Betört von einem Herzensbrecher

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Es war doch nur ein unbedachter Augenblick der Schwäche! Lady Constance kann nicht fassen, dass ihr Erzfeind Aaron Wincanton ihr mit einem einzigen Kuss die Ehre geraubt hat. Auf dem Ball. Vor den Augen ihres Vaters. Die einzige Lösung? Eine Heirat. Und das obwohl sie keinerlei Gefühle für den attraktiven Schwerenöter hegt!


  • Erscheinungstag 14.11.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783751504577
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Ein Ballsaal in London, November 1815

Wie üblich wurde er von einer Schar kichernder junger Damen umringt, die ihn für charmant hielten. Zum Glück gehöre ich nicht dazu, dachte Lady Constance Stuart, während sie ihn vom anderen Ende des Ballsaals aus beobachtete. Wie bei seinem Vater war Aaron Wincantons Haar so dunkel wie die Nacht und sein Herz so schwarz wie die Sünde. Constance war dazu geboren, ihn abgrundtief zu hassen. Doch Aaron Wincanton hatte etwas an sich, das sie schon immer irritiert hatte. Vielleicht war es seine großspurige Überheblichkeit oder die Art und Weise, wie er unablässig mit jeder Frau kokettierte. Womöglich war es einfach der Umstand, dass er der bestaussehende Mann im Raum war. Woran auch immer es lag – Constance hatte eine besonders tiefe Abneigung gegen ihn entwickelt.

Die Gruppe alberner junger Damen trat auf sein Geheiß im Gleichschritt zurück, und Constance beobachtete widerwillig und zugleich fasziniert, wie Aaron Wincanton eine ungeöffnete Flasche Champagner in die Luft hielt. Er hatte sich offenbar von jemandem ein Schwert ausgeliehen und streckte es mit seiner rechten Hand nach oben, wobei seine Bewegung schwungvoller war als nötig. Die Klinge schimmerte im Licht der Kronleuchter, wodurch noch mehr Aufmerksamkeit auf das außergewöhnliche Schauspiel am Rand der Tanzfläche gelenkt wurde. Nun legte Wincanton die flache Seite der Klinge an den Flaschenhals, und seine Zuschauerinnen fingen an, aufgeregt zu zählen. „Eins … zwei …“

Bei drei schwang er das Schwert schnell am Hals der Flasche entlang, umspielte den Korken und teilte dann den Flaschenhals mit einem vollkommen glatten Schnitt in zwei Hälften. Der Champagner schoss mit einer großen Fontäne aus der Flasche. Die Umstehenden hielten Wincanton ausgelassen ihre Gläser entgegen oder klatschten begeistert angesichts der kühnen Darbietung.

Als ob er wüsste, dass sie ihn beobachtet hatte, hob er langsam den Blick und sah ihr direkt in die Augen. Bevor sie sich abwenden konnte, grinste er bereits anzüglich und zwinkerte ihr auf seine ach so arrogante Art zu, als ob er ihr sagen wollte, dass er ihr Starren sehr wohl bemerkt hatte. Was für eine Frechheit!

Constance ärgerte sich zutiefst über diesen unverschämten Kerl und ihre eigene Dummheit, sich wieder dabei erwischen zu lassen, wie sie ihn beobachtete. Rasch zwang sie sich, woandershin zu schauen. Ihr Blick wanderte zu einem anderen Teil des Ballsaals – jenem Teil, den sie unbedingt hatte vermeiden wollen. Zum dritten Mal an diesem Abend sah sie, wie sich der Marquis of Deal, mit dem sie seit wenigen Wochen verlobt war, über Penelope Rothmans üppigen Ausschnitt beugte. Ihr Vater hatte Constance angewiesen, dies zu ignorieren, da eine gute Ehefrau verstehen müsse, dass ein Gentleman ab und zu die Gesellschaft anderer Damen suche. Trotzdem bereitete ihr Deals Verhalten immer noch Schwierigkeiten. Hätte er seine Bedürfnisse nicht aus Respekt vor seiner zukünftigen Gattin für kurze Zeit zügeln müssen?

Es sei denn, dies war ein bitterer Vorgeschmack auf das Leben, das ihr an seiner Seite bevorstand. Auch wenn die Ehe arrangiert worden war, hatte Constance gehofft, dass der Marquis und sie dennoch glücklich werden könnten. Insgeheim hatte sie sich der Vorstellung hingegeben, dass er sich eines Tages sogar in sie verlieben und hinter die harte Schale blicken würde, mit der sie sich vor der Welt schützte. Sie hatte davon geträumt, dass er eine besondere Schönheit in ihrem auffällig roten Haar und ihrer hoch aufgeschossenen, wenig ansehnlichen Figur finden würde. Vielleicht würde er die gefühlvolle Frau, die in dieser wenig attraktiven Hülle verborgen war, entdecken und lieb gewinnen. Jene Frau, die die Dinge etwas zu tief empfand und ständig fürchtete, nicht gut genug zu sein. Was war sie doch für eine hoffnungslos dumme Närrin, von so etwas Unmöglichem zu träumen!

Der Marquis of Deal würde sie niemals lieben. Es war kein Geheimnis, dass ihr Vater ihre Mitgift als Anreiz für Deal erhöht hatte. Penelope Rothman hingegen galt als der Blickfang der Saison. Wie demütigend war die Erkenntnis, dass der Marquis seine Verlobte aus rein finanziellen Gründen ausgewählt hatte. Mehr als das verband sie beide nicht, würde sie nie verbinden. Connies äußere Erscheinung könnte ihn nie auf dieselbe Art reizen wie Penelopes goldenes Haar und ätherische Schönheit. Sie selbst verkörperte lediglich die bessere finanzielle Absicherung. In Wahrheit würde er lieber Penelope heiraten, und kein Geld der Welt konnte daran etwas ändern. Connie wagte einen flüchtigen Blick auf Aaron Wincanton und bemerkte, wie er kurz zu Deal und Penelope schaute, bevor er wieder sie ansah. Seinem gelangweilten Gesichtsausdruck nach zu urteilen, hatte auch er erkannt, dass ihr Verlobter hübsche Blondinen hochgewachsenen Rothaarigen vorzog. Alle Welt zog zarte Blondinen einer riesigen Rothaarigen vor.

