Arzt gesucht - Liebe gefunden

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Wie ein junger Gott steht Dr. Matteo Di Salvo vor ihr und bringt Roses Herz aus dem Takt. Der feurige Arzt ist ihr Traummann - aber kein Daddy für ihren Sohn. Sie kann mit Matteo nur kurz glücklich sein, dann muss Rose zurück in ihr altes Leben …


  • Erscheinungstag 06.02.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751505574
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Der prächtige Bau leuchtete weiß in der Sonne. Der große Vorplatz und die Reihe hoher Palmen hinter dem Gebäude wiesen darauf hin, dass dies ein wichtiger Ort war. Rose Palmer nahm ihren kleinen Sohn bei der Hand und betrat durch die breite Eingangstür einen weitläufigen Empfangsbereich, in dem es nach der Nachmittagshitze draußen erfrischend kühl war.

Als Besucher sah man sofort, dass dieses Gebäude einem bestimmten Zweck diente. Jeder Archäologe – und Rose war da keine Ausnahme – wusste um die Wichtigkeit, dass man einen solchen Zweck auf Anhieb erkannte. In diesem Bau wiesen die hohen Decken und klaren Linien darauf hin, dass die Arbeit, die hier getan wurde, für die Menschen sehr bedeutsam war.

Aus Angst, William zwischen den anderen Besuchern zu verlieren, hielt Rose ihn fest an der Hand. Da sie keinen Empfangstresen sah, war es wohl am besten, jemanden zu fragen.

„Scusi …“

Eine Frau in einer weißen Bluse mit dem Logo des Krankenhauses auf der Brusttasche blieb stehen und fragte lächelnd etwas auf Italienisch.

„Inglese.“ Rose reichte ihr den Zettel, den ihre Freundin Elena ihr gegeben hatte. Darauf standen die Einzelheiten zu Williams Termin auf Italienisch.

„Ah. Sì.“ Rasch überflog die Frau den Zettel und warf William ein strahlendes Lächeln zu.

Allmählich war Rose mit der Art vertraut, mit der Sizilianer ihr liebevollstes Lächeln immer für kleine Kinder reservierten. Auch ihr Sohn hatte sich bereits daran gewöhnt. William hob den Arm, und die Frau nahm seine kleine Hand.

„Terzo piano.“ Die Frau zeigte auf den Lift, besann sich dann jedoch eines Besseren. Sie holte einen Stift aus der Tasche und lehnte sich an einen Wasserspender, um etwas auf den Zettel zu schreiben. Schließlich gab sie Rose den Zettel zurück, hielt den Daumen und zwei Finger hoch und zeigte wieder auf den Lift. Als Hinweis darauf, dass sie zur dritten Etage hochfahren sollte.

Dritte Etage rechts, dann die zweite Tür links. Rose nickte lächelnd und bedankte sich in gebrochenem Italienisch. Nachdem die Frau fröhlich etwas erwidert hatte, schaute sie ihnen bis zum Lift nach.

Oben wirkten die Flure weniger großartig und zweckmäßiger. Der Wegbeschreibung folgend, kam Rose in ein kleines, gemütliches Wartezimmer, in dem bereits mehrere Erwachsene und Kinder saßen. Eine Sprechstundenhilfe las ihren Zettel und lud sie mit einer Handbewegung ein, auf einem Stuhl Platz zu nehmen, ehe sie nach dem Telefonhörer griff.

Rose ging in die hintere Ecke des Raums, wo sie sich hinsetzte. Lieber wäre sie für die Untersuchung nach England zurückgeflogen, doch Elena und ihr Mann hatten davon nichts hören wollen. Alle Gastarchäologen, die an der Ausgrabung mitarbeiteten, waren privat versichert, und dieses Krankenhaus wäre eines der besten der Welt. Sie würden einen Termin für sie vereinbaren und einen Übersetzer anfordern, sodass William in den allerbesten Händen wäre. Schließlich war Rose zu Gast auf Sizilien, und alles andere würde als mangelhafte Gastfreundschaft gewertet.

