Bianca Exklusiv Band 364

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KIRSCHKUCHEN UND SÜSSE KÜSSE von OLIVIA MILES
Es ist Scott! Um ein Haar lässt Bäckerin Emily den leckeren Kirschkuchen fallen. Denn vor ihr steht der Mann, der vor zwölf Jahren gegangen und ihr Teenager-Herz in winzigen Krümeln zurückgelassen hat. Warum ist Scott jetzt wieder hier – bei ihr?

WARUM HAST DU MICH VERRATEN, GELIEBTE? von LYNNE MARSHALL
Es war ein Versehen! Lilly wollte Gunnar nie verraten – doch er wendet sich ab! Sie versucht alles, um den sexy Polizisten von ihrer Unschuld zu überzeugen. Und davon, zu ihr zurückzukommen …

EIN DADDY FÜR IMMER von REBECCA WINTERS
Kann Mitch Garrett den Betrüger in ihrem Familienunternehmen finden? Nur deshalb bittet Heidi ihn um Hilfe. Ansonsten hält sie Abstand zu dem attraktiven Privatdetektiv – und wird aus engsten Kreisen sabotiert: Ihr kleiner Sohn meint, dass Mitch ein perfekter Daddy wäre …


  • Erscheinungstag 21.07.2023
  • Bandnummer 364
  • ISBN / Artikelnummer 9783751516730
  • Seitenanzahl 512
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Olivia Miles, Lynne Marshall, Rebecca Winters

BIANCA EXKLUSIV BAND 364

1. KAPITEL

Emily Porter band die Bänder ihrer Baumwollschürze im Rücken zu einer Schleife und sah auf die Wanduhr. Je mehr sich der Minutenzeiger der großen Zwölf näherte, desto schneller ging ihr Puls. Sie wechselte einen nervösen Blick mit ihrer Freundin und Chefin Lucy Miller und schaute erneut zur Uhr. In diesem Moment sprang der Zeiger vollends in die Senkrechte. Es war so weit. Punkt elf Uhr.

Emily atmete tief durch, ging über den glänzenden Parkettfußboden zur Ladentür und drehte das selbstgemalte Schild um, das dort an der Scheibe hing. Damit war die Sweetie Pie Bakery offiziell eröffnet.

„Puh, so aufgeregt wie heute bin ich seit meiner Hochzeit nicht mehr gewesen!“ Lucys Stimme überschlug sich fast.

Emily grinste. „Der Laden läuft bestimmt super, das hab ich im Gefühl.“ Die letzten Wochen waren so hektisch gewesen, dass sie gar nicht dazu gekommen war, sich in Ruhe das Ergebnis ihrer Arbeit anzusehen. An den cremefarbenen Wänden standen glänzende Schränke. In einer Glasvitrine konnte man fünfzehn verschiedene Kuchen und Torten bewundern. Alle waren diesen Morgen frisch aus dem Ofen gekommen und in der Küche standen sogar noch mehr bereit. Der rustikale Tresen aus rotbraunem Kirschholz passte perfekt zum blitzsauberen Parkett. Zehn Tische mit gemütlichen Stühlen drum herum warteten im vorderen Teil des Ladens auf Gäste.

Lucy seufzte. „Hoffentlich hast du recht, und der Laden brummt wirklich.“ Sie blickte durch die breite Fensterfront auf die Hauptstraße hinaus.

Es war das erste Mal, dass Emily ihre Freundin unsicher erlebte. Und immerhin arbeiteten die beiden schon seit Ewigkeiten miteinander, seit Emily als Bedienung in Lucys Diner auf der gegenüberliegenden Straßenseite angefangen hatte. „Ach, komm. Du bist doch schon seit zwanzig Jahren in der Branche und kennst dich prima aus.“

„Was willst du mir damit sagen? Dass ich eine alte Schachtel bin?“ Lucy zwinkerte ihr zu. Dann seufzte sie. „Nein, ich weiß schon, was du meinst. Aber ich habe trotzdem Angst, dass die Sache ein Flop wird.“

Emily löffelte frisch gemahlenen Kaffee in einen Filter. „Nein, ich glaube, die Bäckerei wird ein voller Erfolg, genau wie dein Diner. Bald rennt dir ganz Maple Woods die Türen ein.“ Sie ließ noch einmal den Blick über die Einrichtung schweifen und wünschte, dass wirklich endlich jemand in die Bäckerei käme. „Ich gieße noch schnell die Blumen vor dem Laden“, verkündete sie und drückte die Eingangstür auf.

Draußen blieb sie kurz stehen und ließ sich die warme Vormittagssonne ins Gesicht und auf die bloßen Arme scheinen, bevor sie sich den knallrosa Tulpen zuwandte, die vor dem Schaufenster wuchsen. Emily bedachte jede mit einem kräftigen Schluck Wasser aus der Gießkanne, dann blickte sie die Hauptstraße hinunter. Spätestens in einer Stunde kamen die Mittagsgäste ins Diner, und dann … tja, Emily wusste auch nicht so genau, was dann passieren würde. Sie hoffte natürlich, dass alle nach dem Mittagessen in die kleine Bäckerei herüberkommen würden.

