Acht Wochen und ein Leben lang

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Plötzlich ist Nell Sullivans Zukunft völlig ungewiss. Als ihre Beziehung zerbricht und sie ihren Job verliert beschließt sie, für acht Wochen zu ihrer Cousine nach San Francisco zu fliegen. Sie fühlt sich so frei wie seit Langem nicht mehr! Hier hat sie endlich Zeit für ihre größte Leidenschaft: Das Backen. Alle reißen sich um ihre Leckereien und mit einem Mal scheint ihr Traum von einem eigenen Diner greifbar - und vielleicht sogar der von einer neuen Liebe?

Wunderbar romantisch und voller Wärme erzählt. Claudia Carroll


  • Erscheinungstag 06.02.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783956499388
  • Seitenanzahl 400
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. Kapitel

Der Tag, der mein Leben veränderte

Das Ereignis, das mein Leben verändern sollte, war kein bisschen so, wie ich es erwartet hätte.

Hätte man mich vorher gefragt – beispielsweise an dem Morgen im Bus, auf dem Weg zur Arbeit, eingekeilt unter der Achselhöhle eines mir unbekannten Mitpendlers, während ich vollauf damit beschäftigt war, meinen Brechreiz zu unterdrücken, den sein einzigartiger Duft nach Zwiebeln und altem Schweiß in mir auslöste, und den innigen Wunsch hegte, dass sich tatsächlich etwas in meinem Leben ändern möge –, hätte ich wahrscheinlich gesagt, dieses Ereignis müsse etwas unglaublich Wertvolles sein. Außerdem hätte ich erwartet, dass das Ereignis von Fanfaren begleitet würde sowie einem dramatischen, spannungsgeladenen Begleitkommentar, wie ihn dieser Typ aus X Factor so gut beherrscht:

„Nell Sullivan hat auf etwas gewartet, das ihr Leben verändert. Und jetzt – ist – es – so weit …“

Was ich nicht erwartet hätte, war eine dreizeilige Notiz auf einem grünen Post-it, das am Monitor meines Arbeitsrechners hing. Schon gar nicht eine Notiz von Aidan Matthews. Aidan war mein direkter Vorgesetzter in der Abteilung Stadtplanung der Kommunalverwaltung von Islington. Was allerdings vielleicht noch wichtiger war: Er war der Mann, mit dem ich während der letzten fünf Jahre eine On-and-off-Beziehung (fast schon eine dauerhafte Sache) gehabt hatte.

Hi Nell,

kannst du dir eine glaubwürdige Ausrede einfallen lassen, um heute Morgen kurz in mein Büro zu kommen? Ich muss dir etwas sagen. A x

Als ich die Zeilen las, wusste ich, dass mein morgendlicher Wunsch im Bus bald in Erfüllung gehen würde: Aidan wollte mich zurück. Bis zu diesem Moment war mir gar nicht klar gewesen, wie sehr ich mir wünschte, die Sache mit ihm zu klären. Bei der letzten Trennung waren wir uns einig gewesen: Wir waren es beide leid, ständig wie die Katze um den heißen Brei um die Probleme herumzuschleichen, die wir nie hatten lösen können. Dennoch begann mein Herz zu rasen, als ich mit dem Finger die vertrauten Schriftzüge auf dem Notizzettel nachzog. Vielleicht hatten wir beide gewusst, dass dies geschehen würde. Schließlich war es bisher immer so gelaufen. Wir waren füreinander bestimmt. Die Chemie zwischen uns stimmte ganz offensichtlich immer noch, selbst wenn wir nicht zusammen waren. Angekündigt hatte es sich schon seit einer Weile, und das grüne Zettelchen, das ich jetzt in der Hand hielt, zeigte ganz deutlich, was er vorhatte.

Ich wich dem misstrauischen Blick von Connie Bagley, der sauertöpfischen Sekretärin, aus, die wie eine verbitterte Eule an dem Schreibtisch neben meinem hockte. Sie wäre mit Freuden zu unseren Vorgesetzten gerannt und hätte alles brühwarm erzählt, wenn sie mir auch nur den kleinsten Fehltritt hätte anhängen können. Dann schlenderte ich lässig über den grauen Teppich zu Vicky Grocutt hinüber, Stadtplanungsassistentin wie ich und außerdem meine beste Freundin.

„Morgen, Vicky“, sagte ich, bewusst so laut, dass Connie, die alte Schrulle, es hören konnte. „Hast du gerade Zeit, die Anträge für Domestic Works durchzugehen?“

Ich sah, wie ihre Augen in Vorfreude auf delikaten Tratsch aufleuchteten.

„Aber gern, Nell. Ich fürchte, es sind eine ganze Menge.“ Sie lächelte vielsagend, stand auf und klemmte sich einen Haufen Ordner unter den Arm. „Vielleicht sollten wir uns damit ins Besprechungszimmer zurückziehen?“

„Hervorragende Idee.“

Wir lächelten unschuldig angesichts der unterdrückten Wut unserer Kollegin. Nur mit Mühe hielten Vicky und ich unser Kichern zurück. Erst als die Tür des Besprechungszimmers hinter uns ins Schloss gefallen war, platzten wir damit heraus.

„Das muss man dir wirklich lassen, Nell“, lachte Vicky, warf ihre Ordner auf den ovalen Besprechungstisch aus Buchenholz und ließ sich auf einen der ledernen Bürostühle fallen. „Du verstehst es, diese Frau aufzuziehen.“

„Sie selbst ist ihr schlimmster Feind. Wenn sie nicht so ein Vergnügen daran hätte, alle anderen zu verpfeifen, würde es viel weniger Spaß machen, sie zu ärgern.“ An der Kaffeemaschine, die ständig frischen Kaffee für den Koffeinbedarf der Abteilung bereithielt, füllte ich uns zwei Becher.

„Und du kannst das wirklich gut.“

Grinsend setzte ich mich zu Vicky an den Tisch. „Danke.“

Meine Freundin nahm einen Schluck von ihrem Kaffee und erschauderte, als das Koffein sie wie mit einem Hammerschlag traf. „Mein Gott, wer hat heute Morgen Dienst an der Kaffeemaschine?“

„Ich glaube Terry.“

„Oh! Na, das erklärt es natürlich. Er versucht, sich das Rauchen abzugewöhnen. Wieder einmal. Wahrscheinlich braucht er das Koffein als Ausgleich.“ Sie schob ihren Becher zur Seite und wandte sich mir direkt zu. „So, und jetzt raus mit der Sprache: Weshalb sitzen wir hier wirklich zusammen?“

„Deshalb.“ Vorfreude durchzuckte mich, als ich Aidans Mitteilung aus meiner Jackentasche zog und ihr reichte. „Das hat heute Morgen an meinem Bildschirm auf mich gewartet.“

Vicky nahm den Zettel und kniff die Augen zusammen, um die Nachricht zu lesen. Ich lächelte in mich hinein. Obwohl jeder in ihrem Umfeld ihr immer wieder sagt, dass sie dringend eine Brille bräuchte, kneift sie lieber die Augen zusammen. Nachdem sie in einer Optikerfamilie aufgewachsen war, ist die Vorstellung, einen Optiker aufsuchen zu müssen, einfach zu abschreckend für sie.

Als sie erkannte, von wem die Notiz war, blinzelte sie mich an.

„Nell …“, hauchte sie. „Glaubst du …?“

Ich zuckte die Achseln und konnte mir so gerade eben noch verkneifen, laut zu quietschen. „Ich bin mir nicht sicher. Aber worum sollte es sonst gehen?“

Offenbar war Vicky genauso aufgeregt wie ich. Sie kannte sich in meinem Liebesleben bestens aus, schließlich hatte sie es in den letzten Jahren quasi mit durchlebt und durchlitten. „Ich wusste es! Ich habe dir doch gesagt, dass er dir in der Besprechung gestern schöne Augen gemacht hat. Ich wusste, dass ich mir das nicht nur eingebildet habe!“

Am vorherigen Nachmittag hatte ich es nicht glauben wollen, zumal die Atmosphäre zwischen Aidan und mir in den letzten Monaten ausgesprochen kühl gewesen war. Aber dann hatte ich ihn dabei ertappt, wie er zu mir herüberschaute, während unsere Vorgesetzten endlos von Einsprüchen gegen Projekte und von Terminplanungen schwafelten. Und seine umwerfend blauen Augen ließen wie immer Schmetterlinge in meinem Bauch tanzen. Aidan Matthews, mit seinem kurzen hellen Haar, seinem kantigen Kinn und dem Körper, für den es sich zu sterben lohnte. Er sah so fantastisch aus …

Seine Fähigkeit, meine Entschlossenheit mit einem Blick ins Wanken zu bringen, war mein Verderben – schon seit jener ersten Begegnung mit ihm in der Büroküche vor sechs Jahren. Wenn er in der Nähe war, verlor ich meine Fähigkeit, klar und vernünftig zu denken. Im Laufe der Jahre hatte seine Wirkung auf mich es geschafft, eine ganze Reihe von Enttäuschungen, gebrochenen Versprechen und immer wieder schlechtem Timing zu überspielen, bis ich zu dem Schluss gekommen war, wir wären wohl füreinander bestimmt. Ich glaubte fest daran, dass es für all unsere gescheiterten Versuche nur einen Grund gab, nämlich dass wir beide einfach noch nicht so weit gewesen waren: Manchmal zog er sich zurück, manchmal ich. Aber immer landeten wir schließlich doch wieder in den Armen des anderen, und das musste doch etwas zu bedeuten haben, oder?