Eins hatte Rose sehr schnell gelernt, nämlich dass man die sizilianische Gastfreundschaft unter keinen Umständen infrage stellen durfte. Also hatte sie das Angebot angenommen und war hierhergefahren. Falls die Sprachbarriere sich als zu groß herausstellen sollte, würde sie unter einem Vorwand einfach für zwei Tage mit William nach Hause fliegen.

Jemand lachte, und als Rose den Kopf hob, erblickte sie einen Mann, der mit der Sprechstundenhilfe plauderte. Diese lächelte ihn auf die Art an, wie Frauen es taten, wenn ein Mann, der ihnen sympathisch war, auch noch umwerfend gut aussah.

Selbst nach den strengen Maßstäben der Insel war dieser Mann geradezu atemberaubend attraktiv. Er hatte dunkles Haar, das ihm bis zum Kragen reichte, glatte, gebräunte Haut, hohe Wangenknochen und Lippen, zum Lächeln wie geschaffen. Zwar konnte Rose seine Augen nicht erkennen, sie nahm jedoch an, dass sie dunkelbraun waren.

Nur ein Mann wie er konnte ein solches Jackett tragen, in einem dunklen Beige und offenbar aus Leinen. An jedem anderen hätte es verknittert gewirkt. Aber an ihm schien es, als wäre jede Falte sorgfältig gestylt, um seine breiten Schultern und die schmalen Hüften zu betonen.

Plötzlich drehte er sich um und schaute Rose direkt an. Seine Augen waren tatsächlich von einem tiefen Braun, wie dunkle Schokolade. Verlegen senkte Rose den Blick.

„Mrs. Palmer?“ Er kam herüber und ließ sich auf einem Stuhl ihr gegenüber nieder. Sogar seine Stimme klang nach Schokolade.

Ms. Palmer.“ Ein Kompromiss für eine Singlefrau mit Kind. „Ähm … Parla inglese?“

Er lachte. „Ja, ich spreche Englisch. Ich bin Matteo Di Salvo, und ich soll für Dr. Garfagnini übersetzen. Er ist der Kinderarzt, bei dem William seinen Termin hat.“

Wunderbar. Sein Englisch war klar und fast akzentfrei, auch wenn es durch sein etwas langsameres Sprachtempo irgendwie verführerisch klang. Aber vielleicht war das einfach seine Art zu reden. Verführerisch von Kopf bis Fuß.

Rose atmete tief durch und versuchte, sich auf das Wesentliche zu konzentrieren. „Sie sind der Übersetzer hier?“

„Nein, ich bin Arzt. Unsere Übersetzerin ist gerade mit zwei englischen Touristen in der Notaufnahme beschäftigt.“ Er zuckte die Achseln. „Dr. Garfagnini wird sich ein paar Minuten verspäten. Deshalb dachte ich, ich könnte die Gelegenheit nutzen, um William ein bisschen kennenzulernen.“

Attraktiv und liebenswürdig. Und er sprach Englisch. Dieser Mann war zu gut, um wahr zu sein.

„Vielen Dank, Dr. Di Salvo. Das ist sehr freundlich von Ihnen.“ Rose streckte ihm die Hand entgegen.

„Bitte nennen Sie mich Matteo.“ Die sanfte Berührung seiner Finger war ebenso faszinierend wie der ganze Rest.

„Ciao.“ William, der in den vergangenen drei Wochen einige italienische Wörter gelernt hatte, hatte auch gemerkt, dass er damit Anerkennung ernten konnte.

Ciao, William.“ Matteo hielt ihm die Hand hin, und William nahm sie, wobei er zu dem großen Mann aufsah. „Dein Italienisch ist sehr gut. Molto bene.“

„Molto bene“, wiederholte William. „Dein Englisch ist auch sehr gut.“

Matteo nickte lächelnd. „Vielen Dank. Ich habe mal in London gelebt.“

„Ich wohne in London!“, rief William begeistert aus.

„Tatsächlich? Für welche Fußballmannschaft bist du denn?“

„Die Tufnell Park Cheetahs. Das sind die Besten.“

Niemand kannte die Tufnell Park Cheetahs, außer einer Handvoll Anhänger, die sonntags morgens auftauchten, um sie im Park spielen zu sehen.