So plötzlich wurde sie von einer Welle der Enttäuschung erfasst, dass ihr die Tränen in die Augen stiegen, doch eher würde die Hölle zufrieren, bevor irgendjemand sie weinen sahen. Constance löste sich still aus der Gruppe ihrer Mutter, an deren Seite sie gestanden hatte, und begab sich zu einer leeren Wandnische. Sobald sie sich gefasst hatte, würde sie Deal die Meinung sagen und ihn daran erinnern, welches Verhalten von einem Gentleman zu erwarten war. Irgendwann – in ferner Zukunft – würde sie vielleicht in der Lage sein, seine Taktlosigkeiten zu übersehen, was allerdings nicht bedeutete, dass sie sie mitansehen wollte.

Wahrscheinlich wird mich ohnehin niemand vermissen, dachte sie, während sie die anderen Gäste aus der Ferne beobachtete. Am wenigsten mein ergebener Marquis. Wie immer war ihre Tanzkarte beschämend leer, von den gelegentlichen höflichen Anfragen alter Familienfreunde abgesehen. Den ersten Walzer hatte sie bereits mit ihrem gleichgültigen Verlobten getanzt. Jetzt würde sie den Rest des Abends mit den älteren Damen und den Mauerblümchen verbringen müssen – wie gewöhnlich.

So war es schon gewesen, als sie vor sechs Jahren in die Gesellschaft eingeführt worden war. Sie war dazu verdammt, jeden Ball aus einer Ecke des Saals zu beobachten. Ihre Lage hatte sich noch verschlimmert durch den unglücklichen, aber unglaublich passenden Spitznamen, den Aaron Wincanton ihr an ihrem Debütantinnenabend bei Almack’s gegeben hatte. Natürlich hatten alle sofort ihn übernommen, und Connie war er zum ersten Mal zu Ohren gekommen, als eine Gruppe Debütantinnen im Damensalon darüber lachte. Dank Wincanton trug sie seitdem den schmachvollen Beinamen „Die Rote Amazone“.

Das erste Jahr war schrecklich gewesen. Nur ihr Stolz hatte ihr geholfen, jene Zeit zu überstehen; über all das Geflüster und Gekicher war sie erhobenen Hauptes hinweggegangen. Sie versuchte, dankbar zu sein für die paar armseligen Verehrer, die es auf ihre Mitgift abgesehen hatten und ihr Glück bei ihr versuchten. Sie wusste, dass sie im Vergleich zu den anderen jungen Frauen alles andere als anmutig aussah. Niemand wusste besser als sie, wie wenig anziehend sie war. Noch nie hatte es eine Debütantin von ihrer Statur gegeben. Auch gab es keine, die so riesige Füße hatte – selbst ihr Schuster prahlte damit, die größten Damenschuhe von ganz London anzufertigen. Die für Debütantinnen üblichen Pastellfarben ließen ihre helle Haut noch blasser erscheinen. Sie überragte nicht nur die Frauen, sondern auch die meisten Gentlemen um Längen. Dumme Witze über ihre Größe ertrug sie höflich lächelnd, obwohl sie jedem, der sie fragte, wie das Wetter dort oben sei oder ob sie in einem Gewächshaus zu schlafen pflegte, am liebsten ins Gesicht geschlagen hätte.

Um nicht aufzufallen, hatte sie mehrere Monate sogar versucht, die Beine in den Knien zu beugen. Zwar erschien sie dadurch kleiner, doch die Wirkung wurde zunichte, sobald sie sich bewegen musste. Es war einfach zu schmerzhaft, mit gebeugten Knien zu laufen oder – Gott behüte – zu tanzen.

Im zweiten Jahr war Constance besser vorbereitet gewesen. Wenn sie schon mit einer sagenhaften Kriegerin verglichen wurde, konnte sie sich genauso gut wie eine benehmen. Niemand würde je wieder Notiz von ihrem mangelnden Vertrauen in die eigene Anziehungskraft nehmen. Sie gewöhnte sich an, das Geschehen mit einer gleichgültigen und leicht herablassenden Haltung zu betrachten, so als würde es ihr im Traum nicht einfallen, das Interesse heiratsfähiger Herren gewinnen oder sich mit den albernen tratschenden jungen Damen anfreunden zu wollen. Sie stand über den Dingen. Lady Constance Stuart klimperte nie mit den Wimpern, noch schwärmte sie für einen besonderen Herrn oder lächelte einfältig. Stolz ragte sie über jeden Gentleman hinaus, der die Frechheit besaß, kleiner zu sein als sie. Außerdem trug sie kräftige Farben, die ihre kupferfarbenen Locken am besten in Szene setzten. Türkis und Smaragd wurden ihre Lieblingsfarben, und wenn sie sich besonders reizlos fühlte, trug sie karminrot. Ihre Kleider waren nicht mehr schlicht; jedes einzelne glich nun einer Kampfansage.

Lady Constance hatte den Ruf erworben, eine scharfe Zunge zu haben, und machte davon Gebrauch, wann immer es nötig war – was im Laufe der Jahre immer weniger der Fall war. Wie eine echte Amazone flößte sie ihrer Umgebung Respekt ein. Sie spielte ihre Rolle so überzeugend, dass sie manchmal sogar vergessen konnte, wie sehr das alles schmerzte und wie sehr sie es hasste, von den anderen als eine Laune der Natur und nicht als Frau wahrgenommen zu werden.

Aus den Augenwinkeln sah sie, wie ihr Verlobter mit den Fingern über Penelope Rothmans wohlgeformte Wange strich und ihr etwas ins Ohr flüsterte, woraufhin ihr vollkommenes Antlitz einen sehr hübschen Roséton annahm. Jetzt reichte es! Ein derart demütigendes Verhalten würde Lady Constance Stuart niemals stillschweigend hinnehmen. Sie würde mit ihrem Verlobten sprechen und ein paar Regeln aufstellen.

