Bianca Exklusiv Band 341

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

EIN BISSCHEN GLÜCK UND SEHR VIEL LIEBE von VICTORIA PADE
Was auf Shannons Wunschzettel nicht steht, ist ein Mann! Aber Weihnachten in der Kleinstadt, wo sie ihre Familie besucht, beschert ihr überraschend Traummann Dag McKendrick. Wo sie doch längst ein neues Leben in Hollywood geplant hat …

STARKER MANN MIT WEICHEM HERZEN von MARIE FERRARELLA
Morgan Donnelly ist Kelseys Held – er hat ihre Mutter gerettet! Als Kelsey erfährt, dass er selbst einst durch die Hölle gegangen ist, will ihm zum Fest der Liebe beweisen, dass niemand das Glück mehr verdient als er.

EINE FAMILIENPACKUNG GLÜCK von NANCY ROBARDS THOMPSON
Nanny Lily hat vier Wünsche für Weihnachten: 1. Dr. Dunlevys verwaisten Patenkindern Freude bringen, 2. sie am Brauen von „Zaubertränken“ hindern, 3. gemeinsam Plätzchen backen – wie eine echte Familie. 4. Dr. Dunlevy unterm Mistelzweig küssen …


  • Erscheinungstag 08.10.2021
  • Bandnummer 341
  • ISBN / Artikelnummer 9783751501194
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Victoria Pade, Marie Ferrarella, Nancy Robards Thompson

BIANCA EXKLUSIV BAND 341

1. KAPITEL

„Ho, ho, ho! Ihr könnt aber schon gut eislaufen!“

Shannon Duffy lächelte über das, was sie hörte und sah, als sie aus ihrem Wagen stieg.

Nach einer langen und anstrengenden Fahrt war sie endlich in der Kleinstadt Northbridge im Bundesstaat Montana angekommen. Als sie direkt am Hauptplatz der Stadt einen freien Parkplatz entdeckte, fuhr sie sofort in die Lücke, damit sie aussteigen und sich strecken konnte.

Ganz in der Nähe befand sich eine offene Eisfläche, auf der eine Gruppe von Kindergartenkindern vom Weihnachtsmann persönlich Unterricht im Eislaufen bekam. Oder zumindest von jemandem, der als Weihnachtsmann verkleidet war und die Kinder mit fröhlichen Ho-ho-hos aufmunterte.

In einer guten Woche war schon Weihnachten, und Shannon war alles andere als traurig, dass sich das Jahr dem Ende näherte. Es war kein leichtes für sie gewesen.

Sie seufzte bei dem Gedanken an all die Schwierigkeiten des Jahres …

Doch als sie die kalte, frische Kleinstadtluft einatmete und die lachenden Kinder auf dem Eis sah, freute sie sich, dass sie hergefahren war. Sie fühlte sich schon etwas weniger einsam und allein als noch vor einer Minute. Es war beinahe, als würde die Kleinstadt sie willkommen heißen, die ihre vor Kurzem verstorbene Großmutter so geliebt hatte.

Shannon hatte in diesem Jahr drei Verluste erlitten. Vier sogar, wenn sie Wes mitzählte.

Anfang Januar war ihr Vater gestorben, drei Monate danach ihre Mutter. Der Tod ihrer Adoptiveltern kam nicht überraschend: Beide waren viele Jahre lang krank gewesen. Doch als im August auch noch ihre Großmutter an einem ebenso plötzlichen wie unerwarteten Herzinfarkt starb, war es ein Schock für Shannon gewesen. Innerhalb weniger Monate hatte sie ihre gesamte Familie verloren.

Und dann war auch noch ihre Beziehung zu Wes Rumson gescheitert …

Für ihre Reise nach Northbridge gab es zwei Gründe. Shannon war zu einer Hochzeit eingeladen worden und wollte die Feiertage mit den Menschen verbringen, die vielleicht ihre neue Familie werden würden.

Vor zwei Monaten hatte sich ein Mann namens Chase Mackey bei ihr gemeldet und ihr aus heiterem Himmel eröffnet, dass er ihr Bruder war. Und nicht nur das: Sie war eines von insgesamt fünf Kindern – drei Brüder, zwei Schwestern –, die nach dem Tod ihrer Eltern bei einem Autounfall teilweise getrennt und zur Adoption freigegeben worden waren. Damals war sie achtzehn Monate alt gewesen.

Shannon hatte gewusst, dass sie adoptiert war. Wovon sie vor Chase Mackeys Anruf jedoch keine Ahnung gehabt hatte, war, dass sie irgendwo auf der Welt Geschwister hatte.

Und wie sich im Gespräch mit Chase herausstellte, lebte einer ihrer Brüder noch nicht einmal allzu weit entfernt von ihr, denn Chase rief sie aus Northbridge an, der Stadt, in der ihre Großmutter gelebt hatte und wo sich die Farm befand, die Shannon nach dem Tod der alten Dame geerbt hatte.

Diese Farm war der zweite Grund, weshalb sie nach Northbridge gekommen war. Da sie keinerlei Verwendung für eine solche Immobilie hatte, würde sie heute die Dokumente für den Verkauf von Haus und Grundstück unterzeichnen.

„Hoppla, Tim! Hast du dir wehgetan?“

Einer der kleinen Eisläufer war hingefallen, und die Frage, die Shannon gehört hatte, kam vom Weihnachtsmann. Der war erstaunlich sportlich zu dem Jungen gerast und hatte mit elegantem Schwung vor ihm abgebremst. Der lange rote Mantel und das Kissen, das wohl daruntersteckte, hatten ihn dabei nicht im Geringsten behindert.

Der kleine Tim erwies sich als echter Held, der die Zähne zusammenbiss und gegen die aufsteigenden Tränen kämpfte. Er ließ sich vom Weihnachtsmann hochhelfen und fuhr mit ihm wieder zurück zur Gruppe.

Shannon war begeistert, wie souverän die beiden die Situation gemeistert hatten.

Nicht dass sie das irgendetwas anging. Es erinnerte sie nur an ihren Beruf als Kindergärtnerin, den sie manchmal etwas vermisste.

Sie arbeitete schon seit ihrem Collegeabschluss in einem Kindergarten, und sie liebte ihren Job. Doch der Tod ihrer Großmutter hatte ihr einen solchen Tiefschlag versetzt, dass sie eine Auszeit gebraucht und sich ein halbes Jahr freigenommen hatte.

Ob sie im neuen Jahr wieder in ihren Kindergarten zurückkehren würde, wusste sie noch nicht. Vielleicht würde sie auch das Angebot einer alten Freundin annehmen und nach Beverly Hills ziehen …

Doch all das stand in den Sternen, und während der kommenden Tage wollte sie sich nur mit ihrem neuen Bruder und ihrem kleinen Neffen beschäftigen und alles daransetzen, ihr erstes Weihnachtsfest nach den vielen Schicksalsschlägen so gut wie möglich hinter sich zu bringen.

Sie zog ihr Handy aus der Jackentasche. Kurz vor Northbridge gab es ein Funkloch, und Shannon hoffte, dass sie während ihres Aufenthalts nicht von der Außenwelt abgeschnitten sein würde.

Doch ihre Befürchtung erwies sich als unbegründet. Wenige Minuten später hatte sie wieder ein Netz. Und eine Nachricht auf der Mailbox …

Es war die Sekretärin von Wes, die sie bat, sich zu melden, sobald sie gut angekommen war.

Shannon wusste Wes’ Fürsorglichkeit zu schätzen. Er hatte sich auch nach ihren Plänen für die Feiertage erkundigt, weil er nicht wollte, dass sie das Fest allein verbrachte.

Doch schon der Umstand, dass es einmal mehr Wes’ Sekretärin war, die sie anrief, und nicht Wes persönlich, bestärkte sie in ihrer Entscheidung, den Heiratsantrag des Mannes abzulehnen, mit dem sie in den vergangenen drei Jahren zusammen gewesen war.

Wes Rumson. Der politische Hoffnungsträger der mächtigen Familie Rumson, die nur aus Staatsanwälten, Senatoren, Kongressabgeordneten und Bürgermeistern zu bestehen schien. Und wenn Wes’ Wahlkampagne erfolgreich verlief, würde bald auch noch ein Gouverneur aus ihren Reihen kommen.

Wes war der Mann, der ihr das spannende Leben bieten konnte, das sie sich immer gewünscht hatte. Wenn sie den Antrag, den er ihr vor laufender Kamera gemacht hatte, angenommen hätte.

Aber das hatte sie nicht. Egal, wie die Öffentlichkeit ihre Antwort wahrgenommen hatte, Shannon hatte Nein gesagt.

Doch mit Ausnahme einiger weniger Insider wusste das niemand. Die Aufnahmen waren nicht gesendet worden.

Und sie hatte jetzt wirklich keine Lust auf eine Unterhaltung mit Wes’ Sekretärin. Deshalb schickte sie ihr nur eine SMS, in der sie schrieb, dass sie gut in Northbridge angekommen sei, und ihr fröhliche Weihnachten wünschte.

Offenbar reichte schon die Nähe des alten Mannes im roten Mantel aus, um Shannon in eine weihnachtliche Stimmung zu versetzen …

Während sie ihr Handy zurück in die Tasche ihres dunkelblauen Wollmantels steckte und dabei das Geschehen auf der Eisfläche beobachtete, fiel ihr auf, dass dieser Weihnachtsmann eigentlich gar nicht so alt wirkte. Hinter dem falschen Bart und unter der roten Zipfelmütze steckte ein viel jüngerer Mann als erwartet, der sich auf seinen Schlittschuhen ausgesprochen leichtfüßig und schnell bewegte.

Nein, alt war dieser Mann nicht. Er war fit und jung und sportlich und …

Shannon hatte keine Ahnung, warum sie hier stand und ihn anstarrte. Besonders, weil es höchste Zeit war, dass sie sich auf den Weg machte.

Ein letzter tiefer Atemzug, ein weiterer Blick auf den festlich dekorierten Hauptplatz, die kleinen Eisläufer und den flotten Weihnachtsmann, und dann stieg Shannon zurück in ihren Wagen.

Weil sie gleich ihren Bruder wiedersehen würde, den sie erst kürzlich kennengelernt hatte, klappte sie die Sonnenblende herunter und kontrollierte ihr Gesicht im Spiegel.