Trotzdem nickte Matteo ernsthaft. „Und wie alt bist du?“

Es war schwer zu sagen, ob seine Fragen nur dazu dienten, sich die Zeit zu vertreiben, oder ob er William gleichzeitig auf irgendeine Art testete. Rose vermutete, dass es wohl beides war.

William zählte an seinen Fingern ab. „Uno, due, tre … vier. Und vier Tage.“

Wieder nickte Matteo. „Quattro. E quattro giorni.“ Aufmerksam hörte er zu, während William die Worte wiederholte, und lächelte dann. „Molto bene. Was heißt das, William?“

„Das heißt sehr gut.“

William war ein intelligenter kleiner Junge und hatte im Gegensatz zu Rose keine Hemmungen, sein Italienisch zu benutzen. In dieser Beziehung war alles in Ordnung. Was ihr Sorgen machte, war sein seltsames Verhalten, seitdem sie nach Italien gekommen waren.

Da die anderen Familien inzwischen alle das Wartezimmer verlassen hatten, stand die Sprechstundenhilfe von ihrem Schreibtisch auf, um das verstreute Spielzeug einzusammeln und in eine Kiste in der Ecke zu räumen.

„Wenn du willst, kannst du dir da was nehmen.“ Matteo deutete auf die Spielzeugkiste.

Sofort lief William hin, blieb jedoch zwei Schritte davor stehen. Die Sprechstundenhilfe lächelte, griff hinein und bot ihm ein Spielzeugauto an, das er erfreut in die Hand nahm.

Matteo wandte sich an Rose. „Warum haben Sie ihn zu uns gebracht?“

Sie öffnete ihre Handtasche. „Meine Freundin hat es auf Italienisch formuliert. Ich kann es schlecht beschreiben.“

„Danke, aber ich würde es zuerst lieber in Ihren eigenen Worten hören.“ Er nahm den Zettel entgegen, den sie ihm hinhielt, ohne einen Blick darauf zu werfen. „Ihr Gefühl als Mutter nehmen wir durchaus ernst.“

Noch eine Hürde, die unter diesen dunklen Augen einfach dahinzuschmelzen schien.

„Er kann sehen, aber manchmal scheint er nicht zu begreifen, was er sieht“, antwortete Rose. „Das ist merkwürdig, weil er normalerweise so aufgeweckt ist.“

„Das hat erst kürzlich angefangen?“

„In den letzten drei Wochen, seit wir hier in Sizilien sind, ist es mir aufgefallen. Ich mache mir Sorgen, ob er sich vielleicht irgendwo den Kopf angeschlagen hat, ohne dass ich es mitbekommen habe. Oder dass es etwas mit dem Flug zu tun hat“, erklärte sie.

Rasch überflog Matteo den Zettel. „Und sein Verhalten?“

„Er nimmt es sehr schwer, wenn er manchmal dumme Fehler macht. Aber im Allgemeinen scheint er ganz glücklich zu sein.“

„Ist das neu? Oder wäre es möglich, dass durch die unbekannte Umgebung ein lang andauerndes Problem erst deutlicher hervorgetreten ist?“, fragte er.

„Das kann ich nicht sagen. Ich habe es gerade erst bemerkt.“ Rose versuchte, das allzu vertraute Schuldgefühl zu unterdrücken. Das half jetzt nicht weiter, und Matteo wollte nur alle Möglichkeiten mit einbeziehen.

„Wo wohnen Sie? Arbeiten Sie hier, oder machen Sie Urlaub?“ Matteo schien William aus dem Augenwinkel zu beobachten. Der Kleine spielte fröhlich mit der Sprechstundenhilfe, indem er Spielzeugautos über ihren Schreibtisch um die Wette fahren ließ.

„Ich bin Archäologin und arbeite hier an einem Projekt mit. Einer meiner italienischen Kollegen hat ein großes Haus in Palermo gemietet, das ich mir mit ihm und seiner Familie teile. Seine Frau Elena kümmert sich um William und ihre eigenen Kinder, solange ich arbeite.“

„Sie sind alleinerziehend?“

„Ja.“ Rose presste die Hände zusammen. Obwohl sie ihr Bestes tat, wusste sie, dass sie William nicht all die Aufmerksamkeit schenken konnte, die er eigentlich brauchte. Es überraschte sie, wie sehr es ihr zu schaffen machte, dass sie den Ansprüchen dieses Mannes als Mutter vielleicht nicht genügen könnte.

