Baccara Exklusiv Band 243

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BETÖRT VON EINER BETRÜGERIN? von MAUREEN CHILD

Drei Millionen Dollar! Sage Lassiter ist fassungslos. Warum hat sein Vater der hübschen Krankenschwester Colleen ein Vermögen vererbt? Um sie als Betrügerin zu entlarven, beginnt Sage, sie zu verführen. Ein gewagter Plan mit ungeahnt leidenschaftlichen Folgen …

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  • Erscheinungstag 09.03.2024
  • Bandnummer 243
  • ISBN / Artikelnummer 9783751523202
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Maureen Child, Sarah M. Anderson, Jennifer Lewis

BACCARA EXKLUSIV BAND 243

1. KAPITEL

Im Anwaltsbüro der Firma Drake, Alcott und Whittaker befanden sich viel zu viele Menschen für Sage Lassiters Geschmack. Viel lieber wäre er jetzt auf seiner Ranch in Wyoming gewesen und hätte die frische kühle Frühlingsluft eingeatmet. Aber Sage hatte keine Wahl. Er musste bei der Verlesung des Testaments seines Adoptivvaters anwesend sein.

J. D. Lassiter war erst seit wenigen Wochen tot, und Sage konnte es immer noch kaum begreifen. Er hätte darauf gewettet, dass J. D. viel zu stur war, um tatsächlich zu sterben. Und jetzt hatte er die Gelegenheit verpasst, mit dem Mann, der ihn großgezogen hatte, reinen Tisch zu machen.

Sage hätte nicht sagen können, wann die Spannungen zwischen ihnen aufgetreten waren. Es hatte keinen besonderen Vorfall gegeben, nichts Greifbares. Eher war es ein schleichender Prozess gewesen, in dessen Verlauf sich ihr Verhältnis verschlechtert hatte. Aber alte Verletzungen und Vorwürfe hatten heute keinen Platz in diesem Raum, und selbst wenn Sage sie zugelassen hätte, führten sie doch zu nichts.

„Du siehst so aus, als ob du am liebsten jemandem an die Gurgel gehen würdest“, flüsterte ihm sein jüngerer Bruder Dylan zu.

Sage blickte ihn scharf an und schüttelte den Kopf. „Nein, ich kann nur nicht glauben, dass wir hier sind.“

„Ja.“ Dylan strich sich das braune Haar aus der Stirn und blickte sich ihm Raum um, bevor er sich wieder Sage zuwandte. „Ich kann es auch nicht fassen, dass J. D. nicht mehr da sein soll.“

„Vor allem mache ich mir Sorgen um Marlene.“

Dylan folgte seinem Blick.

Marlene Lassiter war so etwas wie eine Ersatzmutter für Sage, Dylan und Angelica geworden, nachdem Ellie Lassiter bei der Geburt ihrer Tochter Angie gestorben war. Marlene war mit J. D.s Bruder Charles verheiratet gewesen und nach dessen Tod zu ihnen auf die Lassiter Ranch nach Wyoming gezogen. Über viele Jahre hinweg war sie die engste Vertraute und wichtigste Bezugsperson der Kinder gewesen.

Marlene hielt sich ein Taschentuch vor den Mund, als ob sie die Tränen nur mit Mühe zurückhalten konnte. An ihrer Seite saß ihr Sohn Chance Lassiter. Wie um sie zu beschützen, hatte er einen Arm um ihre Schultern gelegt. Chance trug Jeans, schwere Stiefel und unter seiner Lederjacke ein weißes Hemd. Seinen Stetson hatte er ausnahmsweise nicht auf dem Kopf, sondern ihn auf dem Schoß abgelegt. Chance war ein Cowboy durch und durch, und er war es auch, der Big Blue managte, J. D.s zwölftausend Hektar große Ranch.

„Hast du eine Ahnung, was J. D. im Testament festgelegt hat?“, fragte Dylan. „Ich konnte nichts aus Walter rauskriegen.“

„Das wundert mich nicht.“ Walter Drake war nicht nur J. D.s Anwalt, er war auch mindestens genauso eigensinnig und verschlossen wie dieser. Walter hatte alle Versammelten angerufen und sich bis auf den Ort und die Zeit des Treffens keine weiteren Informationen bezüglich des Inhalts von J. D.s Vermächtnis entlocken lassen.

Sage erwartete nicht, dass J. D. ihm etwas hinterließ. Das hatte er zum Glück auch nicht nötig. Es war ihm gelungen, sein eigenes Geld zu machen, weil er klug genug gewesen war, in die richtigen Projekte zu investieren. Bereits auf dem College hatte er damit begonnen, und über die Jahre war es ihm gelungen, ein ansehnliches Vermögen zu erwirtschaften. Er war sogar überrascht, dass man ihn überhaupt eingeladen hatte. Längst ging Sage seinen eigenen Weg und war unabhängig von den Lassiters.

„Hast du schon mit Angie gesprochen?“ Dylan runzelte die Stirn und blickte zu seiner Schwester, die neben ihrem Verlobten Evan McCain saß.

„Nur ganz kurz.“ Als Sage zu ihrer Schwester sah, zu der sie ein sehr enges Verhältnis hatten, runzelte auch er die Stirn. Angelicas lang erwartete Hochzeit war auf unbestimmte Zeit verschoben worden, als der Vater gestorben war. Ihre großen braunen Augen waren gerötet, und sie hatte tiefe Schatten unter den Augen. „Es macht mich verrückt, sie so zu sehen, aber wir können nichts für sie tun. So nah wie der alte Herr und sie sich standen, ist es kein Wunder, dass sie es so schwernimmt.“

Dylan nickte zustimmend, bevor er das Thema wechselte und über das Restaurant sprach, das er demnächst eröffnen wollte. Sage hörte ihm allerdings nicht lange zu, weil er stattdessen seine Aufmerksamkeit auf Colleen Falkner richtete, J. D.s private Krankenschwester. Leise betrat sie den Raum und ging nach vorne, um sich neben Marlene zu setzen, die sie anlächelte und ihre Hand nahm.

Sage blickte wie gebannt zu Colleen hinüber. Ein Gefühl der Erregung stieg in ihm auf. Dasselbe Gefühl wie vor einigen Wochen beim Probedinner für die Hochzeit – dem Dinner, in dessen Verlauf J. D. so plötzlich gestorben war.

An jenem Abend war Colleen ihm zum ersten Mal aufgefallen, obwohl sie sich schon früher über den Weg gelaufen waren. Sie hatte etwas Besonderes an sich. Etwas, das Sage faszinierte. Vielleicht lag es daran, dass sie ihr wunderschönes Haar offen trug, sodass es ihr in langen, schimmernden Wellen den Rücken hinunterfloss. Oder es waren das kurze rote Kleid und die schwarzen High Heels, in denen ihre Beine endlos lang wirkten. Das Einzige, was Sage mit Gewissheit sagen konnte, war, dass etwas zwischen ihnen passiert war, als sich ihre Blicke kreuzten. Sage hatte gerade zu ihr hinüberlaufen wollen, um mit ihr zu sprechen, als J. D. plötzlich einen Herzinfarkt hatte, und nichts mehr wie zuvor gewesen war.

Heute trug Colleen eine schwarze Stoffhose und einen leuchtend blauen Pullover. Ihr langes dunkelblondes Haar war zu einem Zopf geflochten, der ihr fast bis zur Taille reichte. Ihre großen blauen Augen glänzten von ungeweinten Tränen, und der sinnliche Mund mit den vollen Lippen machte Lust, sie zu küssen.

Hätte Sage sie nicht bei der Party in dem figurbetonten Kleid gesehen – ein Anblick, der bleibenden Eindruck bei ihm hinterlassen hatte – er hätte niemals vermutet, was für traumhafte Kurven sich unter ihrer weitgeschnittenen Kleidung verbargen.

Da Sage und J. D. nicht gerade das beste Verhältnis hatten und Sage kaum Zeit auf der Ranch verbrachte, waren er und Colleen sich selten begegnet. Am Abend der Party konnte er jedoch kaum die Augen von ihr lassen. Colleen war nicht nur schön. Auch ihre blitzschnelle Reaktion, als J. D. den Infarkt hatte, und die Art, wie sie einen kühlen Kopf bewahrte und es ihr gelang, die Situation unter Kontrolle zu behalten, bis der Krankenwagen eintraf, hatten Sage schwer beeindruckt.

Er wusste, dass Colleen J. D. treu ergeben war und die gesamte Familie sie ins Herz geschlossen hatte. Das bewies auch Marlenes Geste, als sie nach Colleens Hand griff. Dennoch war ihm vieles unklar. Woher kam Colleen? Weshalb hatte sie einen Job angenommen, der darin bestand, sich um einen grimmigen alten Mann auf einer zwar luxuriösen, aber doch weit abgelegenen Ranch zu kümmern? Und weshalb beschäftigten ihn diese Fragen so sehr?

„Hat Colleen dir was getan?“

Sage warf Dylan einen Blick zu. „Was?“

„So wie du sie anstarrst …“

„Halt die Klappe“, murrte Sage, verärgert, dass Dylan ihn ertappt hatte.