„Ich weiß nicht, worum es sonst gehen könnte“, wiederholte ich. „Ich glaube, er will, dass wir wieder zusammenkommen. Und ich glaube, dass es diesmal gut gehen könnte. Wir sind dieses ständige Hin und Her beide leid. Diesmal könnte es tatsächlich etwas Ernstes werden.“

„Und keinen Moment zu früh“, meinte Vicky grinsend. „Greg und ich haben uns kennengelernt, sind zusammengezogen, und Ruby ist geboren, als ihr beide in eure dritte Runde von Ja-Nein-Ich-weiß-nicht gegangen seid. Meiner Meinung nach solltet ihr endlich aufhören, euch ständig zu streiten, und allmählich zur Ruhe kommen. Aber wie fühlst du dich damit?“

„Gut“, sagte ich, während mir ob der unerwarteten Entwicklung immer noch der Kopf schwirrte. „Ich meine, ehrlich gesagt kommt das überraschend, aber jetzt, wo ich ein bisschen darüber nachdenken konnte – ich glaube, es könnte funktionieren.“ Ich spürte, wie mir Tränen in die Augen stiegen. „Ach verflixt, wem versuche ich eigentlich, etwas vorzumachen? Ich liebe ihn, Vix!“

Meine beste Freundin zog mich in die Arme. Schließlich wusste sie genau, was diese Entwicklung mir bedeutete.

„Ach, Süße, das weiß ich doch. Ich will, dass ihr beiden wieder zusammenkommt, jede Menge heißen Sex habt und Babys kriegt!“

Seitdem sie vor etwas mehr als zwei Jahren Mutter geworden war, hatte Vicky entschieden, dass alle anderen ein interessanteres, spannenderes und aufregenderes Leben führten als sie. Ich wusste zwar, dass sie ihren Partner Greg liebte und ihre Tochter Ruby vergötterte, aber dennoch schien sie der Aufregung ihres Singledaseins nachzutrauern, als sie noch der Schreck der Junggesellen von ganz London und der angrenzenden Grafschaften gewesen war.

Sie ließ mich los. „Und wann triffst du dich mit ihm?“

Ich atmete tief durch. „Jetzt.“

Als ich mir am Morgen im Bus gewünscht hatte, dass sich etwas änderte, war mir nicht im Entferntesten in den Sinn gekommen, meine Beziehung zu Aidan wieder aufleben zu lassen. Das würde mein Leben auch nicht ändern – jedenfalls nicht so, wie ich es erwartete –, aber es wäre immerhin ein Anfang. Eine ausgeglichenere Beziehung könnte mich eventuell in die Lage versetzen, die Veränderungen in Angriff zu nehmen, die ich mir wirklich wünschte. Veränderungen, für die ich wohl mehrere Jahre kalkulieren musste. Denn schon seit Jahren hegte ich einen Traum, von dem niemand etwas wusste, nicht einmal meine beste Freundin: Ich träumte davon, ein eigenes Unternehmen zu gründen. Begonnen hatte es mit einer Idee für ein Restaurant, aber als Vicky und ich vor zwei Jahren eine Reise zum Weihnachtsshopping nach New York gemacht hatten, hatte mein Traum eine neue Form angenommen. Statt von einem Café oder Restaurant, die es in der Hauptstadt zuhauf gab, begann ich, davon zu träumen, ein wirklich authentisches amerikanisches Diner zu eröffnen, in dem es Pancakes, Waffeln und French Toast zum Brunch gab und Burger, Calzone, Pizza und Grillfleisch in allen möglichen Varianten zum Abendessen, alles frisch auf Bestellung zubereitet. Davon träumte ich, wenn ich in langweiligen Verwaltungssitzungen festsaß und in meinem Notizblock verschiedene Inneneinrichtungen und Werbeschilder skizzierte. In meinem Kopf hatte ich ein völlig klares Bild: Jeden Morgen wurden Brot, Milchbrötchen und Zimtschnecken frisch gebacken, jeden Tag Bananen-Sahne-Torten und Apfelkuchen sowie eine Portion Pancake-Teig nach der anderen zubereitet. All meine Tagträume waren Welten von der immer gleichen Liste von Verfahren, Planungen und Papierkram entfernt, die mein jetziger Job mit sich brachte. Wenn Aidan und ich unsere Beziehung wiederbelebten, konnte ich ihn vielleicht diesmal in meine Träume einweihen. Außerdem war Aidan wirklich nett, und wenn wir zusammen waren, waren wir auch immer glücklich gewesen. Jedenfalls auf unsere Weise …

Vicky verließ als Erste das Besprechungszimmer und sorgte sehr gekonnt dafür, dass Connie abgelenkt war, indem sie sie in ein Gespräch verwickelte. Als ich mich unbeobachtet wusste, huschte ich rasch aus dem Zimmer und zu Aidans Tür am anderen Ende des Hauptbüros hinüber. Davor blieb ich kurz stehen und überprüfte im dunklen Fenster des leeren Büros daneben mein Spiegelbild. Nicht schlecht, Sullivan, sagte ich mir. Meine dunkelblonden Haare waren sorgfältig aus dem Gesicht gekämmt und betonten so meine Wangenknochen und die ausdrucksvollen grünen Augen. Selbst der Hosenanzug, den ich eilends angezogen hatte, nachdem ich am Morgen gleich zwei Mal die Schlummertaste meines Weckers gedrückt hatte, wirkte nicht allzu zerknittert. Aidan will mich sehen, rief ich mir ins Bewusstsein, nicht meine Aufmachung. Also zupfte ich den Saum meiner Jacke zurecht und klopfte an.

„Ja?“

Ich drückte die Klinke hinunter und spähte durch den Türspalt. „Hi. Du wolltest mich sprechen?“ Spiel das Spiel, Nell. Genieße die Jagd …

Aidans blaue Augen blitzten auf, und er erhob sich von seinem Stuhl. „Ja. Ja, das wollte ich. Du siehst … toll aus, Nell.“

Ich weiß, Aidan. „Danke. Du übrigens auch.“

„Schnell, komm rein und schließ die Tür.“

Ich tat wie gebeten und konzentrierte mich darauf, meinen Puls zu beruhigen, während mir Bilder von unserer letzten Versöhnung durch den Kopf gingen. Bilder von leidenschaftlichen Küssen, einer abgeschlossenen Bürotür und der Zimmerpflanze neben seinem Tisch, die sich nie vollständig davon erholt hatte, dass sie so plötzlich umgeworfen worden war … Ich setzte mich auf den Stuhl ihm gegenüber und faltete sittsam die Hände in meinem Schoß. Vielleicht wollte Aidan Matthews mich zurück, aber dafür würde er sich anstrengen müssen. „Also, hier bin ich.“

„Da bist du …“ Ein träges Lächeln bahnte sich seinen Weg über seine gebräunten Gesichtszüge, und ich veränderte leicht meine Haltung, um den Schmetterlingen, die sich in meinem Bauch zum Ausschwärmen bereit machten, Einhalt zu gebieten. Dann richtete er sich auf und räusperte sich. Dabei wirkte er plötzlich so verletzlich, dass ich mich gegen den Drang wehren musste, über den Tisch zu hechten und ihn abzuknutschen.

„Nell, es gibt da etwas, was ich dir sagen muss. Ich weiß es seit gestern, und ich muss gestehen, dass es für mich wirklich ein Schock war. Ganz ehrlich, ich habe das nicht kommen sehen.“

Das geht dir nicht allein so … „Tatsächlich?“

Sein Blick war unverwandt auf mich gerichtet. „Tatsächlich. Ich … Nell, ich weiß nicht, wie ich es sagen soll, finde keine Worte …“

Mitgefühl erfasste mich. „Aidan, ich weiß Bescheid. Sag es einfach.“

Ein Ausdruck von Verwirrung huschte über sein Gesicht. „Du weißt es? Woher …?“

Zuversichtlich und selbstbewusst lächelnd beugte ich mich ihm entgegen. „Ich weiß es einfach, Aidan. Es steht dir ins Gesicht geschrieben. Also mach dir keine Gedanken über die Formulierung: Sag es einfach.“

„Wow.“ Er wirkte offensichtlich verwirrt, aber auch sehr erleichtert über meine Aufforderung. „Du reagierst einfach unglaublich darauf – du bist eine tolle Frau …“

Mein Lächeln wurde noch strahlender, während ich der Yuccapalme neben seinem Tisch, die wie gesagt nicht besonders gesund wirkte, einen raschen Blick zuwarf. Stell dich schon mal darauf ein, dass du wieder umgeworfen wirst, Pflanze …

„… und deshalb ist es so eine Tragödie, dass wir dich verlieren werden.“

Ich weiß nicht, was dann geschah. Irgendwie war es, als ob das, was Aidan tatsächlich sagte, von den Worten verdrängt wurde, die er nur in meiner Fantasie verlauten ließ: Ich liebe dich, Nell. Ich kann mich nicht länger dagegen wehren. Nimmst du mich zurück …?

Eine Weile standen sich die beiden Aidans kampfbereit gegenüber: Der eine gab unwiderstehliche Liebesbeteuerungen von sich, der andere erwiderte mit – nun, was auch immer er sagte, es war etwas, das ich nicht verstehen konnte.

„Nell? Um Himmels willen, sag doch was.“

Mühsam kämpfte ich mich ins Hier und Jetzt zurück. „Ich … ich dachte … Entschuldige, was hast du gesagt?“

Aidans Schultern sackten herunter, und er schaute sehr schuldbewusst. „Ich wollte nicht, dass du es zur selben Zeit erfährst wie alle anderen. Wie schon gesagt, ich weiß es erst seit gestern mit Gewissheit und hätte es dir beinahe schon gleich nach der kurzen Besprechung gesagt. Aber wir haben schon so viel miteinander durchgemacht, du und ich. Ich kann den Gedanken einfach nicht ertragen, dass du es von jemand anderem erfährst als von mir. Du bedeutest mir viel, das weißt du …“

Seine Lippen bewegten sich, aber die Worte, die herauskamen, ergaben keinen Sinn. Und dann, ganz langsam, wie der stecknadelgroße Lichtpunkt, der die Finsternis in einem Tunnel durchbricht, dämmerte mir die Wahrheit.