Sie fuhr herum, als plötzlich ein dröhnender Motor die gewohnte Stille der sonst so friedlichen Kleinstadt Maple Woods durchbrach. Dort, wo die Maple Avenue die Hauptstraße kreuzte, wartete ein knallroter Sportwagen an der Ampel darauf, dass diese auf grün schaltete. Dann bog der Wagen in die Hauptstraße ein. Emily zuckte zusammen, als der Motor erneut aufheulte und das Auto die Straße hinuntergeschossen kam – genau in ihre Richtung. Sie kniff die Augen zusammen, weil die Sonne sie blendete. Als der Wagen auf ihrer Höhe war und sie einen kurzen Blick durch die Windschutzscheibe werfen konnte, riss sie sie abrupt wieder auf.

Das konnte nicht sein! Sie musste sich verguckt haben. Es war unmöglich, dass … er hier war!

Emily starrte auf den Bürgersteig und suchte nach einer logischen Erklärung für das, was sie glaubte gerade gesehen zu haben. Wen sie da gerade gesehen hatte. Ihr zog sich der Magen zusammen, und sie bekam kaum noch Luft. Scott Collins. Fast zwölf Jahre lang hatte er sich nicht mehr in Maple Woods blicken lassen. Warum ausgerechnet jetzt?

Der Schreck von eben verwandelte sich jetzt in einen dumpfen Schmerz. In den letzten Jahren hatte sie immer seltener an ihre große Jugendliebe gedacht. Aber so wie es aussah, musste Scott Collins nur einmal kurz mit dem Sportwagen vorbeibrausen und schon waren die alten Wunden wieder aufgerissen. Dabei hatte Emily wirklich geglaubt, sie wären alle längst verheilt.

Sie schüttelte den Kopf und öffnete die Tür zu der kleinen Bäckerei. Wahrscheinlich hatte sie sich getäuscht. Das Auto war ja viel zu schnell an ihr vorbeigerauscht, als dass sie darin jemanden hätte erkennen können. Außerdem hätte Lucy es bestimmt erwähnt, wenn ihr eigener Bruder seinen Besuch angekündigt hätte.

„George hat gerade angerufen“, rief Lucy ihr atemlos zu, kaum dass Emily die Ladentür hinter sich geschlossen hatte. Lucy löste die Schleife in ihrem Rücken und hängte die Schürze an der Rückseite der Küchentür auf. „Er braucht dringend Unterstützung im Diner, bevor die Mittagsgäste kommen, und da wir hier im Moment noch keine Gäste haben …“ Emily hörte die Enttäuschung, die in Lucys letzten Worten mitschwang.

Nachdenklich betrachtete Emily ihre Freundin. Sollte sie ihr erzählen, wen sie vermutlich gerade gesehen hatte? Aber Lucy wirkte überhaupt nicht so, als würde sie mit Scotts Besuch rechnen.

„Okay, aber komm bitte so schnell wie möglich zurück“, erwiderte Emily deshalb nur. Lucy suchte bereits ihre Sachen zusammen, um ihrem Mann George im Diner zu helfen, das sie gemeinsam führten. „Ich glaube nämlich, dass es hier später richtig voll wird.“ Sie hielt inne und ließ den Blick wieder aus dem Fenster schweifen, um nach dem geheimnisvollen roten Wagen Ausschau zu halten. Sie wandte sich wieder Lucy zu. „Kommt heute irgendein besonderer Gast zur Eröffnung?“

„Nein, nur ein paar Freunde, Verwandte und Bekannte. Die üblichen Verdächtigen.“ Lucy zuckte mit den Schultern. „Na ja, ich bin dann mal weg. Gib mir Bescheid, wenn du mich hier brauchst, ich bin ja gleich gegenüber.“

„In Ordnung.“ Emily seufzte.

Jetzt komm mal wieder runter, ermahnte sie sich selbst. Natürlich war das eben in dem roten Sportwagen nicht Scott gewesen. Er hatte vor zwölf Jahren die Stadt verlassen, und war nie mehr zurückgekehrt.

Was mache ich eigentlich hier?

Scott lehnte sich gegen die Motorhaube des roten Porsche und sah die Hauptstraße hinunter in Richtung des gepflasterten Platzes, auf dem ein von Hortensien umgebener Pavillon stand. Schließlich ließ er den Blick auf Lucys Diner ruhen. Bei diesem vertrauten Anblick wurde ihm flau im Magen. Eigentlich war er nicht davon ausgegangen, dass er je wieder nach Maple Woods zurückkommen würde.

Zwölf Jahre lang war es ihm gelungen wegzubleiben – eine lange Zeit. Und trotzdem hatte er es innerhalb dieser Zeit nicht geschafft, genug Abstand zu gewinnen. Schon gar nicht von dem schrecklichen Geheimnis, das ihn mit dieser Stadt verband und das er niemals preisgeben durfte …

Scott wandte sich wieder zu seinem Mietwagen um und verzog das Gesicht. Aus Gewohnheit hatte er das gleiche Modell gewählt, das er auch in Seattle fuhr. Jetzt erst wurde ihm bewusst, dass weder der leuchtendrote Lack noch der stolze Preis in diese Kleinstadt passten – genauso wenig wie er selbst. Mit dem Wagen zog er nur noch mehr Aufmerksamkeit, Spekulationen und Tratsch auf sich.