Sie hatte ihre langen, walnussbraunen Haare zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. Was sie von dem neuen Mascara hielt, mit dem sie ihre blaugrünen Augen akzentuiert hatte, musste sie erst noch herausfinden, aber zumindest war nach der langen Fahrt alles noch intakt. Auch an dem Hauch von Rouge auf ihren Wangen gab es nichts auszusetzen. Ihr Lippenstift hingegen benötigte dringend eine Auffrischung.

Abgesehen davon war sie schön genug, um sich bei Chase Mackey und seiner zukünftigen Frau Hadley sehen zu lassen.

Shannon las sich noch einmal die Wegbeschreibung durch, die Chase ihr gegeben hatte: Auf der South Street links abbiegen. Danach die vierte Querstraße rechts.

Sie hatte sich schon zweimal mit Chase getroffen, doch beide Male war er zu ihr nach Billings gekommen. Genau, wie auch ihre Großmutter immer sie besucht hatte – und nie umgekehrt. Dies war Shannons erster Besuch in Northbridge seit ihrem zwölften Lebensjahr.

Chase hatte erzählt, dass er und sein Geschäftspartner Logan McKendrick gemeinsam eine alte Farm gekauft hatten, die sie für ihre Zwecke umgebaut und hergerichtet hatten. Logan lebte im Farmhaus. Daneben gab es eine Werkstatt und einen Verkaufsraum für die Möbeltischlerei, die Chase und Logan gemeinsam betrieben.

Chase und Hadley lebten in einer geräumigen Wohnung über der Werkstatt. Über der Garage befand sich außerdem ein weiteres kleines Apartment, das Shannon während der Feiertage bewohnen würde.

Sie war also nicht nur bei Chase und Hadley zu Gast, sondern irgendwie auch bei Logan und seiner Familie.

Aber am meisten freute sie sich auf ihren Neffen Cody.

Cody war der fünfzehn Monate alte Sohn der ältesten Schwester von Shannon und Chase. Nach dem Tod seiner Mutter wurde er von Chase und Hadley erzogen, und er war auch der Grund dafür, dass die Familiengeschichte offengelegt wurde, die Shannon und Chase zusammengeführt hatte.

Chase hatte den süßen Kleinen beide Male mit nach Billings gebracht, sodass Shannon ihn schon kennengelernt hatte und das Wiedersehen mit ihm kaum erwarten konnte.

Sie klappte die Sonnenblende zurück. Aha, der Eislaufunterricht war anscheinend beendet. Jedenfalls zogen der Weihnachtsmann und seine Kindergruppe gerade ihre Schlittschuhe aus.

Es war wohl besser, wenn sie rasch losfuhr, bevor es auf dem Parkplatz von Eltern zu wimmeln begann, die ihre Kinder abholen wollten.

Shannon legte den Sicherheitsgurt an und drehte den Schlüssel im Zündschloss.

Klick, klick, klick. Nichts.

„Was soll das?“, fragte sie ihr dreizehn Jahre altes Auto. „Jetzt hast du mich doch schon so weit gebracht …“

Doch auch bei den nächsten Startversuchen passierte dasselbe. Nämlich nichts.

Der Motor war tot.

Und Shannon hatte keine Ahnung von Autos.

„Na prima“, murmelte sie.

Während sie noch überlegte, was sie nun tun sollte, klopfte jemand ans Fenster der Fahrertür. Der Weihnachtsmann starrte mit großen, dunklen Augen zu ihr hinein.

„Kann ich Ihnen helfen?“

Er hatte seine schwarzen Schlittschuhe an den Schnürsenkeln zusammengeknotet und sich wie selbstverständlich über die Schulter gehängt. Obwohl der Bart einen Großteil seines Gesichts verbarg, hatte Shannon mit ihrer Einschätzung richtiggelegen: Der Mann musste etwa in ihrem Alter sein.

Sie ließ das Fenster herunter. „Der Motor springt einfach nicht mehr an. Ich bin gerade erst ohne Probleme eine weite Strecke gefahren. Dann habe ich den Wagen für zwei Minuten abgestellt, und jetzt startet er nicht mehr.“

„Machen Sie die Haube auf, und dann sehe ich mir das mal an“, schlug der Weihnachtsmann in einem tiefen, vollen Bass vor, der seinem Erscheinungsbild alle Ehre machte.

Shannon hatte keine Ahnung, ob ihre Pannenhilfeversicherung so weit entfernt von zu Hause überhaupt gültig war. Daher ging sie auf den Vorschlag des Weihnachtsmanns ein und zog an dem Hebel, mit dem die Motorhaube entriegelt wurde.

Danach stieg sie aus und stellte sich neben den Weihnachtsmann, um gemeinsam mit ihm den Motorraum zu inspizieren.

Der Mann war ein Hüne. Natürlich hatte er im Vergleich zu den Kindern groß gewirkt, aber auch Shannon überragte er um einen Kopf. Außerdem war er wesentlich muskulöser, als er unter seiner Verkleidung auf den ersten Blick gewirkt hatte.

Sie hatte keine Ahnung, warum sie über solche Dinge nachdachte …

„Ihre Batterie ist neu. Daran kann es nicht liegen“, stellte er fest. „Deshalb wird es nichts nützen, wenn ich Ihnen Starthilfe gebe.“

Starthilfe? Wer weiß, in manchen Bereichen könnte mir ein wenig Starthilfe vielleicht ganz guttun.

„Ich werde jetzt einige Dinge ausprobieren“, kündigte der Weihnachtsmann an. „Steigen Sie wieder ein und drehen den Zündschlüssel, wenn ich ‚jetzt‘ sage.“

Shannon gehorchte, aber trotz aller Versuche sprang der Motor nicht mehr an.

„Ich fürchte, Ihr Wagen hat ein größeres Problem. Jedenfalls keines, das ich auf die Schnelle beheben kann“, erklärte der Weihnachtsmann schließlich bedauernd.

Er schloss die Motorhaube und bückte sich, um sich im Schnee die Hände zu waschen.

Shannon sprang aus dem Auto und reichte ihm einige Taschentücher, die sie aus dem Handschuhfach geholt hatte.

„Aber trotzdem vielen Dank, dass Sie es versucht haben“, sagte sie, während er sich die Hände abtrocknete. Sie deutete die Hauptstraße hinauf. „Beim Herfahren habe ich dort oben eine Tankstelle gesehen. Sie wissen nicht zufällig, ob es dort auch einen Mechaniker gibt?“

„Doch. Sogar einen sehr guten. Ich kann ihn für Sie anrufen, wenn Sie möchten. Er kann Ihr Auto auch abschleppen, falls es notwendig sein sollte.“

Shannon warf einen Blick auf die Uhr. Bis zu dem Anwaltstermin für den Verkauf der Farm ihrer Großmutter hatte sie noch eine knappe Stunde Zeit. „Das wäre gut“, sagte sie zögernd. „Glauben Sie, der Mechaniker kommt bald? Ich habe es nämlich leider ziemlich eilig …“

„Selbst wenn er nicht kann – lassen Sie den Schlüssel einfach im Handschuhfach. Roy – das ist der Mechaniker – kümmert sich um Ihr Auto, sobald er Zeit hat. Hier bei uns in Northbridge kommt nichts weg, keine Angst. Und wenn Sie irgendwohin müssen, kann ich Sie gern hinfahren.“

Auch wenn er noch so sympathische Augen hatte – Shannon konnte unmöglich zu einem Fremden ins Auto steigen. „Vielen Dank, aber ich werde wohl am besten meinen Bruder anrufen.“

„Wer ist Ihr Bruder? Northbridge ist eine kleine Stadt. Vielleicht kenne ich ihn.“

„Chase Mackey?“

„Shannon? Du bist Shannon Duffy?“, fragte der Weihnachtsmann ungläubig.

„Richtig. Aber woher …“

„Ich bin Dag McKendrick. Du hast mir die Farm deiner Großmutter verkauft. Der Geschäftspartner von Chase ist mein Halbbruder Logan.“

Ein Anwalt aus Northbridge hatte den Verkauf abgewickelt. Shannon kannte den Namen des Käufers, und sie hatte auch gewusst, dass es eine familiäre Beziehung zum Partner ihres Bruders gab, aber sie hatten einander nie getroffen.

„Wow, das ist aber wirklich eine kleine Stadt“, erklärte sie verblüfft. Was für ein Zufall!

„Ich wohne übrigens bei Logan, bis ich das Haus deiner Großmutter richtig in Schuss gebracht habe. Und du bekommst während der Feiertage das Apartment über der Garage, richtig?“

„Ja.“

„Dann rufe ich jetzt schnell Roy an und bitte ihn, sich um dein Auto zu kümmern. Anschließend nehme ich dich mit nach Hause.“

Oh.

Bei ihm hörte sich das so einfach und selbstverständlich an. Aber Shannon war immer noch nicht wohl dabei, ihm alles, was er sagte, zu glauben und sich ihm anzuvertrauen. „Äh … danke, aber …“

„Komm schon, es ist alles in Ordnung. Ich habe sogar einen Lutscher für dich …“, lockte er sie übertrieben freundlich und zog tatsächlich einen Lutscher aus der Tasche seines roten Mantels.

Shannon musste wider Willen grinsen. „Ein Fremder, verkleidet als Weihnachtsmann, will mich mit einem Lutscher dazu bringen, in seinen Wagen zu steigen?“, fasste sie kopfschüttelnd zusammen.

Dag lachte. „Zugegeben, das klingt schon etwas mysteriös. Gut, wie wäre es damit …“

Er griff wieder in seine Manteltasche und förderte dieses Mal eine Geldbörse zutage.

„Hier. Ich beweise dir, wer ich bin.“ Er reichte ihr seinen Führerschein.

Shannon sah ihn sich genau an, besonders das Foto. Es bildete eine Ausnahme von der alten Regel, dass man schleunigst Urlaub machen sollte, wenn man seinem Führerscheinfoto ähnlich zu sehen beginnt. Nicht nur Dags Augen gefielen ihr, sondern sein ganzes Erscheinungsbild.

Seine Nase – weder zu dick noch zu dünn – stand ihm richtig gut. Ausgeprägte Lippen. Ein eckiges Kinn. Und ein Anflug von dunklen Bartstoppeln, die ihm das gewisse Etwas verliehen.

