ihr angegriffen?“

Darauf antwortete Styr nicht, sondern nickte Caragh zu, damit sie erzählte, was geschehen war.

„Brendan hat sie angegriffen, als sie vor ein paar Tagen hier ankamen“, sagte sie. „Er und seine Freunde hatten vor, ihnen die Vorräte zu stehlen.“

Styr ließ die beiden Brüder nicht aus den Augen, und der größere von ihnen erwiderte seinen Blick mit finsterer Miene. „Wo ist er jetzt?“

Caragh schüttelte den Kopf. „Ich weiß es nicht. Wir wollten ihn heute suchen gehen, mit Vaters Boot.“

Ronan stieß einen Fluch aus und musterte seine Schwester scharf. „Wir?“ Aus dem fragenden Blick erriet Styr genau, was der Mann denken musste.

„Ja.“ Trotzig hob Caragh das Kinn. „Zunächst war Styr mein Gefangener. Aber jetzt … ist er …“ Sie brach ab, als fehlten ihr die richtigen Worte. Unsicher suchte sie seinen Blick. Plötzlich legte sie ihm einen Arm um die Hüfte und lächelte ihre Brüder an, als sei die Geste Erklärung genug.

Bei der Berührung durchfuhr Styr ein ungutes Gefühl. Er wusste nicht, was sie vorhatte, aber die unerwartete Umarmung war viel zu vertraut. Offenbar wollte sie ihre Brüder glauben machen, dass da mehr als Freundschaft zwischen ihnen wäre, und das machte ihm Sorgen.

Schlimmer noch, er war sich ihrer warmen, weichen Haut, des süßen Dufts ihrer Haare nur allzu bewusst. Als könnte ihn das vor solchen Gefühlen bewahren, spannte er sich an. Trotzdem stieß er sie nicht von sich, da er immer noch nicht verstanden hatte, was sie beabsichtigte.

„Was ist er jetzt?“, hakte Terence nach und beäugte seine Schwester misstrauisch. Eine Hand hatte er auf das Heft seines Schwerts gelegt. Sein Tonfall war ruhig, doch seine grauen Augen funkelten. „Welchen Grund hätte ich, das Leben eines Lochlannach zu verschonen?“

Caragh atmete tief ein und schien sich ihre Worte sorgfältig zurechtzulegen. Sie sah Styr nicht an, ließ ihn aber auch nicht los. „Inzwischen bedeutet er mir sehr viel mehr.“ Ihr Griff um seine Hüfte wurde fester, als ob sie ihn stumm darum bitten wollte, nichts zu sagen. „Tu ihm nichts, Terence. Du hast doch selbst gesehen, wie er mich verteidigt hat.“ Sie legte Styr eine Hand aufs Herz, und ihre Finger streiften kurz die nackte Haut unter seinem Hals.

Mehr brauchte sein Körper nicht, um auf sie zu reagieren. Sein Herz schlug schneller, und innerlich verachtete er sich für diese Reaktion. Sanft schob er ihre Hand zur Seite. „Du brauchst mich nicht zu schützen, Caragh.“

In Ronans Blick blitzte kurz so etwas wie Anerkennung auf. Styr vermutete aus der Art, wie er einige Schritte von ihnen entfernt stand und sie abschätzend betrachtete, dass er der Anführer des Stammes war. Er war größer als sein Bruder, seine Haare so dunkel wie die seiner Schwester. Sein Kinn war glatt rasiert, und er wirkte sehr dünn, als ob auch er unter der Hungersnot gelitten hatte. Ronan wirkte wie ein Beschützer, der nicht dulden würde, dass irgendjemand schlecht über Caragh sprach.

„Warum bist du hergekommen?“, verlangte Terence zu wissen. Er war kleiner als sein Bruder und ebenfalls schlank, aber immer noch sehr muskulös. In seiner Stimme lag ein aggressiver Unterton, als wolle er einen Streit provozieren.

„Wir wollten Handel betreiben und uns hier niederlassen, bevor euer Bruder uns angegriffen hat.“

Terence grinste. „Und dann habt ihr euch von ein paar Heranwachsenden überwältigen lassen. Das hätte ich gerne gesehen.“

Styrs Hand schoss vor und griff den Mann an der Kehle. Er drückte gerade fest genug zu, um seine Worte zu unterstreichen. „Auf dem Meer sind wir in ein Unwetter geraten, und meine Männer hatten seit Tagen nicht geschlafen. Sie kämpften nicht mit ganzer Kraft.“

„Lass ihn los, Lochlannach.“ Ronan hielt ihm die Spitze seines Schwertes an die Kehle. „Wir brauchen noch ein paar Antworten.“

Styr entließ Terence aus seinem Griff, aber er starrte ihn weiterhin bedrohlich an. Terence machte einige Schritte zurück und rieb sich den Hals.

„Ihr sagtet, ihr wollt Brendan suchen“, fuhr Ronan fort. „Habt ihr eine Idee, wo er ist?“

„Caragh glaubt, er könnte Richtung Áth Cliath gesegelt sein.“ Elenas Gefangennahme erwähnte Styr nicht, da er immer noch nicht sicher war, worauf Caragh hinauswollte. Allerdings bezweifelte er, dass ihre Brüder ihrer Behauptung, sie seien mehr als Freunde, Glauben schenkten, denn sie schauten ihn nach wie vor misstrauisch an. Doch trotz der Tatsache, dass er Terence gerade beinahe erdrosselt hätte, lag in ihrem Blick auch so etwas wie verhaltener Respekt. Sie waren Krieger, wie er. Sie wussten, dass er sich verteidigen konnte.

„Stimmt das?“, fragte Ronan seine Schwester. „Wie lange ist Brendan schon weg?“

„Ja, es stimmt“, antwortete sie. „Er ist vor einigen Tagen mit dem Schiff der Wikinger davongesegelt. Heute wollten wir unsere Suche beginnen.“

„Und wer wollte noch mit euch kommen?“, fragte Terence. „Du hattest doch nicht etwa vor, alleine mit dem Lochlannach fortzugehen?“

Ärgerlich reckte Caragh die Schultern. „Was hatte ich denn für eine Wahl? Du und Ronan habt mich hier alleine gelassen. Ich wusste nicht, wann – oder ob – ihr zurückkehren würdet!“

„Brendan sollte dich beschützen“, wandte Terence ein.