Scott verzog das Gesicht, als sich das ihm bekannte Brennen vom Magen aus die Speiseröhre hinaufzog. Das hatte er in letzter Zeit häufiger. Genau genommen, seit Lucy ihn angerufen und ihn praktisch angefleht hatte, er möge doch nach Maple Woods kommen und sich als Bauleiter um die Sanierung der Stadtbibliothek kümmern. Das Gebäude hatte einen schweren Feuerschaden erlitten, nachdem sein Neffe Bobby durch ein dummes Missgeschick einen der Flügel in Brand gesetzt hatte.

„Dass diese Jugendlichen aber auch nicht richtig aufpassen können!“, hatte Scott ins Telefon geseufzt, als seine Schwester ihm unter Tränen alles erklärt hatte. Andererseits ließ ihn das, was Bobby passiert war, nicht völlig kalt. Es weckte Erinnerungen an einen Vorfall, den Scott am liebsten ganz aus seinem Gedächtnis streichen würde.

Lucy hatte alles Mögliche auf die Beine gestellt, um die Sache wiedergutzumachen. Ihr Sohn leistete gerade gemeinnützige Arbeit. Gleichzeitig bemühte er sich darum, über ein Football-Stipendium einen Platz an einem guten College zu bekommen. Und Lucys und Scotts Vater, der in Maple Woods ein eigenes Bauunternehmen unterhielt, hatte die Sanierung der Stadtbücherei übernommen. Zunächst schienen sich die Dinge gut zu entwickeln … aber dann war ihr Vater schwer krank geworden.

Scott hatte keine Ahnung, warum er sich doch noch von Lucy hatte überreden lassen, das Projekt zu übernehmen. Vielleicht weil sie bis jetzt nie versucht hatte, ihn zu bedrängen und er ihr dankbar dafür war. Vielleicht aber auch, weil er nur zu gut verstand, wie wichtig es ihr war, den Fehler ihres Sohnes wiedergutzumachen.

Wo hast du mich bloß wieder reingeritten, Lucy?

Er lachte leise. Er konnte seiner Schwester nie lange böse sein. Weil sie ganze sieben Jahre älter war als er, waren die typischen Kabbeleien zwischen großer Schwester und kleinem Bruder zwischen ihnen ausgeblieben. Stattdessen war Lucy von Anfang an völlig vernarrt in ihn gewesen und hatte ihn von vorn bis hinten verwöhnt. Dann hatte sie irgendwann George Miller kennengelernt und war mit ihm zusammengezogen. Die beiden hatten eine eigene Familie gegründet und das Diner eröffnet.

Wahrscheinlich war Lucy auch jetzt gerade in ihrem Diner. Wenn er wollte, konnte er sie sofort begrüßen. Eine schöne Vorstellung, auch wenn die Umstände seines Besuchs weniger schön waren.

Scott stieß sich von seinem Leihwagen ab und ging langsam den Bürgersteig entlang. Es war unglaublich, dass sich hier in der Einkaufsstraße in den letzten zwölf Jahren absolut nichts verändert hatte! Die Pizzeria war immer noch da, der Blumenladen und die Buchhandlung ebenso. Nur die Mode, die im Schaufenster der kleinen Boutique ausgestellt war, war mit der Zeit gegangen. Stirnrunzelnd betrachtete er das Kleid an einer der Puppen und ließ den Blick zur Seite gleiten … um direkt in zwei weit aufgerissene Augen zu blicken. Eine junge Frau starrte ihn ungeniert durch die Scheibe an. Jetzt bewegte sie die Lippen – und er war sich sicher, ein „Das ist ja Scott Collins!“ davon ablesen zu können. Gleich darauf erschien ein weiteres Gesicht im Fenster, auf der anderen Seite der Schaufensterpuppe. Die zweite Frau fixierte ihn genauso fasziniert wie die erste. Er kannte die beiden. Auf der Highschool waren sie zusammen mit ihm im Mathematikkurs gewesen. Und so, wie es aussah, erinnerten sie sich auch sehr gut an ihn.

Schnell wandte Scott sich ab und ging weiter in Richtung Diner.

Wahrscheinlich informierten sie jetzt schon sämtliche Bekannten davon, dass Scott Collins wieder in der Stadt war. Aber was hatte er erwartet? In einem kleinen Ort wie Maple Woods blieb man nicht zwölf Jahre weg und tauchte dann einfach wieder auf, ohne dass sich jemand darum kümmerte. Trotzdem wäre er ganz gerne erst einmal in Ruhe angekommen, bevor sich alle auf ihn stürzten. Ausgerechnet zur Mittagszeit in Lucys Diner aufzutauchen, war in diesem Fall keine besonders schlaue Idee, wurde ihm schlagartig klar.