„Du wirfst mich raus?“

„So hätte ich das nicht formuliert, aber …“

„Wie hättest du es denn sonst formuliert, Aidan? Du nimmst mir meinen Job weg!“

„Nicht ich persönlich, Nell …“

„Genau so fühlt es sich aber an.“

„Natürlich empfindest du das so. Aber wenigstens bist du nicht die Einzige, Liebes …“

Zorn loderte in mir auf. „Oh, dann ist es also in Ordnung! Solange ich die Schmach der Entlassung mit meinen Kollegen teilen kann! Was für eine bescheuerte, grausame Logik ist das denn?“

„Bitte, sprich etwas leiser, wenn’s geht, ja? Ich soll dir das eigentlich noch nicht erzählen.“

Ich schnaubte. „Hach, was für ein Glück ich doch habe.“

Er sprang von seinem Stuhl auf und stand plötzlich neben mir, legte mir seine Hände auf die Schultern. „Ich weiß, dass es schwer ist. Glaub mir, ich habe letzte Nacht kein Auge zugetan, weil ich darüber gegrübelt habe, wie ich es dir sagen soll. Aber verstehst du denn nicht, Nell? Es liegt nicht in meiner Hand! Ich habe versucht, mich für dich einzusetzen, aber die ganze Abteilung wird umorganisiert. Das kommt von ganz oben. Einschnitte im Budget und die Rezession haben sie dazu gezwungen. Es gibt nichts, was ich dagegen tun kann.“

Als ich in seine schönen blauen Augen schaute, drängte ich die Tränen zurück. Ich hasste mich selbst dafür, dass es mir wichtig war, was er über mich dachte. „Und was soll ich jetzt tun?“, flehte ich ihn an. Meine Stimme klang widerlich schwach und hilfsbedürftig. „Wie soll ich meine Miete zahlen? Mein Auto? Wie soll ich jetzt einen anderen Job finden, der so gut bezahlt wird wie dieser? Im Moment stellt niemand neue Leute ein.“

Mit der Hand streichelte er meine Wange. „Zumindest bekommst du eine Abfindung. Die steht dir nach sechs Jahren hier zu. Damit kannst du deine Rechnungen zumindest ein paar Monate lang bezahlen … Glaub mir, in dieser Abteilung gibt es Leute, die sehr viel schlimmer dran sind als du.“

Diese Information konnte mich nun gar nicht trösten. Wütend funkelte ich ihn an. „Wer noch?“

„Entschuldige?“

„Aidan, wer wird noch gefeuert?“

Er schluckte schwer, und ich hasste ihn für die Scham, die in seiner Miene lag. „Fast alle. Nick bleibt als oberster Planungsbeamter, ich bleibe Abteilungsleiter, und Connie wird angeboten, zusätzlich die Büroleitung für das Grünflächenamt zu übernehmen.“

Mein Lachen klang hohl. Also hatte es sich für Connie gelohnt, der Verwaltungsleitung all die Jahre in den Arsch zu kriechen … „Verstehe. Ich gehe jetzt.“

Als ich aufstand, schwankte er rückwärts. Und plötzlich wurde mir bewusst, wie jämmerlich er wirkte ohne seine übliche Angeberei, die seiner Stellung entsprach.

„Bitte sag niemandem etwas. In einer halben Stunde berufen wir eine außerordentliche Versammlung im Besprechungszimmer ein.“

Etwas in mir hätte sich am liebsten die dahinsiechende Yucca geschnappt und sie ihm in sein verräterisches Maul gestopft. Aber trotz meiner Wut verließ ich erhobenen Hauptes und festen Schrittes Aidans Büro und ging zu meinem Schreibtisch zurück. Dort versteckte ich mich in den nächsten dreißig Minuten hinter meinem Computerbildschirm und kam mir vor wie die größte Verräterin aller Zeiten. Das übliche Geplänkel meiner Kollegen zerriss mir das Herz.

Ich verliere meinen Job …

Die Wörter hatten einen fremden Klang, kalt, abgehackt. Ganz egal, wie oft ich sie im Kopf wiederholte, es gelang mir nicht, sie mit der Realität in Einklang zu bringen. Ich war noch nie entlassen worden, nicht ein einziges Mal in all den Jahren, seitdem ich berufstätig war. Auf allen drei Stellen, die ich nach dem Universitätsabschluss gehabt hatte, war ich immer befördert worden oder hatte selbst gekündigt, wenn sich mir ein besserer Job bot. In meiner sorgfältig ausgearbeiteten Lebensplanung war kein Raum für Arbeitslosigkeit. Mein Zuhause, mein Auto, meine Karriere – und selbst mein geheimer Zukunftstraum von einem eigenen Unternehmen – waren alle nichts ohne Geld und stabile Absicherung.

Ich starrte mein Spiegelbild auf dem dunklen Monitor meines Rechners an, und unverfälschte, hohläugige Panik starrte zurück.

Ich verliere meinen Job. Was soll ich nur tun?

2. Kapitel

Tschüss und lebe wohl …

Die Nachricht zu verarbeiten war eine surreale Erfahrung. Ich hatte das Gefühl, über einem Raum zu schweben, der mit rotierenden Messern angefüllt war, und dabei zu wissen, dass ich auf sie hinunterfallen würde, egal was ich tat. Wie konnte Aidan es wagen, mir vorher zu verraten, was auf uns zukam? Wie konnte er glauben, das sei die bessere Option, als wenn ich es gleichzeitig mit allen anderen erfuhr? Wenn ich es zur gleichen Zeit gehört hätte wie sie, hätten wir zumindest als Team reagieren können, geeint in einer gemeinsamen Erfahrung. Jetzt aber hing ich in der Luft. Ich gehörte weder zu Aidan und den wenigen Glücklichen, die das Büro heute in dem Bewusstsein verlassen würden, auch in Zukunft noch einen Arbeitsplatz zu haben, noch zu meinen Kollegen, die erst noch von ihrem Schicksal erfahren würden. Ich hasste das. Und noch viel mehr hasste ich Aidan, weil er wieder einmal bewiesen hatte, wie schlecht er mich kannte. Am liebsten hätte ich Vicky eingeweiht, aber sie war in die Kantine gegangen, um ein Sandwich zu essen. So blieb mir nur, hilflos zu wünschen, die Zeit bis zu der unausweichlichen Besprechung verginge schneller.

Dreißig Minuten später trotteten wir in den Besprechungsraum wie Schafe zur Schlachtbank, meine Kollegen vollkommen unvorbereitet auf den Blitz, der sie aus heiterem Himmel treffen würde. Aidan und zwei seiner Vorgesetzten verteilten in aller Ruhe Briefe an uns alle, in denen die Konsequenzen des „Umstrukturierungsprogramms“ der Stadtverwaltung detailliert aufgeführt waren. Vicky und zwei weitere Kolleginnen begannen leise zu schluchzen, während meine männlichen Kollegen am Boden zerstört schweigend vor sich hin starrten und nicht einmal blinzelten, als sie begannen, die grausame Wirklichkeit zu begreifen. Dann stand irgendein Idiot aus der Personalabteilung, den keiner kannte, auf und erklärte, wie sehr der Verwaltung daran gelegen war, unsere persönliche Zukunft abzusichern – ein lächerlicher Standpunkt angesichts der Tatsache, dass man gerade bedenkenlos fünfzehn Mitarbeiter entlassen hatte. Als er wissen wollte, ob jemand noch Fragen hätte, schlug ihm eine einzige Welle von wortlosem Hass entgegen.

Ich spürte Aidans Blick auf mir ruhen, aber ich weigerte mich, ihm zu begegnen, und konzentrierte mich stattdessen auf den unpersönlichen, allgemein gehaltenen Brief in meiner Hand:

Wir bedauern, Ihnen mitteilen zu müssen … Dieser Schritt hat nichts mit Ihrer überragenden Leistung an Ihrem Arbeitsplatz zu tun, sondern ist leider eine notwendige Maßnahme, um die finanzielle Sicherheit dieser Verwaltung zu wahren …

Nicht länger benötigt.

Ohne Job.

Arbeitslos …

Wie immer ich die Worte auch betrachtete, ich konnte gar nicht anders, als sie persönlich zu nehmen. Das konnte doch nicht mir passieren! Erst heute Morgen hatte ich mir gewünscht, dass sich etwas ändern würde …

Und dann traf es mich wie ein Schlag.

Etwas hatte sich geändert. Zugegebenermaßen nicht zum Positiven, aber mein geheimer Wunsch war in Erfüllung gegangen. Von diesem Augenblick an würde mein Leben nie wieder so sein wie zuvor. Nell Sullivan, Stadtplanungsassistentin, gab es nicht mehr. Dieses Kapitel meines Lebens hatte ein abruptes Ende genommen, und jetzt …

Ja, was jetzt?

Der Trottel aus der Personalabteilung verteilte Papiertaschentücher und laberte etwas von einer hastig arrangierten Beratungsmöglichkeit mit einer örtlichen Arbeitsvermittlung gleich im Anschluss an die Besprechung. Aber mir war, als wäre ich in einer Blase eingeschlossen, von den bestürzten Mienen meiner Kollegen abgeschirmt durch eine Million neuer Ideen, die vor meinen Augen funkelten und tanzten. Diese Situation hatte ich nicht geplant, ja, ich hatte sie in meinem sorgsam geordneten Leben nicht einmal für möglich gehalten. Und doch, jetzt hatte sie sich ergeben – und mir winkten drei Monate Gehalt auf einen Schlag …

Am Ende der Besprechung folgte ich meinen Kollegen aus dem Raum, seltsam unbeschwert trotz der Bestürzung, die um mich herum herrschte. Vicky packte mich am Arm und zog mich fort von denen, die zombiehaft durch den Flur schlurften und dem Raum zustrebten, in dem die „Karriereberatung“ stattfinden sollte.

„Kannst du glauben, was sie gerade gemacht haben?“, polterte sie los, während ihr Tränen über die Wangen liefen, die blauschwarze Mascaraspuren hinterließen. „Diese Schweinehunde! Wir haben gerade eine neue Hypothek aufs Haus aufgenommen – wie um alles in der Welt sollen wir die jetzt abzahlen?“

„Liebes, ich weiß es nicht.“

„Und Greg ist in der Fabrik auch auf Kurzarbeit … Das alles ist eine einzige Katastrophe.“

„Da sagst du was.“ Plötzlich tauchte Terry, unser Kollege, bullig, mittleren Alters, neben uns auf. „Ich fasse es einfach nicht, dass ich ausgerechnet diese Scheißwoche ausgewählt habe, um mit dem Rauchen aufzuhören. Hat eine von euch mal eine Kippe?“

Wir schüttelten die Köpfe und sahen ihm nach, wie er davonstapfte.