„Wie verhält er sich beim Essen?“, fragte Matteo weiter. „Ich nehme an, er hat hier einige neue Gerichte kennengelernt.“

„Ja. Beim Essen ist er schon immer sehr vorsichtig gewesen. Aber jetzt isst er nichts, ohne vorher daran zu riechen und es anzufassen“, erwiderte sie. „Ich ermutige ihn immer dazu, etwas Neues zu probieren, und meistens mag er es auch. Aber beim nächsten Mal scheint er es nicht wiederzuerkennen und macht dasselbe noch mal.“

Matteo nickte nachdenklich, als ob das für ihn einen Sinn ergeben würde. Allerdings behielt er seine Gedanken für sich. Er entschuldigte sich und ging hinüber zum Schreibtisch, wo er sich an dem Autowettrennen beteiligte. Er und William stellten die Autos in Reihen auf, um sie aufeinanderfahren zu lassen.

Eines der Autos flog dabei hoch in die Luft. Geschickt fing Matteo es auf, bevor es in der Kaffeetasse der Sprechstundenhilfe landete. Mit einem Blick in Roses Richtung verdrehte die Frau die Augen, und Matteo sah sie etwas zerknirscht an. Doch ein lachender Kommentar zeigte, dass der umwerfende Dr. Di Salvo hier nichts falsch machen konnte. Er kam zu Rose zurück.

„Was meinen Sie?“, erkundigte sie sich.

Achselzuckend sagte er: „Ich vertreibe uns bloß ein bisschen die Zeit, bis Dr. Garfagnini kommt.“

Na schön, dachte sie. Vermutlich wurde es überall auf der Welt mit derselben Missbilligung betrachtet, wenn ein Arzt seine Diagnose zu dem Patienten eines Kollegen abgab.

Sie hatte einen zarten, cremefarbenen Teint und strahlend blaue Augen. Dazu helles, schulterlanges Haar, das ihr gelegentlich ins Gesicht fiel, bevor sie es wieder zurückstrich. Matteo hätte sie zu gern berührt, um die seidig aussehende Haut und ihre Haare zu spüren.

Und sie machte sich ganz offensichtlich Sorgen um ihren kleinen Sohn. Ms. Palmer war bemüht, den Eindruck zu erwecken, als würde sie ihm alles erzählen. Doch die Zurückhaltung hinter ihrem höflichen Lächeln zeigte, dass sie irgendetwas wegließ. Vielleicht war es wichtig, vielleicht aber auch nicht.

Aber vielleicht war seine Einschätzung auch ungerecht. Immerhin sprach sie nicht mehr als ein paar Brocken Italienisch. Unter solchen Umständen wäre jeder gestresst, der sein Kind ins Krankenhaus bringen musste.

„Wo genau arbeiten Sie denn?“ Er setzte sich neben sie, wobei er einen Stuhl zwischen ihnen freiließ.

„Es ist ein Gemeinschaftsprojekt dreier Universitäten. Meine aus London, eine aus Rom und eine von hier. Wir machen eine Ausgrabung oben in den Hügeln.“

Sie sah viel zu gepflegt aus, um in den Hügeln herumzusteigen und nach alten Artefakten zu graben. Ihre Haut schien von der Sonne unberührt zu sein, ihre Hände klein und weich. Wahrscheinlich trug sie bei ihrer Arbeit Hut und Handschuhe.

„Was ist Ihr Fachgebiet?“, fragte Matteo.

„Ich bin Osteologin.“

Also war sie eine Expertin für alles, das Knochen beziehungsweise das Skelettsystem anging. „Dann überschneiden sich unsere Interessengebiete.“ Es freute ihn, eine solche Gemeinsamkeit mit ihr gefunden zu haben.

Sie nickte. „Normalerweise habe ich mit älteren Knochen zu tun als Sie hier im Krankenhaus, aber ich habe mich auch eine Zeit lang mit forensischer Osteologie beschäftigt.“

„Das ist ein schwieriger Job.“ Forensische Osteologen befassten sich mit der jüngeren Vergangenheit, mit Kriegsgräbern oder Verbrechen.