Sein Haar, kurz an den Seiten, etwas länger auf dem Kopf, hatte die Farbe von Espresso: nur einen Hauch heller als schwarz. Er trug es geradezu perfekt zerzaust.

Und ja, der Name auf dem Führerschein war wirklich Daegal Pierson McKendrick.

„Daegal?“, fragte Shannon amüsiert, als sie den ungewöhnlichen Namen sah.

„Meine Mutter war ein bisschen größenwahnsinnig“, erklärte Dag achselzuckend. „Sie hielt den Namen für etwas ganz Besonderes. Meine Schwestern heißen übrigens Isadora, Theodora und Zeli. Aber immerhin hast du jetzt gesehen, dass ich dir keinen Bären aufbinde. Und in einer Stunde sitzen wir zusammen beim Anwalt und unterzeichnen den Kaufvertrag. Außerdem werden wir heute Abend gemeinsam mit unseren Familien essen und die kommenden zehn Tage Tür an Tür wohnen. Da denke ich schon, dass du dich auf eine fünfminütige Autofahrt mit mir einlassen kannst.“

Shannon wusste selbst nicht, wieso, aber irgendwie hatte sie plötzlich Lust, Dag zappeln zu lassen, obwohl er sie schon lange von seiner Vertrauenswürdigkeit überzeugt hatte. „Woher weiß ich denn, dass der Mann hinter deinem weißen Rauschebart derselbe ist wie der auf dem Führerscheinfoto?“

Dag sah sich gründlich um, um sich zu versichern, dass keines seiner Eislaufkinder in der Nähe war, bevor er für einen Moment den Bart nach unten zog. Der Moment reichte Shannon, um festzustellen, dass er in Wirklichkeit noch besser aussah als auf seinem Führerscheinfoto.

Als der Bart wieder war, wo er hingehörte, deutete Dag mit dem Zeigefinger erst auf den Führerschein, dann auf sich selbst und sagte: „Habe ich dich jetzt überzeugt, oder bist du immer noch misstrauisch? Ich bin kein Triebtäter, der dich hinaus in den Wald fährt und über dich herfällt.“

Warum musste sie lächeln? Und warum klang das vielleicht sogar ein wenig verführerisch?

Wieder hatte sie keine Antwort auf diese Fragen, aber sie lenkte schließlich doch noch ein. „Okay. Ruf den Mechaniker an, und danach werde ich dir wohl oder übel vertrauen und mit in deinen Wagen steigen müssen.“

Dag McKendrick grinste sie an und zeigte ihr dabei seine makellosen weißen Zähne. „Du brauchst nicht mitzufahren, wenn du nicht willst. Du kannst auch zu Fuß gehen. Es sind nur etwa vier Meilen …“

„Schon gut, schon gut. Du hast mich überredet. Ich komme ja mit. Aber denk dran, dass der Mechaniker weiß, mit wem ich weggefahren bin, falls ich nicht mehr auftauchen sollte.“

„Das wird bestimmt nicht passieren. Ich habe nicht vor, mich mit dem künftigen Gouverneur von Montana anzulegen. Der dürfte gar nicht begeistert sein, wenn seine Braut plötzlich verschwindet.“

Dann hatte diese Nachricht also sogar Northbridge erreicht. Pech. Irgendwie hatte Shannon gehofft, dass man sich in der abgelegenen Kleinstadt nicht für solche Themen interessierte.

Aber obwohl sie nicht vorhatte, Wes Rumson zu heiraten, hatte sie doch eingewilligt, ihre Weigerung vorerst für sich zu behalten. Wes’ Medienbeauftragte würden einen Weg finden, die Sache öffentlich zu machen, ohne dass er dadurch das Gesicht verlor und sein Image litt. Deshalb konnte Shannon Dag jetzt nicht korrigieren. Schließlich war er praktisch ein Fremder, und sie standen auf einem öffentlichen Platz.

Und doch hätte sie nichts lieber getan, als ihm die Wahrheit zu sagen, weil sie den Gedanken, dass er sie irrtümlicherweise für verlobt hielt, schrecklich fand.

Dieses Gefühl war ihr genauso unverständlich wie ihre sonstige Reaktion auf diesen Mann.

Aber sie hatte Wes nun einmal Diskretion versprochen und würde dieses Versprechen auch halten.

Sie musste einfach.

Daher hielt sie sich zurück und sagte nur: „Wenn du freundlicherweise den Mechaniker anrufen würdest, lade ich inzwischen meinen Koffer aus.“

„Hört, hört, du klingst sogar schon wie eine künftige Gouverneursfrau“, witzelte er.

Statt einer Antwort rollte Shannon nur mit den Augen.

„Lass deinen Koffer ruhig, wo er ist. Ich hole ihn, sobald ich mit Roy gesprochen habe. Schließlich kann ich doch nicht zulassen, dass die künftige First Lady von Montana ihr Gepäck selbst schleppt.“

Shannon ignorierte die Äußerung und ging zum Kofferraum, um den Koffer zu holen.

Verstohlen warf sie einen Blick am offenen Kofferraumdeckel vorbei.

Dag McKendrick.

Warum in aller Welt war es ihr so wichtig, dass er wusste, dass sie nicht verlobt war?

Im Augenblick verstand sie sich wirklich selbst nicht.

2. KAPITEL

Am Donnerstagabend legte Dag den gerade unterzeichneten Kaufvertrag für sein Farmhaus in die oberste Schublade der Kommode im Gästezimmer seines Halbbruders Logan.

Er hörte Stimmen im Wohnzimmer. Die Gäste zum Abendessen begannen einzutrudeln. Schließlich gab es mit Shannon Duffys Ankunft und dem frisch besiegelten Hauskauf gleich zwei Gründe zum Feiern.

Dag freute sich auf den Abend, aber bevor er nach unten ging, musste er sich erst noch ein paar Minuten ausruhen. Er setzte sich auf die Bettkante, streckte sein Knie aus und massierte die schmerzende Stelle mit den Händen.

Eigentlich hätte er heute auf dem Eis die elastische Stützbandage anlegen sollen, doch er hatte nicht erwartet, dass es so viel Körpereinsatz erfordern würde, einigen Kindergartenkindern das Eislaufen beizubringen. Außerdem wurde er zunehmend nachlässiger, was Vorsichtsmaßnahmen anbelangte, da es ihm im Großen und Ganzen eigentlich gut ging. Es war wohl die rasche Fahrt zum kleinen Tim nach dessen Sturz gewesen, bei der er sich ein bisschen übernommen hatte.

Aber wirklich nur ein bisschen. Dag trug etwas schmerzstillende Salbe auf und rieb sie gründlich ein. Bis morgen würde bestimmt alles wieder in Ordnung sein. Das Knie wollte ihm nur einfach manchmal demonstrieren, dass all die Ärzte, Physiotherapeuten und Trainer recht gehabt haben: Seine Eishockeykarriere war unwiderruflich zu Ende.

Und das hatte er ja auch eingesehen. Bei seiner Rückkehr nach Northbridge im September hatte er sich auf die Suche nach einer dauerhaften Bleibe begeben. Nun besaß er ein charmantes altes Haus mit einem riesigen, landwirtschaftlich genutzten Grundstück. Er schlug neue Wege ein, und das musste gebührend gefeiert werden. Der Teufel sollte ihn holen, wenn er den heutigen Abend damit verbrachte, einem Leben nachzutrauern, das eben nicht für ihn bestimmt gewesen war.

Seine Karriere als Eishockeyprofi war ziemlich erfolgreich verlaufen. Er hatte gut verdient und den Sport und den damit verbundenen Lebensstil genossen. Obwohl es nicht seine freie Entscheidung gewesen war, seine Karriere zu beenden, und dieser Schritt viel früher gekommen war, als er sich gewünscht hätte, freute er sich, dadurch wenigstens wieder in Northbridge leben zu können.

Er musste sich auf die Vorteile konzentrieren: sein neues Haus, das Leben in seiner Heimatstadt mit vielen lieben Freunden und Bekannten und die Tatsache, dass bald Weihnachten war – das erste Weihnachtsfest seit vielen Jahren, das er zu Hause mit seiner Familie feiern konnte.

Im vergangenen Jahr hatte er die Weihnachtstage in einer Rehaklinik verbracht, im Jahr davor im Krankenhaus. Und in den früheren Jahren in einem Hotelzimmer, weil am zweiten Weihnachtsfeiertag immer irgendwo ein wichtiges Spiel stattfand.

Im Grunde genommen konnte er sich also glücklich schätzen, heute hier zu sein.

Er hörte eine weibliche Stimme lachen und lauschte. War Shannon Duffy schon aus ihrem Apartment über der Garage gekommen?

Und überhaupt: Warum interessierte ihn das eigentlich?

Nun ja. Er und Shannon waren schließlich heute gemeinsam die Ehrengäste. Wenn Shannon schon hier war, musste er auch hinuntergehen. Solange sie noch nicht da war, hatte er keine Eile.

Gut, vielleicht freute er sich auch darauf, sie wiederzusehen. Aber nur, weil sie wirklich eine Augenweide war.

Dunkles, dichtes, seidenglänzendes walnussfarbenes Haar, das einen atemberaubenden Kontrast zu ihrer makellosen hellen Haut bildete. Eine ausgesprochen süße Stupsnase. Ein hinreißender Kussmund. Zwischen blassblau und smaragdgrün changierende Augen. Eine aufregende Figur. Und nicht zuletzt ein frisches, fröhliches Auftreten, das sie wie von innen leuchten ließ.

Kein Zweifel, Shannon Duffy war eine Schönheit.

Ihre Schönheit verwirrte ihn so sehr, dass es ihm nicht gelungen war, ihr Bild aus seinem Kopf zu verbannen, seit er sie bei ihrem Bruder abgeliefert hatte.

Heute Nachmittag hatte er sich gewaltsam zwingen müssen, sie nicht ständig anzustarren.

Kein Wunder, dass es ihr gelungen war, sich einen Rumson zu angeln …

Wes Rumson war der jüngste Sohn der politisch einflussreichsten Familie Montanas. Vor ein paar Wochen lief es groß durch die Nachrichten, dass er nicht nur als Gouverneur kandidieren würde, sondern sich auch mit Shannon Duffy verlobt hatte. Als Dag davon erfuhr, ging er davon aus, dass sie aus diesem Grund das Erbe ihrer Großmutter verkaufte.