Auf einmal dachte Scott an eine andere Person, die ihm einmal sehr wichtig gewesen war und schloss kurz die Augen. Hoffentlich blieb sie von der ganzen Sache verschont. Wenn er es geschickt anstellte, konnte er ihr vielleicht sogar komplett aus dem Weg gehen, während er hier war.

Sein Blick fiel auf eine handgeschriebene Aufstelltafel vor einem Geschäft. „Neueröffnung!“ stand darauf. Scott grinste: Stimmt ja, die neue Bäckerei! Davon hatte Lucy ihm schon am Telefon erzählt. Und gleich gegenüber der Bäckerei befand sich das Diner. Gerade strömten mehrere Gäste durch die Eingangstür, alle Fensterplätze waren längst besetzt.

Auf gar keinen Fall wollte er jetzt da hineingehen und sich den vielen neugierigen Blicken und Fragen aussetzen. Aber er hatte schon eine Lösung gefunden. In der kleinen Bäckerei auf der anderen Straßenseite war noch kein einziger Kunde. Hier würde er sich, zumindest vorübergehend, verstecken können. Wenn er Glück hatte, war Lucy sogar gerade dort, dann konnte er sich in Ruhe mit ihr unterhalten.

Emily zuckte zusammen, als sie das Glöckchen über der Ladentür klingeln hörte. Ihr erster Kunde war eingetroffen! Die Sweetie Pie Bakery hatte inzwischen seit fast einer Stunde geöffnet, und eben war es Emily gelungen, ihre Nervosität abzulegen und sich einigermaßen zu entspannen. Jetzt fing ihr Magen sofort wieder an zu kribbeln. Schnell strich sie sich die Schürze glatt und lief von der Küche in den Verkaufsbereich.

„Herzlich willkommen bei Sweetie Pie!“, rief sie. „Was kann ich für Sie …“ Die nächsten Worte blieben ihr im Hals stecken.

Vor dem Glastresen stand Scott Collins und nahm gerade ihr Angebot in Augenschein. Er hatte die Hände tief in die Taschen seiner leichten Baumwollhose geschoben. Zuletzt hatte sie ihn vor zwölf Jahren gesehen. Im Sommer, als er ihr im Sonnenuntergang zum Abschied zuwinkte, während sie auf der heruntergekommenen Veranda ihres Elternhauses zurückgeblieben war und ihm hinterhergesehen hatte. Und jetzt stand er auf einmal wieder vor ihr und sah noch genauso gut aus wie damals. Vielleicht sogar noch besser, fatalerweise.

Langsam hob er den Kopf. Ihr Blick fiel als Erstes auf seine tiefblauen Augen. Als er auch noch lächelte, erschauerte sie. Sie hatte es nicht für möglich gehalten, dass er ihr Herz noch immer so zum Rasen bringen würde. Sein aschbraunes Haar trug er inzwischen etwas konservativer als damals. Außerdem war er genau an den richtigen Stellen breiter geworden. Aber sein schiefes Lächeln war immer noch so gefährlich, dass er dafür eigentlich einen Waffenschein gebraucht hätte. Sie schnappte nach Luft.

Unglaublich, sie hatten sich zwölf Jahre lang nicht mehr gesehen, und seine Wirkung auf sie war immer noch die gleiche. Verdammt!

Sobald sich ihre Blicke trafen, erstarrte er, und das unwiderstehliche Lächeln war wie weggewischt. „Emily …“, sagte er heiser.

„Hallo, Scott.“ Es war ein ungewohntes Gefühl, seinen Namen laut auszusprechen. „Das ist ja eine Überraschung.“ Die Untertreibung des Jahrhunderts.

„Mit dir hätte ich jetzt nicht gerechnet“, erwiderte er. „Also … Lucy hat mir gar nicht erzählt, dass du hier … ich meine … schön, dich zu sehen“, schloss er endlich.

Während er mühsam durch seinen Satz gestolpert war, hatte Emily ihn gemustert und in seinem Gesichtsausdruck nach einer Erklärung für sein Verhalten von damals gesucht. Warum hatte er von heute auf morgen die Stadt verlassen, ohne ihr etwas davon zu sagen oder auch nur eine Anspielung fallen zu lassen? Damit hatte er auf einen Schlag alle Versprechen gebrochen, die er ihr je gegeben hatte. Und ihr Herz gleich mit.

Ihr Puls beschleunigte sich, als er sie erneut mit seinem tiefblauen Blick durchbohrte. „Ich hatte nicht mehr erwartet, dass du noch mal hierher zurückkommst“, sagte sie. Als er darauf nichts erwiderte, fuhr sie fort: „Heute ist übrigens der große Eröffnungstag von Sweetie Pie, aber das weißt du bestimmt schon von Lucy.“

„Ist sie auch da?“ Hoffnungsvoll sah sich Scott in der leeren Bäckerei um.

Emily schüttelte den Kopf. „Nein, sie ist drüben im Diner, aber sie kommt bestimmt bald zurück. Sie hat mir gar nichts davon gesagt, dass du vorbeikommst.“

Scott grinste nervös. „Wahrscheinlich hatte sie Angst, dass ich doch nicht auftauche, wenn sie es vorher ankündigt. Bisher haben sich meine Besuche ja in Grenzen gehalten.“

Emily musterte ihn lange. Dann atmete sie tief durch, in der Hoffnung, dadurch ihren rasenden Puls zu beruhigen.