„Ja, manchmal schon.“ Sie holte Luft, als wollte sie noch etwas sagen, schwieg dann jedoch.

Matteo beschloss, es dabei zu belassen. „Sie müssen sehr gut sein in dem, was Sie tun.“ Aufgrund der umfangreichen Geschichte Siziliens und der zahlreichen archäologischen Stätten auf der Insel war es eher ungewöhnlich, Fachleute aus dem Ausland hinzuzuziehen.

Unvermittelt lächelte sie. Ein echtes Lächeln, das sogar ein wenig Feuer verriet. „Das bin ich.“

„Aber Sie unterrichten hauptsächlich?“

„Wie kommen Sie darauf?“

„Ihre Hände.“

Wieder lächelte sie. Dieses Mal war ein Hauch von Sinnlichkeit dabei, der umso intensiver wirkte, weil sie ansonsten sehr kontrolliert war.

„Sie sind ein guter Beobachter. Beim Graben trage ich Handschuhe. Und ja, ich unterrichte auch.“

Während ihres Gesprächs lief William eifrig hin und her, um ihr Autos in den Schoß zu legen. Sie sammelte sie auf und ging dann zur Spielzeugkiste, um die Autos dort ordentlich an ihren Platz zu stellen.

Auch wenn er nicht für die Diagnose von William zuständig war, hatte Matteo doch einiges erkannt, was Dr. Garfagnini nützlich sein konnte.

Die Mutter des Kleinen war schön. Matteo verfolgte mit den Augen, wie der weite Rock ihre schlanken Beine umspielte, er sah die sanften Rundungen unter dem Top, ehe sein Blick über ihre bloßen Arme glitt.

Ihr Sohn war Patient in diesem Krankenhaus, doch das machte keinen Unterschied. Matteo hatte schon einmal eine Frau geliebt, die Kinder gehabt hatte. Den Schmerz, den er damals verursacht hatte, konnte er nicht mehr rückgängig machen. Keine Frau, und sei sie noch so schön, würde etwas an seinem Entschluss ändern. Wenn er nachts ruhig schlafen wollte, durfte er ihren perfekten Porzellanteint niemals berühren.

Dr. Garfagnini war ein kleiner Mann mittleren Alters mit einem freundlichen Gesicht. Als er am Eingang des Wartezimmers erschien, winkte er Matteo zu sich, und Rose fasste nach Williams Hand. Unwillkürlich klopfte ihr Herz schneller. Vielleicht handelte es sich ja wirklich um ein schon länger bestehendes Problem, das ihr bisher entgangen war.

Nach der allgemeinen Vorstellungsrunde setzten sie sich an einen großen, niedrigen Tisch in Dr. Garfagninis hellem, luftigem Sprechzimmer. William bekam Wachsmalkreiden und Papier, und Dr. Garfagnini schob für ihn einen gepolsterten Hocker an den Tisch. Es wurde Kaffee hereingebracht, bei dem Matteo allerdings sofort abwinkte, was ihm eine scherzhafte Bemerkung seines Kollegen einbrachte.

„Er meint, ich wäre ein Kaffee-Snob. Dafür muss man auf unserer Insel einiges tun“, erklärte Matteo. „Ich werde Dr. Garfagnini jetzt zunächst alles berichten, was Sie mir erzählt haben. Und dann hat er sicher noch einige Fragen an Sie.“

Es wurden viele Fragen gestellt, und gelegentlich schienen Matteos Übersetzungen länger zu sein als ihre Antworten.

Roses Besorgnis stieg immer mehr, und schließlich hielt sie es nicht mehr aus. „Können Sie mir bitte sagen, was Sie ihm gerade erzählt haben? Ich muss wissen, was los ist.“

„Natürlich. Verzeihung. Ich hatte nur erwähnt, was im Wartezimmer passiert ist“, erwiderte Matteo.

„Was ist denn passiert?“ Rose presste die Lippen zusammen, denn William schaute von den blauen und braunen Klecksen auf, die er gerade malte.