Und deshalb würde er sich auch so weit wie möglich von ihr fernhalten.

Egal ob verlobt, in einer Beziehung oder getrennt – jede Frau, die auch nur im Entferntesten den Eindruck erweckte, dass ein anderer Mann irgendein Interesse an ihr haben könnte, war für Dag tabu. Ein für alle Mal.

Er hatte schmerzhaft lernen müssen, dass man von Frauen, die nicht vollkommen frei waren, am besten die Finger ließ. Diese Erfahrung hatte er im wahrsten Sinne des Wortes mit der Brechstange gemacht.

Deshalb konnte Shannon Duffy noch so schön sein – er würde sich ganz sicher hüten, ihr zu nahezukommen.

„Eine Hasskette legt man um den Hals, einen Almreifen ums Handgelenk.“

„Genau“, bestätigte Shannon lächelnd die Ausführungen von Tia, der dreijährigen Tochter ihrer Gastgeber.

Nach einem ausgezeichneten Abendessen aus Hähnchen, wildem Reis, gebratenem Gemüse und Salat, gefolgt von einem Dessert aus Obstkuchen und Eis, saßen alle satt und zufrieden rund um den großen Tisch in Logan und Meg McKendricks gemütlichen Esszimmer.

Auch der zum Essen servierte Wein war gut und reichlich gewesen, und nach einigen Gläsern fühlte sich Shannon schon viel entspannter als noch bei ihrer Ankunft.

Dies traf wahrscheinlich auch auf die anderen Personen am Tisch zu, denn niemand schien es eilig zu haben, aufzustehen und mit dem Aufräumen zu beginnen.

Nur Tia hatte ihren Platz verlassen und war zielstrebig auf Shannons Schoß geklettert, um deren Schmuck zu inspizieren.

„Darf ich den Almreif probieren?“, bat Tia.

„Klar“, antwortete Shannon, während sie ihn auszog und der Kleinen in die Hand gab.

Rechts von Shannon saßen Tias Eltern Meg und Logan.

Links von Shannon befanden sich Chase und seine Verlobte Hadley, die außerdem Logans Schwester war.

Hadley hatte den fünfzehn Monate alten Cody auf dem Schoß.

Shannon direkt gegenüber saß Dag.

Und das machte es schwierig, ihn nicht die ganze Zeit in seiner vollen Größe und Schönheit anzustarren.

Ihm schien es ähnlich zu gehen. Jedenfalls hatte sie das Gefühl, dass jedes Mal, wenn sie es wagte, ihn anzusehen, seine Augen bereits auf ihr ruhten.

„Ich fürchte, dieser Almreif ist Ihnen zu groß, Lady Tia“, sagte Dag todernst. „Sie können ja beide Handgelenke hineinstecken.“

Tia versuchte es. Sie steckte die Hände von beiden Seiten durch den Ring, als wäre er ein Muff. Dann hielt sie kichernd die Arme hoch und jubelte: „Schaut her, es geht wirklich!“

„Verstehe ich das richtig, Shannon, dass du Northbridge eigentlich gar nicht kennst, obwohl deine Großmutter hier gelebt hat?“, erkundigte sich Logan.

„Ja. Ich habe sie nur als Kind einige Male besucht. Beim letzten Mal muss ich etwa zwölf gewesen sein. Durch das Geschäft meiner Eltern und ihre schlechte Gesundheit blieb keine Zeit zum Verreisen.“

„Was hatten deine Eltern denn für ein Geschäft?“, wollte Hadley wissen.

„Sie besaßen ein kleines Geschäft für Lederwaren und Reparaturen. Das Gebäude gehörte ihnen, und wir wohnten im ersten Stock über dem Geschäft. Aber sie konnten sich keine Angestellten leisten und mussten sechs Tage die Woche von morgens bis abends selbst im Laden stehen. Sie konnten nicht einfach den Laden schließen, um herzufahren und Grandma zu besuchen. Deshalb kam Grandma immer zu uns. Außerdem war es auch eine Frage der Gesundheit …“

„Waren sie lange krank, bevor sie starben?“, fragte Chase.

„Meine Eltern waren mehr oder weniger ihr ganzes Leben lang krank“, erklärte Shannon. „Ich kannte sie gar nicht anders. Mein Vater hatte als junger Mann einen Unfall, der ihn eine Niere kostete und die andere nachhaltig schädigte, sodass er ständig zur Dialyse musste. Meine Mutter hatte ein Herz-Lungen-Leiden, das dafür sorgte, dass sie immer schwach und kurzatmig war.“

„Eigentlich erstaunlich, dass die Behörden unter diesen Umständen einer Adoption zugestimmt haben“, wunderte sich Meg.

„Ich glaube, damals wurde händeringend nach Adoptiveltern für mich gesucht. Meine Eltern haben mir nur erzählt, dass meine leiblichen Eltern bei einem Autounfall ums Leben kamen …“

„Stimmt“, bestätigte Chase.

„Aber sie haben niemals erwähnt, dass es noch andere Kinder gab“, fuhr Shannon fort. „Ich hatte keine Ahnung, dass ich Geschwister habe, und ich bin mir nicht sicher, ob meine Adoptiveltern das selbst überhaupt wussten. Mir haben sie immer gesagt, dass mich hier in der Gegend niemand nehmen konnte und sich der Pfarrer deshalb auf die Suche nach Adoptiveltern in anderen Städten gemacht hatte. Und dieser Pfarrer war es auch, der die Behörden überredet hat, mich zu ihnen zu geben – trotz ihrer gesundheitlichen Einschränkungen.“

„Der Kinderwunsch deiner Adoptiveltern muss sehr groß gewesen sein“, meinte Hadley nachdenklich.

„Ja, sehr“, stimmt ihr Shannon zu. „Meine Adoptivmutter konnte keine eigenen Kinder bekommen, deshalb war eine Adoption die einzige Möglichkeit.“

„Hattest du eigentlich eine glückliche Kindheit?“, fragte Chase.

Obwohl Shannon und Chase sich schon zweimal in Billings getroffen und einige Male telefoniert hatten, gab es noch unheimlich viel, was sie nicht übereinander wussten. Chase hat einmal kurz erwähnt, dass seine Kindheit in einem Kinderheim kein Zuckerschlecken gewesen war, doch Shannon hatte noch nie von sich erzählt.

„In materieller Hinsicht war ich nicht gerade verwöhnt“, räumte sie ein, „aber es gibt wohl kaum ein Kind, das mehr geliebt wurde als ich. Meine Eltern waren wunderbare Menschen, die eine liebevolle Ehe führten und in mir ein Geschenk des Himmels sahen.“ Sie lachte, um die Tränen zu vertreiben, die bei der Erinnerung in ihr hochstiegen.

Verlegen strich sie Tia übers Haar, die noch immer zufrieden mit dem Armreif spielte.

Als sie die Tränen unter Kontrolle gebracht hatte und es wagte, wieder hochzuschauen, sah sie einmal mehr direkt in Dags warme, verständnisvolle Augen, die ihr einen tröstenden Blick schenkten.

„Es muss schmerzhaft für dich gewesen sein, sie zu verlieren“, unterbrach Meg diesen verzauberten Moment.

„Sehr.“ Shannon zwang sich, ihren Blick von Dag abzuwenden. „Aber andererseits waren sie beide so schwer krank, dass der Tod eine Erlösung für sie bedeutete. Deshalb kam auch meine Großmutter nach Billings, um mir bei ihrer Pflege zu helfen. Manchmal war es einfach mehr, als ich allein schaffen konnte …“

„Du hast deine Eltern gepflegt?“, fragte Dag so leise, als würde er allein mit ihr sprechen.

„Ja, und ich habe es gern getan. Aber ich musste natürlich auch arbeiten. Und außerdem unterstützte ich den Mann, den ich einstellen musste, damit das Geschäft weiterläuft. Als mein Vater im Januar starb, war ich trotz des enormen persönlichen Verlustes beinahe erleichtert, weil er nicht mehr länger leiden musste.“

Sie schwieg einen Augenblick, bevor sie fortfuhr: „Meine Eltern standen einander so nahe, dass meine Mutter nach Dads Tod jeden Lebensmut verloren hat. Ich glaube, ihr Herz brach an dem Tag, an dem er starb. Ihr Tod kurz darauf war für mich keine Überraschung. Nach so vielen gemeinsamen Jahren wollte sie einfach nur bei ihm sein, egal, wo er hingegangen war.“

„Und dann waren da plötzlich nur noch du und deine Großmutter?“ Dag sah ihr unverwandt in die Augen, während er ihr die Frage stellte.

Shannon verstand das als Aufforderung, ihre Geschichte weiterzuerzählen.

„Richtig, Grandma lebte mit mir im Haus meiner Eltern. Sie hatte keine nennenswerten gesundheitlichen Probleme. Bei all diesen Erledigungen und Entscheidungen nach dem Tod meiner Eltern war sie mir eine große Hilfe.“ Shannon erinnerte sich mit großer Dankbarkeit an die Unterstützung ihrer Großmutter in dieser schwierigen Zeit.

„Wir haben die Beerdigung organisiert, die persönlichen Sachen meiner Eltern gemeinsam durchgesehen, die finanziellen Angelegenheiten geregelt und eine Wohnung für mich gesucht, damit ich das Haus meiner Eltern verkaufen konnte. Dann hat Grandma mir beim Umzug geholfen. Und sobald alles in Ordnung war – wenige Tage, bevor sie nach Northbridge zurückkehren wollte, um hier ihren Lebensabend zu verbringen – erlitt sie ganz unerwartet einen tödlichen Herzinfarkt.“

Erneut kämpfte Shannon mit den Tränen. Sie zuckte hilflos mit den Schultern. „So merkwürdig es vielleicht auch klingen mag, aber ihr Tod war der größte Schock für mich.“

„Dann hast du also binnen acht Monaten deine gesamte Familie verloren“, zog Hadley eine traurige Bilanz. „Chase erwähnte, dass du dir eine berufliche Auszeit genommen hast. Nun verstehe ich erst, warum!“

„Aber jetzt hat sie dafür Chase und Cody und uns und noch zwei weitere Brüder, die wir hoffentlich bald finden werden“, versuchte Meg das Gespräch wieder in fröhlichere Bahnen zu lenken.

Shannon sah zu ihrem neu entdeckten Bruder hinüber. „Wenn ich diesbezüglich etwas tun kann …“, bot sie an.