„Wie geht es dir denn so?“, erkundigte sie sich schließlich und versuchte sich dabei auf alles Mögliche gefasst zu machen. Lucy hatte nie viel von ihm erzählt, und sonst hatte niemand in Maple Woods noch Kontakt zu ihm. Als er die Stadt verlassen hatte, hatte er sämtliche Verbindungen gekappt. Nicht zuletzt die Verbindung zu ihr.

Scott zuckte mit den Schultern. „Soweit ganz gut.“ Dann senkte er den Blick, als hielte er es nicht aus, ihr in die Augen zu sehen. Dieser Feigling!

„Und wo wohnst du jetzt?“, versuchte sie es noch mal. Für sie war es unendlich enttäuschend und verletzend festzustellen, dass sie sich offenbar nichts mehr zu sagen hatten, obwohl sie sich einmal sehr nah gewesen waren, sich sogar eine gemeinsame Zukunft ausgemalt hatten.

„In Seattle“, erwiderte er. Emily runzelte die Stirn. Seattle lag an der Westküste der Vereinigten Staaten, Maple Woods an der Ostküste. Sehr viel weiter hätte er nicht wegziehen können.

Sie schluckte. „Und, bist du inzwischen verheiratet? Hast du Kinder?“ Sie konnte die Fragen nicht zurückhalten.

„Nein“, gab er knapp zurück, und zu ihrem eigenen Ärger war Emily erleichtert über seine Antwort.

„Und du? Du wohnst also noch in Maple Woods“, bemerkte er.

Unglaublich, dachte Emily. Da tauchte er urplötzlich wieder hier auf und tat so, als wäre das nichts Besonderes. Diesen Mann konnte scheinbar nichts aus dem Konzept bringen!

„Genau“, sagte sie schließlich. „Ich bin nie aus Maple Woods rausgekommen.“ Ganz schön armselig eigentlich, schoss es ihr durch den Kopf.

Scott errötete und senkte den Kopf, um ausgiebig den Boden zu betrachten. Offenbar hatte sie ihn mit ihrer Bemerkung doch erwischt. Umso besser, dachte sie.

„Das habe ich mich übrigens immer wieder gefragt“, erwiderte er so leise, dass sie ihn kaum hören konnte. „Ich habe mich immer wieder gefragt, wie es dir wohl geht.“ Jetzt blickte er doch wieder hoch und sah ihr tief in die Augen.

Emily zog sich der Magen zusammen. Das hatte nichts zu bedeuten, sagte sie sich. Sie durfte auf keinen Fall zu viel in das hineininterpretieren, was er gerade gesagt hatte. Als würde sie sich selbst von ihren Gedanken überzeugen müssen, hob sie trotzig das Kinn. „Du hättest ja mal anrufen können“, sagte sie. „Oder schreiben.“ Ihrem Tonfall war deutlich anzuhören, wie verletzt sie war. Das ärgerte sie, aber es ließ sich nicht vermeiden.

„Ich war noch nie besonders gut im Kontakthalten.“ Scott runzelte die Stirn. „Und das hat absolut nichts mit Desinteresse zu tun.“ Er schaute sie aufmerksam an. Ihr Herz überschlug sich fast. Schließlich konnte sie seinem Blick nicht mehr standhalten.

Er ist nicht meinetwegen nach Maple Woods zurückgekommen, dachte sie. „Lucy freut sich bestimmt, dass du da bist“, sagte sie. „Im Moment ist auch die halbe Stadt im Diner. Geh doch schnell rüber, die Leute würden dich bestimmt gerne mal wiedersehen.“

Damals auf der Highschool war Scott ein großer Football-Star gewesen und hatte als toller Kerl und Frauenschwarm gegolten. Er kam aus einer „guten Familie“, sah umwerfend aus und hatte auch sonst einiges vorzuweisen. Die ganze Stadt war völlig vernarrt in ihn gewesen. Besonders Emily.

„Eigentlich wollte ich das Diner erst mal ein bisschen meiden“, gestand er und lächelte ihr verschämt zu. „Wenigstens so lange, bis alle wissen, dass ich wieder in der Stadt bin.“

„Tja, in so einer Kleinstadt wird ganz schön getratscht“, überlegte sie laut und legte einen Stapel Servietten neben die Kasse.

„Viel zu viel“, erwiderte Scott schnell, und Emily zwang sich zu einem kurzen Lächeln. Ob er auch daran dachte, wie sich die Leute hier früher die Mäuler über ihre Familie zerrissen hatten? Am Abendbrottisch, beim Einkaufen und in der Kirche war der Name „Porter“ in aller Munde gewesen. Meistens war er nur geflüstert worden. Und meistens hatten die Leute dabei die Augen niedergeschlagen und die Köpfe geschüttelt: „Ach, die armen Porters!“, hatten sie gesagt.