„Aha, verstehe“, antwortete Dylan lächelnd und beugte sich nach vorne, um Chance etwas zu fragen.

Möglichst unauffällig ließ Sage seinen Blick wieder zu Colleen wandern. Sie hatte ihren Kopf zu Marlene gewandt, um ihr etwas zuzuflüstern. Dabei war ihr langer Zopf über die Schulter zur Seite gefallen und ließ ihren Nacken frei. Feine blonde Locken ringelten sich an ihrem Haaransatz, und Sage spürte auf einmal das Verlangen, sie zu berühren. Ihre zarte Haut zu streicheln, ihr mit den Fingern durch das Haar zu fahren, sie … Halt! Gewaltsam unterbrach er seine Gedanken und fluchte innerlich.

Es konnte nur einen Grund dafür geben, dass sie heute hier war. J. D. musste sie in seinem Testament bedacht haben. Zugegeben, J. D. war zuletzt auf ständige medizinische Betreuung angewiesen gewesen, aber musste er ausgerechnet eine so hübsche Krankenschwester einstellen? Hatte sie den Job bei dem alten Mann deshalb angenommen? Weil sie darauf gehofft hatte, nach J. D.s Tod etwas von dem Kuchen abzubekommen? Vielleicht lohnte es sich, mehr über Colleen Falkner zu erfahren, dachte Sage. Erkundigungen einzuholen. Sicherstellen, dass …

„Du guckst schon wieder.“

Sage warf Dylan einen finsteren Blick zu. „Hast du nichts Besseres zu tun?“

„Nee, im Moment nicht.“

„Na toll.“

„Ich wusste gar nicht, dass du so fasziniert von Colleen bist.“

„Ich bin nicht fasziniert.“ Jedenfalls nicht besonders. Unbehaglich rutschte er auf seinem Stuhl hin und her. Hör auf, an sie zu denken. Wie war es ihr bloß gelungen, sich in seinen Gedanken derart breitzumachen? Verdammt noch mal, sie hatten sich schließlich noch nicht einmal unterhalten.

„Sie ist übrigens Single.“

„Und?“

„Ich mein ja nur“, fuhr sein Bruder fort. „Vielleicht könntest du deine Ranch hin und wieder mal verlassen und woanders hingehen. Zum Beispiel zu einem Date. Vielleicht mit Colleen.“ Er machte eine Pause. „Oder willst du als alter Kauz allein auf deiner Ranch enden? Ganz ehrlich, wann warst du das letzte Mal mit einer Frau zusammen?“

Sage runzelte die Stirn. „Nicht, dass es dich etwas angeht, aber ich kann mich nicht beklagen.“

„One-Night-Stands? Super.“

Da Sage kein Interesse daran hatte, sich auf irgendeine Frau näher einzulassen, zog er One-Night-Stands tatsächlich einer festen Beziehung vor. Wenn er mit Frauen schlief, die eine ähnliche Einstellung hatten, ersparte er sich eine Menge Ärger. Und wenn Dylan etwas anderes suchte, konnte er das gerne tun. Sage für seinen Teil war zufrieden mit seinem Leben.

Auf einmal öffnete sich die Tür, und Walter Drake, J. D.s Anwalt, trat ein. „Sind alle da?“ Er erfasste die Anwesenden im Raum mit einem prüfenden Blick und nickte zufrieden. „Gut, dann können wir anfangen.“

Nachdem er sich an den mächtigen Schreibtisch aus Eichenholz gesetzt hatte, schob Walter, ein makellos gekleideter, vornehmer Herr mit grauem Haar, einen Stapel Papiere ordentlich vor sich zusammen. Das Geräusch der Blätter war der einzige Laut, der im Raum zu hören war. Es schien, als hielte jeder in gespannter Erwartung den Atem an.

Walter genoss es sichtlich, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu stehen. Alle Augen waren auf ihn gerichtet. Noch einmal ließ er seinen Blick über die Anwesenden schweifen und blieb kurz bei Angelica hängen, die er mit einem mitfühlenden Lächeln bedachte. „Ich danke Ihnen allen für Ihr Kommen. Ich weiß, dass Sie alle eine schwere Zeit durchmachen, also will ich es so kurz wie möglich halten.“

Dagegen hatte Sage nichts einzuwenden.

„Wie Sie alle wissen, kannten J. D. und ich uns seit mehr als dreißig Jahren.“ Walter hielt einen Augenblick inne, lächelte und fuhr dann fort: „Er war ein sturer, aber auch stolzer Mann, und ich möchte, dass Sie alle wissen, dass er sein Testament wohlüberlegt aufgesetzt hat. Erst vor wenigen Monaten hat er noch einige Änderungen vorgenommen, um sicherzustellen, dass jeder das bekommt, was ihm zusteht. J. D. hat viele kleinere Verfügungen für verschiedene Menschen vorgesehen, denen er über die Jahre begegnet ist und die er geschätzt hat. Weder sollen diese Verfügungen heute verlesen werden, noch werde ich genauere Angaben zur Verteilung des Vermögens machen. Ich werde mit den betreffenden Personen unter vier Augen sprechen.“

Nachdenklich runzelte Sage die Stirn und blickte zu Walter. Unter vier Augen? Weshalb? Was versuchte der Anwalt vor ihnen zu verbergen? Oder eher, was hatte J. D. zu verbergen versucht? Gespannt wartete er darauf, welche weiteren Überraschungen Walter aus dem Hut zaubern würde.

„Besagter Teil des Testaments soll den Familienangehörigen im Moment nicht mitgeteilt werden.“

„Wieso?“, durchbrach Sages Stimme die Stille, die Walters seltsamer Eröffnung gefolgt war.

Streng erwiderte der ältere Mann Sages Blick. „Weil es J. D.s Wille ist.“

„Woher wissen wir das?“ Obwohl Sage wusste, wie beleidigend seine Frage war, hielt dies ihn nicht davon ab, sie zu stellen. Er verabscheute Geheimnisse.

„Weil ich es Ihnen sage.“

„Komm schon, Sage“, flüsterte Dylan ihm zu. „Lass es auf sich beruhen.“

Nur der Anblick von Marlene, die sich zu ihm umgewandt hatte und ihn besorgt ansah, hielt ihn davon ab, weiter zu fragen.

„Gut“, fuhr Walter entschlossen fort. „Nachdem das geklärt wäre, würde ich gerne fortfahren. Schließlich sind wir heute hier, um über die wichtigsten Verfügungen zu sprechen.“

Sage wusste nicht, ob Walter absichtlich versuchte, die Spannung im Raum zu steigern, oder ob es einfach in seiner Natur als Anwalt lag. Wie immer es sein mochte, es gelang ihm. Endlich fing Walter an zu lesen, und fast jeder rutschte unruhig auf seinem Stuhl herum. Die rechtlichen Klauseln, die den eigentlichen Verfügungen vorausgingen, schienen schier endlos zu sein.

Im Vollbesitz seiner geistigen Kräfte. Dagegen ließ sich mit Sicherheit nichts sagen, dachte Sage. Obwohl J. D. in den letzten Monaten körperlich stark abgebaut hatte, war sein Verstand bis zu seinem Tod so scharf geblieben wie eh und je. Was bedeutete, dass J. D. einen guten Grund gehabt hatte, bestimmte Geheimnisse sogar über seinen Tod hinaus vor seiner Familie zu wahren. Sage spürte Ärger in sich aufsteigen. J. D. hätte bestimmt seinen Spaß an dieser Situation gehabt, dachte er. Sogar noch nach seinem Tod bestimmte er das Geschehen.

„Meiner lieben Schwägerin Marlene …“, Walter machte eine Pause und lächelte ihr zu, „… hinterlasse ich einen zehnprozentigen Anteil an der Big Blue Ranch sowie lebenslanges Wohnrecht im Haupthaus. Weiterhin vermache ich ihr genug Geld, mit dem sie ihren gewohnten Lebensstandard beibehalten kann.“ Walter unterbrach sich kurz und fügte hinzu: „J. D. hatte genug von dem ‚Juristengequatsche‘, wie er es nannte, und ließ mich den Rest in seinen Worten aufschreiben.“ Walter atmete einmal kurz durch und fuhr dann fort: „Marlene, ich möchte, dass es dir gutgeht. Genieß das Leben und amüsiere dich. Du bist eine schöne Frau und viel zu jung, um den Rest deines Lebens allein zu verbringen.“

Marlene schniefte und lachte dann kurz auf, bevor sie sich die Tränen von den Wangen wischte. Die anderen kicherten mit ihr, und sogar Sage musste lächeln. Es war, als ob er den alten Mann selbst sprechen hörte. J. D. und Marlene waren seit Jahren inoffiziell ein Paar gewesen.

„Meinem Neffen Chance Lassiter hinterlasse ich sechzig Prozent der Big Blue Ranch und genügend Geld, damit er sich ein schönes Leben machen kann.“ Wieder machte Walter eine Pause. „Wie hoch die Geldbeträge im Einzelnen sind, wird, wie bereits erwähnt, mit den bedachten Personen zu einem späteren Zeitpunkt unter vier Augen besprochen.“

Chance schien überrascht. Sage freute sich für ihn. Chance liebte die Ranch und kümmerte sich ebenso gewissenhaft um den Besitz, wie J. D. es getan hatte.