„Ich stecke bei der Suche nach den Zwillingen in einer Sackgasse“, erklärte Chase. „Vielleicht engagiere ich im neuen Jahr einen Privatdetektiv. Aber darüber können wir uns ein anderes Mal unterhalten.“

Um das Thema endgültig zu wechseln, begann sich Shannon nach den komplizierten familiären und freundschaftlichen Beziehungen zwischen ihren neuen Freunden zu erkundigen: „Soweit ich weiß, waren Chase und Logan schon in der Schule die besten Freunde. Danach haben sie ihre Ausbildung gemacht, sind zusammen im ganzen Land herumgereist und haben schließlich hier ihre gemeinsame Firma Mackey und McKendrick Möbeldesign gegründet. Aber kennt ihr anderen euch auch alle schon aus Schulzeiten?“

„Nein, nicht alle“, antwortete Meg als Erste. „Northbridge ist zwar eine Kleinstadt, aber ich war jünger als Chase und Logan, deshalb kannte ich sie kaum. Hadley lag altersmäßig näher bei mir. Doch als Kinder hatten wir auch nicht viel miteinander zu tun.“

„Aber wenn Logan und Chase befreundet waren, muss Hadley Chase gekannt haben“, schlussfolgerte Shannon stirnrunzelnd.

„Oh ja, und wie sie ihn kannte.“ Dag grinste seine Halbschwester herausfordernd an.

Hadley warf mit einer Serviette nach ihm, bevor sie Shannon antwortete. „Ja, ich kannte Chase. Und als Teenager war ich total verknallt in ihn. Aber wir sind erst im vergangenen September zusammengekommen, als er zurück nach Northbridge zog.“

„Weil ich sie erst zu diesem Zeitpunkt richtig kennengelernt habe“, ergänzte Chase, während er den Arm um Hadley legte und sich zu ihr beugte, um sie zu küssen.

Als Shannon wegsah, um den beiden etwas Privatsphäre zu gönnen, landete ihr Blick stattdessen aus unerfindlichen Gründen auf Dag, der ihn erwiderte.

Und die Intimität, die in diesem Moment zwischen ihnen aufkam, stand der des küssenden Paares in nichts nach.

Das empfand jedenfalls Shannon, bevor sie unwillig den Kopf schüttelte und sich am Riemen riss, weil ihre Fantasie offenbar mit ihr durchging.

Tia rettete die Situation, indem sie Shannons Armreif, mit dem sie noch immer herumspielte, fallen ließ und daraufhin zu quengeln begann.

„Oh, ich glaube, da muss jetzt jemand ins Bett“, verkündete Meg.

„Ich nicht!“, behauptete Tia. „Nur Cody.“

„Das sehe ich anders“, sagte Logan ruhig, aber bestimmt.

„Beklag dich nicht“, witzelte Chase. „Ich würde auch lieber ins Bett gehen, als den Tisch ab- und die Küche aufzuräumen.“

„Aber das haben wir so ausgemacht“, erinnerte ihn Hadley. „Meg und ich bringen die Kinder ins Bett, während Logan und Chase die einmalige Chance bekommen, mit ihren Fähigkeiten als Hausmänner zu glänzen. Und Dag und Shannon haben frei, weil sie die Ehrengäste sind.“

„Ich helfe euch gern“, bot Shannon an.

„Pssst!“, machte Dag mit gespieltem Entsetzen. „Manche Befehle sollte man nicht infrage stellen.“

„Außerdem hattest du heute wirklich einen anstrengenden Tag, Shannon“, ergänzte Meg. „Erst die lange Fahrt von Billings nach Northbridge, dann der Vertragsabschluss und jetzt auch noch unsere vielen Fragen. Du musst total erledigt sein. Jedenfalls wäre ich das an deiner Stelle.“

„Was hältst du davon, wenn ich dich zu deinem Apartment begleite?“, schlug Dag vor, noch bevor Shannon Meg antworten konnte.

„Ach, das ist doch nicht nötig“, wehrte Shannon verlegen ab. Nicht, weil sie etwas gegen seine Begleitung hatte. Ganz im Gegenteil. Eher, weil ihr der Vorschlag viel zu gut gefiel …

„Gute Idee“, stimmte Meg sofort zu. „Dag bringt Shannon zu ihrem Apartment, damit sie nicht allein über den dunklen Hof gehen muss!“

„Aber …“

„Geht ruhig“, forderte Hadley sie auf. „Ich hätte dich sonst begleiten können, wenn ich mich auf den Weg zu uns mache, aber ich brauche noch eine Weile, bis ich Codys Sachen zusammengesucht und eingepackt habe.“

Mit ‚zu uns‘ meinte Hadley die helle, geräumige Wohnung, die sie und Chase sich über der Werkstatt von Mackey und McKendrick Möbeldesign eingerichtet hatten.

Meg kam und hob Tia von Shannons Schoß.

„Tia, gibt Shannon bitte ihren Armreif zurück und bedank dich, weil du damit spielen durftest“, forderte Meg die Dreijährige auf.

„Ich kann ihn doch auch behalten …“, flüsterte Tia Shannon zu.

„Kommt nicht infrage“, erklärte Meg sofort, bevor Shannon etwas sagen konnte. Meg nahm Tia den Armreif aus der Hand und reichte ihn Shannon.

Inzwischen war Dag kurz nach oben gegangen, um sich etwas überzuziehen. Die braune, lederne Motorradjacke, mit der er zurückkehrte, verlieh ihm ein verwegenes Aussehen, das Shannon hinreißend fand.

Doch sie verdrängte den Gedanken sofort wieder. Es hatte sie nicht zu interessieren, wie Dag in einer Motorradlederjacke aussah.

Mittlerweile hatte sie sich von ihren Gastgebern verabschiedet und ihren Mantel angezogen, und plötzlich stand sie allein mit Dag in der eisigen, sternklaren Nacht.

„Es ist so still hier“, bemerkte sie leise, nachdem Dag die Tür hinter ihnen geschlossen hatte.

„Ja, drinnen war es schon ziemlich turbulent. Das ist es immer, wenn wir uns treffen.“

„Versteh mich nicht falsch, ich habe den Abend genossen. Ich bin nur nicht daran gewöhnt, so viele Menschen um mich zu haben.“

„Weil du immer nur deine Eltern und bestenfalls deine Großmutter als Bezugspersonen hattest.“

„Genau. Und jetzt habe ich plötzlich einen Bruder und einen Neffen und eine Schwägerin und euch McKendricks, da ihr ja praktisch auch zur Familie gehört …“

„Ganz zu schweigen von zwei weiteren Brüdern, falls ihr sie findet“, warf Dag ein.

„Das ist ganz schön viel für jemanden, der bisher bloß kleine Brötchen gebacken hat wie ich.“

„Kleine Brötchen?“, wiederholte Dag lachend. „Was meinst du denn damit?“

„Nun ja, du weißt schon. Ich habe eben nur ein einfaches, kleinkariertes, langweiliges Leben. Ich habe nie in Italien und Frankreich gelebt, so wie Hadley. Oder bin quer durch die USA gereist wie Chase und Logan. Als Kindergärtnerin kann man keine Karriere machen. Gut, ich war mit Wes auf einigen exklusiven Empfängen, und wir sind einmal nach Europa gereist, aber davon abgesehen habe ich in meinem Leben noch nicht gerade viel erreicht.“

„Bisher vielleicht“, wandte Dag ein. „Aber wenn du bedenkst, dass du bald in eine der reichsten und mächtigsten Familien von Montana einheiraten wirst und auch noch gute Chancen hast, die First Lady zu werden … das ist doch wohl keine Kleinigkeit!“

Shannon hoffte inständig, dass er in diesem Moment denken würde, dass sie nur deshalb nach unten sah, um die erste Stufe der Außentreppe zu erwischen, die zu dem Apartment über der Garage führte. Doch in Wahrheit wollte sie nicht, dass Dag ihr Gesicht erkennen konnte, weil er ihr wahrscheinlich sofort angesehen hätte, dass sie keineswegs beabsichtigte, zu Geld und Ansehen zu kommen, indem sie Wes Rumson heiratete.

„Egal“, lenkte sie schnell ab. „Ich hatte jedenfalls viel Spaß heute Abend mit meiner neuen Familie.“

Sie waren vor der Apartmenttür angekommen. Während Shannon aufsperrte, fragte sie sich plötzlich, ob sie Dag noch hereinbitten sollte. Ihr fiel kein guter Grund dafür ein. Aber insgeheim hätte sie sich gefreut, wenn der Abend nicht so abrupt zu Ende ginge.

„Willst du dich vielleicht hier bei mir verschanzen, bis Chase und Logan die Küche aufgeräumt haben?“, fragte sie mit einer Kopfbewegung in Richtung Haupthaus.

Dag grinste amüsiert, was ihn noch attraktiver machte, als er ohnehin schon war. Und sie hoffen ließ, dass er ihre Einladung annehmen würde.

Er schien einen Augenblick lang mit sich zu ringen, bevor er antwortete: „Keine Sorge, mit den beiden werde ich schon fertig. Heute Abend mache ich keinen Finger mehr krumm.“

Trotzdem schien er es nicht eilig damit zu haben, sich auf den Rückweg ins Haupthaus zu machen. Shannon hatte keine Ahnung, wie sie sich verhalten sollte. Sie standen vor der offenen Apartmenttür, sahen einander unschlüssig an und wussten nicht, wie es weitergehen sollte.

Bis Dag schließlich etwas einfiel: „Die Umzugsfirma, die du beauftragt hast, das Haus deiner Großmutter auszuräumen, hat ein paar Dinge vergessen. Nichts Großes, nur ein paar Kleinigkeiten, die mir aufgefallen sind …“

„Was denn, zum Beispiel?“

„Einige Kleider und eine Decke, die ganz oben in einem Schrank lag. Zwei Bilder, die hinter einer Kommode auf den Boden gerutscht waren. Einige alte Töpfe. Ein Schmuckkästchen. Solche Sachen eben. Ich habe alles in Kartons gepackt, weil ich nicht wusste, ob du noch etwas davon haben willst.“

„Fast alles, was die Umzugsfirma nach Billings gebracht hat, habe ich auf einem Flohmarkt verkauft. Es war so viel, dass ich mir kaum vorstellen kann, dass die Umzugsleute noch irgendetwas vergessen haben sollen …“, stöhnte Shannon.