Würdevoll schritt Connie auf den Marquis zu, der immer noch um Penelopes Gunst buhlte. „Mylord, könnte ich unter vier Augen mit Ihnen sprechen?“ Sie bemerkte, wie er angesichts ihres eisigen Tons überrascht blinzelte.

„Natürlich, meine Liebe.“

Sie ging zielstrebig zur Terrassentür und hörte, wie er ihr nach draußen folgte. Da sich trotz der kühlen Witterung mehrere andere Gäste im Freien aufhielten, achtete sie darauf, dass sie sich außer Hörweite befanden, bevor sie sich zu ihm umdrehte. Aufgrund ihres Größenunterschiedes beugte Connie leicht die Knie, sodass sie ihm geradewegs in seine perfekten blauen Augen schauen konnte.

„Ihr Verhalten heute Abend war beleidigend für mich. Wir sind frisch verlobt. Es ist überaus peinlich, dass Sie weiterhin mit anderen Frauen in der Öffentlichkeit kokettieren. Wenn ich Ihre Gattin werden soll, erwarte ich, mit etwas Respekt behandelt zu werden.“ Ihr fiel beim besten Willen nicht ein, wie sie ihr Anliegen hätte freundlicher ausdrücken können.

Er erschien verwundert über ihre Worte. „Inwiefern bitte war ich respektlos? Ich habe den ersten Walzer mit Ihnen getanzt. Ich habe mehrere Minuten mit Ihnen verbracht. Sicherlich werden Sie nichts dagegen haben, wenn ich die Gesellschaft meiner Freunde suche? Verheiratete oder verlobte Paare pflegen auf Veranstaltungen wie dieser nicht die ganze Zeit zusammen zu sein. Die Leute würden reden, wenn wir uns so verhalten würden.“ Der Marquis of Deal schenkte ihr ein gütiges Lächeln. Dabei bildete sich ein hübsches Grübchen in seinem markanten Kinn. Seine strahlend blauen Augen standen in einem interessanten Kontrast zu seinem dichten goldenen Haar. Der Mann war äußerst gut aussehend – und er war sich dessen nur allzu bewusst. „Auch wenn mir Ihre Eifersucht schmeichelt, ist sie fehl am Platz. Ich kann Ihnen versichern, dass Penelope und ich uns lediglich kurz und freundschaftlich unterhalten haben.“

„Das war wohl kaum kurz. Sie haben mindestens eine Stunde an ihrer Seite verbracht, und den anderen Gästen ist dies nicht verborgen geblieben.“ Aaron Wincanton hatte auf jeden Fall Notiz davon genommen. „In Zukunft wäre es mir lieb, wenn Sie aus Respekt vor mir solche vertrauten Unterhaltungen mit Penelope – oder auch mit anderen jungen Damen – vermeiden würden.“ Connie hatte gehofft, dass Deal sich für sein Verhalten schämen würde. Stattdessen sah er verärgert aus.

„Es steht Ihnen nicht zu, mir zu sagen, was ich tun oder lassen soll, Madam, und ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie sich darauf besinnen könnten. Erwarten Sie ernsthaft, dass ich keinen Kontakt zu anderen Damen pflege? Ich habe bereits ausführlich mit Ihrem Vater darüber gesprochen, und er versicherte mir, Sie würden verstehen, dass unsere Vereinbarung vorwiegend pragmatischer Natur ist.“

Diese Worte aus seinem Mund fühlten sich wie eine Ohrfeige an, und Connie zuckte zusammen. „Empfinden Sie denn gar keine Zuneigung für mich?“ Sie konnte die Hoffnung nicht aufgeben, dass er sie wenigstens ein bisschen mochte. Zugleich hasste sie sich selbst dafür. Was war sie doch für eine dumme, verträumte Närrin!

Deal starrte sie an, als hätte sie den Verstand verloren. „Unsere Ehe wurde arrangiert, Constance. Sie basiert auf einer Übereinkunft, die unseren Familien gleichermaßen zugutekommt. Ich dachte, Sie hätten das verstanden. Mit dieser Hochzeit erweise ich Ihnen einen großen Gefallen! Seit Jahren gehören Sie zum alten Eisen, niemand hat Sie gewollt. Ehrlich gesagt, sollten Sie mir dankbar sein und mit diesem Unsinn aufhören. Ich werde Ihnen meinen Namen, ein eigenes Zuhause und ein Kind oder zwei schenken, damit Sie Gesellschaft haben und die Erbfolge gesichert ist.“

Ein eigenes Zuhause? Was genau sollte das bedeuten? Es klang jedenfalls nicht so, als ob er es mit ihr teilen wollte. So viel zu ihrem Traum von einer glücklichen Ehe! „Und was dann?“, fragte sie kühn, auch wenn sie die Antwort schon ahnte. Deals Einstellung ihr gegenüber würde sich niemals ändern.

„Dann werden wir beide so leben, wie es uns beliebt! Sie werden natürlich bei den Kindern auf dem Land bleiben, aber nachdem Sie mir einen Erben geschenkt haben, können Sie von mir aus tun, was Sie wollen, solange Sie sich diskret verhalten.“

Connie wurde übel. Dem konnte ihr Vater nicht zugestimmt haben! Hatte er sie wirklich wie eine Zuchtstute an einen Mann verkauft, der nur vorübergehend ihren Ehemann spielen wollte? „Und ich soll mich damit abfinden, dass Sie in der Stadt weiterhin wie ein Junggeselle leben?“

Bei diesen Worten sah er sie mit unverhohlener Verachtung von oben bis unten an, bevor sich ein belustigter Ausdruck auf sein Gesicht legte. Als er schließlich sprach, lösten sich ihre Träume endgültig in Luft auf.