„Colleen Falkner …“, fuhr Walter fort, und sofort wandte ihr Sage seine gesamte Aufmerksamkeit zu, „… hinterlasse ich drei Millionen Dollar.“

Colleen schnappte nach Luft und sprang fast von ihrem Stuhl auf. Aus weit aufgerissenen blauen Augen starrte sie Walter offenen Mundes an, als ob er zwei Köpfe hätte. Entweder hatte sie sich gerade als hervorragende Schauspielerin erwiesen, die einen Oscar für ihre Darstellung verdient hätte, oder sie war tatsächlich genauso überrascht von der Eröffnung wie Sage selbst. J. D. hatte seiner Krankenschwester drei Millionen Dollar vermacht?

Walter las weiter vor. „Colleen, du bist ein gutes Mädchen, und ich möchte, dass du dieses Geld nimmst und deinen Traum verwirklichst. Warte nicht, bis es zu spät ist.“

„Oh, mein …“ Ungläubig schüttelte sie den Kopf, aber Walter war schon zum nächsten Erben übergegangen, und Sage rüstete sich innerlich für das, was noch kommen mochte.

„Meinem Sohn Dylan Lassiter hinterlasse ich die Mehrheitsbeteiligung an der Lassiter Grill Group und genügend Geld für den Weg, bis er das Unternehmen nach ganz oben gebracht hat. Und, Dylan, auch du erhältst einen Anteil von zehn Prozent an der Big Blue Ranch. Vergiss nie, dass sie dein Zuhause ist.“

Dylan sah aus, als ob er gerade von einer Bombe getroffen worden wäre, und Sage konnte ihm keinen Vorwurf daraus machen. Du liebe Güte, der Mann war gerade an die Spitze einer Restaurantkette katapultiert worden, die ein rasantes Wachstum verzeichnete, das im ganzen Land seinesgleichen suchte. Kein Wunder, dass ihm für einen kurzen Moment das Herz stillzustehen schien.

„Meinem Sohn Sage Lassiter …“

Sage fühlte, wie sich jeder Muskel seines Körpers anspannte, als ob er sich auf einen Schlag vorbereitete. Es würde ihn nicht wundern, wenn J. D. die Gelegenheit genutzt hätte, ihm noch aus dem Grab eine letzte Demütigung zu erteilen, indem er ihm vor aller Augen und Ohren noch einmal zeigte, wie sehr sie sich in den letzten Jahren voneinander entfernt hatten. J. D. und ich sind wie Öl und Wasser gewesen, dachte Sage.

„Sage …“, las Walter und schüttelte dabei den Kopf, „… du bist mein Sohn, und ich liebe dich. Mehr als einmal sind wir kräftig aneinandergeraten, aber denk nicht, dass das etwas daran ändert. Du bist ein Lassiter, durch und durch. Ich hinterlasse dir fünfundzwanzig Prozent an Lassiter Media, zehn Prozent an der Big Blue Ranch, um dich daran zu erinnern, dass sie immer dein Zuhause sein wird, und noch etwas Geld, das du nicht haben willst und nicht brauchst.“

Sage atmete tief und hörbar durch, er war überrascht und gerührt.

Gleich darauf las Walter weiter: „Du hast deine Ranch nach deinen Vorstellungen aufgebaut, genau, wie ich das auch getan habe. Ich bewundere dich dafür. Also nimm das Geld und bau damit etwas auf deiner Ranch. Irgendetwas, das dich immer daran erinnern wird, dass dein Vater dich geliebt hat. Gleichgültig, ob wir gut miteinander ausgekommen sind oder nicht.“

Verdammt, es ist ihm tatsächlich gelungen, mich noch ein letztes Mal zu überraschen, dachte Sage. Sein Hals war wie zugeschnürt, und er hatte Mühe, zu atmen. Wenn er nicht gleich hier rauskam, würde er sich noch vor allen lächerlich machen. Wie war es J. D. nur gelungen, schon Monate vor seinem Tod genau die Worte zu finden, die Sage jetzt fast zu Tränen rührten?

„Und zu guter Letzt komme ich zu meiner geliebten Tochter Angelica Lassiter. Du bist die Sonne meines Lebens gewesen.“

Sage blickte zu seiner Schwester. Ihr schönes Gesicht war tränenüberströmt.

„Und daher hinterlasse ich dir, Angelica, ebenso wie deinen Brüdern, einen Anteil von zehn Prozent an der Big Blue Ranch, das Lassiter Anwesen in Beverly Hills, ausreichend Geld, um dir einen angenehmen Lebensstandard zu ermöglichen, und schließlich noch einen Anteil von zehn Prozent an Lassiter Media.“

„Was?“ Aller Trauer und allen Anwesenden zum Trotz sprang Sage auf, außer sich vor Empörung, und auch Dylan konnte sich nicht zurückhalten. Jedes sentimentale Gefühl, das er eben noch für seinen Adoptivvater empfunden haben mochte, war auf einen Schlag wie weggeblasen. Wie konnte er Angelica das antun? Seit Jahren hatte er sie in alle Prozesse von Lassiter Media, einem großen Medienkonzern, zu dem verschiedene Radio- und Fernsehsender, Zeitungen und Internetnachrichtendienste gehörten, einbezogen und sie als seine Nachfolgerin aufgebaut. Verflucht noch mal, seitdem J. D. krank geworden war, hatte sie den Laden praktisch allein geführt. Und jetzt nahm er ihr so mir nichts, dir nichts ihren Lebensinhalt?

„Das kann nicht wahr sein“, protestierte Sage aufgebracht und warf einen Blick auf das vor Entsetzen geweitete Gesicht seiner Schwester. „Sie hat Lassiter Media für J. D. geleitet. Er hat mir einen größeren Anteil hinterlassen als Angie? Das ist doch Wahnsinn!“

„Wir fechten das verdammte Testament an“, fügte Dylan hinzu, während er zu Angie ging und ihr eine Hand auf die Schulter legte.

„Ganz genau“, stimmte Sage ihm zu und warf dem Anwalt wütende Blicke zu, als ob alles dessen Schuld sei.

„Meine Herrschaften, beruhigen Sie sich bitte wieder, es geht noch weiter“, erwiderte Walter und räusperte sich, als sei es ihm unangenehm, weiterzulesen. „Und ich warne euch, solltet ihr versuchen, das Testament anzufechten, könnte es euch allen noch leidtun. Aber dazu komme ich später. Im Augenblick bestimme ich mit einem Anteil von 41 Prozent an Lassiter Media Evan McCain zum Mehrheitseigner, Aufsichtsratsvorsitzenden und CEO.“

„Evan?“ Angelica löste sich aus der Umarmung ihres Verlobten, als dieser sich vollkommen sprachlos vor Erstaunen von seinem Stuhl erhob.

„Was soll das, Walter?“, fragte Sage und lief von seinem Platz aus zu dem Schreibtisch, um sich selbst davon zu überzeugen, dass das, was Walter gerade vorgelesen hatte, wirklich in dem Testament stand.

„J. D. wusste, was er wollte, und genau so hat er es auch festgelegt“, antwortete der Anwalt.

„Das kann unmöglich legal sein“, fügte Marlene hinzu.

„Stimmt, das kann nicht sein“, pflichtete Dylan ihr bei und lief ebenfalls zum Schreibtisch.

„Das ist alles falsch.“ Chance erhob sich langsam und schüttelte ungläubig den Kopf.

„Ich kann es nicht fassen“, murmelte Angelica und blickte zu ihrem Verlobten, als ob sie ihn nie zuvor gesehen hätte.

„Ich schwöre, ich hatte keine Ahnung davon“, sagte Evan zu Angelica und wollte sie in den Arm nehmen, aber sie wich vor ihm zurück.

„Irgendjemand weiß aber, was es damit auf sich hat, und ich werde herausfinden, was hier gespielt wird“, sagte Sage und sah dann zur Tür. Fast geräuschlos verließ Colleen Falkner in diesem Moment das Büro.

Sie hat das bekommen, was sie wollte. Was hat sie wohl getan, damit J. D. ihr drei Millionen Dollar vermacht, fragte sich Sage. Hatte sie von J. D.s Plänen gewusst, war sie vielleicht sogar eingeweiht in seine Entscheidung, Angelica das zu nehmen, was ihr am wichtigsten war?

Er sollte verdammt sein, wenn er es nicht herausfand.

Colleen lehnte sich kurz gegen die Tür, schloss die Augen und zwang sich, tief durchzuatmen. Ihr Herz schlug so heftig und schnell, dass ihr fast schwindelig wurde.

Sie hatte nichts dergleichen erwartet.

Drei Millionen Dollar?

Tränen brannten ihr in den Augen, aber sie blinzelte, um sie zurückzuhalten. Jetzt war nicht der Moment, ihren verstorbenen Freund zu betrauern … oder an die Zukunft zu denken, die er ihr ermöglichte.