„Wie gesagt, ich glaube nicht, dass etwas Wichtiges dabei ist. Aber mir ist lieber, ich gebe dir die Sachen, damit du selbst entscheiden kannst, ob du sie wegwerfen oder aufbewahren willst. Es sind nur zwei Kartons. Ich kann sie dir in den nächsten Tagen vorbeibringen. Aber ich dachte, du möchtest das Haus vielleicht noch ein letztes Mal sehen und deine Kindheit ein bisschen Revue passieren lassen, bevor ich mit der Renovierung anfange … keine Ahnung …“ Dag brach ab.

Der Vorschlag gefiel ihr gut. Zu gut.

Vielleicht lag das eher daran, dass sie auf diese Art einen Vorwand hatte, Zeit mit ihm zu verbringen, als dass sie das alte Haus ihrer Großmutter wiedersehen wollte?

„Ich würde gern Abschied nehmen“, stimmte sie rasch zu, bevor er es sich vielleicht noch anders überlegte. „Und genauso gern möchte ich sehen, was du mit dem Haus vorhast. Sag mir einfach, wann du Zeit für eine Besichtigungstour mit mir hast.“

„Würde es dir morgen passen? Ich werde den ganzen Tag dort sein und arbeiten. Du kannst jederzeit vorbeikommen.“

„Gibst du mir deine Handynummer, damit ich dich kurz vorher anrufen kann?“

„Nicht nötig. Es ist völlig egal, wann du kommst. Schlaf dich morgen früh richtig aus, dann pack deine Sachen aus, richte dich ein, unternimm, was immer du geplant hast, und wenn du Zeit hast, schaust du einfach vorbei.“

„Einverstanden.“

Und warum standen sie dann weiter hier herum wie angewachsen und starrten einander an, als gäbe es noch so viel zwischen ihnen zu sagen?

Nach einer gefühlten Ewigkeit wandte sich Dag zum Gehen: „Toll. Also dann bis morgen!“

„Ja, bis morgen irgendwann“, bekräftigte Shannon, und in dem Augenblick, in dem sie sich die Worte sagen hörte, wurde ihr klar, wie dumm sie klangen.

Doch Dag schien es nicht zu stören. Er schenkte ihr ein Tausend-Watt-Lächeln, drehte sich um, lief in zügigem Tempo die Stufen hinunter, rief ihr, unten angekommen, ein letztes ‚Gute Nacht‘ zu und verschwand in der Dunkelheit.

Und Shannon ertappte sich bei dem Wunsch, rasch ins Bett zu gehen und bald einzuschlafen, damit schneller morgen würde.

3. KAPITEL

„Ja, ich bin gut angekommen. Dann war ich beim Anwalt, um die Unterschriften für den Verkauf von Grandmas Farm zu leisten, und den Abend habe ich mit Chase und Cody und den anderen Leuten verbracht, die hier wohnen. Heute war ich schon mit Hadley bei der Schneiderin, um mein Brautjungfernkleid anpassen zu lassen. Schließlich ist die Hochzeit schon morgen. Und heute Abend finden die Probe und das Probeessen statt“, sagte Shannon ins Telefon.

„Klingt nicht gerade, als würdest du mich vermissen“, meinte Wes Rumson am anderen Ende der Leitung enttäuscht.

„Wes …“

„Ich weiß, ich weiß, es gibt keinen Grund, warum du mich vermissen solltest. Selbst wenn wir verlobt wären – du bist es gewohnt, dass ich nie Zeit habe und du fast alles ohne mich tun musst. Das ist der Fluch der Rumson-Männer.“

Und der Ehe seiner Eltern. Dieses lieblose Nebeneinander war einer der Gründe, aus denen Shannon beschlossen hatte, Wes’ Heiratsantrag abzulehnen.

Doch das sagte sie nicht laut.

Stattdessen entschied sie sich für: „Nett, dass du angerufen hast.“ Und das meinte sie auch so. Sie hoffte wirklich, dass sie und Wes Freunde bleiben konnten.

„Irgendwie ist es seltsam, dass ich so eng in diese Hochzeit einbezogen werde“, gab sie zu. „Aber Hadley sagt, dass es ihr ein Anliegen ist, dass die neue Familie von Chase eine Rolle in seinem Leben spielt. Sie sind auch alle unheimlich nett zu mir. Doch so liebenswürdig und zuvorkommend sie mich auch behandeln – im Prinzip sind sie Fremde für mich.“

Wes reagierte nicht auf ihre Äußerung, und Shannon hatte das Gefühl, dass er mit seinen Gedanken mal wieder ganz woanders war – wahrscheinlich schon bei der nächsten politischen Veranstaltung.

Sie überbrückte die unangenehme Stille, indem sie fragte: „Und, wie läuft es bei dir?“

„Bestens!“, antwortete Wes in der Manier des strahlenden Politikers. „Die Umfragewerte sind prima, wir haben die Unterstützungserklärungen, die wir benötigen, und sogar der Präsident hat versprochen, an einer unserer Wahlveranstaltungen im Frühling teilzunehmen.“

„Dann wäre der Zeitpunkt ja jetzt ideal, um anzukündigen, dass wir nicht verlobt sind.“

„Ich hoffe immer noch, dass ich diese Ankündigung niemals machen muss.“

„Wes …“

„Die Wähler lieben dich, Shannon. Sie sind begeistert von der Idee eines romantischen Märchens, das in einer Hochzeit gipfelt. Und du weißt, wie ich für dich empfinde.“

Was die Wähler liebten, stand also an erster Stelle? Und was er für sie empfand, rangierte erst unter ‚ferner liefen‘? Shannon sagte nicht, was sie dachte. Nur: „Du musst diese Ankündigung machen, Wes.“

„Du hast die einmalige Chance, bald die First Lady von Montana zu werden – du wolltest doch immer etwas erreichen!“, versuchte er sie zu locken. „Ade, winzige Wohnung über einem Schusterladen in einem Provinznest. Wir werden in der Gouverneursvilla leben. Und das ist erst der Anfang. Mein Ziel ist das Weiße Haus. Mehr als das kann man gar nicht erreichen.“

„Vielleicht. Aber ich kann dich doch nicht heiraten, nur um etwas im Leben zu erreichen, Wes. Und umgekehrt solltest du mich auch nicht heiraten, bloß weil mich die Wähler lieben.“

„Das ist nicht fair! Wir haben schon früher übers Heiraten gesprochen!“

Und auch damals hatte Shannon schon ihre Zweifel gehabt. Natürlich hatte sie immer mehr angestrebt als das bescheidene, unscheinbare Leben ihrer Eltern. Aber für ihre Ehe wollte sie genau das, was ihre Eltern gehabt hatten. Doch sie empfand keine tieferen Gefühle für Wes. Und sie wusste, dass er sie auch nicht heiß und innig liebte. Das war der Grund gewesen, aus dem sie seinen Antrag abgelehnt und sich von ihm getrennt hatte.

„Lass uns nicht schon wieder damit anfangen, ja?“, bat sie.

Dieses Mal war es nicht Wes’ Schweigen, aus dem sie schloss, dass er mit etwas anderem als nur mit ihr beschäftigt war, sondern die Tatsache, dass sie mithören konnte, wie im Hintergrund jemand etwas zu ihm sagte.

„Tut mir leid, Wes, aber du musst öffentlich bekannt geben, dass wir nicht verlobt sind. Und da es sich ohnehin nicht vermeiden lässt: Wäre es nicht besser, wenn du das möglichst bald hinter dich bringst, damit es die Wähler bis zum Wahltag wieder vergessen haben?“

„Wir Rumsons geben nicht so leicht auf, Shannon. Wenn noch irgendeine Chance besteht …“

„Vergiss es“, sagte Shannon so freundlich und gleichzeitig so nachdrücklich sie konnte. „Ich bin keine unentschlossene Wählerin, deren Meinung du noch ändern kannst, Wes. Ich habe Nein gesagt, und ich meine auch Nein.“

„Alles nur wegen dieser Beverly-Hills-Sache“, klagte Wes. „Wenn du etwas erreichen willst, Shannon, hast du wesentlich bessere Chancen, indem du mich heiratest, als wenn du ein Leben lang den Kindern von Filmstars und Rocksängern die Nase putzt.“

Shannon bereute zutiefst, dass sie jemals behauptet hatte, etwas erreichen zu wollen. So, wie Wes diese Worte auslegte, hatte sie sie überhaupt nicht gemeint.

Trotzdem versuchte sie sich zu verteidigen. „Das Angebot aus Beverly Hills hat gar nichts damit zu tun, dass ich dich nicht heiraten will. Ich weiß noch nicht einmal, ob ich es annehme. Aber darum geht es überhaupt nicht. Ich möchte, dass du endlich eine Presseerklärung abgibst, dass es keine Verlobung und schon gar keine Hochzeit geben wird. Sogar hier auf dem Land denken alle, dass wir heiraten werden!“

„Dann sollten wir sie nicht enttäuschen.“

Shannon verdrehte die Augen und schüttelte den Kopf. „Wes …“

„Schon gut, schon gut, ich muss jetzt ohnehin auflegen“, versuchte er sie zu beschwichtigen. „Ich melde mich in ein paar Tagen wieder, um zu hören, ob immer noch alles in Ordnung ist. Aber wenn du etwas brauchst – egal was –, kannst du mich Tag und Nacht anrufen.“

„Das weiß ich, danke.“ Ebenso, wie sie wusste, dass ihr Anruf dann entweder auf seiner Mailbox, bei seiner Sekretärin oder bei seinem Wahlkampfmanager landen würde und dass es Stunden dauern konnte, bis Wes zurückrief. So war es auch bei dem plötzlichen Tod ihrer Großmutter gewesen.

Sie verabschiedeten sich und legten auf.

Shannon warf einen kurzen Blick auf die Uhr und erschrak. Hastig griff sie sich ihre Autoschlüssel und eilte die Stufen hinunter. Ein Glück, dass sie ihr Auto so schnell zurückbekommen hatte und es wieder funktionierte. Roy, der Mechaniker, hatte ihr einen neuen Anlasser eingebaut.