„Ich glaube, ich könnte mir das Rauchen angewöhnen“, meinte Vicky, die Terry ausdruckslos nachstarrte. „Sieh mich nur an: Nell, ich zittere.“ Sie streckte eine Hand aus, und ich konnte sehen, wie das Licht der Leuchtstoffröhren über uns sanft über ihre frisch manikürten Nägel floss. „Ich muss Greg anrufen und es ihm sagen. Das war’s dann mit unseren Hochzeitsplänen für nächstes Jahr.“

„Vielleicht hat ja die Arbeitsvermittlung etwas für dich, Vix“, schlug ich vor und hasste mich sofort dafür, dass ich klang, als wollte ich Aidan den Rücken stärken. Während ich noch darüber nachdachte, nahm die Idee, die mir im Sitzungszimmer gekommen war, immer deutlichere Formen an. Ich wollte nicht zum Opfer dieser Sache werden. Ich wollte etwas anderes tun …

„… Natürlich können wir auch die Reise zu Disney World vergessen, die Greg mit mir und Ruby machen wollte. Womöglich muss ich Mum bitten, sich einen zusätzlichen Tag pro Woche um Ruby zu kümmern, denn jetzt kann ich auf keinen Fall rechtfertigen, fünf Tage die Woche für die Kinderkrippe zu zahlen. Und dann darf ich mir wieder ihre endlosen Tiraden anhören, wie leichtsinnig es doch von mir und Greg war, Ruby zu bekommen, bevor wir uns richtig abgesichert haben. Ich schwöre dir: Wenn wir wieder in das Haus seiner Eltern in Brentwood ziehen müssen, werde ich wahnsinnig …“

Vicky zählte alles auf, was sie sich jetzt nicht mehr leisten konnte, und ich musste mich gewaltsam von meiner keimenden Idee losreißen, um mich auf sie zu konzentrieren. „Vix, versuch doch nicht, dir das Schlimmste auszumalen. Ich weiß, dass du immer noch unter Schock stehst – wie wir alle –, aber wir wissen doch noch gar nicht, wie sich das Ganze entwickeln wird. Du und Greg, ihr beide habt schon Schlimmeres durchgemacht, und schau doch, wie glücklich ihr seid. Ruby ist fantastisch und liebt euch abgöttisch, und du weißt, was für ein toller Dad und Partner Greg ist. Ihr werdet auch mit dem hier fertigwerden.“

„Glaubst du?“, fragte sie schniefend.

„Wenn überhaupt jemand damit fertigwird, dann ihr beide.“

„Danke, Süße. Und du schaffst es auch. Wenigstens hast du dich mit Aidan ausgesöhnt, und im schlimmsten Fall könntest du immer noch in sein großes Haus einziehen …“

Ich wandte den Blick ab, und sie verstummte.

„Ihr habt euch doch ausgesöhnt, oder etwa nicht?“

Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Was ich jetzt sagen musste, würde ihr nicht gefallen, aber anlügen konnte ich sie nicht. „Nein, haben wir nicht.“

„Das verstehe ich nicht. Warum hat er dich in sein Büro bestellt, wenn er nicht …?“ Ihre Augen weiteten sich, als ihr ein Licht aufging. „Oh, mein Gott. Du hast es gewusst …“

„Er hat mich gebeten, niemandem etwas zu sagen …“

Ihre Miene verfinsterte sich. „Du hast es gewusst, Nell! Du bist aus seinem Büro gekommen und hast dich an deinen Schreibtisch gesetzt, als wäre nichts passiert, und dabei hast du es die ganze Zeit gewusst?“

„Was hätte ich denn machen sollen? Ich wollte nicht diejenige sein, die allen das Herz bricht!“

Vicky schüttelte den Kopf, und schlagartig schien es im Raum kälter zu werden. Sie wandte mir mit Nachdruck den Rücken zu und folgte den anderen den Flur hinunter.

Was um alles in der Welt sollte ich ihr sagen? Ich wusste, dass sie einfach nur wütend war und in ihrem Zorn gegen den Nächstbesten auskeilte. Aber ich spürte, wie frustriert ich war, dass sie mir nicht einmal eine Chance gegeben hatte, mich zu rechtfertigen.

„Wahrscheinlich lässt du sie am besten gehen.“ Eine Hand legte sich auf meine Schulter, und als ich mich umdrehte, schaute ich in die verkniffene und gleichzeitig triumphierende Miene der Bürosekretärin. „Sie ist wütend. Das kann man verstehen …“

Zornig schüttelte ich ihre Hand von meiner Schulter. „Hau ab, Connie.“

Ich folgte nicht meinen Kollegen zu der Besprechung mit der Arbeitsvermittlung, sondern kehrte ins Büro zurück, um meine Tasche und meinen Mantel zu holen. Jetzt musste ich erst einmal raus hier. Die Atmosphäre im Büro schien mir die Lebenskraft auszusaugen, und die Gedanken, die mir im Kopf herumschwirrten, machten mich schwindelig.

„Wollen wir etwas frische Luft schnappen?“ Aidan. Er stand nur wenige Schritte entfernt, Besorgnis im Blick, und rang die Hände. „Ich weiß nicht, wie es dir geht, aber ich könnte jetzt einen Kaffee vertragen.“

„Nein, danke.“ Ich kämpfte mich in meinen Mantel und warf mir die Tasche über die Schulter.

„Nell, ich weiß, dass das hart ist. Aber ich kann für dich sorgen. Dass ich dir heute diese Mitteilung machen musste, hat mir die Augen dafür geöffnet, was ich für dich empfinde. Seit Monaten schleichen wir nun schon um dieses Thema herum. Vielleicht wendet sich für uns dadurch ja alles zum Guten? Schließlich habe ich doch dieses große Haus ganz für mich allein. Lass uns aufhören, uns etwas vorzumachen. Wir sind füreinander bestimmt …“

Ungläubig drehte ich mich zu ihm um und starrte ihn an. „Ist das dein Ernst? Du erklärst mir ausgerechnet jetzt deine Liebe?“

Er verstand meinen Ton falsch, las Überraschung daraus, und als er näher trat, wurde sein zuversichtliches Grinsen breiter. „Ja, Baby. Lass mich für dich sorgen. Du musst doch zugeben, dass wir das beide wollen …“

Ich konnte nicht glauben, was ich da hörte. War Aidan Matthews wirklich so verblendet, dass er glaubte, die Nachricht von meiner Entlassung sei ein passender Wegbereiter für die Wiederbelebung unserer Beziehung?

„Lass mich einfach in Ruhe, Aidan. Ich glaube nicht, dass wir uns noch etwas zu sagen haben.“

Als ich das Büro verließ, starrte er mir völlig verständnislos nach.

Weit ging ich nicht. Ich wollte nur eine Runde um den Verwaltungskomplex drehen. Das Gelände war von Landschaftsgärtnern gestaltet worden. Es führte um ein etliche Millionen Pfund teures Gebäude herum, das heftige Kontroversen ausgelöst hatte, als es vor acht Jahren gebaut wurde. Der Himmel war von grauen Wolken verhangen, und der Tag wirkte düster. Da fast kein Wind wehte, herrschte eine scheinbar unheilvolle Stille.

So hatte ich mir diesen Tag nicht vorgestellt. Innerhalb von nur vier Stunden hatte ich gedacht, ich würde wieder mit Aidan zusammenkommen, hatte feststellen müssen, dass ich meinen Job verlor, hatte aus Versehen meine beste Freundin vor den Kopf gestoßen und war dann auch noch von dem Mann, der mich gerade gefeuert hatte, angebaggert worden. Plötzlich hing alles unsicher in der Schwebe, und meine Gedanken waren voller Fragezeichen. Wie ging es mir wirklich mit dieser Geschichte? Was würde aus meinem Zimmer in der Wohngemeinschaft werden? Ohne gesichertes Einkommen waren die Zukunftsaussichten alles andere als rosig. Wie lange konnte ich von meiner Abfindung leben?

Während ich den Parkplatz umrundete, drängte sich wieder meine Idee in den Vordergrund, die mir vor meinem Streit mit Vicky gekommen war – und damit gleichzeitig ein Gefühl von Ungerechtigkeit, das immer stärker wurde, je länger ich darüber nachdachte. Warum sollte ich Däumchen drehen und abwarten, bis ich eine neue Stelle gefunden hatte? Es konnte Monate dauern, etwas anderes zu finden. Ich musste mir ja nur die Nachrichten ansehen, um zu begreifen, wie hoffnungslos die Situation auf dem Arbeitsmarkt zurzeit war …

Ich habe etwas Besseres verdient als das.

Die Zahl, die in meinem Kündigungsschreiben gestanden hatte, fiel mir wieder ein. Als Hinweis darauf, wie sehr mein schon bald Ex-Arbeitgeber meine Leistung zu schätzen wusste, war sie eine Beleidigung. Aber als unerwartete Summe auf einen Schlag konnte man sie auch als Geldsegen betrachten. Vielleicht sollte ich das als Zeichen nehmen, dass mein sorgfältig durchgeplantes Leben doch nicht unbedingt das einzig Wahre war. Vielleicht bot sich mir hier die Gelegenheit, etwas ganz anderes zu tun …

Was willst du, Nell Sullivan?

Ganz plötzlich schoss mir diese Frage durch den Kopf. Ich blieb wie angewurzelt stehen. Ich war verletzt, wütend, hatte Angst vor der Arbeitslosigkeit. Ich wollte nicht, dass dies mein Leben bestimmte, während ich die nächsten wer weiß wie viele Monaten nach einer neuen Stelle suchte. Ich wollte etwas Positives, etwas, das mich aufbaute, statt mich herunterzuziehen.