„Was haben Sie sich denn erhofft, Constance? Doch sicherlich nicht, dass ich mich auf wundersame Weise verlieben würde? In Sie?“

2. KAPITEL

Aaron hatte gesehen, wie sich ihr Gesichtsausdruck fast unmerklich verändert hatte, bevor sie aus dem Ballsaal gestürmt war. Jetzt betrachtete er den Marquis of Deal voller Verachtung. Auch wenn es ihn kaum etwas anging, dass Lady Constance einen Schürzenjäger heiraten würde, konnte er nicht umhin, sich etwas über das Verhalten des Marquis zu ärgern. Offen um eine andere Frau zu werben, während sich die eigene Verlobte im gleichen Raum aufhielt, zeugte nach Aarons Meinung von schlechtem Stil – insbesondere wenn die umworbene Frau der Verlobten bei Weitem nicht das Wasser reichen konnte.

Constance Stuart benahm sich ihm gegenüber vielleicht ablehnend und überheblich, doch ein anderes Verhalten konnte er in Anbetracht ihrer unglücklichen Geschichte nicht von ihr erwarten. Anderen gegenüber verhielt sie sich stets wie der Inbegriff einer Dame. Obwohl sie unnahbar war und eine der schärfsten Zungen des Landes hatte, verhielt sie sich auf eine Weise, die sie von vielen anderen jungen Damen des ton unterschied. Auch aufgrund ihrer Größe, ihrer schlanken Figur und ihres dichten roten Haars hob sie sich von den anderen ab. Hinzu kamen ihre offenkundige Intelligenz und ihre Würde – zusammen mit einem seltenen, aber aufsehenerregenden Lächeln, das jeden Raum zum Strahlen brachte. Natürlich kam es nie vor, dass sie ihn anlächelte, was sich in absehbarer Zeit auch nicht ändern würde. Allerdings konnte er sich gut vorstellen, wie es sich anfühlen musste, wenn einem dieses Lächeln geschenkt wurde: so als wäre soeben die Sonne in all ihrer Pracht aufgegangen. Dennoch zog Deal es vor, diese außergewöhnliche junge Frau zu demütigen, indem er die Rothman umwarb. Noch nie in seinem Leben hatte Aaron eine so intrigante und hohlköpfige Person wie Penelope kennengelernt.

Schließlich besann er sich auf sein eigenes Anliegen, wandte sich wieder Violet Garfield zu und täuschte Interesse vor. Wenn er der jungen Dame einen Antrag machen wollte, musste er zumindest den Anschein erwecken, als würde ihn interessieren, worüber sie gerade sprach. Seit zwei Stunden befand er sich auf dem Ball und spürte bereits, wie seine Maske bröckelte. Aaron Wincanton zu sein, wurde immer anstrengender.

Die Rolle des charmanten und leicht durchtriebenen Frauenhelden war ihm einst so natürlich vorgekommen wie das Atmen. Doch jenen vor Energie überschäumenden jungen Mann hatte er auf irgendeinem Schlachtfeld in Spanien hinter sich gelassen, und er glaubte nicht, dass er je wieder auftauchen würde. Der neue Aaron Wincanton fand weder Freude an Bällen und Festen noch an privaten Zusammenkünften oder ruhigen, besinnlichen Momenten. Er verdiente es nicht mehr, glücklich zu sein. Die meiste Zeit spürte er eine große Last, die ihn niederdrückte. Die restliche Zeit fühlte er sich – wenn er Glück hatte – einfach taub. Er bemerkte, wie Violet ihn erwartungsvoll anschaute, so als würde sie auf eine Antwort von ihm warten. Er hatte ihr nicht zugehört und wollte sie nicht verärgern. Aus reiner Gewohnheit bediente er sich seines Charmes. „Violet, wenn ich mit Ihnen zusammen bin, wünsche ich, dass aus Minuten Stunden und aus Stunden Tage werden.“ Zumindest fühlte sich die Zeit mit ihr so an.

Wie erwartet, wirkte die dumme Floskel Wunder, und sie plapperte erneut so enthusiastisch, dass er lediglich zuhören und nicken musste. Wenige Sekunden später schweiften seine Gedanken wieder ab, was ihn etwas beunruhigte. Er hatte gehofft, sich mit Violet zufriedengeben zu können. Zweifellos war sie sehr hübsch, was ein Pluspunkt war, aber auch wenn er sie mochte, langweilte die arme Violet ihn zu Tode. Nichtsdestotrotz war sie eine reiche Erbin mit einer ungemein großen Mitgift. Bittsteller wie er konnten es sich nicht leisten, wählerisch zu sein. Das Familienanwesen benötigte schnellstens Geldmittel, und sein Vater wollte noch miterleben, wie sein Sohn die nächste Generation der Wincantons zeugte. Daher musste Aaron sich sputen und Violet einen Antrag machen. Es musste noch heute Abend geschehen.

Vorher jedoch benötigte Aaron etwas Ruhe, um sich Mut anzutrinken. Da es am Getränketisch nichts Stärkeres als Ratafia gab, entschuldigte er sich bei Violet und verließ den Ballsaal, um etwas zu finden, das ihn für sein Vorhaben stärken würde.

Am anderen Ende des dunklen Flurs fand er die Bibliothek, die leer war – abgesehen von der vollen Brandykaraffe und einer rothaarigen Dame, die allein auf einem riesigen Sofa saß und gedankenverloren in den Kamin starrte. Einen Moment lang überlegte Aaron, umzukehren und einen anderen Rückzugsort zu suchen. Das Letzte, was er brauchte, war eine Schimpftirade von Lady Constance Stuart, auch wenn er hoffte, dass sie ihm irgendwann ihren Bruder vorstellen würde. Dann könnte er endlich mit ihm darüber sprechen, die dumme Fehde zwischen ihren Familien zu beenden, die die Wincantons in den Bankrott zu treiben drohte. Aber ausgerechnet heute lagen seine Nerven ohnehin schon blank, und er brauchte eine Pause, bevor er wieder in die Haut des draufgängerischen Aaron Wincanton schlüpfen musste. Er wollte sich schon zum Gehen wenden, doch etwas an der Art, wie sie dasaß – mit ungewöhnlich hängenden Schultern –, ließ ihn zögern. Hatten sie vielleicht beide den Trost nötig, den ihnen ein kleines Wortgefecht verschaffen würde?