„Wir haben mit Autos gespielt“, erklärte der Junge.

Matteo nickte mit einem breiten Lächeln, und William malte ruhig weiter.

Dann wandte Matteo sich an Rose. „Dr. Garfagnini würde ihn gerne auf Farbenblindheit testen.“

„Farbenblindheit?“ Wie hatte ihr das entgehen können? Rose nahm ihre Tasse, merkte jedoch, dass sie bereits leer war, und stellte sie mit bebenden Fingern wieder auf den Tisch zurück. Das Spiel war also tatsächlich ein Test gewesen.

„Der Test ist ganz einfach.“ Ein mitfühlender Ausdruck lag in Matteos braunen Augen.

„Nein. Sorry. Ja, bitte, tun Sie das.“ Am liebsten hätte sie William an sich gedrückt. Weil ihr so etwas nie in den Sinn gekommen war, hatte sie zugelassen, dass die Welt um ihn herum ihn verwirrt hatte, weil er die Dinge nicht so sehen konnte wie sie.

Wie betäubt schaute sie zu, als Dr. Garfagnini mehrere Farbtafeln herbeiholte, die offenbar speziell für Kinder gemacht waren. Denn die farbigen Punkte bildeten Quadrate, Dreiecke und Kreise anstatt Zahlen. Matteo erklärte William, was er machen sollte, wobei er ihm das Ganze wieder wie ein Spiel beschrieb.

Erschrocken beobachtete Rose, dass ihr Sohn beinahe ein Drittel der Formen auf den Tafeln nicht erkannte.

Danach gab es noch mehr Spiele, die sich alle um Farben drehten. Matteo tat so, als würde er Fehler machen. Manche davon verbesserte William fröhlich, andere dagegen bemerkte er nicht. Dann folgte noch eine Augenuntersuchung, bis Dr. Garfagnini schließlich nickte und auf Italienisch mit Matteo sprach.

„Was hat er gesagt?“ Wegen William bemühte Rose sich, das Zittern in ihrer Stimme zu unterdrücken.

„Seiner Meinung nach ist Ihr Sohn farbenblind. Es ist eine Erbkrankheit, für die es weder Medikamente noch irgendeine Heilung gibt. Es ist einfach die Art und Weise, wie er die Welt wahrnimmt.“ Matteo brach ab, als Rose eine Träne über die Wange rollte, die sie schnell wegwischte.

„Ansonsten ist Ihr Sohn aber völlig gesund.“ Forschend sah er sie an.

„Ja, vielen Dank.“ Sie wandte sich Dr. Garfagnini zu. „Grazie.“ Entschlossen straffte sie die Schultern und blinzelte die Tränen fort.

Nach einem kurzen Wortwechsel auf Italienisch nickte Matteo und sagte zu Rose: „Dr. Garfagnini hat noch einen Abendtermin und muss gleich gehen. Aber er hat vorgeschlagen, dass ich Ihnen vielleicht noch ein paar praktische Hinweise geben könnte, falls Sie noch Zeit haben.“

„Wieso? Was für ein Mediziner sind Sie denn?“

Er warf ihr sein entspanntes, verführerisches Lächeln zu. „Ich bin Facharzt für Interventionsradiologie. Und rot-grün-blind, so wie Ihr Sohn.“

2. KAPITEL

Matteo wusste, dass jeder Elternteil bei einer solchen Nachricht erschrocken reagieren würde. Doch Rose wirkte so entsetzt, als hätte er ihr den Weltuntergang innerhalb der nächsten zehn Minuten angekündigt.

Trotzdem hatte sie sich rasch wieder gefasst und dankte sowohl ihm als auch Dr. Garfagnini mit einem höflichen Lächeln. Dieser eine Moment hatte Matteos Neugier geweckt. Da ihre Reaktion auch Dr. Garfagnini nicht entgangen war, hatte er Matteo gebeten, mit ihr zu reden.