Ich möchte etwas nur für mich tun …

Und dann traf es mich wie ein Schlag. Ich konnte irgendwohin gehen – weit fort von meinem bisherigen Job und meiner unsicheren Zukunft. Meine Reise nach New York mit Vicky vor zwei Jahren war das letzte Mal gewesen, dass ich richtig Urlaub gemacht hatte – na ja, jedenfalls die Art von Urlaub, zu der ein Flugticket und zollfreier Einkauf gehörten. Das konnte etwas nur für mich sein. Ich wollte nicht nur einfach eine Pause vom Alltag. Nein, ich brauchte ein Abenteuer. Und wenn ich mit meiner mageren Abfindung meine Rechnungen auch nicht lange bezahlen konnte, so bot sie doch ein nettes kleines Polster für eine Reise …

Das war brillant. Ich wusste zwar nicht, wohin ich reisen wollte, aber dass ich es musste, das war mir klar – und zwar bald.

Die tief bestürzten Mienen meiner Kollegen holten mich hart auf den Boden der Tatsachen, als ich ins Büro zurückkehrte. Terrys Gesicht war aschfahl – obwohl das vielleicht mehr mit der halben Packung Zigaretten zu tun hatte, durch die er sich gerade gequalmt hatte. Dave und Sid, beide seit zwanzig Jahren Stadtplaner, saßen wie zusammengefallene Luftballon-Buchstützen auf der Kante von Terrys Schreibtisch. Nick gab sich allergrößte Mühe, Mitgefühl mit allen zu zeigen, war aber offensichtlich erleichtert, dass er seinen Job nicht verloren hatte. Vicky hing zusammengesunken in ihrem Stuhl und pulte sich systematisch den Nagellack von den Fingernägeln. Sie schaute nicht auf, als ich eintrat.

„Da ist sie ja wieder“, meinte Terry. „Wir dachten, du hättest dich einfach aus dem Staub gemacht.“

„Ich musste nur einfach mal eine Weile an die Luft.“

„Verständlich.“

„Konnte den Leuten nicht ins Gesicht sehen, die sie verraten und verkauft hat“, murmelte Vicky, ohne mich anzuschauen.

„Also, Moment mal …“, setzte ich an, aber Dave hob eine Hand, um mich zu stoppen.

„Ist schon in Ordnung, Sully. Sie ist einfach nur durcheinander. Das sind wir alle.“ Sein Lächeln bedeutete mir unheimlich viel. „Wir wissen, dass Matthews dich in eine unmögliche Lage gebracht hat.“

„Danke.“

„Ihr solltet vielleicht besser nicht rumstehen und tratschen.“ Connies Gesichtsausdruck verriet reine, gehässige Häme. „Die Verwaltungsleitung will, dass ihr in zehn Minuten das Büro geräumt habt.“

„Wer hat das gesagt?“, fragte Vicky.

„Mr. Matthews. Während ihr in der Beratung der Arbeitsvermittlung wart.“ Ihr Lächeln wirkte etwa so ehrlich wie die Wahlversprechen von Politikern. „Im Besprechungszimmer stehen Kartons. Vielleicht wollt ihr die benutzen.“

Als wir uns die leeren Druckerpapierkartons holten und unsere Schreibtische auszuräumen begannen, konnte ich die Resignation und Verzweiflung meiner Kollegen spüren. Während ich genau wie sie meinen Karton vollpackte, kam ich mir ein bisschen vor wie eine Heuchlerin; ja, die Sache war schrecklich und Furcht einflößend, aber seit der Erkenntnis, die mich draußen ereilt hatte, verspürte ich einen Funken von Aufregung, der in mir tanzte. Meine vernünftige Seite, die mein Leben bisher hauptsächlich bestimmt hatte, war ungewöhnlich still, und zum ersten Mal seit vielen Jahren hatte ich das Gefühl, dass die Zwänge meines Lebens von diesem Querschläger der plötzlichen Arbeitslosigkeit gesprengt worden waren.

Draußen auf der Straße standen wir noch kurz zusammen – eine Gruppe von Leuten, die gerade eben ihren Job verloren hatten, Kartons unter die Arme geklemmt, einerseits noch nicht bereit, sich voneinander zu verabschieden, andererseits insgeheim auch nicht gewillt, sich noch länger zu quälen. Nach ein paar gemurmelten Worten der Solidarität und Versprechen, sich bald mal auf einen Drink zu treffen, zerstreuten wir uns. Vicky schniefte und kam zu mir herüber.

„Es tut mir leid, Nell. Ich hätte das nicht sagen dürfen.“

Erleichterung durchflutete mich, und ich umarmte sie heftig. „Ist schon gut. Du warst durcheinander und wütend.“

„Und ein Miststück. Aber danke für dein Verständnis.“ Seufzend betrachtete sie den kümmerlichen Kaktus, der aus dem Karton mit ihren Habseligkeiten lugte. „Ich denke, ich gehe auf direktem Wege nach Hause. Kommst du mit zur UBahn?“

„Nein, noch nicht.“ Ich wollte den Gedanken, der mir durch den Kopf ging, weiterverfolgen, solange er noch lebendig war und bevor die kalte Wirklichkeit eine Chance hatte, sich einzumischen und die Party zu ruinieren. „Ich muss einfach – weißt du …“ Mit dem Kopf deutete ich zu den Geschäften weiter unten in der Straße hinüber.

Offensichtlich glaubte Vicky, dass ich den Pub am Ende der Straße meinte. „Kann ich dir nicht verdenken. Ruf mich heute Abend an, wenn du nach Hause kommst, ja?“

Ich sah ihr nach, wie sie davonschlurfte, und dann gestattete ich mir endlich, die Aufregung zu fühlen, die sich in mir aufgebaut hatte. Ich holte tief Luft, drehte mich um und marschierte zielstrebig die Straße hinunter. Meine Entschlossenheit wurde mit jedem Schritt stärker.

Jetzt ist es so weit, Nell Sullivan. Deine Zeit ist gekommen.

Ein paar Blocks vom Verwaltungstrakt entfernt blieb ich vor einem kleinen Reisebüro stehen. In den Schaufenstern hingen alle möglichen Karten, die aufregende Reiseziele und Sonderangebote anpriesen. Mir war, als starrte ich auf eine Galerie der Möglichkeiten, und jedes lächelnde Modell stellte mir dieselbe Frage:

Wohin willst du, Nell Sullivan?

Ein junger Reiseberater mit erstaunlich glänzendem schwarzen Haar lächelte, als ich eintrat, und seine freundliche Miene verriet nur kurz Bestürzung, als ich meinen Karton auf seinem Tisch abstellte. Die buschigen Wedel meiner Zimmerpflanze hingen über den Rand des Kartons, mein geklauter Tacker – ein letzter Akt des Aufbegehrens gegen meinen Ex-Arbeitgeber – warf das Licht des Computerbildschirms zurück.

„Womit kann ich dienen?“, brachte er mühsam über die Lippen, bemüht, seine Professionalität zurückzugewinnen. Auf seinem Namensschild stand: Hi, ich bin Josh.

„Ich möchte wissen, wohin ich reisen kann für …“ Ich zog das zusammengefaltete Kündigungsschreiben aus meiner Jackentasche und gab es ihm, damit er die Summe lesen konnte, die zu zahlen mein ehemaliger Arbeitgeber bereit war, um mich loszuwerden. „… diese Summe.“

„Äh, ja, an viele Orte“, stammelte Josh, dessen Ausbildung ihn ganz offensichtlich nicht auf verrückte Kunden mit Zimmerpflanzen und Pappkartons vorbereitet hatte. „Wohin möchten Sie denn gern?“

So weit hatte ich noch gar nicht gedacht. „Ich weiß nicht recht. Ich möchte etwas Aufregendes machen, etwas nur für mich. Wissen Sie, ich bin gerade entlassen worden.“

„Wow, das tut mir leid zu hören. Wann?“

„Vor etwa drei Stunden.“

„Verdammt, das ist furchtbar. Also haben Sie definitiv etwas Besonderes verdient.“ Lächelnd packte er einen mächtigen Stapel Prospekte auf den Tisch. „Schön. Fangen wir damit an, was Sie im Urlaub am liebsten machen. Strand?“

„Nein, ich glaube nicht. Ich glaube, ich möchte mehr unterwegs sein.“

„Kein Problem.“ Er zog vier Prospekte aus dem Stapel und ließ sie neben seinem Schreibtisch auf den Fußboden fallen. „Skiurlaub? Wassersport?“

„Nein. Ich habe nichts gegen sportliche Betätigung, aber das soll nicht alles sein.“

„Großartig.“ Zwei weitere Prospekte wurden aus dem Stapel entfernt. „Wie steht es mit einer Wanderung? Einer Art Abenteuerurlaub?“

„Vielleicht.“ Ich versuchte mir vorzustellen, wie ich die Wüste Gobi durchquerte oder die Chinesische Mauer erklomm. Selbst in meinen optimistischsten Vorstellungen kam mir das ein bisschen zu extrem vor. „Hm, bei genauerer Betrachtung, nein.“

Ein weiterer Prospekt landete auf dem braunen Teppich. „Gut. Wir kommen voran.“ Nach etlichen weiteren Fragen breitete sich auf Joshs leicht rot angelaufenem Gesicht ein Lächeln aus, und er hielt einen dicken Prospekt hoch. „Wie wäre es mit den USA?“

Auf dem Umschlag waren die Rocky Mountains, Neonreklamen von Las Vegas, geschäftige Großstädte, herbstlich verfärbte Bäume in Neuengland und die majestätische Kulisse des Grand Canyon zu sehen. Amerika – wo alles möglich ist lautete der Titel, der quer über den Bildern prangte. Schlagartig begann mein Puls zu rasen.