„Wie clever von Ihnen, Constance“, sagte er in der Absicht, sie zu ärgern, „einen Ort zu aufzusuchen, an dem wir ungestört sind.“

Überrascht wandte sie den Kopf, und Aaron glaubte, das Schimmern von Tränen in ihren grünen Augen zu sehen. Selbst wenn dem so war, überspielte sie es schnell mit ihrer üblichen kühlen Art. Ihr entrüsteter Gesichtsausdruck wich sofort einem finsteren Stirnrunzeln.

„Sie sind wie ein schlechter Geruch, Mr. Wincanton, der mir immer zu folgen scheint.“ Steif stand sie auf und funkelte ihn an. „Ich hatte gehofft, dass Sie mich nur dieses eine Mal in Ruhe lassen würden.“

„Und wo bliebe dann der Spaß? Ich freue mich immer auf unsere kleinen Wortwechsel, Connie. Ich finde Ihre Verachtung erfrischend, werde ich doch immer nur bewundert, wohin ich auch gehe.“

„Also suchen Sie mich zu Ihrer Unterhaltung auf? Weiß Ihr Vater, dass Sie regelmäßig mit einer Stuart reden?“

„Wohl genauso wenig, wie Ihr Vater weiß, dass Sie mit einem niederträchtigen Wincanton zu sprechen pflegen.“ Aaron zwinkerte ihr unverhohlen zu, denn er wusste, dass sich sonst niemand traute, mit ihr zu kokettieren. Gereizt kniff sie die Augen zusammen.

„Aber ich suche Sie nicht auf, Mr. Wincanton. Das ist der Unterschied. Ich könnte liebend gern das Zeitliche segnen, ohne ein weiteres Wort mit Ihnen gesprochen zu haben. Daher kann ich nur den Schluss ziehen, dass ich eine besondere Faszination auf Sie ausüben oder eine spezielle Herausforderung für Sie darstellen muss. Stört es Sie, dass Sie mit Ihrem Charme bei mir nichts ausrichten können? Verletzt meine offensichtliche Abneigung etwa Ihren zerbrechlichen Stolz?“

Sie sah ihn vernichtend an, was ihn nur noch mehr anspornte. Wenn sie verärgert war, wurden ihre grünen Augen so hart wie Smaragde. Ihr rotes Haar wirkte im Schein des knisternden Kamins, als würde es selbst in Flammen stehen. Es war ein grandioser Anblick, bei dem vielleicht so manch einer das Weite gesucht hätte, doch Aaron war aus einem härteren Holz geschnitzt. Er hatte gegen Napoleon gekämpft, also würde er auch ein Wortgefecht mit dieser feurigen Rothaarigen überstehen. Abgesehen davon verfolgte er ein Anliegen, das er nicht vernachlässigen durfte. Er musste ihre Beziehung verbessern, um die kostspielige Familienfehde zu beenden. Bisher war Constance die einzige Stuart, die sich dazu herabgelassen hatte, mit ihm zu reden. „Warum geben Sie es nicht zu, Connie? Sie finden meine Beharrlichkeit aufregend. Die meisten Männer hofieren Sie mit abgedroschenen Komplimenten; die restlichen langweilen Sie, weil sie aus Angst vor Ihrer Schlagfertigkeit gar nicht den Mund aufmachen. Ich hingegen bin anders. Ich bringe Ihr Blut in Wallung. Vermutlich könnte ich sogar Ihre Leidenschaft entfachen.“

Der Mann war nicht nur irrsinnig, sondern auch unausstehlich. Seltsamerweise war Connie jedoch froh, dass er da war. So konnte sie ihre ganze Wut und ihren Schmerz an ihm auslassen. Zumindest würde sie sich dann nicht so unglaublich niedergeschlagen und ohnmächtig fühlen. „Bilden Sie sich nichts ein, Mr. Wincanton. Sie entfachen mein Temperament, aber nicht meine Leidenschaft.“

„Wie oft muss ich Sie darum bitten, mich Aaron zu nennen? Nach all den erquicklichen Unterhaltungen der letzten Monate können wir die Formalitäten nun beiseitelassen, Connie.“

Er wusste ganz genau, dass sie von allen nur Constance genannt wurde – ihr Vater hegte eine Abneigung gegen Kosenamen – und dass sie ihm niemals erlauben würde, sie so zu nennen. Zugleich war er der einzige Mensch auf Erden, der ihren Namen zu Connie abkürzte. Sie fand seinen vertraulichen Umgangston schrecklich, doch gleichzeitig gefiel ihr der Name recht gut. „Falls es Ihnen entgangen sein sollte, Mr. Wincanton – wir sind Todfeinde. Haben Sie etwa vergessen, dass die Stuarts und Wincantons seit beinah dreihundert Jahren zerstritten sind?“

„Tatsächlich? Ich muss gestehen, ich weiß gar nicht mehr, wozu der ganze Wirbel. Was kümmert uns ein Streit, der vor dreihundert Jahren anfing? Ich würde lieber ein Friedensangebot unterbreiten und das Ende der Fehde verkünden.“

„Natürlich. Am besten kehren wir auch gleich unter den Teppich, wie unsäglich sich Ihr Vater vor nur wenigen Jahren verhalten hat, als er meinen um das Land brachte, das ihm rechtmäßig zustand.“

Aaron machte eine wegwerfende Handbewegung. „Ein Missverständnis, Connie. Nichts weiter.“

Manchmal belustigte seine Respektlosigkeit sie, aber das würde sie ihm niemals zeigen. Es gab niemanden, der so mit ihr sprach wie Aaron Wincanton. Niemand sonst traute sich das. „Dann gab es da noch jenen unglücklichen Zwischenfall beim Zusammentreffen unserer Großväter. Was hat Ihr verdorbener Großvater meinem doch gleich angetan?“ Sie tippte sich wie in Gedanken versunken ans Kinn. „Ach, ja! Jetzt erinnere ich mich. Er hat ihn bei einem Duell in Hampstead Heath erschossen.“