„Es tut mir leid.“ Rose begleitete ihn durchs Krankenhaus hinunter zu seinem Büro. „Ich weiß leider nicht, was ein Facharzt für Interventionsradiologie genau macht.“

„Es geht dabei um Diagnosen und Behandlungen mithilfe von bildgebenden Verfahren wie Ultraschall, CT und MRT“, antwortete er. „Es ist weniger invasiv als die konventionelle Chirurgie, und wir nutzen radiologische Techniken, um unsere Behandlungen sehr präzise ausführen zu können.“

„Klingt faszinierend.“ Sie überlegte. „Ich hoffe, es stört Sie nicht, wenn ich frage. Aber wie wirkt sich Ihre Farbenblindheit auf Ihre Arbeit aus? Sie haben ja nicht nur mit Schwarz-Weiß-Bildern zu tun, oder?“

„Nein. Bei der Doppler-Sonografie geben Farben zum Beispiel die Fließgeschwindigkeiten des Blutes wieder, wenn man etwa Durchblutungsstörungen untersucht. Aber es gibt immer die Möglichkeit, die verwendeten Farben an die Teile des Farbspektrums anzupassen, die ich sehen kann.“

„Aha, verstehe. Ich nehme an, dass sich für die meisten Probleme eine Lösung finden lässt.“

Genau das wollte Matteo ihr vermitteln. Nämlich dass Williams Farbenblindheit eher eine Reihe von Lösungen bedeutete anstatt eine Reihe von Problemen. „Haben Sie gewusst, dass der Pionier der radiologischen Diagnostik farbenblind war?“

„Nein, das wusste ich nicht. William, hast du das gehört?“ Rose schaute zu ihrem Sohn hinunter, der interessiert alle Leute ansah, die ihnen unterwegs begegneten. Während er seine neue Umgebung betrachtete, zog er immer wieder an ihrer Hand.

Matteo lachte. „Vermutlich hat er kein großes Interesse an der Geschichte der diagnostischen Radiologie.“

„Na ja, vielleicht später mal.“

Rose schien allem Neuen gegenüber ebenso aufgeschlossen zu sein wie ihr Sohn.

Matteo führte sie durch den Vorraum zu seinem Büro, wo er kurz stehen blieb, um seine Sekretärin zu fragen, warum sie noch nicht nach Hause gegangen war. Dann bat er Rose in sein Dienstzimmer. Dort stellte sie ihre Handtasche ab und nahm auf dem Stuhl Platz, den Matteo ihr anbot. Sofort holte William etwas aus ihrer Tasche.

„William! Das gehört uns doch nicht!“ Offenbar hatte er eines der Autos aus der Spielzeugkiste in Roses Tasche gesteckt.

„Kein Problem. Ich bringe es später wieder hoch.“ Matteo war überzeugt, dass die Kinderklinik oben auf ein ramponiertes blaues Spielzeugauto verzichten konnte. Aber Rose wollte ihrem kleinen Sohn offenbar etwas beibringen.

„Danke.“ Sie wandte sich William wieder zu. „Du kannst damit spielen, solange ich mit Dr. Di Salvo spreche, aber wenn wir gehen, musst du es ihm zurückgeben.“

Der Kleine nickte, lief in eine Ecke des Raums und setzte sich mit dem Auto auf den Fußboden. Dann ließ er das Auto auf dem Teppich hin und her fahren.

„Entschuldigen Sie“, meinte Rose verlegen. „Er ist ein Einzelkind, und wir haben in letzter Zeit gerade ausprobiert, was es bedeutet, Dinge zu teilen und zurückzugeben.“

„Er scheint sehr gut mit anderen Menschen zu kommunizieren“, stellte Matteo fest.

Da Rose erneut diesen panischen Ausdruck in den Augen hatte, versuchte er, sie so gut wie möglich zu beruhigen.

„Ich gebe mir Mühe, ihn so oft wie möglich mit anderen Kindern spielen zu lassen. Das ist nicht immer einfach.“ Sie biss sich auf die Lippen. „Es tut mir leid, wenn ich wegen der Farbenblindheit etwas überreagiert habe. Ich weiß, dass es nichts Schlimmes ist, und ich hoffe, ich habe Sie damit nicht gekränkt.“

„Nein, gar nicht. Die meisten Menschen können das zuerst nicht so leicht verstehen.“