„Ja, das sieht sehr gut aus.“

„Ausgezeichnet.“ Josh nickte und begann in den Hochglanzseiten zu blättern. „Also – Amerika hat so ziemlich jedem etwas zu bieten. Was haben Sie vor? Städtereise? Strand? Flug und Auto?“

Die Gedanken in meinem Kopf überschlugen sich. „Ich … ich weiß nicht. Was würden Sie vorschlagen?“

„Ich persönlich mag Vegas. Aber wenn Sie Lust auf Strand und Vergnügungsparks haben, ist Florida eine tolle Sache. Wenn Ihnen Geschichte liegt, bietet sich Neuengland an oder Philadelphia. Oder wie steht es mit einer der ganz großen Städte? New York? Chicago? San Francisco …?“

„Das ist es!“, schrie ich, sodass Josh erschrocken zusammenzuckte und die Kundin mittleren Alters am Nebentisch mich missbilligend musterte. Kichernd senkte ich die Stimme. „Tut mir leid. Meine Cousine Lizzie lebt in San Francisco. Ich weiß nicht, warum mir das nicht früher eingefallen ist. Ich könnte sie besuchen.“

„Nun, wenn Sie dort unterkommen könnten, würde das natürlich die Kosten drücken.“

„Das würde es.“ Eine Idee durchzuckte mich. „Sagen Sie, dürfte ich vielleicht Ihr Telefon benutzen?“

„Hm, natürlich. Nur zu.“ Joshs Gesichtsausdruck ließ klar erkennen, dass diese neueste Entwicklung ihn nur noch in seiner Meinung bestärkte, dass er eine äußerst merkwürdige Kundin vor sich hatte.

Mit einem Blick auf meine Armbanduhr berechnete ich im Geiste, wie spät es im Moment in San Francisco war. Sieben Stunden hinter GMT – Lizzie war also wahrscheinlich gerade dabei aufzustehen. Jedenfalls hoffte ich das. Ich wählte ihre Nummer, flehte innerlich darum, dass sie dranging. Das Telefon läutete entschieden länger, als mir angenehm war, dann meldete sich eine verschlafene Stimme.

„Hallo …?“

„Lizzie, ich bin’s. Nell. Habe ich dich geweckt?“

„Wer …? Oh, Nellie! Hi! Entschuldige, ich hatte noch keinen Kaffee. Wie geht es dir? Warum um alles in der Welt rufst du mich um Viertel nach sieben am Morgen an? Alles in Ordnung bei dir?“

Ich kicherte. „Mir geht es gut. Na ja, abgesehen davon, dass ich heute meinen Job verloren habe. Es ist so schön, mit dir zu reden!“

„Du hast deinen Job verloren? Oh Nell, das ist ja schrecklich! Es tut mir so leid …“

„Ist schon gut, ehrlich. Aber ich möchte dich um einen Gefallen bitten – und bitte sag ganz ehrlich Nein, wenn es eine Zumutung für dich ist …“

„Schieß los.“ Im Hintergrund hörte ich eine Kaffeemaschine arbeiten und versuchte, mir die Wohnung meiner Cousine in dem farbenfrohen Viertel Haight-Ashbury vorzustellen, die ich bisher nur auf Fotos aus ihren jährlichen Weihnachtsbriefen gesehen hatte.

„Ich bekomme eine Abfindung und habe beschlossen, ein paar Wochen lang etwas ganz anderes zu tun. Wie fändest du es, wenn ich dich besuche?“

Der Freudenschrei meiner Cousine war im ganzen Reisebüro zu hören und trug mir einen weiteren verächtlichen Blick der verärgerten Kundin am Nebentisch ein.

„Das wäre fantastisch! Wie lange willst du bleiben?“

Alles war so schnell gegangen, dass ich bisher keinen Gedanken daran verschwendet hatte, wie lange mein Abenteuer wohl dauern könnte. „Sechs Wochen?“, fragte ich, ohne lange nachzudenken.

„Super. Oder warum nicht gleich acht?“

„Lizzie, wäre dir das auch wirklich recht?“

„Aber natürlich! Dann könntest du dir wenigstens alles in Ruhe ansehen und wirklich ein Gefühl für die Stadt bekommen. Und ich kann dir eine Menge zeigen. Du kannst meine Freunde kennenlernen, und du wärst eine Ehrenbürgerin auf Zeit!“

Fünf Minuten später beendete ich das Telefonat. Alles geschah so schnell, aber es fühlte sich richtig an. Ich hatte mich entschieden – und wollte keine Zeit verschwenden. „So. Ich möchte nächste Woche nach San Francisco fliegen. Bitte für zwei Monate!“

Zwei Monate in einer völlig fremden Stadt. Zwei Monate, um alles zu erleben, was San Francisco mir bieten konnte. Zwei Monate, um alle Bedenken über Bord zu werfen und jemand zu sein, der ganz anders war als die pflichtbewusste Nell Sullivan, ehemalige Stadtplanungsassistentin. Es war perfekt

3. Kapitel

Pack deine Sorgen ein

„Du hast was vor?“

Meine Mitbewohner – Charlotte, Sarah und Tom – starrten mich an, als hätte ich mir gerade die Haare grün gefärbt. Schon als ich die WG-Besprechung einberufen hatte, waren sie misstrauisch gewesen. Jetzt saßen sie wie die drei weisen (und schlecht gelaunten) Affen auf dem ausgeblichenen Ikea-Sofa im Wohnzimmer unseres Hauses in Woodford, das wir gemeinsam gemietet hatten. Übel nehmen konnte ich ihnen ihr Misstrauen nicht. Unsere letzte WG-Besprechung hatte vor sechs Jahren stattgefunden, um die Frage zu klären, wer von uns eigentlich den etwas seltsamen Typ kannte, der seit der Hausparty eine Woche zuvor auf unserem Sofa übernachtete. (Wie sich herausstellte, keiner von uns, und wir hatten tatsächlich einen Fremden verköstigt und beherbergt, der zufällig hereingeschneit war, als die Party in vollem Gange war …)

„Ich habe gestern meinen Job verloren. Also fliege ich für acht Wochen nach San Francisco“, wiederholte ich in der Hoffnung, dass sie diesmal verstehen würden.

Taten sie nicht.

„Wie bitte?“ Sarah schlug ihre langen Beine übereinander und schaute mich an wie die Schulleiterin, die sie unbedingt werden wollte. Wenn sie ihren lehrerhaften Ton anschlug, konnte sie einen erwachsenen Mann zum Weinen bringen. Das hatte ich schon mehrfach beobachtet, besonders häufig bei ihrem Freund Tom, der sich jetzt anscheinend stellvertretend für mich duckte. „Hast du überhaupt mal darüber nachgedacht? Was wirst du tun, um Geld zu verdienen, wenn deine Abfindung verbraucht ist? Und was wird aus deinem Zimmer, Nell? Wir können es uns nicht leisten, gleich zwei Leute mitzutragen, die stempeln gehen.“

Ihr anklagender Blick traf Tom, der sich sichtlich darunter wand. Wir wussten alle, dass Sarah ihn finanziell unterstützte, seit er seinen Job bei einer Londoner Werbeagentur verloren hatte. Toms Umgang mit Arbeitslosigkeit war ein Grund mehr dafür, dass ich nicht in England bleiben und in Selbstmitleid zerfließen wollte. Es mochte ja sein, dass er damit zufrieden war, die letzten sechs Monate den ganzen Tag im Schlafanzug an seiner X-Box zu spielen und im Fernsehen The Real Housewives of Atlanta zu verfolgen, aber ich persönlich stellte mir so die Hölle vor.

„Ich versuche ja, eine neue Stelle zu finden“, protestierte er, klang dabei aber eher wie ein quengelnder Dreijähriger als wie ein tragisches Opfer der Rezession. „Es ist hart da draußen. Wenn du mich fragst, Nell: Ich glaube, du machst genau das Richtige. Sieh zu, dass du hier rauskommst, solange du noch kannst.“

„Tom …“, stieß Sarah zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor, „das ist nicht hilfreich.“ Dann wandte sie sich wieder mir zu. „Nimm’s mir nicht übel, Nell, aber meiner Meinung nach handelst du absolut verantwortungslos.“

Charlotte, die bisher geschwiegen hatte, verschränkte die Arme und nickte zustimmend. Seitdem wir gemeinsam in diesem Haus wohnten, war es mir nicht gelungen, eine halbwegs freundschaftliche Beziehung zu ihr aufzubauen. Die Bombe, die ich gerade hatte platzen lassen, trug wahrscheinlich auch nicht gerade dazu bei, etwas daran zu ändern.

„Nun, das ist deine Meinung“, gab ich zurück. Bis jetzt hatten sie noch nie viel Interesse an meinem Leben gezeigt, es sei denn, die Mietzahlung war fällig oder ich hatte gebacken. Da konnte ich kaum erwarten, dass sie ausgerechnet jetzt damit anfingen. „Aber ich will das machen. Und wenn es gründlich schiefgeht, bin ich bereit, klaglos die Konsequenzen zu tragen.“

Gerade so, als wäre ich Luft, wandte sich Charlotte an Sarah und warf ihr viel zu glattes blondes Haar zurück, das abgesehen von ihren Augen, die einen regelrecht zu durchbohren schienen, das einzig wirklich Bemerkenswerte an ihr war. „Dave könnte einziehen.“

„Wirklich?“ Sarahs Stimmung hob sich von ernstlich verärgert zu leicht aufgebracht.