„Der Gerechtigkeit halber muss man sagen, dass mein Großvater nur deshalb so gehandelt hat, weil Ihr Großvater meine Großmutter verführt hatte. Es war ein anständiges Duell, beim dem Sekundanten die Einhaltung der Regeln überwachten. Es ist wohl kaum meine Schuld, dass Ihr Großvater nicht dazu in der Lage war, richtig zu zielen.“

Connie ging nicht auf seine verzerrte Sichtweise ein. „Über solche Dinge kann man nicht hinwegsehen. Wenn mein Vater mich dabei erwischen würde, wie ich mit Ihnen rede, würde er mich enterben. Dennoch sind Sie wieder hier, Mr. Wincanton, und gehen mir auf die Nerven.“

So war es die gesamte Saison über gewesen. Seit seiner ruhmreichen Rückkehr aus Waterloo hatte er ihr nachgestellt. Trotz der erbitterten langen Fehde zwischen ihren Familien war es den Stuarts und den Wincantons gelungen, in der High Society nebeneinander zu existieren, indem sie einfach so taten, als ob es die andere Seite nicht gäbe – auch wenn ihre Grundstücke direkt aneinander grenzten. Sie wurden stets auf dieselben Veranstaltungen eingeladen, wo sie die andere Seite schlichtweg wie Luft behandelten. In der Gesellschaft verstand man das nur allzu gut. Daher gab es nie eine öffentliche Szene – geschweige denn einen Annährungsversuch. Dieses System funktionierte hervorragend, da es bereits seit Jahrhunderten so praktiziert wurde. Bis jetzt.

Leider hatte Aaron Wincanton, der Erbe des Hauses Ardleigh und ein durchtriebener Schuft, keinerlei Respekt vor dieser Tradition. Vor zwei Monaten hatte er sie erstmals angesprochen. Natürlich geschah es weder vor den Augen der Öffentlichkeit noch im Beisein eines Mitglieds ihrer oder seiner Familie, doch auf jeder Veranstaltung gelang es ihm in irgendeinem Moment, sie allein abzufangen – unabhängig davon, wie sehr sie versuchte, ihm aus dem Weg zu gehen. Jedes Mal kokettierte er ein bisschen mit ihr und versuchte, sie zum Lächeln zu bringen. Manchmal hielt er sich nahe dem Damenzimmer auf, wenn sie gerade hinaustrat, dann wieder fand er sie in einer Mauernische, tauchte hinter einer Palme auf oder stellte sich neben sie an den Getränketisch. Und jetzt war er hier, in dieser abgelegenen Bibliothek, in die sie geflüchtet war, und hätte fast gesehen, wie sie weinte. Connie war in eine Situation geraten, die nicht hinnehmbar war.

Trotzdem zuckte er bei ihrer Antwort lediglich mit den Achseln, so als ob das böse Blut zwischen ihren Familien nicht von Bedeutung wäre, und sah sie mit seinem außergewöhnlichen, intensiven Blick an. Außergewöhnlich, weil man nur aus der Nähe sehen konnte, dass seine Augen von einem warmen Braun mit goldenen Einsprengseln waren, umgeben von einem dunklen, fast schwarzen Ring. Diese Augen konnten manchmal sehr verstörend wirken, so als würden sie zu viel sehen. „Ist es Ihnen schon einmal in den Sinn gekommen, Connie, dass unsere Lage ähnlich ist wie die der Montagues und Capulets? Die Geschichte verlangt von uns, Feinde zu sein, doch offenbar ist es der Wille des Schicksals, dass wir Freunde sind – oder vielleicht sogar mehr als das?“

„Sie wissen schon, Mr. Wincanton, dass die Geschichte von Romeo und Julia nur erfunden und daher für unsere Situation nicht relevant ist? Wenn ich mich richtig erinnere, fanden Romeo und Julia außerdem ein sehr tragisches Ende, weil sie nicht auf ihre Väter gehört haben. Vielleicht hätten sie den Willen des Schicksals, wie Sie es nennen, besser ignoriert. Es hätte vielleicht besser geendet, wenn sie den Dingen ihren Lauf gelassen hätten. Wie dem auch sei, eine Sache scheinen Sie nicht zu verstehen: Romeos Aufmerksamkeiten haben Julia gefallen. Ihre gefallen mir nicht. Falls es Ihnen entgangen sein sollte, Mr. Wincanton, bin ich verlobt und darüber sehr glücklich.“

„Wie können Sie glücklich darüber sein, einen Mann zu heiraten, der Penelope Rothman heute Abend mehr Aufmerksamkeit geschenkt hat als Ihnen?“ Sobald die Worte über seine Lippen waren, bereute Aaron sie schon. Er fühlte sich noch schlechter, als er sah, wie ihr finsterer Blick sich in einen Ausdruck puren Schmerzes verwandelte, bevor sie ihre Miene wieder unter Kontrolle hatte. „Es tut mir leid, Connie. Das war unangebracht. Ich entschuldige mich.“

„Denken Sie nicht weiter daran“, erwiderte sie achselzuckend und mit einer Tapferkeit, die sie anscheinend sehr viel Kraft kostete. „Der Marquis of Deal hat heute Abend etwas zu viel getrunken, und Penelope Rothman versucht, meine Eifersucht zu wecken – jedoch ohne Erfolg. Sie muss sehr verärgert darüber sein, dass sie ihren ranghöchsten Verehrer an die Rote Amazone verloren hat.“

Sie schaute ihm mit eisigem Blick in die Augen und sah, wie er bei ihren Worten zusammenzuckte. Er fühlte sich immer noch schuldig dafür, dass er sie so genannt hatte – umso mehr, da der Spitzname nicht in Vergessenheit geraten war. Damals war er jung und dumm gewesen, und sie hatte seinen Stolz verletzt. Dabei hatte er nie beabsichtigt, dass sie davon erfuhr oder dass ihr Vater darin einen weiteren Angriff der Wincantons sah. Sein Entsetzen war groß gewesen, als er nach dem jahrelangen Kampf gegen Napoleon nach Hause zurückkehrte und feststellen musste, wie sehr sich die Lage zwischen ihren beiden Familien verschlimmert hatte. Sein Vater war so besessen von der Fehde, dass er das Familienanwesen fast vollkommen heruntergewirtschaftet hatte, nur um sich an Connies Vater zu rächen.