Über diese düstere Erinnerung musste Emily selbst den Kopf schütteln. Dann wandte sie sich wieder an Scott. „Ich habe gerade frischen Kaffee aufgesetzt, außerdem haben wir jede Menge Kuchen und Torten. Wenn du magst, kannst du gern hier warten.“

Er zögerte einen Moment „Na ja, warum eigentlich nicht“, sagte er schließlich. Er sah sie immer noch an, aber sein Blick hatte sich verändert. Auf einmal wirkte er wärmer, nicht mehr so durchdringend.

Emily erschauerte. „Welchen Kuchen möchtest du denn?“, erkundigte sie sich nervös und ballte ihre Hände auf der Theke zu Fäusten, damit sie nicht mehr so offensichtlich zitterten. „Wir haben Erdbeer-Sahne, Pekannuss, Apfel-Streusel … oh, und das hier ist ein ganz toller Kirschkuchen“, fügte sie hinzu, bevor sie es sich anders überlegen konnte. Eben erst war ihr wieder eingefallen, dass das ja seine Lieblingssorte war.

„Du kennst mich wirklich gut“, seufzte er und setzte sich an die Theke.

Emily wandte sich ab, um ihm ein Stück von dem Kuchen abzuschneiden und es auf den Teller zu legen. Bevor ihr Vater bei einem Unfall auf der Baustelle ums Leben gekommen war, hatte es bei ihnen jeden Sonntag Kuchen gegeben. Damals war sie noch ein kleines Mädchen gewesen, aber sie konnte sich gut an dieses Familienritual erinnern. Und jedes Mal, wenn sie eines ihrer warm duftenden Kunstwerke aus dem Ofen holte, breitete sich ein Gefühl von Geborgenheit in ihr aus. Dann wurde die Küche zu einer Oase der Gemütlichkeit in einer Welt, die manchmal ganz schön grausam sein konnte.

„So, hier bitte“, sagte sie zu Scott und reichte ihm den Teller. „Er ist ganz frisch, ich hab ihn heute Morgen erst gebacken.“

„Du backst einfach die besten Kuchen, Emily Porter. Das war schon immer so.“ Scott grinste, und seine Augen funkelten. Dann sah er schnell wieder auf seinen Teller. Wahrscheinlich hatte er bemerkt, wie sehnsüchtig sie eben seinen Blick erwidert hatte.

Schnell wechselte sie das Thema. „Wie kommt es eigentlich, dass du wieder hier bist?“ Mit ihr selbst hatte das bestimmt nichts zu tun. Damals hatte er ihr das Blaue vom Himmel versprochen und dann alle seine Versprechen gebrochen.

„Mein Dad hat mich gebeten, ihn bei der Sanierung der Stadtbibliothek zu unterstützen.“ Er kratzte sich am Kinn, auf dem sich ein leichter Bartschatten abzeichnete. „Na ja, eigentlich hat mich Lucy darum gebeten.“

„Lucy hat mir schon erzählt, dass du Bauunternehmer bist – du hast also geschafft, was du immer wolltest.“ Sie runzelte die Stirn. Warum war er dann eigentlich nicht in Maple Woods geblieben und in den Familienbetrieb Collins Construction eingestiegen? Immerhin war das ein renommiertes Unternehmen. Ihr eigener Vater hatte früher auch dort gearbeitet, fünfzehn Jahre lang. Dann war er bei einem Arbeitsunfall ums Leben gekommen. Damals war Emily acht Jahre alt gewesen.

„Mein Vater kann sich im Moment nicht um den Auftrag kümmern“, fügte Scott jetzt hinzu.

Emily nickte. Dass Scotts und Lucys Vater schwer krank war, hatte Lucy ihr erzählt. Scotts Eltern hatten sich Emily gegenüber immer sehr unterkühlt gegeben, aber sie hatte längst beschlossen, das nicht persönlich zu nehmen.

Den Arbeitsunfall ihres Vaters hatte die Polizei damals auf menschliches Fehlverhalten zurückgeführt. Offenbar hatte Emilys Vater vergessen, die Handbremse des Baggers anzuziehen, der ihn überrollt hatte. Mr. Collins war an diesem Tag auch auf der Baustelle gewesen und hatte mit der Polizei gesprochen. Er hatte die Kosten für die Beerdigung übernommen, aber in Gegenwart von Emilys Familie seitdem immer sehr angespannt gewirkt.

„Bleibst du lange hier?“, erkundigte sich Emily jetzt bei Scott. Ihr wurde bewusst, dass sie die Luft anhielt, während sie auf seine Antwort wartete – obwohl sie im Grunde wusste, dass das auf sie und ihr Leben keine Auswirkungen haben würde.

„Nicht länger, als ich muss.“

Emily erwiderte seinen festen Blick so lange sie konnte, dann senkte sie doch den Kopf. Scott war immer noch ganz der Alte. Ein unheimlich charmanter Mensch, dem Maple Woods viel zu klein war für seine Träume und Visionen. Und sie selbst? Auch sie war immer noch die alte Emily, die nach wie vor in dieser Kleinstadt feststeckte und darauf wartete, dass ihr Leben endlich Fahrt aufnahm.