Durch die geschlossene Tür hörte sie die aufgebrachte Unterhaltung der Erben. Sage Lassiters Stimme drang am klarsten zu ihr vor. Er hatte es nicht nötig zu schreien, um gehört zu werden. Der schneidende Tonfall seiner tiefen Stimme reichte vollkommen aus, die Aufmerksamkeit aller Anwesenden im Raum auf sich zu ziehen.

Weiß Gott, ihre Aufmerksamkeit hatte er jedenfalls.

Es war Colleen vorhin nicht entgangen, dass Sage sie nicht aus den Augen gelassen hatte. Ein- oder zweimal hatte sie unauffällig über die Schulter geblickt, um ihn anzusehen. Sage machte sie nervös. Hatte sie schon immer nervös gemacht. Aus genau diesem Grund hatte Colleen sich auch bei jedem seiner Besuche auf der Big Blue Ranch, die zum Glück nicht oft vorkamen, darum bemüht, ihm aus dem Weg zu gehen.

Er war so … männlich.

Sage Lassiter war wie eine Naturgewalt. Der Typ Mann, dem die Frauen zu Füßen lagen. Und Colleen war der Typ Frau, die von Männern wie ihm nicht einmal bemerkt wurden. Jedenfalls normalerweise. Allerdings musste sie zugeben, dass Sage sie heute sehr wohl bemerkt hatte. Und dass ihm das, seinem Gesichtsausdruck zufolge, nicht gefallen hatte.

Colleen warf noch einen Blick auf die geschlossene Tür hinter sich, bevor sie schnell den cremefarben gestrichenen Flur in Richtung der Fahrstühle entlangeilte. Sie wollte Sage jetzt keinesfalls über den Weg laufen.

2. KAPITEL

Weiter als bis zum Parkplatz schaffte sie es nicht.

„Colleen!“

Colleen stand schon bei ihrem Wagen. Sie atmete tief durch und rüstete sich innerlich für die Begegnung. Die Stimme war unverkennbar.

Ihr fröstelte, und auf den Armen bekam sie eine Gänsehaut. Allerdings nicht etwa, weil der Wind so eisig wehte. Verdammter Frühling in Wyoming! Einen Tag dachte man, er hätte endlich begonnen, und am nächsten Tag fühlte es sich an, als sei der Winter wieder ausgebrochen. Die Kälte war im Moment jedoch ihre geringste Sorge.

Er war es. Nur einmal zuvor war sie Sage Lassiter so nah gekommen wie heute. Das war an dem Abend des Probedinners für Angelicas Hochzeit gewesen. Colleen hatte sofort gespürt, wie Sage sie von der anderen Seite des gut gefüllten Restaurants aus betrachtete. Er ließ sie nicht aus den Augen, und ihr wurde auf einmal heiß vor Aufregung. Das Wissen darum, dass Sage sie beobachtete, machte sie vollkommen befangen. Als er sie anlächelte, fingen tausend Schmetterlinge in ihrem Bauch an zu tanzen. Dann kam er langsam auf sie zu, und sie ermahnte sich, ruhig zu bleiben. Cool. Aber natürlich gelang ihr das nicht. Alle Nerven zum Zerreißen gespannt und mit weichen Knien blickte sie ihm entgegen.

Und als er gerade nah genug herangekommen war, dass sie das Blitzen in seinen Augen hatte sehen können, erlitt J. D. den Herzinfarkt, und nichts war mehr wie zuvor gewesen.

Wenn Colleen jetzt an den Abend zurückdachte, ärgerte sie sich über ihre Blödheit, weil es natürlich vollkommen albern war, anzunehmen, dass Sage an ihr interessiert war. Vermutlich wollte er sich lediglich über den gesundheitlichen Zustand seines Vaters erkundigen.

In ihrer Erinnerung hatte der Abend trotzdem etwas Magisches bekommen. Aber Colleen durfte niemals vergessen, dass sie nicht der Typ Frau war, der einem Mann wie Sage auffiel. Leider hielt sie das keineswegs davon ab, unaufhörlich an ihn zu denken.

Und jetzt war Sage hier, und Colleen musste aufpassen, nicht die Nerven zu verlieren. Sie wandte sich zu ihm um und strich sich ein paar lose Haarsträhnen aus dem Gesicht.

Bei seinem Anblick schlug Colleens Herz schneller. Sage Lassiter verfolgte sie über den Parkplatz. Jedenfalls ließen die langen Schritte, mit denen er unbeirrt auf sie zukam, kaum eine andere Interpretation zu. Sage hatte eine Mission. Er trug dunkelblaue Jeans, Stiefel, ein gut geschnittenes schwarzes Sportsakko und darunter ein weißes Hemd. Das braune Haar fiel ihm in die Stirn, und die blauen Augen waren zusammengekniffen zum Schutz vor dem Wind. Er brauchte nur wenige Sekunden, und schon stand er vor ihr. Direkt vor ihr.

Colleen musste den Kopf zurücklegen, um Sage in die Augen sehen zu können, und als sich ihre Blicke trafen, fühlte sie sich wie von einem elektrischen Schlag getroffen. Drei Monate lang hatte sie J. D. Lassiter zugehört, wenn er ihr Geschichten über seine Familie erzählte. Den Erzählungen zufolge war Sage erbarmungslos, wenn es um Geschäfte ging, ruhig, stur und fest entschlossen, seinen eigenen Weg zu gehen, ohne sich auf den Namen oder das Vermögen der Familie Lassiter berufen zu müssen. Und sie wusste auch, dass J.D sich zwar darüber ärgerte, aber Sage gleichzeitig dafür bewunderte und respektierte. Wie hätte es auch anders sein sollen? Schließlich war der alte Mann genauso seinen Weg gegangen, als er jung gewesen war.

Trotzdem fühlte es sich jetzt seltsam an, dem Mann, der seit Wochen in Colleens Kopf herumspukte, auf einmal gegenüberzustehen. Wäre er nicht Inhalt der vielen Tagträume gewesen, denen sie sich in den vergangenen Wochen hingegeben hatte, hätte sie sich vielleicht nicht so unbehaglich gefühlt. Colleen holte noch einmal tief Luft und hoffte, dass es ihr gelingen würde, sich zu beruhigen. Aber etwas in seinen Augen, das sie nicht richtig deuten konnte, hinderte sie daran, und ihre Hormone spielten weiter verrückt.

Beruhig dich, ermahnte sie sich. Sie beide waren nur deshalb hier zusammen, weil sie der Testamentseröffnung beigewohnt hatten. Keinen anderen Grund gab es dafür. Es half Colleen, sich daran zu erinnern, und so gelang es ihr, ihn anzulächeln und mit fester Stimme zu sagen: „Es tut mir so leid wegen Ihres Vaters.“

Kurz überschattete sich sein Gesicht, bevor er antwortete. „Danke. Hören Sie, ich wollte mit Ihnen reden …“

„Wie bitte?“ Und wieder fing ihr Herz an, wie verrückt zu schlagen. Sage ist so unbeschreiblich attraktiv, dachte sie abwesend. Groß, dunkel und geheimnisvoll. Die Art Mann, der von anderen Männern beneidet wurde, weil er erfolgreich und Respekt einflößend war und jede Frau haben konnte. Sie eingeschlossen. Die Schmetterlinge in ihrem Bauch flatterten bereits wieder wie verrückt. „Sie wollen mit mir reden?“

„Ja“, erwiderte er, und seine tiefe Stimme ließ ihre sowieso schon angespannten Nerven vollends durchgehen. „Ich habe noch ein paar Fragen.“

Sofort verschwand ihre Begeisterung, und Ernüchterung machte sich breit. Colleen hätte sich selbst einen Tritt in den Hintern verpassen können. Hier stand sie wie eine Idiotin einem gut aussehenden Mann gegenüber und machte sich Illusionen darüber, dass er an ihr interessiert sein könnte. Dabei hatte er gerade seinen Vater verloren, und das war alles, worum es ihm ging. Colleen wusste nur allzu gut, dass die Hinterbliebenen nach dem Verlust eines Angehörigen häufig viele Fragen hatten. Sie wollten wissen, wie sich der geliebte Mensch vor seinem Tod gefühlt hatte. Womit er sich beschäftigt hatte. Und als J. D.s Krankenschwester hatte sie in den Monaten vor seinem Tod die meiste Zeit mit ihm verbracht.

Nachdem sie so unsanft auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt worden war, musste Colleen sich eingestehen, dass Sage wahrscheinlich auch an dem Abend der Party aus diesem Grund auf sie zugekommen war. Was habe ich mir bloß eingebildet? Fast war es ihr gelungen, sich davon zu überzeugen, dass der reiche und gut aussehende Sage Lassiter an ihr interessiert war. Wie konnte sie nur so dumm sein! Kurz empfand Colleen eine Mischung aus Scham und tiefer Enttäuschung, bevor es ihr gelang, diese Gefühle zu unterdrücken und stattdessen Mitgefühl zu empfinden.