„Nun, es tut mir auch leid, dass ich Sie so genannt habe.“

Sie schenkte ihm ein erhabenes, kühles Lächeln, das ihre Augen nicht erreichte, und richtete sich langsam zu ihrer vollen Größe auf. Ihr Gesicht war fast auf derselben Höhe wie seines. „Ich kann Ihnen versichern, Mr. Wincanton, dass ich nie einen weiteren Gedanken daran verschwendet habe.“

Plötzlich brach sie – zu ihrer beider Entsetzen – vor ihm in Tränen aus.

Aaron fühlte sich wie ein unbeholfener Schuljunge. Da er nicht wusste, wie er sonst mit einer weinenden Dame umgehen sollte, ging er mit großen Schritten auf sie zu und zog sie in seine Arme. „Schon gut, Connie“, murmelte er, ohne dass es eine Wirkung gehabt hätte. Sie schluchzte weiterhin geräuschvoll, während sie ihr Gesicht an seine Halsbeuge legte. „Es tut mir aufrichtig leid, dass ich Sie eine Amazone genannt habe. So verhält sich kein Gentleman.“

„Ich weine nicht deswegen, Sie Narr!“ Verärgerung blitzte in ihren Augen auf, wodurch er sich gleich besser fühlte. Zumindest galt dieser unerwartete und laute Gefühlsausbruch nicht ihm. Der armen Frau machte offensichtlich Deals ungehobeltes Verhalten zu schaffen.

„Ich bin mir sicher, dass Deals Tändelei mit Penelope nichts weiter zu bedeuten hat“, sagte er, ohne selbst daran zu glauben. Deal war ein schamloser Frauenheld, der noch dazu gern mit seinen unzähligen Eroberungen prahlte.

„Wohl kaum. Es bedeutet, dass er ihre Vorzüge meinen vorzieht“, schluchzte sie. „Und wer kann es ihm verübeln? Penelope ist so schön. Das sagen alle. Im Vergleich zu ihr bin ich blass und unansehnlich mit meinen schrecklichen Sommersprossen. Meine Figur ist so flach wie ein Waschbrett. Und ich habe dieses hässliche karottenfarbene Haar.“

Offenbar war er wieder in ein Fettnäpfchen getreten. Aaron fühlte, wie ihre schmalen Schultern zitterten, während sie weinte. In ihm stieg das sonderbare Bedürfnis auf, den Marquis of Deal aufzusuchen und ihm einen wohlverdienten Schlag ins Gesicht zu verpassen. „Zuerst einmal ist Ihr Haar wunderschön. Ihre Haut ist nicht einfach blass, sondern eher wie Alabaster. Die Sommersprossen in Ihrem Gesicht sind überaus entzückend. Das sind sie wirklich. Ich habe nie verstanden, warum Sommersprossen als unansehnlich gelten. Außerdem sind Sie nicht so flach wie ein Brett. Sie haben eine reizende Figur.“ Mit seinen Händen konnte er die sanfte Kurve ihrer Hüften fühlen, und er spürte auch, wie sich etwas Weiches an seine Brust drückte, worauf sein Körper unmittelbar reagierte – wider seines besseren Wissens und trotz seiner schlechten Laune. Was um alles in der Welt war in ihn gefahren? Das war Constance Stuart. Constance Stuart.

Connie hob den Kopf von seiner Schulter und sah ihn mit geschwollenen Lidern an; in ihrem Gesicht spiegelte sich großer Schmerz. „Wenn ich so liebreizend bin, warum hat er dann nicht einmal versucht, mich zu küssen? Sagen Sie mir das. Wir sind schließlich verlobt.“ Sie sah überaus verzweifelt aus. „Der Marquis findet mich abstoßend. Das hat er mir deutlich genug zu verstehen gegeben.“

Ein weiterer Beweis, dass Deal ein verdammter Narr ist, dachte Aaron. Es fühlte sich herrlich an, sie in den Armen zu halten. Er genoss es, einer Dame zur Abwechslung in die Augen sehen zu können, ohne auf sie herabschauen zu müssen. Connie war eine angenehm große Frau, die offenbar perfekt zu seinem eigenen großen Körper passte. Und sie hatte Verstand. Niemand konnte behaupten, dass Constance Stuart auf den Kopf gefallen war. Die Diskussionen mit ihr waren immer der Höhepunkt eines jeden Balls. Der verführerische Duft ihres Rosenparfums stieg ihm in die Nase und berauschte seine Sinne, was ihn auf Gedanken brachte, die er lange Zeit nicht gehabt hatte. Wie um alles in der Welt hatte Deal ihr widerstehen können? Ihre vollen Lippen waren rot und geschwollen und verlangten förmlich danach, geküsst zu werden. Wenn sie seine Verlobte wäre, könnte er nicht an sich halten … Ohne nachzudenken, neigte er den Kopf und gab seinem Verlangen nach.

Als seine Lippen ihre berührten, vergaß er alles um sich herum. Überrascht von seiner Unverfrorenheit sog sie scharf den Atem ein, stieß ihn jedoch nicht von sich weg, sodass er erneut mit seinen Lippen über ihre strich. Und noch einmal. Beschützend legte er die Arme um sie und zog sie enger an sich. Anfangs stand sie stocksteif da und hielt den Atem an, doch dann öffneten sich ihre Lippen leicht, und sie seufzte. Als sie ihren Mund zögerlich an seinen schmiegte, gab es für Aaron kein Halten mehr, und er küsste sie wie ein Verdurstender in der Wüste.