Höchste Zeit, dass sie etwas unternahm.

Es gab einige Leute in Maple Woods, denen Scott auf gar keinen Fall hatte begegnen wollen. Emily Porter stand ganz oben auf der Liste. Da passte es wie die Faust aufs Auge, dass er gleich als Erstes mit ihr zusammengestoßen war. Sie war die einzige Frau, die ihm jemals wirklich nah gekommen war. Und sie berührte ihn immer noch tief.

Er stützte einen Ellbogen auf den Tresen, der zum Glück eine Barriere zwischen ihnen bildete. Sonst hätte er sich womöglich nicht zurückhalten können und hätte Emily zur Begrüßung umarmt … um ihren warmen Körper zu spüren und sicher sein zu können, dass sie wirklich da war und er sie sich nicht nur einbildete. Und dass es ihr gut ging. Trotz allem, was passiert war.

Eigentlich hätte es ganz anders kommen sollen. Eigentlich hatten sie eine gemeinsame Zukunft geplant. Und er hatte diese Pläne sehr ernst genommen – bis man ihm an einem Sommerabend vor zwölf Jahren einen hässlichen Strich durch die Rechnung gemacht hatte. Es war sein letzter Abend in dieser Stadt gewesen.

Er schluckte und sah verstohlen zu Emily hinüber. Sie stellte gerade die Platte mit dem gedeckten Kirschkuchen zurück an seinen Platz, dann wischte sie ein paar Krümel von der Theke. Dabei fiel ihr das glänzende kastanienbraune Haar über die Schulter. Er konnte den Blick nicht von ihr lösen. Da stand sie, seine Jugendliebe. Das Mädchen, von dem er nachts immer wieder geträumt hatte und das ihm auch tagsüber nicht aus dem Kopf gegangen war. Heute war sie sogar noch schöner als damals.

Trotzdem – es hatte sich nichts daran geändert, dass Emily für ihn tabu war.

„Was hast du denn die ganze Zeit so getrieben?“, erkundigte er sich. Er erinnerte sich gut an Emilys Träume und Pläne für die Zukunft. Träume, die Welt zu entdecken, die jenseits dieser Kleinstadt lag. Diese Träume waren offenbar zerplatzt.

„Ach, nicht viel“, erwiderte sie. „Bis jetzt habe ich gegenüber im Diner gearbeitet, aber das weißt du bestimmt schon von Lucy.“

Bei ihren Worten zog sich ihm der Magen zusammen. Damals auf der Highschool war Emily eine der besten Schülerinnen gewesen. Eigentlich hätte sie ein eigenes Restaurant verdient, statt bei seiner Schwester zu kellnern. Sie hätte es verdient, aufs College zu gehen und ihrer Leidenschaft nachzugehen. Wenn ihr Vater nicht tödlich verunglückt wäre, hätte sie diese Möglichkeiten gehabt. Wenn sein Vater Emilys Familie nicht um die Versicherungssumme gebracht hätte, die ihr aufgrund des tragischen Unfalls zustand. Vor allem aber hätte Scott selbst an dem schicksalhaften Tag nicht auf der Baustelle sein dürfen …

„Nein“, sagte er schließlich. „Nein, Lucy hat mir nichts davon erzählt, dass du bei ihr im Diner arbeitest.“

Sie ging ein paar Schritte zurück und verschränkte die Arme vor der Brust. „Na ja, ihr zwei habt wahrscheinlich interessantere Themen zu besprechen als über irgendein Mädchen, mit dem du mal zu tun hattest.“

Sie klang so verletzt, dass es ihm selbst körperlich wehtat. Aber noch viel schlimmer war für ihn der schmerzerfüllte Blick, den sie ihm dabei zuwarf. „Du warst für mich viel mehr als irgendein Mädchen, Emily.“

Sie sah kurz zu ihm hoch, dann zuckte sie mit den Schultern.

Er seufzte. „Ich bin jetzt mal ganz tapfer und gehe ins Diner, um den Klatsch und Tratsch in Maple Woods anzukurbeln.“ Er zwang sich zu einem Lächeln und legte die Gabel auf seinen leergegessenen Teller. „Lucy wird stinksauer, wenn sie erfährt, dass ich nicht gleich als Erstes zu ihr rübergekommen bin.“

„Ja, geh mal lieber rüber“, entgegnete Emily leise. „Ich glaube, heute ist besonders viel los, sonst wäre sie schon wieder zurückgekommen.“

Scott stand auf und zog seine Brieftasche aus der Hosentasche.

Emily schüttelte den Kopf. „Kommt nicht infrage“, sagte sie. „Das geht aufs Haus.“

„Ach, komm schon“, gab er zurück. Er wusste, dass er ihr in Wahrheit viel mehr schuldete als die paar Dollar für das Stück Kuchen. „Heute ist doch der große Eröffnungstag. Und ich will dazu beitragen, dass er ein Erfolg wird.“

Aber Emily ließ sich nicht umstimmen. „Auf gar keinen Fall. Sonst wird Lucy nämlich stinksauer auf mich.“ Jetzt hatte sie ihn mit seinen eigenen Worten geschlagen.