„Und ihr seht ja, wie gut er das gemacht hat!“, gab sie zurück. „Hat mit seinen Freunden zusammen ein Schiff gestohlen und sich aus dem Staub gemacht.“

Ronan trat vor, einen ernsten Ausdruck im Gesicht. „Wir hatten nie vor, länger als sieben Nächte fortzubleiben. Es tut mir leid, dass Brendan seine Pflicht dir gegenüber vernachlässigt hat.“ Dann wandte er sich an Styr. „Wie viele Männer wurden bei dem Angriff getötet?“

„Zwei von unseren.“ Styr verschränkte die Arme vor der Brust. „Wenn euer Bruder so töricht war, nur so wenige Männer mitzunehmen, würde es mich nicht wundern, wenn meine Krieger sich ihm nur zum Schein fügten und das Schiff inzwischen längst wieder unter ihre Kontrolle gebracht haben. Sie waren in der Überzahl.“

Caragh erblasste. „Glaubst du, dass Brendan noch lebt?“ Ihre Stimme klang erstickt, als ob sie eine schlechte Nachricht gar nicht erst hören wollte. Styr schwieg. Wenn er einer der gefangenen Männer gewesen wäre, hätte er nicht gezögert, Vergeltung an denen zu üben, die Elena bedroht hatten. Es war durchaus möglich, dass seine Krieger Caraghs Bruder getötet hatten.

„Das wissen wir, wenn wir das Schiff finden“, war alles, was er sagen konnte.

„Wir begleiten dich.“ Ronan trat vor, eine Hand auf seinem Dolch. „Das Getreide und die anderen Vorräte, die wir mitgebracht haben, können wir bei der Reise gut gebrauchen. Später werden noch einige Schafe und Rinder geliefert.“ Er bedachte seine Schwester mit einem vielsagenden Blick. „Caragh, du bleibst hier.“

„Auf keinen Fall.“ Das Gesicht gerötet stellte sie sich vor ihn hin. „Das letzte Mal, als ihr losgezogen seid, wäre ich beinahe verhungert. Wenn Styr nicht gewesen wäre, mir wäre längst die Nahrung ausgegangen.“ Sie stieß ihrem Bruder den Finger in die Brust. „Ich bin es satt, zurückzubleiben, und ich werde es nicht tun. Ihm traue ich zu, Essen zu finden, mehr als euch beiden. Er hat mir geholfen, Krabben und Fische zu fangen, und …“

„Ich dachte, er war dein Gefangener?“, fuhr Terence dazwischen.

„War er auch. Es hat fast eine Stunde gedauert, ihn anzuketten. Seon hat mir geholfen, aber sie haben ihn getöt…“ Sie brach ab und atmete mehrmals tief durch, um ihre Gefühle wieder in den Griff zu bekommen.

Die Erwähnung des alten Mannes schien Terence zu ernüchtern, und Caragh fasste sich wieder. „Genug jetzt. Was jetzt zählt ist, dass wir Brendan finden.“

„Da wäre noch die unbedeutende Tatsache, dass du mehrere Nächte alleine mit diesem Mann verbracht hast“, wandte Ronan ein.

Caragh lief blutrot an, und Styr spannte sich an. Er erwartete, dass sie jetzt zugab, dass er verheiratet und zwischen ihnen beiden nichts geschehen war. Stattdessen hob sie eine Hand und streichelte seine Wange. „Tu ihm nichts, Ronan. Er ist ein guter Mann. Einer, der mich verteidigt hat, mich mit Nahrung versorgt, und … und ich empfinde viel für ihn.“

Styr erstarrte, als Caragh vor ihn trat und sich auf die Zehenspitzen stellte. Bevor er etwas sagen konnte, hatte sie sein Gesicht zu sich herabgezogen und küsste ihn sanft. Was tat sie da? Sie konnte doch nicht …

Er konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen, als sie den Kuss vertiefte, mutiger wurde. Ihm war bewusst, dass es nur gespielt war, dass sie ihre Brüder in Sicherheit wiegen wollte, ihnen klarmachen wollte, dass er ihr nichts tun würde. Dies war nur eine Finte, weiter nichts.

So unschuldig legte sie ihre weichen Lippen an seine, es war offensichtlich, dass sie wenig über die Dinge wusste, die Männer und Frauen miteinander taten. Die Stimme der Vernunft riet ihm, sich von ihr zu lösen. Aber der zarte Kuss rührte an sein versteinertes Herz, hauchte ihm Leben ein.

Er wusste nicht, wann ihm das letzte Mal ein Kuss derart nahe gegangen war. Sein Verstand kämpfte gegen seinen Körper, sein Ehrgefühl gegen die sanften Lippen dieser Frau.

Caragh versuchte ihre Brüder zu täuschen. Er begriff, dass dieser Kuss nur dazu gedacht war, ihm das Leben zu retten. Diese Art von Schutz brauchte er nicht.

Als sie ihn weiter küsste, fühlte er Zorn in sich aufsteigen, dass sie ihn auf diese Art zu benutzen wagte. Dachte sie ernsthaft, er würde Elena verraten für eine Frau, die er kaum kannte?

Sie wollte, dass er den Kuss erwiderte, ihren Schwindel unterstützte. Aber wenn er sie küsste, dann, weil er es wollte, und nicht, weil sie ihn dazu nötigte.

Caragh würde nicht zulassen, dass ihre Brüder den Lochlannach erschlugen. Der Kuss war eine Verzweiflungstat, mit der sie die beiden davon überzeugen wollte, dass Styr und sie einander lieben gelernt hätten.

Doch Styr stand da wie erstarrt und machte keine Anstalten, den Kuss zu erwidern. Ihre Brüder würden die List durchschauen und erkennen, dass sie es sich nur ausgedacht hatte. Dann würde sein Blut an ihren Händen kleben, und er wäre nicht mehr in der Lage, Elena zu retten.

Es hat nichts zu bedeuten, flehte sie ihn stumm an. Küss mich zurück, hilf mir, sie zu täuschen.

Sie öffnete den Mund und fragte sich, ob er je mitspielen würde. Da packte er sie ohne Vorwarnung, zog sie an sich, eroberte ihren Mund mit seinem. Hitze durchströmte sie, als seine Zunge zwischen ihre Lippen glitt. Das gewaltige Verlangen, das sie durchfuhr, raubte ihr schier den Atem.

Es war düster und bedrohlich. Dieser Mann weigerte sich, sich von einer Frau ihren Willen aufzwingen zu lassen. Ihr blieb keine andere Wahl, als sich zu ergeben. Seine Lippen waren unnachgiebig, seine Zunge drang in ihren Mund mit einer unerklärlichen Macht, sodass ihre Beine nachgaben.

In diesem Moment vergaß sie, dass ihre Brüder zusahen. Sie vergaß Anstand und Ehre, so gefangen war sie in diesem verbotenen Kuss.

Hilflos klammerte sie sich an Styr, da sie sich nicht mehr auf den Beinen halten konnte. Der Kuss war so sinnlich, als hätten sie sich in dieser Nacht tatsächlich geliebt. Als er sich schließlich von ihr löste, lag Zorn in seinem Blick.

Seine Lippen waren geschwollen, und Caragh wusste nicht, was sie sagen wollte. Stumm bat sie ihn um Verzeihung, doch ihr Blick war auf ihre Brüder gerichtet.