Aaron Wincanton zu küssen war ganz anders, als ihre Vorstellung vom Küssen gewesen war. Sie spürte es nicht nur auf ihren Lippen, sondern auch in ihren Beinen. Sie waren seltsam wackelig. Connie bekam eine Gänsehaut, jede Faser ihres Körpers prickelte vor Verlangen. Sie bemerkte nicht, wie die Zeit verstrich, und hätte nicht sagen können, ab wann der Kuss immer stürmischer wurde. In einem Moment war sie noch verärgert und wollte seine Arme abschütteln, im nächsten lag sie fast auf dem Sofa, die Hände in seinem dunklen Haar vergraben. Er strich mit seiner großen, warmen Hand über ihre Seidenstrümpfe, bis er ihre nackte Haut über dem Strumpfband berührte. Es war ungeheuerlich, aber es fühlte sich herrlich an, auf diese Weise begehrt zu werden – und das von einem Mann, der kein Interesse an ihrer Mitgift oder ihrer gesellschaftlichen Stellung hatte.

Er küsste sie.

Connie.

An der Art, wie er stoßweise atmete und wie sein Herz heftig gegen seine Rippen schlug, erkannte sie, dass er den Kuss ebenso tief empfand wie sie. Diese intensive Leidenschaft rief Gefühle in ihr hervor, die so unerwartet und überwältigend waren, dass sie glaubte, sie wäre in eine andere Welt versetzt – eine Welt, die sie nie wieder verlassen wollte. Endlich gab es jemanden, der sie anziehend und begehrenswert fand. Sie fühlte sich schön, voller Leben und unglaublich weiblich.

Sie hörte weder, wie die Tür der Bibliothek geöffnet wurde, noch wie mehrere Menschen den Raum betraten.

„Was zum Teufel geht hier vor sich?“

Als sie die wütende Stimme des Marquis of Deal hörte, schreckte sie hoch und schubste Aaron kurzerhand auf den Boden, während sie versuchte, ihre Röcke in Ordnung zu bringen. Links neben ihrem Verlobten stand ihr Vater, der sie eiskalt anstarrte, und rechts neben ihm Penelope Rothman, deren Lippen ein hämisches Grinsen umspielte.

„Es ist nicht so, wie es aussieht“, stotterte Connie. Ihre Augen waren vor Entsetzen geweitet, während sie hilfesuchend und voller Angst Aaron anschaute. Sein Gesicht war angespannt, als er sich erhob, doch er sagte nichts, sondern half ihr, vom Sofa aufzustehen.

„Ihre Tochter wurde kompromittiert.“ Verächtlich wandte sich Deal an ihren Vater. „So will ich sie nicht mehr.“

Als ihr Vater sie wieder ansah, loderte etwas wie Hass in seinen für gewöhnlich kalten Augen. „Du hast Schande über die Familie gebracht, Constance!“

Connie war übel und schwindelig, der Boden unter ihren Füßen schien nachzugeben. Sie war vollkommen überwältigt. Wie konnte ihr das passieren? Noch mehr Gäste strömten in den Raum, um das schreckliche Schauspiel mitanzusehen, und sie konnte hören, wie draußen noch andere herbeigerufen wurden. Unter ihnen waren ihr jüngerer Bruder Henry und ihre Mutter. Die Gesichter der beiden waren bleich vor Entsetzen. Ihre Mutter sah aus, als würde sie jeden Moment in Tränen ausbrechen. Hinter ihnen erschien Aarons Vater, Viscount Ardleigh. Die versammelte Menge teilte sich wie das Rote Meer vor Mose, als er in den Raum trat.

Zweifellos sah er das zerzauste Haar seines Sohnes und die geöffneten Knöpfe an dessen Weste. Connie wollte nicht darüber nachdenken, wie sie auf ihr Publikum wirken musste, aber wenn ihr Anblick nur ansatzweise dem von Aaron glich, dann musste sie vollkommen verrucht aussehen – so als habe sie sich soeben ihrem Verlangen voller Inbrunst hingegeben. Eine Locke ihres allzu roten Haares, die Aaron bei seiner leidenschaftlichen Umarmung gelöst hatte, strich über ihre Wange. Ihre Schuld war unverkennbar. Wo sie auch hinsah – überall tuschelten die Damen hinter vorgehaltenen Fächern voll empörter Schadenfreude.

Der alte Wincanton betrachtete die Szene lange, ohne sich zu regen. Nach einer Ewigkeit richtete er den Blick auf seinen Sohn. „Gut gemacht, Aaron“, sagte er mit einem Anflug von Stolz. „Und ich dachte, du hättest es nicht in dir.“ Dann warf er den Kopf in den Nacken und begann schallend zu lachen.

3. KAPITEL

Connie erinnerte sich vage daran, wie sie des Ballsaals verwiesen worden war. An die Kutschfahrt zum Stadthaus ihrer Familie hatte sie jedoch eine genaue Erinnerung. Es war schrecklich gewesen. Ihre Mutter saß in eisigem Schweigen da, ihr Bruder Henry war blass und verstört. Ihr Vater schäumte vor Wut und stieß einen Fluch nach dem anderen aus. Seine Vorhaltungen waren noch schlimmer als bisher und liefen immer auf dasselbe hinaus: Er hielt sie für eine dumme, undankbare Dirne. Für ihn war sie gestorben. Sie sollte ihre Sachen packen, am nächsten Morgen das Haus verlassen und nie wieder an seine Tür klopfen. Selbst jetzt – mehrere Stunden später – fühlte sich Connie wie betäubt. Ein lächerlicher und unüberlegter Moment der Schwäche, und ihr Leben lag in Trümmern. Sie hatte keine Ahnung, was sie tun oder wohin sie gehen sollte.

Nach ihrer Heimkehr war ein Dienstmädchen auf ihr Schlafzimmer geschickt worden, um ihr beim Packen zu helfen. Zwei Truhen und eine Tasche standen in einer Ecke des Raumes. Obwohl draußen noch tiefe Nacht war, konnte Connie keinen Schlaf finden. Ihre Gedanken kreisten um die schrecklichen Ereignisse, und noch immer konnte sie nicht verstehen, wie alles so schlimm hatte enden können. Allerdings wusste sie durchaus, wer dafür verantwortlich war.

Autor

Virginia Heath
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