Weil sie so lange mit Wes telefoniert hatte, war sie nun spät dran. Dag hatte zwar gesagt, sie könne ihn jederzeit besuchen, doch es war schon nach vier, und sie fürchtete, dass er schon bald mit der Arbeit aufhören und zurückkommen würde. Schließlich fand am Abend die Hochzeitsprobe statt.

Dankbar atmete sie auf, als ihr Wagen gleich beim ersten Startversuch ansprang.

Auf dem Weg zur Farm ihrer Großmutter war sie besonders aufmerksam, für den Fall, dass ihr Dags großer blauer Pick-up entgegenkam. Und das reichte auch schon, damit sie keinen Gedanken mehr an Wes verschwendete und sich ganz auf Dag konzentrierte.

Beim Einbiegen in die Zufahrtsstraße, an deren Ende das Haus stand, füllten sich Shannons Augen mit Tränen, als sie an ihre Großmutter dachte, die gleich nach ihrer Heirat in dieses Haus gezogen war und praktisch ihr ganzes Leben dort verbracht hatte.

Wie sehr sie sie vermisste!

Wie sehr sie alle vermisste!

Doch trotz dieser schmerzlichen Erinnerungen tat es Shannon nicht leid, dass sie hergefahren war. Egal, wem das Anwesen nun gehörte: Für sie war dies noch immer das Haus ihrer Großmutter, und sie war froh, dass Dag ihr die Chance gab, noch einmal endgültig davon Abschied zu nehmen.

Während ihr Wagen auf das Haus zurollte, tauchte Dag McKendrick bereits an der Vordertür auf. Sie freute sich, ihn zu sehen. Irgendwie machte ihr sein Anblick Mut.

Als sie den Motor abstellte, überquerte Dag die Veranda, um sie vom Wagen abzuholen. Er trug Jeans, in denen man Wes nie gesehen hätte – tief auf den Hüften sitzend und ausgebleicht. Auch Dags dunkelblaues Leinenhemd hätte Wes niemals getragen.

Shannon war sich nicht sicher, warum sie die beiden Männer miteinander verglich, doch sie konnte nicht einmal damit aufhören, als sie bemerkte, dass Dags aufgerollte Hemdärmel einen Blick auf seine muskulösen Unterarme boten.

Auch das aufrichtige Lächeln in seinem Gesicht hat nichts mit der routiniert freundlichen Miene von Wes zu tun, weil es immer möglich war, dass irgendwo ein Pressefotograf auf ihn lauerte.

Gemeinsam hatten die zwei Männer nur, dass sie beide attraktiv waren, wenn auch auf völlig unterschiedliche Art und Weise. Es gab kein einziges Haar, dessen Position auf Wes’ aschblondem Kopf dem Zufall überlassen wurde. Dags Haar dagegen sah eher verwegen und vom Wind zerzaust aus.

Wes war schlank und drahtig und hielt sich streng aufrecht, während Dag muskulös, entspannt und locker wirkte. Dag besaß natürliches Selbstbewusstsein; Wes dagegen drückte Einfluss und Wohlstand aus und war immer auf äußere Wirkung bedacht.

„Da bist du ja!“, rief Dag ihr entgegen. „Ich hatte die Hoffnung schon beinahe aufgegeben!“

In diesem Augenblick verstand Shannon, dass die beiden Männer nicht nur äußerlich Welten trennten.

Wes hätte im Schutz des Hauses auf sie gewartet. Er hätte sich nicht wie Dag herausgewagt in die Dämmerung eines frostigen Dezembernachmittags.

Wes war bekannt für sein Charisma, während Shannon in der kurzen Zeit, die sie gestern mit Dag verbracht hatte, vor allem sein besonderer Charme aufgefallen war, der natürlich und kein bisschen aufgesetzt wirkte.

„Entschuldige, dass ich so spät dran bin. Der Termin bei der Schneiderin hat ziemlich lange gedauert, und danach habe ich noch einen Anruf bekommen. Aber auf dem Weg hierher habe ich vorsichtshalber nach deinem Wagen Ausschau gehalten.“

„Eine Viertelstunde später, und ich wäre dir darin entgegengekommen.“

Und dann auch noch diese tiefe Stimme. Die von Wes klang eher unangenehm hoch.

Hör sofort mit diesen kindischen Vergleichen auf! ermahnte sich Shannon. Sie hatte keinerlei Interesse an diesem Mann. Er war nichts als ein Freund ihres Bruders und der Käufer des Hauses ihrer Großmutter.

Es gab tausend Gründe, warum eine Beziehung für sie im Augenblick nicht infrage kam: Erstens war sie offiziell noch mit Wes zusammen, zweitens war innerhalb des vergangenen Jahres ihr gesamtes Leben wie ein Kartenhaus in sich zusammengestürzt, und drittens würde sie vielleicht schon bald nach Beverly Hills ziehen.

Nein, sie interessierte sich nicht für diesen Mann. Und damit basta.

„Bin ich schon zu spät? Musst du nach Hause?“

„Nein, nein, keine Panik. Wir schaffen locker einen Rundgang durchs Haus und haben trotzdem noch genug Zeit, um vor der Hochzeitsprobe schnell duschen zu gehen.“

Im ersten Augenblick hatte Shannon ihn so verstanden, als würden sie gemeinsam duschen. Aber bestimmt spielte ihr nur ihr Gehirn einen Streich.

„Ich wollte übrigens nicht vorschlagen, dass wir gemeinsam duschen sollen“, korrigierte Dag sich schnell. Offenbar war ihm auch aufgefallen, dass man seine Worte mehrdeutig verstehen konnte. Ein Glück, dass es nicht nur an ihr gelegen hatte. Doch das hinterhältige Grinsen in Dags Gesicht sagte ihr, dass ihm dieses Missverständnis nicht im Geringsten peinlich war.

Derartige Witzeleien wären mit Wes undenkbar. Solche Späße hätte er nicht einmal mit ihr gemacht, schon gar nicht mit jemandem, den er kaum kannte.

„Ja, du duschst wohl besser allein“, antwortete Shannon so geduldig und nachsichtig, als wäre Dag eines ihrer Kindergartenkinder, bevor sie sich das Lachen nicht mehr länger verkneifen konnte.

„Ist vermutlich besser so“, stimmte er bereitwillig zu.

„Mir war nicht klar, dass das Haus von außen in einem so schlechten Zustand ist“, wechselte Shannon sicherheitshalber das Thema.

„Keine Ahnung, wann deine Großmutter es zuletzt streichen ließ, aber das muss wohl Jahrzehnte her sein. Ich werde mich bald darum kümmern. Was meinst du, soll ich es wieder gelb streichen, oder soll ich lieber weiße Farbe nehmen?“

„Ich weiß, dass ich bei dieser Entscheidung eigentlich kein Stimmrecht habe, aber mir hat das Gelb immer gut gefallen. Es wirkte so warm und freundlich und gemütlich.“

„Aber die Fensterrahmen in Weiß, oder?“

„So würde ich es machen.“

Dag lud sie mit einer Handbewegung ein, vor ihm die zwei Stufen zur Veranda zu nehmen. Am Haus hielt er ihr die Tür auf.

Nichts im Inneren des Hauses erinnerte Shannon mehr an ihre Großmutter. Alle Räume, die sie vom Eingang aus sehen konnte, waren leer und befanden sich in unterschiedlichen Stadien der Renovierung. Überall lagen Werkzeug und Baumaterial herum.

„Wow, wie es aussieht, hast du noch einiges mit dem Haus vor“, stellte Shannon fest. „Ich wusste vom Gutachter, dass manches gemacht werden muss – deshalb bin ich dir auch preislich entgegengekommen –, aber ich hatte ja keine Ahnung, wie aufwendig das werden würde.“

„Wann warst du das letzte Mal hier?“

„In dem Sommer vor meinem zwölften Geburtstag. Also vor fast achtzehn Jahren …“

„Das Haus war in einem ziemlich schlechten Zustand.“

„Mein Großvater starb etwa ein Jahr vor meinem letzten Besuch, und wahrscheinlich war meine Großmutter damit überfordert, das Haus allein in Schuss zu halten. Aber mir war das nicht bewusst.“

„Wenn man bedenkt, was du gestern Abend über deine Familie erzählt hast, hattest du auch so mehr als genug zu tun.“

„Das ist wohl wahr. Und selbst wenn ich davon gewusst hätte, hätte ich nicht allzu viel machen können. Aber es tut mir leid, dass ich dir das Haus verkauft habe, ohne zu wissen, in welchem Zustand es sich befindet“, entschuldigte sich Shannon.

„Ich habe ein altes Haus gesucht, ein altes Haus gefunden und ein altes Haus gekauft. Das war mir von vornherein klar. Ich wollte es ohnehin nach meinen Vorstellungen herrichten. Aber das Haus ist sehr solide gebaut und hat seinen Charme. Ich denke nur an die Stuckdecken, die massiven Dielenböden und die praktische Raumaufteilung. Damit lässt sich gut arbeiten. Komm, ich führe dich durch die einzelnen Zimmer und erzähle dir dabei, was ich damit vorhabe.“

4. KAPITEL

Nach der Hochzeitsprobe in der Kirche gingen alle Beteiligten miteinander in ein Restaurant zum Abendessen.

Shannon sah die meisten der Gäste zum ersten Mal, und die wenigen, die sie kannte – Chase und Hadley, Logan und Meg –, hatten keine Zeit für sie, weil sie von Freunden und Bekannten belagert wurden.

Dag erwies sich als ein Geschenk des Himmels, weil er, obwohl es wirklich nicht nötig gewesen wäre, nicht von ihrer Seite wich und dafür sorgte, dass sie sich nicht langweilte oder einsam und überflüssig fühlte.

Besonders froh über seine Anwesenheit war sie, als seine Geschwister auf sie zukamen.

„Oje, ich weiß nicht mehr, welche von deinen Schwestern wie heißt“, raunte sie Dag rasch zu.

„Wir wollten dir sagen, wie sehr wir uns freuen, dass Chase seine Familie gefunden hat“, begann Tucker das Gespräch.

Tucker konnte sie sich einfach merken – er war der einzige männliche McKendrick außer Dag. Aber weil Shannon heute Abend schon so vielen Menschen vorgestellt worden war, hatte sie es nicht geschafft, die Namen der McKendrick-Schwestern im Gedächtnis zu behalten.