„Wir brechen jetzt auf“, sagte Styr. „Wenn ihr eure Vorräte abladen und uns dann begleiten wollt, um euren jüngeren Bruder zu suchen, bereite ich solange das Boot vor.“

Caragh spürte, wie ihr Herz raste, und atmete schwer, während er sich in Richtung Küste aufmachte. Gewiss war er außer sich, weil sie ihn geküsst und in eine solche Situation gebracht hatte.

Sie hätte es nicht tun sollen. Alles, was sie gewollt hatte, war, ihre Brüder zu täuschen, ihnen einen Grund zu geben, Styr in Ruhe zu lassen. Stattdessen hatte sie den Lochlannach gegen seinen Willen dazu gebracht, seine Frau zu hintergehen. Vermutlich verachtete er sie dafür. Verzweifelt sehnte sie sich danach, dass er ihr verzieh.

„Ihr könnt mit uns kommen, wenn ihr möchtet“, rief sie ihren Brüdern noch zu, dann lief sie Styr nach. Nur einmal blieb sie stehen, um den Korb mit Fisch und einen Wasserschlauch zu holen, dann eilte sie hinunter zum Strand.

„Sie lügt“, erklärte Terence. „Wenn sich unsere Schwester in einen Lochlannach verliebt hat, dann fresse ich einen Besen.“

Ronan beobachtete seine Schwester, wie sie dem Wikinger hinterhereilte. Sie wollte ihn schützen, aber aus welchem Grund, konnte er nicht sagen. Inzwischen war es fast ein Jahr her, dass sie das letzte Mal Interesse an einem Mann gezeigt hatte. Kelan hatte ihr das Herz gebrochen, und seitdem hatte sie jeden abgewiesen, der versucht hätte, dessen Platz einzunehmen.

Bis heute. Ob zwischen den beiden nun etwas passiert war oder nicht, der Kuss hatte sicherlich eine Wirkung auf Caragh gehabt.

„Ich möchte sie zusammen sehen“, sagte Ronan nachdenklich. „Höchste Zeit, dass sie heiratet. Die Sache mit Kelan ist lange genug her.“

„Aber einen Lochlannach?“ Misstrauisch sah Terence zu seinem Bruder hinüber. „Man kann ihnen nicht trauen. Hast du vergessen, dass er mich gerade fast getötet hätte?“

„Wäre das seine Absicht gewesen, dann wärst du jetzt tot“, stellte Ronan fest. „Du hättest ihn nicht reizen dürfen.“ Wäre er an der Stelle des Wikingers gewesen, hätte er genauso reagiert. „Als Kelan versucht hat, Caragh zu bestehlen, ist er für sie eingestanden. Ich habe selbst gesehen, wie er ihm nachgelaufen ist.“

„Aber willst du unsere einzige Schwester einem Mann überlassen, der sein Temperament nicht zügeln kann?“

„Oh, das hat er“, sagte Ronan. „So wie er es gezügelt hat, als er dich bedroht hat.“ Als sein Bruder das Gesicht verzog, fuhr er fort: „Ich will, dass sie einen Mann findet, der sie verteidigen kann. Und ich habe keinen Zweifel daran, dass dieser Lochlannach sie vor allem Schaden bewahren würde.“ Er drückte Terence die Zügel in die Hand. „Hol Reiseproviant und bring die Tiere zu Iona. Wir werden unsere Schwester nach Áth Cliath begleiten, wie sie es vorgeschlagen hat.“

Wieder sah er zu Caragh und Styr hinüber, die neben dem Boot standen. Viel zu lange war seine Schwester schon unglücklich. Auch er glaubte nicht, dass tatsächlich etwas zwischen den beiden war, doch sie hatte ihm beigestanden. Aus irgendeinem Grund lag ihr das Wohlergehen dieses Mannes am Herzen.

Terence kam zurück und begleitete ihn zur Küste. „Glaubst du, er könnte ihr etwas antun?“

Ronan schüttelte den Kopf. „Das kann ich erst beurteilen, wenn ich einige Zeit mit den beiden verbracht habe. Aber wenn man ihm nicht trauen kann, werden wir ihn in Áth Cliath zurücklassen.“

Sein Bruder warf ihm einen Seitenblick zu. „Du willst sie verkuppeln, was?“

Ronan hielt inne und bedeutete auch Terence, stehenzubleiben, während er Caragh und den Lochlannach aufmerksam betrachtete. „Nur, wenn er sich würdig erweist.“

„Und wenn nicht, könnte ihm ein ‚Missgeschick‘ zustoßen“, schlug Terence vor.

Nachdenklich kratzte sich Ronan am Kinn, während er die beiden anschaute. Ob seine Schwester es merkte oder nicht, der Wikinger schien kaum den Blick von ihr abwenden zu können. Eindeutig hatte er Gefühle für sie, aber ob es sich dabei um Begierde handelte oder ob da mehr war, vermochte Ronan nicht zu sagen.

„Binnen eines Tages werden wir es wissen“, sagte er. „Geben wir ihnen noch einen Augenblick, bevor wir uns zu ihnen gesellen.“

Während Ronan sie weiter aus der Ferne beobachtete, bemerkte er, auf welche Weise seine Schwester Styr ansah. Es war nun schon ein Jahr her, dass sie sich am Tag ihrer geplanten Hochzeit die Augen ausgeweint hatte. An dem Tag, den Kelan ruiniert hatte, indem er sie einer anderen zuliebe im Stich ließ. Seitdem hatte er zusehen müssen, wie seine Schwester sich immer mehr in sich zurückzog, ihre ganze Zeit nur mit den älteren Mitgliedern des Stammes verbrachte. Sie hatte sich darauf gestürzt, ihnen beizustehen, als wollte sie ihrem eigenen Leben auf diese Weise entkommen.

Und als ihre Eltern gestorben waren, hatte sie sich selbst keine Trauer zugestanden. Stattdessen hatte sie sofort die Verantwortung für Brendan übernommen.

Caragh brauchte ein eigenes Leben, einen Mann, der ihr ein Heim baute und Kinder schenkte. Wenn der Lochlannach ihm die geliebte Schwester wiederbringen konnte, dann sollte es so sein.

Aber wenn er es wagen sollte, ihr das Herz zu brechen, würde Ronan nicht zögern, ihn in Stücke zu reißen.

6. KAPITEL

Versuch so etwas nie wieder.“ Styr musste sich alle Mühe geben, seine Wut im Zaum zu halten. Auch wenn es nur ein Kuss gewesen war, um ihre Brüder in Sicherheit zu wiegen, erzürnte ihn diese unehrenhafte Tat maßlos. Wie konnte sie es wagen, sich ihm so an den Hals zu werfen und vorzuspielen, dass sie seine Geliebte wäre?