„Ich glaube schon. Er hat einen guten Job“ – die Betonung richtete sich direkt an mich, aber ich ließ mich davon nicht beeindrucken –, „ist zuverlässig und gäbe einen tollen Mitbewohner ab.“

„Äh, noch wohnt Nell hier“, wandte Tom ein, aber Sarah beachtete ihn nicht. Ganz offensichtlich gefiel ihr Charlottes Vorschlag. Da ich wusste, dass die beiden sich manchmal wie unglaublich unreife Schulmädchen aufführten, konnte ich mir vorstellen, dass sie sich womöglich schon ausmalte, wie die beiden Paare Vater-Mutter-Kind spielten und eine Doppelhochzeit planten …

Sarah strahlte. „Das ist perfekt. Wann ziehst du aus, Nell?“

Ihre Reaktion machte mir nichts aus, auch nicht die unverhohlene Schadenfreude, mit der Charlotte und Sarah mir später halfen, mein Zimmer auszuräumen. Natürlich unterhielten sie sich höflich mit mir, während wir arbeiteten. Aber ich wusste, dass wir einander nicht vermissen würden. Wir waren sowieso nie wirklich miteinander warm geworden. Die Wohngemeinschaft war nichts weiter als eine Übergangslösung gewesen, bis ich mir ein eigenes Zuhause leisten konnte. Tatsache war, dass wir wenig miteinander zu tun hatten, wenn wir uns nicht gerade im Flur begegneten oder uns gelegentlich zusammensetzten, weil Rechnungen bezahlt werden mussten. Wenn wir eng befreundet gewesen wären, wäre es wahrscheinlich schwerer gewesen, auszuziehen, aber so fiel es mir überraschend leicht, das alles hinter mir zu lassen.

„Wird dir Woodford fehlen?“, fragte Dad mich, als wir seinen vollgepackten Volvo durch den Londoner Verkehr zum Haus meiner Eltern in Richmond steuerten.

„Nicht wirklich.“

„Kann ich dir nicht verdenken, Nellie, mein Mädchen. Ich finde es ist eine fürchterliche Gegend. Außerdem wartet dein großes Abenteuer in Amerika auf dich!“

Ich erwiderte sein Lächeln und liebte ihn heute sogar noch mehr als sonst. Als ich ihm und Mum am Vortag von meinen Plänen für San Francisco erzählt hatte, hatte er mir spontan als Allererstes gratuliert. „Fantastisch! Lass dich von den Dreckskerlen in der Verwaltung nicht unterkriegen, Darling …“ Zunächst hatte ich Bedenken gehabt, wie sie die Nachricht, dass ihre schon ausgeflogene Tochter jetzt wieder ins Nest zurückkroch, wohl aufnehmen würden, aber sie hatten beide nicht mit der Wimper gezuckt.

Mum veranstaltete in den nächsten paar Tagen einen ziemlichen Wirbel um mich und bestand darauf, alle Kleidungsstücke, die ich mitnehmen wollte, zu waschen und mir alle meine Leibspeisen zu kochen. Die Geborgenheit meines Elternhauses fühlte sich gut an, auch wenn der plötzliche Mangel an Freiraum zunächst eine große Herausforderung war.

Aidan versuchte wiederholt, Kontakt aufzunehmen. Erst hinterließ er Nachrichten auf meiner Mobilbox, dann schickte er SMS, und schließlich wurden seine Anrufe zu einer Liste „verpasster Anrufe“ auf dem Display meines Handys, die immer länger wurde. All das ignorierte ich eisern. Ich war immer noch wütend auf ihn, nicht zuletzt, weil er ausgerechnet am Tag meiner Entlassung versucht hatte, mich anzubaggern. Ich war entschlossen, während meiner Amerikareise nicht an ihn zu denken. Das war meine Chance, mich auf mich selbst zu konzentrieren, und die wollte ich nicht darauf verschwenden, mir den Kopf über Aidan zu zerbrechen. Ich hatte sowieso schon viel zu viel von meiner Zeit an ihn verschwendet.

Während die Tage vergingen, ließ ich mich von den praktischen Aspekten meiner geplanten Reise gefangen nehmen, weil ich befürchtete, ich könnte es mir doch noch anders überlegen, wenn ich zu lange innehielt. Wann immer ich nervös wurde, rief ich mir in Erinnerung, dass ich das für mich tat. Dass das eine gute Entscheidung war.

Am Tag vor der Abreise traf ich mich noch einmal mit Vicky. Als sie von meiner plötzlichen Entscheidung erfuhr, reagierte sie aufgeregt und besorgt. Sie war überzeugt, dass dies der Vorbote eines Nervenzusammenbruchs oder der Beginn einer Midlife-Crisis sein musste.

„Das kann keine Midlife-Crisis sein“, protestierte ich lachend. „Ich bin erst zweiunddreißig.“

„Es könnte trotzdem sein, Nell“, beharrte sie. „Erst letzte Woche habe ich in der Cosmo einen Artikel über Frauen gelesen, die dreißig werden und ihr ganzes Leben umkrempeln. Und dann war da noch die Sache letztes Jahr, als du dir plötzlich die Haare schwarz gefärbt hast, weißt du noch? Selbst du musstest zugeben, dass es eine dämliche Entscheidung war. Schau: Ich weiß, es war ein schwerer Schlag für uns beide, den Job zu verlieren, aber meinst du nicht, dass das ein bisschen … extrem ist? Vor allem für jemanden wie dich. Ich meine, du warst immer diejenige, auf die ich mich verlassen konnte, wenn es darum ging, nach einer wilden Nacht wieder heil nach Hause zu kommen. Du bist die Vernunft in Person. Ich mache mir ein bisschen Sorgen wegen dieses Richtungswechsels.“

„Ich mache doch nur Urlaub“, entgegnete ich und reichte ihr ein weiteres Glas Gin Tonic. „Ich versuche nicht, mich selbst zu finden oder so was Überkandideltes. Sechs Jahre lang bin ich immer auf Nummer sicher gegangen und habe nie mal wirklich etwas nur für mich getan. Ich laufe nicht davon. Ich nehme mir nur eine Auszeit.“

Davon ließ Vicky sich schließlich fast überzeugen, stellte aber eine Bedingung: „Versprich mir, dass du mir E-Mails schickst. Jede Woche. Ich will sicher sein können, dass es dir gut geht. Außerdem will ich wissen, dass du diese Gelegenheit nicht verplemperst. Also erwarte und verlange ich von dir, aus den nächsten zwei Monaten jedes bisschen Spaß herauszuholen, das du nur irgendwie herausholen kannst. Und ich erwarte Einzelheiten, Madame. So oft wie möglich.“

Natürlich stimmte ich sofort zu. Ich war so dankbar, dass die Menschen, die mir wichtig waren, mich so unglaublich unterstützten.

Als ich an jenem Abend im Bett lag, viel zu aufgeregt, um zu schlafen, fragte ich mich, was mir die nächsten acht Wochen wohl bringen mochten.

Jetzt ist es so weit, Nell Sullivan. Morgen beginnt das Abenteuer.

4. Kapitel

Guten Morgen, San Francisco

„Meine Damen und Herren, in Kürze werden wir auf dem San Francisco International Airport landen. Die Ortszeit ist elf Uhr dreißig. Es ist sonnig, und es herrscht leichter Westwind. Die Temperatur am Boden beträgt freundliche zweiundzwanzig Grad Celsius. Bitte schnallen Sie sich an, klappen Sie Ihre Tischchen hoch und bringen Sie Ihre Sitze in aufrechte Position …“

„Fast zu Hause“, meinte die sonnengebräunte Dame auf dem Platz neben mir lächelnd. Während des elfstündigen Anschlussflugs vom Pariser Charles-de-Gaulle-Flughafen hatte ich erfahren, dass sie Patti hieß, auf dem Rückflug von einer Geschäftsreise nach Paris war und irgendeine bedeutende Position in einer Firma für elektronische Sicherheitssysteme innehatte. Als sie hörte, dass ich ihre Stadt zum ersten Mal besuche, stürzte sie sich in eine enthusiastische Schilderung all der Plätze, die ich mir unbedingt anschauen musste: von Alcatraz bis zum Museum of Modern Art, von Macy’s bis zu einer ganz bestimmten Latino-Jazz-Bar im Mission District, die sie oft aufsuchte. Nach etlichen Stunden voller Besichtigungsvorschläge hatte ein Teil von mir das Gefühl, die Stadt schon zu kennen. „Süße, du wirst eine wundervolle Zeit haben. Auf der ganzen Welt gibt es keinen zweiten Ort wie diesen.“

Während das Flugzeug in einen langsamen, ruckeligen Sinkflug durch den feinen weißen Wolkenschleier ging, schaute ich aus dem Fenster. Die Woche seit meiner denkwürdigen Entscheidung in dem kleinen Islingtoner Reisebüro war nur eine verschwommene Erinnerung: wie ich meine aufgeschreckten Mitbewohner informiert hatte, wie ich wieder bei meinen noch überraschteren Eltern eingezogen war, ein Visum beantragt, einen neuen Koffer und Kleider für das zweimonatige amerikanische Abenteuer gekauft und die Anrufe von Aidan ignoriert hatte, der einfach nicht zu begreifen schien, dass ich nichts mehr mit ihm zu tun haben wollte. Als ich in der Wartezeit auf meinen Anschlussflug in Paris mein Smartphone checkte, näherte sich die Zahl der verpassten Anrufe von ihm der Zwanzig. Ich hatte immer noch nicht vor, mit ihm zu reden. Die nächsten acht Wochen meines Lebens waren ein unbeschriebenes weißes Blatt, eine Chance für einen Neuanfang. Wenn diese Zeit vorbei war, konnte ich wieder anfangen, darüber nachzudenken, was ich als Nächstes tun sollte. Aber jetzt, in diesem Augenblick, stand Nell Sullivan kurz vor der Ankunft in San Francisco – ohne eine Agenda, einen Plan oder irgendwelche Einschränkungen.

Ich war so mit den Details und der Logistik meines genialen Plans beschäftigt gewesen, dass mich die Realität erst in dem Moment einholte, als das Flugzeug landete. Während es langsam über die Runways zu den Terminals rollte, meldete sich meine vernünftige Seite (die sich in den letzten sieben Tagen durch bemerkenswerte Abwesenheit bei der Entscheidungsfindung hervorgetan hatte) mit einem beeindruckenden Wutanfall zurück.

Was tue ich nur? Warum schmeiße ich für das hier mein ganzes Geld zum Fenster raus?