„Natürlich haben Sie noch Fragen.“ Instinktiv streckte sie die Hand aus und legte sie auf seine. Funken sprühten. Vollkommen überrascht von dieser Empfindung spürte sie, wie Hitze in ihr aufstieg. Eine verräterische Hitze, die sie ganz gewiss nicht spüren wollte. Aber das Gefühl war so stark, so echt, dass es Colleen nicht überrascht hätte, die Verbindung zwischen ihnen tatsächlich sehen zu können. Rasch zog sie die Hand weg und ballte sie zur Faust, fest entschlossen, die irritierende Empfindung zu ignorieren.

Sages Augen verengten sich zu noch schmaleren Schlitzen, und Colleen wusste, dass auch er es gefühlt hatte. Er runzelte kurz die Stirn und fuhr sich dann durchs Haar, den Blick so fest auf sie geheftet, dass kein Zweifel daran bestehen konnte, dass er wie sie entschlossen war, das Gefühl zu ignorieren.

Sage schüttelte den Kopf. „Ich glaube, Sie missverstehen mich. Ich habe keine Fragen zu meinem Vater. Ich möchte mehr über Sie wissen.“

„Über mich?“ Überrascht sah Colleen ihn an und fühlte sich beim Anblick seiner kalten blauen Augen wie hypnotisiert. „Wieso über mich?“

„Weil es mich interessiert, wie man es innerhalb weniger Monate von einer Krankenschwester zur Millionärin bringt.“

„Wie bitte?“ Verwirrt sah sie ihn an.

Sage verzog die Lippen zu einem Lächeln, das aber seine Augen nicht erreichte. „Das ist eine ziemlich große Veränderung, meinen Sie nicht? Ich wollte Ihnen nur gratulieren.“

„Grat… wie bitte?“ Colleen war immer noch ganz durcheinander von den Gefühlen, die sie überrannt hatten, als Sage auf sie zugekommen war. Erst langsam begriff sie, worauf Sage hinauswollte. Er sprach über das Erbe. Das Geld, das J. D. ihr hinterlassen hatte. Er sprach auf eine Weise darüber, die so … hässlich … war.

Getroffen erwiderte sie: „Ich weiß nicht, ob Glückwünsche hier angebracht sind.“

„Warum nicht?“ Er legte eine Hand auf das Dach ihres alten, aber nach wie vor gute Dienste leistenden Jeeps. „Von der privaten Krankenschwester zur Millionärin innerhalb kürzester Zeit. Das muss Ihnen erst mal einer nachmachen.“

Auf einmal wurde ihr ganz kalt. Colleen blickte über den fast leeren Parkplatz, auf dem vielleicht ein halbes Dutzend Fahrzeuge parkten. Hinter dem Gebäude, in dem die Anwaltskanzlei ihr Büro hatte, war weit hinten die Silhouette der Berge mit ihren schneebedeckten und vom Sonnenlicht beleuchteten Gipfeln zu erkennen. Der Wind, der graue Wolken über den strahlend blauen Himmel trieb, fuhr ihr durch das Haar.

Wie immer tröstete sie der Anblick der Berge. Als ihre Mutter und sie vor einigen Jahren in die Gegend gezogen waren, hatte Colleen sich sofort zu Hause gefühlt. Nicht einen Augenblick lang hatte sie Kalifornien und den Strand vermisst. Sie liebte die Berge, das Gefühl von Weite, die Bäume, die frische, klare Luft. Sie brauchte nicht lange, um sich so weit zu sammeln, dass sie dem Mann, der sie feindselig ansah, hoch erhobenen Hauptes zu entgegnen: „Ich weiß nicht, was Sie meinen.“

Aber sie wusste ganz genau, was er meinte. Sage sah sie kalt an, und er sah aus, als müsste er die Zähne zusammenbeißen, damit nicht alle hässlichen Verdächtigungen aus ihm herausbrachen. J. D. hatte ihr so viel von Sage erzählt, und zum ersten Mal war sie mit seinen weniger angenehmen Seiten konfrontiert. Erbarmungslos. Hart.

Sage war heute so anders als der Mann, mit dem Colleen noch vor kaum zwei Wochen geflirtet hatte. Sie konnte es kaum glauben. Nahm er wirklich an, dass sie J. D. mit irgendeinem schmutzigen Trick dazu gebracht hatte, sie in seinem Testament zu bedenken?

„Ich bin davon überzeugt, Sie wissen genau, was ich meine.“ Sage neigte den Kopf zur Seite, als er sie prüfend ansah. „Ich finde es nur seltsam, dass mein Vater einer Frau, die er nicht einmal drei Monate kannte, drei Millionen Dollar vermacht hat.“

Colleen fühlte sich unter seinem Blick wie ein Insekt unter dem Mikroskop. Die Eiseskälte, die sie bei seinen Verdächtigungen zunächst verspürt hatte, wich langsam einer gesunden Wut. Wie konnte er es wagen, ihr etwas Derartiges zu unterstellen? Colleen war immer noch durcheinander wegen J. D.s plötzlichem Tod und des Testaments. Als sie jetzt in Sages Augen blickte, fragte sie sich, ob der Rest der Familie ähnliche Anschuldigungen erheben würde. Würde ihr von nun an die gesamte Lassiter-Familie mit Misstrauen begegnen? Auf einmal stellte sie sich vor, wie nicht nur die Lassiters, sondern die gesamte Stadt Cheyenne hinter ihrem Rücken wilde Gerüchte streute und über sie klatschte.

Diese Vorstellung war mehr als erschreckend. Colleen hatte in Cheyenne ihr Zuhause gefunden, und das Letzte, was sie wollte, waren Klatschmäuler, die ihr Leben zerstörten. Sie wurde immer wütender. Sie hatte nichts getan, nichts falsch gemacht. Sie war – im Gegensatz zu seinen Kindern – während der letzten Tage seines Lebens bei J. D. gewesen, und sie hatten sich gut verstanden. War das etwa ein Verbrechen?

Und wenn Sage Lassiter noch so sexy war, für wen hielt er sich, ihr zu unterstellen, sie hätte J. D. durch unlautere Methoden dazu gebracht, ihr Geld zu hinterlassen? Colleen reckte das Kinn und funkelte ihn wütend an. „Ich hatte keine Ahnung davon.“

„Hätten Sie ihn denn davon abgehalten, wenn Sie es gewusst hätten?“

Sein sarkastischer Ton verstärkte seine beleidigenden Worte noch. Doch sie wich seinem Blick nicht aus. Sie konnte vollkommen ehrlich antworten. Und sie würde ehrlich antworten, bis man ihr glaubte. „Ich hätte es versucht.“

„Tatsächlich?“

„Ja, tatsächlich“, fuhr sie ihn an und bemerkte befriedigt, dass ihre Reaktion ihn überraschte. „Was auch immer Sie von mir denken mögen, ich mache meinen Job sehr gut. Und normalerweise bekomme ich keine Geschenke von meinen Patienten.“

„Wirklich? Sie bezeichnen drei Millionen Dollar als Geschenk?“

„Sie sind als Geschenk gemeint“, konterte sie, hielt dann jedoch inne. Schließlich war sie Sage keine Rechenschaft schuldig.

Sein Gesichtsausdruck war so starr, dass er aussah, als wäre er aus Stein. Kein Gefühlsausdruck, nichts Weiches war zu erkennen. Er betrachtete sie unbeirrt, als sei er so in der Lage, in ihr Innerstes zu sehen und die Wahrheit zu erkennen.

Colleen versuchte, die aufkochende Wut wieder zu besänftigen, indem sie sich sagte, dass jeder Mensch auf seine Weise trauerte. Sage hatte gerade seinen Vater verloren, von dem er entfremdet gewesen war. Sicher tobten widersprüchliche Gefühle in ihm, und es war bestimmt leichter für Sage, einen Schuldigen außerhalb zu suchen, als sich mit diesen Gefühlen auseinanderzusetzen. Wie sie aus den langen Gesprächen mit J. D. wusste, hatten er und sein ältester Sohn Sage kein besonders gutes Verhältnis, und Sage hatte noch mit dem unerwarteten Verlust zu kämpfen. Insofern war es kaum verwunderlich, dass er im Augenblick vollkommen irrational handelte.

„Da Sie mich nicht kennen, kann ich nachvollziehen, dass Sie solche Gedanken haben, aber für mich war J. D.s Testament eine ebenso große Überraschung wie für Sie“, sagte sie, nun wesentlich ruhiger.

Sage sah Colleen weiter für einige endlos scheinende Sekunden unverwandt in die Augen. Schließlich rührte er sich, trat einen Schritt von ihrem Auto zurück und steckte beide Hände in die Hosentaschen. „Vielleicht war ich ein bisschen barsch.“

Sie schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln, das er jedoch nicht erwiderte. Colleen seufzte, bevor sie antwortete. „Ein bisschen. Aber ich kann Sie gut verstehen, wenn man bedenkt, was Sie gerade durchmachen. Ich meine … ich kenne das.“

„Wirklich?“ Sage beobachtete sie immer noch genau, aber das Eis in seinen Augen schien ein wenig zu schmelzen.