Sein Tonfall ließ Caragh erbleichen, und sie sah ihn entschuldigend an. „Ich kenne meine Brüder. Sie hätten aus Kelans Worten vielleicht die falschen Schlüsse gezogen, und ich hatte Angst, dass sie dir etwas antun.“

„Ich kann mich wehren.“ Er richtete sich zu seiner vollen Größe auf und sah zu ihr hinunter. „Und ich habe keinen Grund, mich vor ihnen zu rechtfertigen. Du hast mich gefangen genommen. Alles, was ich wollte, war, meine Ehefrau zurückzuholen.“

Als er Elena erwähnte, verzog sie das Gesicht. Gut. Sie sollte nicht vergessen, dass er kein Mann war, den sie benutzen konnte, wie es ihr passte.

Du hättest ihren Kuss nicht erwidern müssen, erinnerte ihn sein Gewissen. Du hättest sie abweisen können.

Das war er, der kleine Splitter aus Schuld, der ihn so in Rage brachte. Wenn er sich nicht auf diese Täuschung eingelassen hätte, hätte er nie erfahren, wie es war, von Caragh geküsst zu werden. Er hatte sich von seinen Gefühlen leiten lassen, nur um dann von einer körperlichen Reaktion überwältigt zu werden, die er nie erwartet hätte. Doch er allein trug die Verantwortung dafür.

Am liebsten würde er seinen Kopf in das kalte Meerwasser halten und die verwirrenden Gedanken einfach wegspülen. Er war ein treuer Mann. In den fünf Jahren, die er mit Elena schon verheiratet war, hatte er andere Frauen nie auch nur angesehen. Seine Frau würde er niemals aufgeben, egal, wie sehr der Kuss einer anderen ihn berührte.

„Es tut mir leid“, murmelte sie, „aber meine Brüder sind streng. Doch sie werden dir nichts tun, wenn sie glauben, dass wir einander etwas bedeuten. Dass du ein Mann von Ehre bist.“

„Ich bin ein Mann von Ehre“, gab er zurück. Nur fühlte er sich gerade überhaupt nicht so. Er wandte ihr den Rücken zu und watete ins eiskalte Meer, genoss den Wind, der durch sein Kettenhemd blies, das Wasser, das seine Hose an seinen Beinen kleben ließ.

Caraghs Kuss jedoch ließ ihn nicht los, die Art, wie ihre weichen Lippen sich an seine geschmiegt hatten, der Geschmack von süßem Honig. Sie hatte sich in dem Kuss verloren, sich an ihn geklammert, als er auf sie eingegangen war.

Auch wenn Elena sich gegen seine Umarmungen nicht gewehrt hatte, war sie ihm immer unsicher erschienen – beinahe unwillig, ihn zu küssen. So sehr hatte er sich bemüht, zärtlich zu sein, dass er es selbst nie hatte genießen können vor Angst, ihr wehzutun.

Diese Frau hingegen hatte sich ihm bereitwillig geöffnet, seine Zunge mit ihrer liebkost. Wie wunderbar sich ihre Brüste an ihn gepresst hatten, als sie ihm die Arme um den Hals gelegt hatte.

Ohne Zweifel lag es nur an der langen Enthaltsamkeit. Er hatte Elena eine Weile nicht berührt, während sie sich auf die Reise vorbereitet hatten. Und auf dem Schiff hatte er sie ebenfalls in Ruhe gelassen, da sie an furchtbarer Seekrankheit gelitten hatte. Wieder und wieder rief er sich ihr Bild ins Gedächtnis, die Traurigkeit in ihren Augen. Und er verfluchte sich selbst dafür, dass er es gewagt hatte, eine andere zu küssen.

Um sich abzulenken, beschäftigte Styr sich damit, das Schiff vorzubereiten. Keinen Gedanken würde er mehr darauf verschwenden, wie gut es sich angefühlt hatte, in Caraghs Armen zu sein. In Zukunft würde er sich von ihr fernhalten und diese dunklen Gelüste unterdrücken, die sie in ihm weckte.

Als sie an Bord stieg, war ihr Rock vollkommen durchnässt. Er hätte ihr wieder anbieten sollen, sie zu tragen, aber er hatte nicht gewagt, sie zu berühren. Seine Selbstbeherrschung hing an einem seidenen Faden.

Sie stellte den Korb am anderen Ende des Boots ab und setzte sich daneben. Als ihre Brüder ins Boot kamen, hieß es, dass Terence ein guter Segler sei. Deshalb übernahm dieser das Steuer, und Styr setzte sich an ein Ruder, als sie Richtung Osten aufbrachen. Er ließ sich von der schweren körperlichen Arbeit ganz einnehmen.

Hinter ihm saß Ronan und ruderte im gleichen Takt. „Ich glaube nicht, dass ihr einander liebt“, sagte er so leise, dass niemand sonst es hören konnte.

„Du hast recht“, gab Styr ebenso leise zu. Was für eine Erleichterung es war, diesem Mann die Wahrheit gestehen zu können! Er sah sich schnell um, bevor er hinzufügte: „Caragh hat mich mit dem Kuss vollkommen überrumpelt.“

„Unsere Schwester hat ein weiches Herz, und sie hat befürchtet, dass wir dich töten würden, weil sie mit dir allein in der Hütte war.“ Ronan zog kräftig an den Rudern. „Wir denken noch darüber nach.“

Darauf gab es keine passende Antwort, also schwieg Styr.

„Die Sache ist ganz einfach, Lochlannach“, fuhr Ronan fort. „Tu unserer Schwester weh, und wir tun dir weh.“

„Nichts anderes würde ich von euch erwarten.“ Er respektierte Ronans Einstellung, seine Entschlossenheit, seine Schwester vor Schaden zu bewahren. „Aber Caragh und ich sind kaum mehr als Fremde.“

„Und doch hat sie dich dazu gebracht, ihr bei der Suche nach unserem hohlköpfigen Bruder zu helfen, oder?“

„Meine Absicht ist es, meine Männer zu finden, die zuletzt bei eurem Bruder gesehen wurden“, erklärte Styr. „Um seinetwillen hoffe ich, dass ihnen nichts geschehen ist.“ Sobald sie Áth Cliath erreichten, würde er sich von Caragh und ihren Brüdern trennen und Elena suchen. Die anderen drei würden ihren Bruder Brendan finden, und damit wäre die Sache erledigt.

„Brendan ist eben ein Dummkopf“, sagte Ronan. „Wenn du selbst Brüder hast, weißt du, was ich meine.“

„Ich habe vier Schwestern. Und einen älteren Bruder.“

Ronan hielt mit dem Rudern inne und starrte Styr an. Dann bekreuzigte er sich und rief laut: „Mein Gott, es ist ein Wunder, dass du nicht wahnsinnig geworden bist! Vier Schwestern?“ Er schaute zu Caragh hinüber, der seine Bemerkung nicht entgangen war, und schüttelte sich.

„Oh, und was ist so schlimm an Schwestern?“, wollte sie wissen.