Ich besuchte einen Ort, an dem ich noch nie war, um acht Wochen bei einer Cousine zu verbringen, die ich seit Jahren nicht mehr gesehen hatte. Ja, als Teenager waren wir unzertrennlich gewesen, aber das war lange her. Zweifellos hatte Lizzie sich verändert, genauso wie ich. Als ich sie aus dem Reisebüro angerufen hatte, hatte ich ihr mehr oder weniger die Pistole auf die Brust gesetzt und ihr praktisch keine Wahl gelassen. Was, wenn sie nur deshalb acht Wochen vorgeschlagen hatte, weil sie das Gefühl hatte, dass sich das einfach so gehörte? Denn eines wusste ich ganz sicher: Meine Cousine war ganz offiziell der netteste Mensch auf der ganzen Welt. Bevor sie jemanden vor den Kopf stieß, riss sie sich lieber für ihn ein Bein aus. So war sie schon als Kind und Jugendliche gewesen.

In der Enge der Flugzeugkabine wurde ich immer nervöser, und eine ausgewachsene Panikattacke kündigte sich an. Wenn wir einander erst auf den neuesten Stand gebracht hatten, was unser Leben anging, worüber sollten wir dann reden? Mir wurde bewusst, dass sich mein Leben in den letzten Jahren mehr oder weniger ausschließlich um meine Arbeit und um die Frage gedreht hatte, ob Aidan und ich nun ein Paar waren oder nicht. Selbst das Backen, das mir immer sehr viel bedeutet hatte, hatte ich mehr oder weniger aufgegeben, nicht zuletzt auch wegen des zweifelhaften Zustands der Küche in meiner ehemaligen Wohngemeinschaft. Und jetzt ließ ich nicht nur all das hinter mir zurück, sondern musste mir auch Gedanken darüber machen, womit ich die Zeit jetzt füllen wollte. Fragen in Bezug auf meine Zukunft warteten zu Hause auf mich. Mit ihnen konnte ich mich später befassen. Aber die Fragen, die sich auf die nächsten zwei Monate meines Lebens bezogen, standen in San Francisco bereit. Was, wenn Lizzie nicht darauf vorbereitet war, jemanden willkommen zu heißen, der so wenig über sich selbst wusste?

Nachdem ich mich selbst nervös genug gemacht hatte, näherten wir uns dem Terminal. Und plötzlich fühlte ich mich entschieden positiver. Alles wird gut gehen, redete ich mir ein. Jetzt konnte ich sowieso nichts ändern, und die fehlenden Antworten würde ich in San Francisco finden müssen.

Außerdem hatte ich Vicky versprochen, das Beste aus meinem Aufenthalt hier zu machen. Der Gedanke daran, dass sie zu Hause mit dem Schock der Arbeitslosigkeit fertigwerden musste, belastete mich, aber sie hatte trotzdem darauf bestanden, dass ich das Richtige tat.

„Mach dir keine Sorgen um mich. Du brauchst das, Nell. Und ich brauche jedes fantastische, blutrünstige Detail, das du mir bieten kannst. Ich zähle darauf, dass du mich unterhältst. In Ordnung?“

In der Schlange vor der Passkontrolle, die sich nicht zu bewegen schien, lächelte ich in mich hinein. Das schaffte auch nur Vicky, so eine Forderung auf eine Art zu stellen, dass sie nach Vergnügen klang.

„Sind Sie zum ersten Mal in San Francisco, Ma’am?“, fragte der Hüne von Passkontrolleur. Seine Höflichkeit stand in seltsamem Kontrast zu seinem Äußeren, wirkte er doch, als könnte er mir so leicht das Genick brechen, wie man einen Bleistift zerbricht, wenn er nur wollte.

„Ja, das bin ich.“

Er hielt meinen Reisepass hoch, und der Blick seiner dunklen Augen unter den buschigen Brauen huschte zwischen meinem Gesicht und meinem furchtbar peinlichen Passfoto hin und her. Gerade als mir unter der eingehenden Musterung unbehaglich zu werden drohte, reichte er mir den Pass zurück. „Vielen Dank. Genießen Sie Ihren Aufenthalt.“

Dieser freundliche Wunsch war nicht gerade überschwänglich, aber ich dankte ihm lächelnd und sah zu, dass ich wegkam – nur für den Fall, dass er plötzlich auf die Idee kam, mir doch noch das Genick zu brechen.

Obwohl ich von meinen Mitreisenden aus England und Frankreich umgeben war, wusste ich im selben Moment, als ich die Gepäckausgabe betrat, dass ich in Amerika war. Der Lärm in der riesigen Halle hatte einen unverkennbaren Klang, die Formulierungen auf den Richtungs- und Informationsschildern unterschieden sich ganz leicht von denen in Heathrow und Paris Charles de Gaulle, und in der zugegebenermaßen unpersönlichen Umgebung schien eine etwas andere Atmosphäre zu herrschen.

Als ich schließlich mitsamt meinem Gepäck aus dem langen, tunnelähnlichen Gang in die Ankunftshalle hinaustrat, schlugen Lärm, Licht und Hektik über mir zusammen, sodass ich erst mal Mühe hatte, mich zu orientieren. An den Absperrungen drängten sich Leute, die alle möglichen Namensschilder in die Höhe hielten. Ich ließ den Blick schweifen, bis ich Lizzie entdeckte, die strahlend wie ein Honigkuchenpferd ein Pappschild schwenkte, das von einer knallrosa Federboa gerahmt war. Darauf prangte mein Name in kunstvollen Buchstaben aus buntem Glitzer und Pailletten. Verblüfft stellte ich fest, wie herrlich entspannt sie wirkte. Ihr gewelltes blondes Haar hatte sie locker hochgesteckt, die Sonnenbrille hineingeschoben, und ihre sonnengebräunte Haut leuchtete im Kontrast zu ihrer weiten weißen Bluse und den blassblauen Shorts.

„Nellie!“, schrie sie und schlüpfte unter dem gespannten Absperrband hindurch, sodass die leuchtend rosa Federn nur so stoben.

„Hi!“

Im nächsten Moment hätte sie mich mit ihrer stürmischen Umarmung fast zu Boden geworfen.

„Ich freue mich so, dass du da bist! Wie geht es dir? Wie war dein Flug? Hast du Hunger? Du hast bestimmt Hunger. Wir fahren mit dem Taxi nach Hause, also können wir so ziemlich überall anhalten. Sag mir einfach nur, worauf du gerade Lust hast, und wir finden es für dich. Schließlich ist das hier San Francisco. Kaffee! Ich wette, du brauchst dringend einen Kaffee. Die erste Begegnung mit American Joe ist immer etwas Besonderes, glaub mir …“ Sie verstummte gerade lange genug, um Luft zu holen, und lächelte mich reumütig an. „Ich rede zu viel, stimmt’s?“

Ich musste lachen. „Äh …“

„Oh, tut mir leid. Ich konnte letzte Nacht vor Aufregung nicht schlafen, also habe ich schon um fünf meinen ersten Kaffee getrunken, und jetzt bin ich natürlich ziemlich aufgekratzt. Also – willkommen in San Francisco!“

Ich lachte. „Danke. Hübsches Schild übrigens.“

„Hat ein bisschen was von Hollywood, oder?“, meinte Lizzie kichernd und schwenkte das Schild, sodass wieder Glitzer und Federn auf den Boden rieselten. „Ich habe den Kindern in meinem Hort von dir erzählt, und sie wollten unbedingt helfen. Du musst wissen, dass dies ein absolut einzigartiges, exquisites Willkommensschild ist.“

„Okay, ich fühle mich geehrt.“

„Du musst unbedingt mal mitkommen und die Kinder kennenlernen, solange du hier bist. Sie sind schon ganz aufgeregt, weil sie eine Engländerin kennenlernen dürfen. Du wirst dir vorkommen wie ein Star.“ Lizzie griff nach meinem Koffer, und wir gingen zusammen durchs Terminal zum Ausgang. „So, wir können jetzt alles tun, was du willst. Ich schlage vor, du legst dich erst mal nicht schlafen. So hast du bessere Chancen, dem Jetlag wenigstens ein bisschen ein Schnippchen zu schlagen. Mich hat dieser Flug immer fix und fertig gemacht.“

Ich war müde – die Art von Müdigkeit, bei der einem jeder Knochen im Leib wehtat –, aber plötzlich machte sich auch ein Bärenhunger bemerkbar. Und wie ein Kind am frühen Weihnachtsmorgen war ich wild entschlossen, keine Sekunde des Tages, der vor mir lag, zu verpassen. Schlafen konnte ich später immer noch. Jetzt wartete eine völlig neue, unbekannte Stadt darauf, von mir entdeckt zu werden.

Unser Taxifahrer, ein beleibter Grieche Anfang fünfzig, stellte sich als Apollo vor, als er anfuhr und sich in den fließenden Verkehr Richtung Freeway einordnete.

„Zum ersten Mal in San Fran? Es wird ihnen gefallen, Lady! Im Herbst sind es sechzehn Jahre, dass ich hier wohne, und es ist der beste Ort, an dem ich je gelebt hab. Ohne Ausnahme. Ich habe mir hier ein Zuhause eingerichtet, meine Frau kennengelernt, ich ziehe hier meine Kinder groß. Es ist eine besondere Stadt.“

Als er Lizzie und mich im Rückspiegel ansah, glitzerten seine dunklen Augen. Ich erwiderte sein Lächeln, überwältigt von dem Gefühl, zu Hause zu sein, obwohl ich Tausende von Meilen von zu Hause fort war.

Das warme kalifornische Sonnenlicht durchflutete den Wagen. Ich war zwar ein wenig durcheinander von der Landung in diesem lauten fremden Land voller Trubel mitten am Vormittag, trotzdem fesselte die Szenerie, die an den Fenstern vorbeizog, meine Aufmerksamkeit. In der Ferne erhoben sich Hügel, über uns wölbte sich ein klarer blauer Himmel, und alles war in das goldene Licht der Sonne getaucht.

„Ich kann immer noch nicht ganz glauben, dass du hier bist“, sagte Lizzie und hakte sich bei mir ein. „Es ist so schön, dich wiederzusehen.“

„Das finde ich auch. Das hat viel zu lange gedauert.“

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