„Obwohl wir schon Monate vorher darauf vorbereitet waren, war es schrecklich, als mein Vater gestorben ist. Ich war so wütend, so traurig, ihn zu verlieren. Ich brauchte jemanden, dem ich die Schuld geben konnte.“ Sie hielt inne und sah ihn an. „Wir alle brauchen das.“

Er schnaubte verächtlich. „Krankenschwester und Psychologin?“

Colleen wurde rot. „Nein, ich wollte nur sagen …“

„Ich weiß, was Sie sagen wollten“, unterbrach er sie, bevor sie noch mehr tröstende Worte fand, die er offensichtlich nicht hören wollte.

Und damit war auch der eisige Ausdruck in seine Augen zurückgekehrt. Sage blickte über die Schulter und sah, dass seine Familie aus dem Bürogebäude herauskam. Dann drehte er sich wieder zu ihr. „Ich muss los.“

Colleen sah zu Marlene und Angelica, die Arm in Arm auf den Parkplatz liefen, während Chance, Dylan und Evan, die offenbar in eine Diskussion verwickelt waren, sich von den beiden Frauen entfernten. „Natürlich.“

„Aber ich würde gerne noch mal mit Ihnen sprechen“, fügte er zu ihrer Überraschung hinzu.

„Ja, klar, ich …“

„Über J. D.“

Natürlich wollte Sage mit ihr über seinen Vater sprechen und von der Frau, mit der J. D. in den letzten Monaten die meiste Zeit verbracht hatte, hören, was ihn beschäftigt hatte. Wie hatte sie auch nur einen Moment annehmen können, dass es ihm um sie ging? Sage Lassiter traf sich mit Stars oder Frauen aus der High Society. Weshalb um Himmels willen sollte er sich zu einer Krankenschwester hingezogen fühlen, unter deren Besitztümern sich nicht einmal ein Fläschchen Nagellack fand?

„Natürlich“, entgegnete Colleen und lächelte wieder, ohne dass er zurücklächelte. „Jederzeit.“

Sage nickte und machte kehrt, um sich seiner Familie anzuschließen.

„Was hat er sich nur dabei gedacht?“ Dylan trank einen Schluck von seinem Bier. „Wie konnte er Angie einfach so ausbooten? Seit Jahren hat er sie doch zu seiner Nachfolgerin aufgebaut.“

Dylan und Sage waren in einer Bar am Stadtrand. Die anderen aus der Familie waren nach Hause gefahren, aber die Brüder hatten noch das Bedürfnis, über das Testament zu sprechen.

„Ich habe keine Ahnung“, antwortete Sage unnötigerweise auf Dylans rhetorische Frage.

Dylan sprach weiter, aber Sage hörte ihm nicht mehr richtig zu. Stattdessen erinnerte er sich an den Ausdruck in Colleens Augen, als er sie auf dem Parkplatz zur Rede gestellt hatte. Er wollte mit ihr sprechen, herausfinden, ob sie etwas über das Testament gewusst hatte.

Stattdessen hatte er sie sofort in die Defensive gebracht. Sage hatte nicht vor, sie anzugreifen. Die frische Erinnerung an den Anblick seiner weinenden Schwester hatte jedoch dazu geführt, dass Colleen seinen Ärger abbekam.

Er rieb sich das Gesicht. Wenn er das nächste Mal mit ihr sprach, musste er eine andere Taktik fahren. Und er würde wieder mit ihr sprechen. Es war nicht so, dass er sich zu ihr als Frau hingezogen fühlte. Aber zu viele Fragen waren unbeantwortet geblieben. Hatte Colleen J. D. dazu gebracht, ihr das Geld zu hinterlassen? Wusste sie vielleicht, weshalb Angelica leer ausgegangen war? War ihr etwas bekannt, das ihm helfen würde, das Testament anzufechten?

„Angie hat Evan angesehen, als ob er ihr Feind sei, und nicht der Mann, den sie liebt.“

„Das wundert mich nicht“, erwiderte Sage und zwang sich, gedanklich wieder zu ihrem Gespräch zurückzukehren. „Evan hat auf einmal alles bekommen, was eigentlich Angie hätte gehören sollen.“

„Na ja, es ist ja nicht so, dass er was geklaut hat“, entgegnete Dylan. „J. D. hat es ihm hinterlassen.“

„Trotzdem. Ganz egal, wie’s passiert ist, das Ergebnis ist dasselbe. Evan ist drinnen und Angie draußen. Mich wundert es nicht, dass sie sauer auf ihn ist.“

„Stimmt schon.“

„Es ist ja nie einfach gewesen, verlobt zu sein und in derselben Firma zu arbeiten. Aber jetzt, wenn Angie nicht mal mehr seine Vorgesetzte ist?“ Grimmig schüttelte Sage den Kopf. „Ich hoffe nur, dass die beiden sich nicht trennen.“

„Das Schlimmste ist, dass ich keine Ahnung habe, was wir tun können. Wenn ich Walter richtig verstanden habe, verlieren wir alles, wenn wir versuchen, das Testament anzufechten.“

„Das sagt Walter. Wir müssen einen unparteiischen Anwalt fragen.“

„Wenn es so was gibt“, murmelte Dylan.

„Hm“, brummte Sage zustimmend und nahm einen Schluck aus seinem Whiskeyglas. Was hatte J. D. sich nur dabei gedacht? Es war ihm ein Rätsel. Wenn er irgendwie herausfinden wollte, was in seinem Vater in den Monaten vor seinem Tod vorgegangen war, musste er Colleen näherkommen.

Sie war diejenige, die ihm am Nächsten gestanden hatte. Sage hatte von Marlene und Angie genug über die junge, freundliche und tüchtige Krankenschwester gehört, um zu wissen, dass sie zu J. D.s enger Vertrauten geworden war. Mit ihr hatte er in den letzten Monaten mehr gesprochen als mit irgendjemand anderem aus der Familie. Vielleicht, weil es manchmal leichter ist, mit Fremden über seine Probleme zu sprechen als mit der Familie.

Es war seltsam, J. D. hatte sich immer selbst genügt und alles mit sich allein ausgemacht. Bis er krank geworden war.

Ja, Colleen war diejenige, die ihm dabei helfen würde zu verstehen, was in J. D. vorgegangen war. Allerdings hatte Sage nicht im Geringsten mit der heftigen Reaktion gerechnet, die bei Colleens Berührung zwischen ihnen ablief. Als ob Tausende Funken zwischen ihnen hin- und hergeflogen wären. Er konnte nicht bestreiten, dass er sich von ihr angezogen fühlte und zwischen ihnen offenbar eine besondere Verbindung bestand. Sein Interesse an ihr war zwar schon an dem Abend im Restaurant erwacht, aber er hatte nicht mit ihr gesprochen, geschweige denn sie berührt. Somit hatte ihn das, was vorhin zwischen ihnen passiert war, völlig unvorbereitet getroffen. Als Sage an den Moment zurückdachte, in dem plötzlich diese besondere Spannung zwischen ihnen entstanden war, an die Überraschung in ihren Augen, zwang er sich, die Erinnerung zur Seite zu schieben. Schon auf den ersten Blick konnte man erkennen, dass Colleen keine Frau für ein schnelles Abenteuer war. Es gelang Sage nicht, sich ihr Bild aus dem Kopf zu schlagen. Ihre großen blauen Augen, das dichte dunkelblonde Haar. Ihr sanftes Lächeln, die vollen Lippen, die zum Küssen einluden. Er spürte, wie sich sein Körper anspannte bei dem Gedanken an Colleen. Sie hatten sich so eindeutig und stark zueinander hingezogen gefühlt, dass er das Gefühl einfach nicht ignorieren konnte.

„Worüber hast du mit Colleen geredet?“

„Was?“ Sage blickte auf, um Dylan anzusehen, und verbannte seine beunruhigenden Gedanken. „Ich … äh …“ Es war Sage deutlich anzumerken, wie unangenehm ihm die Frage war, weil sie ihm sein Verhalten Colleen gegenüber in Erinnerung rief. Statt sofort zu antworten, rieb er sich den Nacken.

„Ich kenn dich doch“, sagte sein Bruder. „Was hast du getan? Sei ehrlich.“

„Ich war wohl ein bisschen ungeschickt“, gab Sage zu und dachte an Colleens entsetztes Gesicht, als er sie indirekt beschuldigte, J. D. bestohlen zu haben.

„Schieß los“, forderte Dylan ihn auf, als Sage immer noch keine Anstalten machte zu erzählen, was vorgefallen war.

Vielleicht war es wirklich besser, wenn er mit Dylan sprach, dachte Sage. Vielleicht würde er danach klarer sehen. Also schilderte er seinem Bruder, was vorgefallen war – vor allem Colleens Reaktion. Hinterher fühlte er sich keinen Deut besser.

Als er geendet hatte, vergingen einige Sekunden, bevor Dylan leise durch die Zähne pfiff und einen weiteren Schluck Bier nahm. „Mann, jeder andere hätte dir vermutlich eine verpasst. Ich hätte es jedenfalls. Hast du ein Glück, dass Colleen so verdammt nett ist.“

„Ist sie das?“

„Marlene und Angie sind total begeistert von ihr. Sogar Chance hat nichts als Gutes über sie zu sagen, und du weißt, dass er mit Komplimenten nicht gerade um sich wirft.“

„Ja, ich weiß.“

Und dennoch … obwohl sein Instinkt ihm sagte, dass Colleen genau das war, wonach sie aussah – eine Krankenschwester mit einem bezaubernden Lächeln und traumhaft schönen blauen Augen – konnte Sage nicht darüber hinwegsehen, was geschehen war. Was J. D. in seinem Testament verfügt hatte. Und dass sie die Einzige war, die den alten Mann hatte beeinflussen können.