„Es würde Jahre dauern, alles aufzuzählen“, gab Ronan zurück. „Sie weinen ohne Grund. Ein falsches Wort, und sie sind für den Rest ihres Lebens beleidigt.“

„Sie reden viel zu viel und verpetzen alles an deine Mutter“, fiel nun auch Terence ein. „Zum Beispiel, wenn du der Katze den Schwanz festbindest oder Frösche in den Garten bringst.“

Caragh bedachte ihn mit einem finsteren Blick, und Terence grinste. „Aber wir lieben dich, Schwesterherz.“ Er zwinkerte ihr zu.

„Vier.“ Ronan schüttelte den Kopf. „Da hätte ich mich gewiss ins Meer gestürzt.“

Ob Styr es wollte oder nicht, er hatte Spaß an den Scherzen dieser Männer. Sie strahlten eine Leichtigkeit aus, eine Kameraderie wie zwischen ihm und seinem Freund Ragnar. „Oft bin ich allein aufs Meer hinausgefahren, um von ihnen wegzukommen. Deshalb bin ich Fischer geworden.“

„Du siehst aber nicht wie einer aus“, sagte Terence. „Ich hätte dich für einen Stammesführer gehalten, groß und stark, wie du bist.“

Styr zuckte nur mit den Schultern. Er hatte das Handwerk der Fischer gelernt, aber nachdem sein Vater gestorben war, hatten viele ihn gedrängt, seinen Bruder zu stürzen und selbst jarl zu werden. Um Schwierigkeiten zu vermeiden, hatte er sich entschlossen, Hordafylke zu verlassen, und diejenigen, die ihn für den besseren Anführer hielten, waren mitgekommen.

„Setz dich zu unserer Schwester“, schlug Ronan vor. „Terence kann eine Weile rudern, bis Wind aufkommt.“

Styr hätte es vorgezogen zu bleiben, wo er war, aber er sah, wie Caragh sich im Heck des Schiffs zusammenkauerte. Den wollenen brat hatte sie ganz über sich gezogen, und ihre Zähne klapperten. Als er sich ihr gegenübersetzte, sagte sie leise: „Hoffentlich findest du Elena.“

„Ich werde nicht eher ruhen.“ Er zögerte kurz, dann fügte er hinzu: „Solltest du ihr begegnen …“

„Keine Sorge, ich werde nichts sagen.“ Sie versteifte sich, immer noch zitternd. Dann fügte sie flüsternd hinzu: „Was ich getan habe, war ein Fehler. Es kommt nicht wieder vor.“

Gewöhnlich dauerte die Reise nach Áth Cliath nicht mehr als einen Tag, aber der Wind wurde stärker und trieb dunkle Wolken über den Himmel. Mit verschränkten Fingern saß Caragh auf den Schiffsplanken. Obwohl ihre Kleidung inzwischen getrocknet war, konnte sie nicht aufhören zu zittern. Und keineswegs nur vor Kälte – der Gedanke an ihren ertrunkenen Vater steigerte ihre Angst ins Unermessliche.

Ein Unwetter braute sich zusammen, und sie schloss die Augen, um die Vorstellung eines nassen Todes zu verdrängen. Das Boot schaukelte auf den Wellen, und sie klammerte sich an die Bank und betete, dass sich das Meer rasch wieder beruhigte. Hinter ihr hielt Terence das Ruder fest.

„Sollen wir näher ans Ufer segeln?“ Er musste schreien, um sich über dem tosenden Wind Gehör zu verschaffen.

Styr antwortete etwas, aber sie konnte ihn nicht verstehen. Regen prasselte auf sie nieder, ein eiskalter Schauer, der sie zusammenfahren ließ.

Die Gischt schäumte über die Seiten des Boots und spritzte ihr ins Gesicht. Obwohl es noch lange nicht dunkel war, waren sie von dunklen Schwaden umgeben, die die Sicht aufs Ufer versperrten. Sie hörte, wie ihre Brüder Styr etwas zuriefen und am Segel zerrten. Als sie einen Blick auf ihn riskierte, sah sie, wie er die Muskeln anspannte und sich anstrengen musste, um auf den Beinen zu bleiben.

Um sich von ihrer Angst abzulenken, rief sie sich in Erinnerung, wie diese starken Arme sie umfasst hatten, seine Hände auf ihren Hüften. Und dann der unerwartet heiße Kuss …

Selbsthass und Schuldgefühle ergriffen sie. Er hatte sie nicht küssen wollen, und sie hatte sich ihm aufgedrängt. Dabei hatte sie nichts Böses im Sinn, sondern nur das Misstrauen ihrer Brüder zerstreuen wollen.

Stattdessen hatte sie eine neue, völlig unerwartete Erfahrung gemacht. Vielleicht lag es daran, dass es verboten war, einen Mann zu küssen, der bereits einer anderen gehörte. Irrtümlich hatte sie gedacht, dass es ihm nichts ausmachen würde.

Auf seinen Lippen hatte sie gemerkt, wie zornig er war. Fast brutal hatte er sie für den Kuss gestraft, ihren Mund in Besitz genommen. Aber irgendwann hatte sie eine Veränderung in ihm gespürt. Als sie sich seinem Kuss ergeben hatte, schien das die Bestie in seinem Inneren gezähmt zu haben. Und auch wenn ihr Herz weiter wild gepocht hatte, hatte sie doch gespürt, dass sie ihm nicht ganz gleichgültig war.

Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Was sie aber wusste war, dass es sinnlos war, weiter darüber n­achzudenken. Bald wäre er für immer fort, wieder mit seiner Ehefrau vereint.

War es nicht jedes Mal das Gleiche? Immer, wenn sie etwas für einen Mann empfand, liebte der eine andere.

Denk nicht mehr an ihn. Er gehört ihr und wird für immer ihr gehören.

Sie wünschte, dass eines Tages ein Mann sie so lieben könnte, wie sie war, und sie niemals betrügen würde. Nach einem letzten Blick auf Styr vergrub sie ihre Gefühle tief in sich. Es konnte einfach nicht sein.

Wieder schwappte die Gischt ins Boot, und Caragh fand sich in einer eisigen Pfütze wieder. Vorsichtig kniete sie sich auf und wollte sich gerade auf eine der Bänke setzen, da wurde das Boot von einer starken Welle getroffen, und sie verlor das Gleichgewicht.

Die Welt stürzte kopfüber, und Caragh stürzte mit. Sie schrie auf und versuchte sich an der Reling festzuklammern, aber sie fiel auf die Wellen, und ihr Mund füllte sich mit Meerwasser. Dunkelheit umgab sie, und die eisige Strömung zog ihren Kopf unter Wasser.

Sie fühlte Todesangst in sich aufsteigen und ruderte wild mit den Armen, versuchte verzweifelt, wieder an die Oberfläche zu gelangen. Ihr vollgesogenes Kleid zog sie nach unten, während sie sich auf das Boot zukämpfte.