„Ich habe Shannon gerade erzählt, wie wir zu unseren Namen kamen“, log Dag geschickt. „Dass Mom für mich und die Mädchen die Geburtsurkunden ausfüllte, während Dad gar nicht im Krankenhaus war, und ihn so einfach überrumpelte. Aber bis zu Tuckers Geburt hatte Dad den Trick kapiert und stellte sicher, dass er Tuckers Namen aussuchen durfte. Doch die Namen von uns anderen“, Dag deutete auf jede der Schwestern, während er sprach, „Isadora, Theodora, Zeli und Daegal, die gehen auf die Kappe unserer Mutter.“

Shannon war ihm so dankbar, dass er es ihr leicht gemacht hatte, dass sie ihm am liebsten um den Hals gefallen wäre.

„Übrigens haben wir deinen Heiratsantrag alle im Fernsehen gesehen, Shannon“, wechselte Issa das Thema. „Du hast richtig erschrocken ausgesehen – hattest du wirklich keine Ahnung, dass Wes dir einen Antrag machen würde?“

„Nein, das war eine echte Überraschung“, stotterte Shannon, wütend, dass Wes sie in die missliche Lage gebracht hatte, diesen liebenswerten Menschen gegenüber nicht aufrichtig sein zu können.

„Aber wo ist denn dein Verlobungsring? Du trägst ja gar keinen“, bemerkte Tessa.

„Ja, das ist mir auch schon aufgefallen“, stellte Dag fest.

„Ich trage nicht so gern Schmuck“, sagte Shannon zögernd, als wäre es ganz alltäglich, auf einen Verlobungsring zu verzichten.

Glücklicherweise rettete Tucker sie aus dieser unangenehmen Situation, ohne es zu ahnen, indem er Dag fragte: „Wieso hieß es eigentlich in letzter Minute plötzlich, dass ich Tessa zum Altar führen soll und du Shannon? Anfangs war das doch genau umgekehrt geplant.“

Dass ursprünglich Tucker als ihr Begleiter vorgesehen war, war Shannon neu. Als sie Dag einen prüfenden Blick zuwarf, sah sie an seinem Gesichtsausdruck, dass es ihm lieber gewesen wäre, wenn sein Bruder das Thema nicht angeschnitten hätte.

„Ich glaube, es hatte etwas mit der Größe zu tun“, meinte Dag ausweichend.

„Blödsinn, ich bin höchstens einen Zentimeter kleiner als du. Welchen Unterschied soll das machen?“

Dag zuckte die Achseln. „Es wird schon irgendeinen Grund geben. Vielleicht wegen der Fotos. Was weiß denn ich?“

Shannon überlegte, ob Dag diesem überraschenden Tausch nicht vielleicht hinter den Kulissen ein bisschen nachgeholfen hatte.

Tucker musste einen ähnlichen Gedanken gehabt haben. Jedenfalls grinste er von einem Ohr bis zum anderen, als er seinen Bruder fragte: „Könnte es sein, dass unser Freund Dag hier wieder einmal ein Kleid zu Weihnachten bekommt?“

„Ach, halt doch die Klappe!“, murmelte Dag halb ärgerlich, halb amüsiert.

Leider konnte Shannon dem mysteriösen Inhalt der Unterhaltung nicht weiter auf den Grund gehen, da drei Kellnerinnen, schwer beladen mit Tabletts voller Dessertschälchen, den Raum betraten und die ganze Aufmerksamkeit der Anwesenden auf sich zogen.

„Schokoladen-Crème brulée“, verkündete Dag schwärmerisch. „Hadley hat versprochen, dass sie fantastisch ist. Und Hadley kennt sich mit Schokolade aus.“

„Das stimmt“, versicherte Issa Shannon noch schnell, bevor sich die McKendrick-Geschwister wieder an ihren Tisch zurückzogen, um sich dort das Dessert servieren zu lassen.

„Guck mal, der kleine Ecktisch dort drüben ist frei geworden. Wollen wir uns nicht hinübersetzen?“, schlug Dag vor.

Gegessen hatten sie am Tisch von Hadley und Chase, doch danach waren alle aufgestanden und von Tisch zu Tisch gezogen, um miteinander zu plaudern. Nun kehrten einige – wie Tucker, Issa, Zeli und Tessa – zu ihren ursprünglichen Plätzen zurück, während andere stehen blieben oder sich umsetzten.

Shannon hatte nichts dagegen, sich woanders hinzusetzen. In die Ecke. Mit Dag.

Natürlich hatte das nichts damit zu tun, dass sie mit ihm allein sein wollte. Es fiel ihr nur so leicht, sich mit ihm zu unterhalten, und sie war nach dem langen Abend, an dem sie ständig nur versucht hatte, sich an Namen und Verwandtschaftsbeziehungen zu erinnern, schon ziemlich erschöpft.

„Einverstanden“, erklärte sie, und sie steuerten los, doch kurz bevor sie ihr Ziel erreicht hatten, wurde Dag von einem jungen Mann, dessen Namen Shannon schon wieder vergessen hatte, abgefangen und in eine angeregte Diskussion über Eishockey verwickelt – ein Thema, das heute nicht zum ersten Mal angeschnitten wurde.

Shannon wusste kaum etwas über Dag und so gut wie gar nichts über Eishockey, doch Dag schien sich – das schloss sie jedenfalls aus den Äußerungen der anderen Gäste – damit bestens auszukennen.

Während sich die Männer unterhielten, nutzte Shannon die Zeit, um sich Dags Outfit etwas genauer anzusehen. Zu seinen engen, perfekt sitzenden Jeans trug er ein pinkfarbenes Hemd, für das ihn Logan und Chase bereits gründlich aufgezogen hatten, bevor sie losgefahren waren.

Doch wenn es einen Mann gab, der maskulin genug war, um ein pinkfarbenes Hemd mit Würde zu tragen, war es Dag. Tatsächlich bildete es sogar einen interessanten Kontrast zu dem sportlichen dunklen Sakko.

Dag und sein Gesprächspartner unterbrachen ihre Fachsimpelei, als eine der Kellnerinnen mit einem Tablett Crème brulée am Tisch auftauchte. Dag setzte sich rasch.

„Wir brauchen drei, Peggy“, informierte er die Kellnerin, die bereitwillig drei Schälchen samt Löffeln und frischen Servietten auf dem Tisch deponierte, ohne Fragen zu stellen.

„Hadley ist also nicht das einzige Mitglied der Familie McKendrick, das etwas für Schokolade übrighat“, stellte Shannon fest.

„Woher willst du das wissen? Vielleicht habe ich die zusätzliche Portion ja für dich bestellt.“

„Vielleicht aber auch für dich selbst“, hielt Shannon ihm lachend dagegen.

„Wir können sie uns ja teilen“, schlug er vor.

„Danke, mir reicht eine Portion.“

Aber schon beim Probieren der luftig-leichten Schokoladenkreation revidierte Shannon ihre Meinung, auch wenn sie sich hütete, das Dag gegenüber zuzugeben. Fest stand auf jeden Fall, dass Hadley eine exzellente Wahl getroffen hatte.

„Dass du Süßes magst, habe ich spätestens jetzt kapiert“, begann Shannon. „Aber angesichts dieses pinkfarbenen Hemds und der Sache mit dem Kleid, das du zu Weihnachten bekommst, frage ich mich, ob es noch weitere Dinge gibt, die ich über dich wissen muss.“

Dag lachte. „He, das Hemd ist lachsfarben. Das hat jedenfalls der Verkäufer gesagt. Lachs, nicht pink.“

Shannon lehnte sich vor und sagte leise, als würde sie ihm ein gut gehütetes Geheimnis verraten: „Der Verkäufer hat gelogen. Es ist knallpink!“

Dag lachte wieder. „Egal. Jedenfalls mag ich das Hemd.“

Shannon gefiel es auch, aber das würde sie ihm mit Sicherheit nicht auf die Nase binden. Und auf keinen Fall würde sie ihm sagen, dass Wes so ein Hemd niemals tragen könnte, ohne darin vollkommen lächerlich auszusehen. „Nachdem das also geklärt wäre, wüsste ich noch gern, was es mit dem Kleid auf sich hat, das du angeblich zu Weihnachten bekommst“, fragte sie weiter, weil sie einerseits mehr über ihn erfahren wollte und es andererseits genoss, ihn ein bisschen zu quälen.

„Ach, das ist eine alte Geschichte aus meiner Kindheit, mit der mich meine Geschwister bis heute bei jeder sich bietenden Gelegenheit aufziehen“, begann Dag zu erzählen. „Als ich acht war, wünschte ich mir zu Weihnachten einen Spielzeug-Kipplaster mit allem Drum und Dran: Licht, kippbare Ladefläche und Warnsignale beim Rückwärtsfahren. Das Teil war ein technisches Wunderwerk!“

Bei der Erinnerung begannen Dags Augen zu leuchten.

„Hmm“, machte Shannon verständnisvoll.

„Ich hatte mir diesen Laster schon seit Thanksgiving gewünscht, und zwei Tage vor Weihnachten kam Tucker plötzlich auf die Idee, dass er auch einen haben wollte.“

„Und du hattest Angst, er würde deinen bekommen und du keinen?“

„Genau richtig erkannt!“, lobte Dag sie. „Meine Mutter zwang mich nämlich andauernd, Tucker alles zu geben, was er haben wollte, weil er der Jüngere war.“

„Und du hast nicht geglaubt, dass der Weihnachtsmann euch beiden einen bringen könnte?“

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

Mehr erfahren
Marie Ferrarella

Marie Ferrarella zählt zu produktivsten US-amerikanischen Schriftstellerinnen, ihren ersten Roman veröffentlichte sie im Jahr 1981. Bisher hat sie bereits 300 Liebesromane verfasst, viele davon wurden in sieben Sprachen übersetzt. Auch unter den Pseudonymen Marie Nicole, Marie Charles sowie Marie Michael erschienen Werke von Marie Ferrarella. Zu den zahlreichen Preisen, die...

Mehr erfahren
Nancy Robards Thompson
Nancy Robards Thompson, die bereits mit vielen Preisen ausgezeichnet wurde, lebt in Florida. Aber ihre Fantasie lässt sie Reisen in alle Welt unternehmen – z. B. nach Frankreich, wo einige ihrer Romane spielen. Bevor sie anfing zu schreiben, hatte sie verschiedene Jobs beim Fernsehen, in der Modebranche und in der...
Mehr erfahren