Er musste herausfinden, ob sie irgendetwas damit zu tun hatte, dass J. D. sein Testament geändert hatte. Und wenn dem so wäre, würde sie dafür bezahlen …

3. KAPITEL

Ohne J. D. Lassiters überwältigende Präsenz wirkte die Big Blue Ranch leer. Colleen sah aus dem Fenster des Schlafzimmers, das während der letzten Monate ihr Zuhause gewesen war, und lächelte wehmütig. Sie würde die Ranch fast so sehr vermissen wie J. D.

Aber es war schließlich nicht das erste Mal, dass sie einen Abschied erlebte. Als Krankenschwester kam sie manchmal in einem der schwierigsten Momente in eine Familie und blieb dort, bis der Patient sie nicht mehr brauchte. Dann zog sie weiter zum nächsten Patienten. In die nächste Familie.

Colleen öffnete den Reißverschluss ihres Koffers und hob seufzend den Deckel. Wie sie es hasste, zu packen. Das Abschiednehmen, bevor ein neues Kapitel im Buch des Lebens aufgeschlagen wurde.

Diesmal … würde es allerdings vielleicht keinen neuen Patienten geben.

Sie schüttelte ihre Gedanken ab und musste sich eingestehen, dass sie die Stille im Haus bedrückend fand. Marlene, Chance und Angie waren noch nicht zurück, und außer ihr war im Moment nur die Haushälterin anwesend. Colleen wollte aufbrechen, bevor die anderen zurück waren. Eigentlich hätte sie das Haus laut Vertrag schon vor zwei Wochen verlassen müssen, aber auf Marlenes Bitten war sie länger geblieben, um die Familie in dieser schweren Zeit zu unterstützen. Jetzt wurde sie hier nicht mehr gebraucht.

Colleen ging zum Schrank, um ihre Kleidung zu holen. Normalerweise wohnte sie nicht bei ihren Patienten, aber bei J. D. hatte sie eine Ausnahme gemacht, da er sie in seiner Nähe haben wollte und bereit war, mehr zu bezahlen. Und Colleen hatte es nicht bereut. Im Laufe der Zeit hatte sie die Ranch lieben gelernt. Sie war weitläufig und luxuriös und doch so gemütlich eingerichtet, dass man niemals vergaß, dass sie das Zuhause einer großen Familie war.

Auf einmal fiel ihr Sage ein. Er, sein Bruder und seine Schwester waren hier aufgewachsen. Seltsam, wie sie immer wieder an ihn denken musste, gleichgültig, was sie gerade tat. Wenn sie ehrlich war, hatte sie seit dem Abend im Restaurant an nicht viel anderes als an Sage gedacht. Nachts träumte Colleen von ihm, und selbst sein Ausraster heute Morgen konnte nichts an ihren Gefühlen ändern. Eigentlich mochte sie ihn seitdem sogar noch lieber, weil sein Verhalten ihr gezeigt hatte, wie sehr er an seinem Vater hing.

Die kurze Begegnung mit Sage Lassiter hatte sie fast noch mehr erschüttert als die unerwartete Nachricht, plötzlich Millionärin zu sein. Vielleicht lag es auch einfach daran, dass der Gedanke an so viel Geld für sie so unwirklich war. Ganz realistisch war dagegen die Tatsache, dass sie vollkommen durcheinander war, seit der Mann ihrer Träume plötzlich vor ihr gestanden und mit ihr gesprochen hatte. Obwohl er sie beleidigt hatte.

„Er konnte nicht anders“, versicherte Colleen sich zum wiederholten Male, während sie fortfuhr, ihre Kleidung zusammenzulegen und in den Koffer zu packen. „Natürlich ist er misstrauisch, er kennt mich ja gar nicht.“

Oder?

Trotzdem hatten Sages verletzende Worte einen Stachel hinterlassen. Die Vorstellung, dass er möglicherweise nicht der Einzige war, der so von ihr dachte, ließ sie nicht los. Vielleicht sollte sie das Erbe ausschlagen.

Colleen hob den Kopf und sah aus dem Fenster. Keines der Zimmer auf der Ranch hatte Vorhänge. Das war, wie Colleen von J. D. erfahren hatte, eine Forderung seiner verstorbenen Frau Ellie gewesen, die nicht wollte, dass etwas zwischen ihr und der atemberaubenden Aussicht stand, die sich von jedem Fenster des Haupthauses bot.

Wie jedes Mal, wenn sie aus dem Fenster sah, bewunderte sie die Schönheit der die Ranch umgebenden Natur. Über dem Mischwald, in dem Eichen, Pinien und Ahornbäume wuchsen, erstreckte sich der weite, von zerrissenen Wolkenfeldern durchzogene Himmel. Colleen liebte es hier in den Bergen von Wyoming und hasste den Gedanken, in ihre kleine Eigentumswohnung in einem Vorort von Cheyenne zurückkehren zu müssen.

Aber, flüsterte eine verführerische Stimme in ihrem Kopf, mit dem Geld, das du geerbt hast, kannst du dir doch etwas kaufen. Außerhalb der Stadt. Mit einem Garten, Bäumen, vielleicht kannst du sogar einen Hund halten. Einen Hund. Seit Jahren träumte sie von einem Hund.

Plötzlich wurde ihr bewusst, welche Möglichkeiten sich ihr mit J. D.s Erbe auftaten. Sie konnte ihren Job kündigen und eine Zusatzausbildung machen, um sich mit einer eigenen Pflegepraxis niederzulassen – so, wie sie es sich immer gewünscht hatte. Mehr noch, Colleen konnte ihre Mutter, die es weiß Gott schwer genug in ihrem Leben gehabt hatte, unterstützen. Bei dem Gedanken daran lächelte sie, aller Trauer zum Trotz.

Mit dem Geld hatte Colleen mit einem Schlag nicht nur die Möglichkeit, die eigenen Träume in die Tat umzusetzen. Auch die ihrer Mutter konnte sie erfüllen. Sollte sie das Geld annehmen und das Geschenk, als das es gemeint war, akzeptieren? Oder sollte sie es ablehnen aus Angst davor, was irgendwelche kleingeistigen Leute über sie sagen mochten?

„Wäre es nicht wie ein Schlag in J. D.s Gesicht?“, fragte sie sich laut, ohne eine Antwort zu erwarten.

„Viele Leute hätten J. D. über die Jahre gerne mal eine verpasst.“

Colleen wirbelte herum. Hinter ihr im Türrahmen stand Sage, eine Schulter lässig gegen den Türrahmen gelehnt. Er sah noch größer, stärker und bedrohlicher aus als vorhin auf dem Parkplatz. Und das wollte etwas heißen. Er hielt den Blick seiner kalten blauen Augen so unbeirrt auf sie gerichtet, dass sie ganz nervös wurde.

Wieder fing ihr Herz an zu rasen, in ihrem Kopf war für einen Moment nichts als Leere, und ihr Mund wurde ganz trocken. Von ihrer Körpermitte spürte sie Hitze aufsteigen, die sich in ihrem Körper bis in die letzte Faser ausbreitete. Wie gelang es diesem Mann nur, sie allein durch seinen Anblick in ein hormonüberflutetes, handlungsunfähiges Wesen zu verwandeln?

„Wie bitte? Ich meine …“ Colleen rang nach Worten und ärgerte sich, dass seine Anwesenheit ihre Zunge sofort zu lähmen schien. Noch bei keinem anderen Menschen hatte sie so etwas erlebt. Normalerweise war sie nicht auf den Mund gefallen, aber irgendwie reichte es, dass Sage vor ihr stand, und sie konnte an nichts anderes denken als daran, wie gerne sie ihn küssen würde. „Ich wusste nicht, dass Sie hier sind.“

„Das habe ich bemerkt“, entgegnete Sage. Selbstbewusst betrat er den Raum. „Sie wirkten ein wenig … abgelenkt.“ Er blickte sich in dem gemütlich eingerichteten Zimmer um. „Es sieht anders aus als früher.“

„Das Zimmer ist so schön.“ Wieder bedauerte Colleen es, die Ranch zu verlassen.

Sage sah sie an und zuckte mit den Schultern. „Als ich klein war, war es mein Zimmer.“

Sein Zimmer. Oh mein Gott. Eine weitere Hitzewelle überrollte ihren Körper. Wenn sie das in den letzten Monaten gewusst hätte … sie hätte nicht mehr schlafen können.

Sage ging zum Fenster, sah hinaus, drehte sich zu ihr herum und grinste kurz. „Das Spalier ist aber immer noch da. Sind Sie auch manchmal nachts rausgeklettert?“

„Nein. Und Sie?“

„Ja, so oft wie möglich. Besonders als Teenager. Als J. D. und ich …“ Sage unterbrach sich mitten im Satz.