Neben ihr platschte es laut, und Styr schwamm auf sie zu. Er hatte sein Kettenhemd abgelegt und kraulte mit nackter Brust durchs Wasser. Bald hatte er sie erreicht und ergriff sie an der Taille. „Kannst du schwimmen?“

„Ich … ich versuche es.“ Ihre Glieder fühlten sich von der Kälte schwer und taub an, und er hielt sie mit einem Arm umschlungen, während er sie zurück zum Boot zog. Als sie die Bootswand berührte, hob er sie hoch, und ihre Brüder zogen sie hinein. Einen Augenblick später folgte er ihr.

Ihre Zähne klapperten, und sie zitterte vor Schock. Das Boot wurde weiterhin von den Wellen hin- und hergeworfen, aber diesmal hielt Styr sie fest.

Von entfernt hörte sie, wie jemand davon sprach, wieder zur Küste zu segeln, aber sie war so ausgekühlt, dass sie an gar nichts anderes mehr denken konnte. Styr wickelte eine Decke um sie, dennoch hörte das Zittern nicht auf.

„Könntest du … mich für einen Augenblick festhalten?“, bat sie. Es lag nicht nur an der Kälte, sondern auch am Schrecken, ins Wasser einzutauchen, dem Meer hilflos ausgeliefert zu sein. Immer noch schmeckte sie das Salzwasser, und das Blut in ihren Adern war wie gefroren.

Starke Arme umschlangen sie, und sie lehnte ihre Wange an Styrs Brust. Auch er war kalt, doch je länger er sie hielt, desto wärmer wurde seine Haut. Sie war sich nur allzu bewusst, dass sie auf seinem Schoß saß, aber er machte keine Anstalten, sie loszulassen. Die Decke hatte er um sie beide gewickelt.

„Danke, dass du mich gerettet hast.“ Ihre Stimme klang heiser. Die Ereignisse des Tages hatten sie so erschöpft, dass sie kaum ihre Augen offen halten konnte.

Wie sie erwartet hatte, antwortete Styr nicht. Als sie die Augen schloss, konnte sie nicht umhin, sich zu fragen, warum er derjenige gewesen war, der ihr nachgesprungen war, und nicht einer ihrer Brüder. Ohne zu zögern musste er seine Rüstung abgelegt haben und ins Wasser gesprungen sein. Und auch jetzt, da ihr langsam wieder wärmer wurde, stieß er sie wider Erwarten nicht von sich.

Hör auf, ermahnte sie sich selbst. Es hat nichts zu bedeuten.

Doch an ihrer Wange spürte sie, wie schnell sein Herz klopfte. Und er hob eine Hand, um ihr eine nasse Haarsträhne aus dem Gesicht zu streichen. Fast, als wolle er sie streicheln.

Obwohl sie seine warme Umarmung nicht missen wollte, zwang sie sich zu sagen: „Ich schätze, du musst meinen Brüdern mit dem Boot helfen.“ Es war ein Angebot, sie loszulassen, sich zu befreien. Schon mit dem Kuss hatte sie ihn in eine unangenehme Situation gebracht, und das hier war kaum besser.

„Deine Brüder kommen zurecht“, antwortete er bestimmt, als hätte er keinesfalls die Absicht, sie loszulassen. Er wickelte die Decke fester um sie, und sie bekam noch mehr Gewissensbisse. Sie hatte ihn gebeten, sie zu halten, und er hatte es getan.

Voller Scham hob sie den Kopf, um Terence und Ronan anzusehen. Sie betrachteten sie mit undeutbarem Gesichtsausdruck. Ihre Brüder wussten nicht, dass Styr verheiratet war – und sie sollten es auch nicht erfahren.

Allmählich legte sich der Wind, und auch wenn es weiterhin regnete, hatte sie nicht länger den Eindruck, als wollten die Wellen sie alle in den Tod reißen. Sanft löste Caragh sich von Styr und versuchte ihren eigenen rasenden Puls zu beruhigen.

„Geht es dir gut?“, rief Terence ihr zu.

Sie nickte. „Nur noch ein wenig kalt.“

„Wir legen an und machen dir ein Feuer, um dich zu wärmen“, sagte Ronan. Dann warf er Styr einen dankbaren Blick zu. „Danke, dass du unsere Schwester gerettet hast.“

Der Lochlannach zog sie erneut an sich und sagte zu ihr: „Morgen früh wirst du dich besser fühlen.“

„Aber deine Suche, in Áth Cliath …“

„Kann ein paar Stunden warten“, erklärte er. „Du musst dich aufwärmen, nach dem, was gerade passiert ist.“

Darauf sagte sie nichts mehr, sondern legte ihm die Decke wieder um. Er ließ sie für einen Augenblick dort ruhen, dann wickelte er sie wieder um Caragh und stand auf, um sein Hemd anzuziehen. Ihre Brüder wechselten ein paar Worte mit ihm, doch sie konnte sie nicht verstehen, und Styrs unbewegte Miene verriet nichts.

„In weniger als einer Stunde sind wir an der Küste“, wandte er sich dann an sie.

„Was haben meine Brüder zu dir gesagt?“, wollte sie wissen.

Doch er schwieg nur.

Es musste fast Mitternacht sein, schätzte Styr, als sie endlich das Boot angebunden und an der Küste ein Lager errichtet hatten. Ronan und Terence hatten ein Feuer entfacht für Caragh. Das half zwar, aber sie war immer noch völlig durchnässt. Da ihr wieder und wieder die Augen zufielen, hatte er zusammen mit ihren Brüdern ein Zelt für sie aufgebaut, in das sie sich zurückgezogen hatte.

Er brachte ihr noch eine trockene Decke. „Bald ist dir wieder schön warm.“

„Styr“, flüsterte sie und legte ihm eine Hand auf die Schulter. Obwohl sie ihn damit vermutlich nur daran hindern wollte, das Zelt zu verlassen, fasste er ihre zarte Hand mit der seinen.

„Schlaf jetzt“, sagte er beruhigend.

„Es tut mir leid“, murmelte sie.

„Es war nicht deine Schuld, dass du über Bord gespült wurdest.“ So leicht war sie vom langen Fasten, dass es kein Wunder war, wenn sie sich nicht auf den Beinen halten konnte.

„Das meinte ich nicht“, sagte sie leise. „Ich hätte dich nicht küssen dürfen. Du hast dich mir gegenüber stets ehrenhaft verhalten, und ich hatte kein Recht dazu.“

Wortlos schaute er sie an. Nein, das hatte sie wirklich nicht. Und auch wenn er verstand, dass sie die Spannungen zwischen ihnen lösen wollte, hatten ihre Brüder die Situation nur noch schwieriger gemacht.

Sie hatten ihm dafür gedankt, dass er ihr das Leben gerettet hatte – und dann hatten sie ihn gefragt, ob er sich nicht vorstellen konnte, Caragh zur Frau zu nehmen.