„Es ist nett von Ihnen, eine Entschuldigung für mich zu suchen. Aber ich bin Wissenschaftlerin und müsste eigentlich in der Lage sein, solche Dinge zu verstehen.“ Rose presste erneut die Hände zusammen. „Hat er es von mir geerbt?“

„Rot-Grün-Blindheit wird über das X-Chromosom weitergegeben, also mit ziemlicher Sicherheit ja“, erwiderte Matteo. „Ist jemand in Ihrer Familie farbenblind?“

„Nicht dass ich wüsste. Allerdings wurde meine Mutter gleich nach der Geburt adoptiert, und sie hat sich nie für ihre leiblichen Eltern interessiert. Es könnte also sein, dass sie es an mich weitergegeben hat und …“ Sie brach ab. „Ich hoffe, diese vielen Fragen stören Sie nicht.“

„Dafür bin ich ja da. Ich kann Ihnen keine korrekte klinische Beurteilung geben, das ist Dr. Garfagninis Fachgebiet. Aber ich kann Ihnen von meinen persönlichen Erfahrungen berichten.“

Die Grenze zwischen Arzt und Patient, beziehungsweise in diesem Fall der Mutter des Patienten, war plötzlich verschwommener als sonst. Dazu kamen die verwirrenden Gefühle, die Rose in ihm auslöste. Matteo fühlte sich von ihr angezogen. Trotzdem schrillten bei ihm alle Alarmglocken, sich näher auf Rose einzulassen, weil sie genau das mitbrachte, was für ihn tabu war. Sie hatte ein Kind.

Alec, ihr Exmann, hätte es sicher gleich gewusst. Wann immer irgendetwas nicht in Ordnung war, hatte er sofort angenommen, dass es Roses Schuld war. Selbst mehr als vier Jahre nach der Trennung nagte es an ihr, dass er richtiggelegen hätte, weil sie bei William wieder einmal versagt hatte.

Doch gerade wegen William musste sie sich beruhigen. Wenn sie seine Farbenblindheit als ein Versagen ansah, würde sie ihm nur das Gefühl geben, nicht gut genug zu sein. An ihren Genen konnte Rose nichts ändern, aber ein solches Unzulänglichkeitsgefühl durfte sie ihrem Sohn auf keinen Fall vermitteln.

Außerdem war sie Matteo eine Erklärung schuldig. „Meine Ehe ist noch vor Williams Geburt gescheitert, und ich …“ Unglücklich hob sie die Schultern. „Ich mache mir Sorgen, dass ihm all der Stress womöglich geschadet hat. Und ich hätte das hier wirklich schon früher merken sollen.“

Matteo nickte verständnisvoll. „Als Wissenschaftlerin wissen Sie, dass Stress eine genetische Veranlagung nicht verändern kann. Aber ich nehme an, jede Mutter macht sich Sorgen um ihr Kind. Egal, wie rational sie sein mag.“

Unwillkürlich lächelte Rose. „Das stimmt.“

„Auch bei mir wurde die Farbenblindheit erst festgestellt, als ich in Williams Alter war. Und das, obwohl meine Eltern von der Möglichkeit wussten, weil zwei Brüder meiner Mutter farbenblind sind.“

Sie nickte. „Danke. Ich verstehe schon.“

„Aber Sie akzeptieren es nicht?“

„Lassen Sie mir ein bisschen Zeit. Ich glaube, so schnell kann ich es mir noch nicht verzeihen.“

Mit einem Lächeln lehnte Matteo sich in seinem Sessel zurück. „Verständlich. Das ist alles sehr neu für Sie. Es wird wahrscheinlich eine Weile dauern, bis Sie genau wissen, welche Farben William sieht und welche nicht. Vermutlich hat er bereits eine ganze Reihe von Strategien entwickelt, um seine Unfähigkeit, Farben voneinander zu unterscheiden, zu kaschieren.“

Autor

Annie Claydon

Annie Claydon wurde mit einer großen Leidenschaft für das Lesen gesegnet, in ihrer Kindheit verbrachte sie viel Zeit hinter Buchdeckeln. Später machte sie ihren Abschluss in Englischer Literatur und gab sich danach vorerst vollständig ihrer Liebe zu romantischen Geschichten hin. Sie las nicht länger bloß, sondern verbrachte einen langen und...

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