„Also“, wechselte er abrupt das Thema, „weshalb wollten Sie J. D. schlagen?“

„Ich wollte nicht, also …“ Sie atmete einmal tief durch. „Nichts, ist schon gut.“

„Für mich hat es sich nicht nach Nichts angehört.“ Sage drehte den Rücken zum Fenster und warf ihr einen prüfenden Blick zu.

Vor dem durch das Fenster hereinscheinenden Licht waren nur Sages dunkle Umrisse zu erkennen. Er wirkte zudem noch größer und breitschultriger, noch mächtiger, nahezu unheimlich … Der Raum schien plötzlich angesichts seiner Präsenz zu schrumpfen. Sage Lassiter war ein Mann, der einen Raum vollkommen beherrschte. Ein wenig einschüchternd. Und, wenn Colleen ehrlich war, sehr aufregend.

„Ich habe nur laut gedacht.“

„Woran?“

Colleen blickte ihm in die Augen. „Wenn Sie es unbedingt wissen müssen: Ich habe überlegt, ob ich das Geld, das J. D. mir hinterlassen hat, wirklich annehmen sollte.“

Er sah sie überrascht an. „Und wie lautet ihre Entscheidung?“

„Das weiß ich noch nicht. Um ehrlich zu sein, habe ich keine Ahnung, was ich tun soll.“

„Die meisten Leute würden das Geld einfach nehmen und sich davonmachen.“

„Ich bin nicht wie die meisten Leute.“

„Langsam beginne ich das zu verstehen.“ Die Hände in den Hosentaschen, kam Sage gemächlich auf sie zu. „Wissen Sie, ich habe vorhin vielleicht etwas überreagiert …“

„Wirklich?“ Colleen lächelte und schüttelte den Kopf. Ihr war noch jedes Wort, das er am Morgen gesagt hatte, gegenwärtig. Ebenso wie sie sich genau daran erinnerte, dass es sie wie ein Blitzschlag getroffen hatte, als sie ihn berührte.

Sage nickte. „Sie hatten recht und ich unrecht. Mein Vater wollte, dass Sie das Geld bekommen. Sie sollten es annehmen.“

„Einfach so?“ Sie betrachtete ihn genau und hoffte, ein Zeichen zu entdecken, das seinen plötzlichen Sinneswandel erklären würde, aber aus seinem Gesicht ließ sich nichts ablesen. Sicherlich kam ihm diese Fähigkeit als Geschäftsmann sehr zugute, aber in einem persönlichen Gespräch empfand Colleen sie als außerordentlich lästig.

„Warum nicht?“ Sage kam noch näher, und Colleen hätte schwören können, dass sie tatsächlich spüren konnte, wie es auf einmal heiß wurde und Hitzewellen zwischen ihnen hin und her waberten. Hitze, die bis in jeden Winkel ihres Körpers drang. Sie schluckte, reckte das Kinn und blickte ihm direkt in die Augen, als er ihr immer näher kam. „Colleen, wenn Sie darüber nachdenken, das Geld auszuschlagen wegen dem, was ich gesagt habe, dann tun Sie es nicht.“

„Ich gebe zu, dass das, was Sie mir an den Kopf geworfen haben, mit meiner Überlegung zusammenhängt. Aber hauptsächlich befürchte ich, dass andere Leute ebenso wie Sie denken könnten.“

„Und das würde Sie stören?“

„Natürlich würde mich das stören. Es ist nicht wahr.“

„Warum schert es Sie dann, was irgendwer von Ihnen denkt?“

Verstand Sage wirklich nicht, was das für sie bedeuten würde? Waren reiche Leute wirklich so anders als alle anderen? „Vermutlich verstehen Sie nicht, weshalb mich das kümmert, weil es für Sie völlig normal ist, dass andere über Sie sprechen. Irgendwas steht ja immer über die Lassiters in der Zeitung.“

„Das ist wahr.“

„Und was Sie angeht, scheint die Presse an Ihnen ein besonderes Interesse zu haben. Ständig ist etwas über den Milliardär, das schwarze Schaf der Familie, zu lesen.“ Colleen hörte auf zu reden, als sie sah, dass Sage die Stirn runzelte. „Es tut mir leid, aber das ist …“

„Sie scheinen sich mit den Berichten über mich ja gut auszukennen“, unterbrach er sie.

„Man kann ihnen kaum entkommen“, log sie in der Hoffnung, dass er nie erfahren würde, dass sie jeden Artikel, der irgendwo über ihn erschien, geradezu verschlang.

Sage schnaubte verstimmt. „Stimmt. Und ich wette, dass es nicht lange dauert, bis J. D.s Testament auf der ersten Seite von irgendeinem Schmierblatt erscheint, weil jemand nicht den Mund halten konnte.“

„Wer sollte das tun?“

„Vielleicht einer der Angestellten des Anwaltsbüros. Wenn man genug bezahlt, bekommt man Menschen dazu, alles zu tun.“

„Wow … finden Sie das nicht ein bisschen zynisch?“

„Erfahrung“, erwiderte er knapp. Nur die zur Faust geballte Hand zeugte von seiner Anspannung bei diesem Thema. „Früher habe ich noch geglaubt, die meisten Menschen seien loyal, aber dann wurde ich eines Besseren belehrt.“

„Was ist passiert?“ Colleen wusste selbst nicht, wieso sie es auf einmal wagte, ihm eine derartig persönliche Frage zu stellen. Vielleicht weil es so ruhig und friedlich im Haus war, dass man fast das Gefühl haben konnte, sie und Sage seien die einzigen Menschen auf der Welt.

Für einen kurzen Moment machte es fast den Anschein, als würde Sage ihr antworten, doch der Augenblick zog schnell vorüber, und Sages Gesicht nahm wieder den emotionslosen Ausdruck eines Pokerspielers an. „Das spielt keine Rolle. Was ich Ihnen damit sagen will, ist, dass Sie sich bei Ihren Entscheidungen nicht aus Angst vor Klatsch beeinflussen lassen sollten.“

Traurig registrierte Colleen, dass der kurze Moment, in dem so etwas wie Vertrautheit zwischen ihnen aufgeblitzt war, schon vorbei war. „Es hört sich so einfach an, wenn Sie es sagen, aber ich kann es nicht ausstehen, wenn die Leute hinter meinem Rücken reden.“

„Ich auch nicht, aber es lässt sich oft nicht ändern.“

Natürlich hatte Sage recht, das war Colleen klar, aber trotzdem befand er sich in einer anderen Lage als sie. Aufgrund seiner Herkunft würde er immer im Rampenlicht stehen, aber Colleen war ein Niemand, und das wollte sie auch bleiben. „Vielleicht werde ich in Ruhe gelassen, wenn ich das Geld ablehne, weil es dann nichts mehr zu reden gibt.“

Sage lächelte, aber sein Lächeln hatte nichts Tröstliches. „Colleen, die Leute werden reden. Ob Sie das Geld annehmen oder nicht. Außerdem zerreißen sich die Leute sicher jetzt schon das Maul … eine schöne Frau wie sie, die sich monatelang um J. D. kümmert …“

Schön? Sage fand sie schön? Aber dann begann sie zu verstehen, was er gerade gesagt hatte. Schamesröte stieg ihr ins Gesicht, als sie einsehen musste, dass er wahrscheinlich richtig lag mit seiner Annahme.

„Das ist widerlich. Ich war seine Krankenschwester.“

„Eine junge hübsche Krankenschwester und ein kranker alter Mann. Das genügt den Klatschmäulern.“

Colleen schüttelte ungläubig den Kopf. „Aber J. D. war nicht mein erster Patient. Nie hat mir jemand etwas Böses nachgesagt.“

„J. D. ist auch der erste Lassiter, für den Sie gearbeitet haben. Ich bin überrascht, dass ihnen bisher nichts von den Gerüchten zu Ohren gekommen ist.“

Ermattet setzte Colleen sich auf die Bettkante und ließ die letzten Monate in Gedanken Revue passieren. Damals hatte sie nicht darauf geachtet, aber wenn sie zurückdachte … Sie erinnerte sich an ein Zwinkern, Leute, die wissend lächelten, wenn sie vorbeiging, Gespräche, die plötzlich endeten, wenn sie einen Laden im Ort betrat. Sage hatte recht, die Leute redeten bereits.

„Oh mein Gott, man denkt wirklich, dass ich … dass J. D. … Oh, das ist so demütigend.“

„Nur wenn Sie sich davon demütigen lassen. Ignorieren Sie das Gerede einfach.“

„Wie ich das hasse“, murmelte sie. Natürlich stimmte es, was Sage sagte, aber sie hatte sich nie zuvor in einer derartigen Situation befunden. Au...

Autor

Maureen Child

Da Maureen Child Zeit ihres Lebens in Südkalifornien gelebt hat, fällt es ihr schwer zu glauben, dass es tatsächlich Herbst und Winter gibt. Seit dem Erscheinen ihres ersten Buches hat sie 40 weitere Liebesromane veröffentlicht und findet das Schreiben jeder neuen Romance genauso aufregend wie beim ersten Mal.

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