„Du hast sie gerettet“, hatte Ronan gesagt, „und sie braucht einen starken Beschützer.“

Es hatte ihm schon auf der Zunge gelegen, Nein zu rufen und ihnen von seiner Ehefrau zu erzählen. Aber er hatte verstanden, dass sie von einem Bündnis sprachen, das die Nordmänner und die Iren zusammenführen sollte. Sie respektierten seine Kenntnisse im Segeln und Fischen, und die beiden Männer machten sich Sorgen darum, dass Caragh alleine war.

„Der einzige Grund, warum wir dich mitnehmen, Lochlannach, ist ihretwegen“, hatte Terence zugegeben. „Ich hätte dich lieber zurückgelassen.“

Deshalb hatte er über Elena geschwiegen. Er brauchte dieses Boot, um nach Osten zu segeln und Brendan zu folgen. Sobald Caraghs Brüder jedoch die Wahrheit erfuhren, würden sie ihn nicht mehr länger dulden. Welche Lügen auch notwendig waren, er würde sie aussprechen, um zu seiner Ehefrau zu gelangen.

Schließlich war er einer direkten Antwort ausgewichen, indem er Terence und Ronan erklärt hatte, dass er erst einmal mit Caragh sprechen musste.

Jetzt sah sie ihn schuldbewusst an. „Seit … seit du Fuß auf Éireann gesetzt hast, habe ich dich schlecht behandelt. Dabei hast du mir zweimal das Leben gerettet.“ Sie umfasste seine Hand fester. „Einmal, indem du mir geholfen hast, etwas zu essen zu finden, und noch einmal, als du mich vor dem Ertrinken bewahrt hast.“ Tief atmete sie ein, als müsste sie ihren Mut zusammennehmen. Vertrauen keimte in ihren blauen Augen auf, als sie ihm gestand: „Wenn du nicht bereits verheiratet wärst …“

„Nicht“, unterbrach er barsch und ließ ihre Hand los. „Sag es nicht.“ Er würde nicht zulassen, dass sie derart unangebrachte Gedanken aussprach.

Caragh zog unter ihrem tropfnassen Kleid die Beine an und senkte den Kopf. „Ich wollte lediglich sagen, dass ich wünschte, wir könnten Freunde sein.“

Styr antwortete nicht und ließ sich seine Gedanken nicht anmerken. Sich mit einer Frau wie Caragh anzufreunden, war gefährlich.

„Du siehst aus, als wäre das für dich undenkbar“, sagte sie.

„Das ist es auch. Männer und Frauen können keine Freunde sein.“

So bestürzt sah sie ihn an, als hätte er sie geschlagen. „Warum nicht?“

War sie wirklich derart unbedarft? Er sah sie fest an und versuchte sie kraft seiner Gedanken dazu zu bewegen, die unausgesprochene Wahrheit zu begreifen.

Caragh zog sich die Decke über ihre zitternden Schultern und wartete weiterhin auf seine Antwort. Ihr feuchtes Haar wirkte noch dunkler, fast schwarz auf ihrer blassen Haut. Auch ihr Gesicht war noch feucht, und ihr Mund zog seinen Blick an.

„Ich denke, du weißt genau, warum wir niemals Freunde sein können.“ Er kümmerte sich nicht darum, wie abweisend das klang. Ohne ein weiteres Wort verließ er das Zelt und ließ den Vorhang hinter sich zufallen.

Immer wieder sah Caragh Styrs wütendes Gesicht vor sich. Seit sie ihn geküsst hatte, schien er alles, was sie tat, falsch zu verstehen – als ob sie ihn bedrohen würde.

Sie hatte keinesfalls die Absicht, ihn seiner Frau auszuspannen. Nichts läge ihr ferner. Oh, er war sehr gut aussehend, aber viel zu gefühllos für ihren Geschmack. Zu fordernd.

Jede Minute, die sie in seiner Gegenwart verbrachte, ließ er ihr Herz schneller schlagen und brachte sie ganz durcheinander. Die Erinnerung an seinen ungezügelten Kuss stürzte auf sie ein und ließ sie erschauern. Ja, jetzt verstand sie, was er meinte. Sie könnten niemals Freunde sein, da sie stets seine Abneigung spüren konnte. Es verletzte sie, denn sie hatte niemals andeuten wollen, dass sie ihn begehrte.

Je mehr sie daran dachte, desto wütender wurde sie.

Sie streifte sich das nasse Kleid ab und sogar das ebenso durchnässte Unterkleid, bis sie nackt im Zelt saß. Sorgfältig breitete sie die Gewänder aus und hoffte, dass sie in den nächsten Stunden trocknen würden. Dann rollte sie sich unter der Decke zusammen und zog sie bis zum Kinn hoch.

Mit jeder Minute, die verstrich, fiel es ihr schwerer, einzuschlafen. Noch nie war sie in einer solchen Lage gewesen. Als wäre sie eine gefallene Frau, die versuchte, sich einen Mann zu angeln! Styr hatte ihr das Leben gerettet, das war alles. Und sie hatte ihn nur geküsst, um ihm das seine zu retten. Wenn sie nur ein Wort gesagt hätte, hätten ihre Brüder ihn auf der Stelle niedergestreckt. Konnte er das nicht begreifen?

„Caragh?“, hörte sie eine männliche Stimme. Styr.

Sie biss sich auf die Unterlippe und hielt die Decke fest. „Was ist denn?“

„Deine Brüder wollen, dass du etwas isst.“ Ohne ihre Antwort abzuwarten, trat er ins Zelt und legte ein Bündel vor ihr ab. Für einen Moment runzelte er die Stirn, als er ihre ausgebreiteten Kleider sah.

„Warum schicken sie dich, statt selbst zu kommen?“, fragte sie leise. Er zuckte nur mit den Schultern, aber sie wusste die Antwort bereits. Ihre Brüder, die sich wie immer einmischen mussten, hatten angefangen, ihrer erfundenen Geschichte Glauben zu schenken.

Schnell öffnete sie den Mund, bevor Styr wieder verschwinden konnte. „Oh nein, du gehst nicht. Erst hörst du dir an, was ich zu sagen habe.“

Er hob eine Augenbraue. Sie fasste die Decke fester und setzte sich auf. „Ob wir nun Freunde sind oder nicht, du solltest wissen, dass ich dich nicht geküsst habe, weil ich etwas von dir will. Du hast mir das Leben gerettet, und mit meiner kleinen Täuschung wollte ich dir diesen Gefallen erwidern. Meine Brüder sollten dich nicht umbringen. Das ist alles.“

„Das wäre ihnen auch nicht gelungen“, antwortete er.

„Doch, das wäre es. Und auch wenn ich dir dankbar bin, dass du mich vor dem Ertrinken gerettet hast, ärgert es mich doch, dass du mich für ehrlos hältst.“ Ihr Puls schlug immer schneller, während sie weitersprach und ihm alle Gründe aufzählte, warum sie keinesfalls an ihm interessiert war.

Als sie beim fünften Punkt angekommen war, bemerkte sie, dass er ihr überhaupt nicht zuhörte. Stattdessen fixierte sein Blick einen Punkt an der hinteren Zeltwand, als geschehe dort etwas unheimlich Faszinierendes.

Er hätte genauso gut einfach gehen können. Stattdessen stand er einfach nur schweigend da.

„Nun? Hast du nichts darauf zu sagen?“, hakte sie nach.

„Ich habe noch nie eine Frau getroffen, die so viel redet wie du.“ Sein gleichgültiger Tonfall ärgerte sie erst recht.

„Provoziere mich nicht.“ Sie wusste, dass sie viel redete, obwohl sie es gar nicht vorgehabt hatte. Sie hatte lediglich den Wunsch verspürt, den Raum zwischen ihnen zu füllen und das unangenehme Gefühl zu vertreiben, das sie in seiner Gegenwart empfand.

Styr schob ihr das Bündel mit Essen zu. „Iss den Fisch. Dazu gibt es Brot, das deine Brüder mitgebracht haben.“

„Brot?“ Die Freude, die sie bei dem Gedanken befiel, wieder Brot zu schmecken, konnte sie kaum verbergen. Es wäre ihr sogar gleich gewesen, wenn es grün vor Schimmel oder hart wie Stein gewesen wäre.

Als sie hineinbiss, musste sie einen wohligen Seufzer unterdrücken. Fast verschlang sie das Brot, nur ein Bissen war noch übrig, da fiel ihr plötzlich ein, dass Styr vielleicht auch noch hungrig sein könnte.

„Hast du schon etwas gegessen?“ Sie hielt ihm das letzte Stück hin.

Er nickte und setzte sich ihr gegenüber. Während er ihr beim Essen zusah, herrschte unangenehmes Schweigen zwischen ihnen. Schließlich fragte sie: „Erzählst du mir von deiner Ehefrau?“

„Warum?“ Sein Ton war mürrisch, als wollte er so wenig wie möglich über Elena sprechen.

Weil ich glaube, dass du vielleicht gerne darüber reden würdest. Laut sagte sie: „Du vermisst sie, nicht wahr?“

„Ich will, dass sie in Sicherheit ist. Das ist nicht dasselbe.“

Caragh runzelte die Stirn. „Erzähl mir mehr. Ich weiß nur, dass sie sehr schön ist.“

Ein wenig seiner schlechten Stimmung fiel von ihm ab, und er nickte. „Das ist sie.“ Mit dem Anflug eines Lächelns gab er zu: „Früher habe ich sie immer wegen ihrer roten Haare aufgezogen. Als ich noch jung war, mochte ich die Farbe nicht, und sie wurde immer wütend, wenn ich ihr das sagte.“

„Kann ich mir kaum vorstellen“, erwiderte Caragh trocken.

Seine Mundwinkel zuckten. „Einmal hat sie versucht, mir im Schlaf die Haare abzuschneiden. Damals war ich neun.“

Caragh nahm sich noch ein Stück Fisch und genoss jeden Bissen davon. Während sie aß, achtete sie sorgfältig darauf, dass die Decke nichts von ihrer nackten Haut freigab. „Was ist dann passiert?“

„Als ich aufwachte, erwischte ich sie, wie sie eine Strähne von mir in der Hand hatte. Ich habe versucht, sie zu schlagen, aber mein Vater hat es mitbekommen.“

„Hat er dich dafür verprügelt?“

Styr nickte. „Und er hat mir zur Strafe auch noch den Rest der Haare abgeschnitten, damit jeder direkt sehen konnte, dass ich versucht hatte, ein Mädchen zu schlagen.“

Bei diesen Worten verging ihr das Lachen. „Aber du hast ihr doch verziehen, oder?“

Wieder nickte er. „Als ich etwas älter war.“

Da Styr nicht von sich aus mehr über seine Ehefrau erzählte, stellte Caragh eine weitere Frage, obwohl sie die Antwort schon zu wissen glaubte. „Habt ihr Kinder?“

„Nein.“ Die Antwort klang derart entschlossen und abweisend, dass ihr sofort klar war, dass sie hier einen wunden Punkt getroffen hatte.

„Entschuldige. Ich wollte nicht neugierig sein.“

„Morgen im Morgengrauen brechen wir wieder auf“, sagte er nur und nahm das Tuch wieder mit, in dem er das Essen gebracht hatte.

7. KAPITEL

Die ganze Nacht wurde Styr von dem Bild von Caraghs bloßen Schultern heimgesucht, obwohl sie sich während ihres Gesprächs sorgfältig bedeckt gehalten hatte. Seine Stimmung verfinsterte sich, als ihm Erinnerungen ganz anderer Art in den Sinn kamen.

Elena verdeckte ihren Körper auch oft so weit wie möglich, sogar beim Liebesspiel. Sie schien sich vor seinem Blick verstecken zu wollen, ihm keine nackte Haut zu zeigen … Fast, als schäme sie sich. Andererseits hatte sie auch ihre Gedanken stets vor ihm verborgen, sich immer verschlossen gehalten. Seit fünf Jahren waren sie nun schon verheiratet, und ihm war, als wären sie einander immer noch fremd.

Er griff nach dem Beutel an seinem Gürtel und löste die Schnur. Das Leder war von der Feuchtigkeit ganz steif, aber es gelang ihm, den Kamm aus Elfenbein herauszuziehen. Als er ihn betrachtete, überkam ihn plötzlich ein beklemmendes Gefühl. Er hätte ihn Elena schon auf dem Schiff geben sollen, hätte ihr die beruhigenden Worte sagen sollen, die sie brauchte.

Doch er hatte versucht, mit ihr zu reden, nur um abgewiesen zu werden. Worte lagen ihm nicht, und er war nicht gut darin, sich zu erklären.

Ganz im Gegensatz zu Caragh. Wie ein Vogel zwitscherte sie und gab alles preis, was sie dachte. Manchmal ein bisschen zu viel.

Er spürte, dass er sich auf gefährliches Terrain begab, als er noch einmal an ihre klaren veilchenblauen Augen und ihren weichen Mund dachte. Seit er Caragh getroffen hatte, verglich er sie immer öfter mit Elena, und das war nicht richtig.

Autor

Michelle Willingham
Michelle schrieb ihren ersten historischen Liebesroman im Alter von zwölf Jahren und war stolz, acht Seiten füllen zu können. Und je mehr sie schrieb, desto mehr wuchs ihre Überzeugung, dass eines Tages ihr Traum von einer Autorenkarriere in Erfüllung gehen würde. Sie besuchte die Universität von Notre Dame im Bundesstaat...
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