„Okay, dann gehe ich mal rüber“, sagte er, wich aber keinen Schritt von der Stelle.

„Tschüs, Scott.“ Ihre Stimme klang kühl.

Er lächelte schmallippig. „Tschüs, Emily.“ Dann ging er durch die Ladentür in die warme Mittagssonne und überquerte die Straße. Sein Herz hämmerte wie wild, als er auf das Diner zuging. So ähnlich hatte er sich gefühlt, als er vor zwölf Jahren an einem Spätsommerabend seine Sachen zusammengepackt hatte. Kurz nachdem er mitbekommen hatte, wie sich seine Eltern über Richard Porters tödlichen Arbeitsunfall unterhalten hatten. Erst auf diese Weise hatte er erfahren, welche Rolle er selbst dabei gespielt hatte und was seine Eltern neun Jahre lang vertuscht und vor ihm verheimlicht hatten. Als er es endlich erfuhr, war es schon zu spät gewesen. Er hatte sich längst in Emily verliebt. Damals war er gerade achtzehn Jahre alt gewesen, und er hatte nur einen einzigen Ausweg gesehen. Er hatte die Stadt so schnell wie möglich verlassen, um für immer aus Emilys Leben zu verschwinden. Nach allem, was er über sich und seine Schuld erfahren hatte, konnte er unmöglich mit ihr zusammen sein.

Also war er abgereist, bevor ihm allzu schmerzlich bewusst werden konnte, was er damit aufgab. Der Verlust hatte ihm das Herz gebrochen. Und er hatte sich geschworen, sich in seinem ganzen Leben nie wieder zu verlieben.

Jemand wie er hatte keine Liebe verdient … schon gar nicht Emilys Liebe.

Wohin er auch ging – sein düsteres Geheimnis reiste immer mit ihm. Er war schuld daran, dass Emily ohne ihren Vater aufgewachsen war. Und ihm war es zuzuschreiben, dass sie in dieser Kleinstadt feststeckte. Und obwohl er das nie wiedergutmachen konnte, wollte er trotzdem für Gerechtigkeit sorgen.

2. KAPITEL

Der Wecker klingelte durchdringend und riss Emily aus einem tiefen Schlaf. Die Eröffnung von Sweetie Pie hatte sie gestern noch viel länger auf den Beinen gehalten, als sie gedacht hätte. Und die arme Lucy war ständig hektisch zwischen ihrem Diner und der Bäckerei hin- und hergerannt, sodass die zwei Freundinnen kaum Zeit gehabt hatten, über Scotts Besuch zu sprechen.

Scott. Bei der Erinnerung daran, wie er völlig überraschend in die Bäckerei gekommen war, war sie sofort hellwach. Sie sprang aus dem Bett, duschte und zog sich an. Dabei verhielt sie sich so leise wie möglich, um ihre zwei Jahre jüngere Schwester Julia nicht zu wecken, die normalerweise nicht vor acht Uhr aufstand. Auf Zehenspitzen schlich Emily durchs Wohnzimmer. Vor dem kleinen Beistelltischchen neben der Wohnungstür blieb sie stehen. Julia hatte am Tag zuvor die Post dort abgelegt.

Emilys Herzschlag beschleunigte sich, als sie den Briefstapel durchsah. Schließlich seufzte sie – wieder nichts. Ob sie erleichtert war, oder enttäuscht? Sie konnte es selbst nicht sagen. Vor drei Monaten hatte sie ihre Bewerbung an ein renommiertes Ausbildungsinstitut für Köche in Boston geschickt. Und je länger sie auf die Antwort wartete, desto nervöser wurde sie. Ihre Bewerbung war mit so großen Hoffnungen verbunden, dass sie jedes Mal auch ein bisschen erleichtert war, wenn sie keinen Brief und damit auch keine Absage in der Post fand. Es war ein schöner Traum, aus dem sie noch nicht erwachen wollte.

Die kleine Bäckerei würde zwar erst in zwei Stunden öffnen, aber es gab trotzdem schon genug zu tun. Weil Emily ein echtes Backtalent war, war es ihre Aufgabe, jeden Tag ihre eigenen Kreationen zum Programm beizusteuern.

Emily lächelte traurig über diese Ironie des Schicksals. Kaum hatte sie einen Versuch unternommen, die Stadt zu verlassen, bekam sie ausgerechnet hier so eine große Chance, ihr Talent unter Beweis zu stellen.

Sie beschloss, nicht weiter darüber nachzudenken, sondern sich stattdessen ganz auf den zweiten Geschäftstag bei Sweetie Pie zu konzentrieren. Also krempelte sie sich die Ärmel hoch und ging in die Küche, um dort erst mal ein paar Kuchen in den Ofen zu schieben. Wenn sie dabei ein oder zwei Becher starken Kaffee trank, war sie bestimmt bald über ihren Morgen-nach-dem-Wiedersehen-mit-Scott-Blues hinweg.

„Ein Glück, du bist schon wach!“, rief Julia aus, als sie etwa eine halbe Stunde später in die Küche gerauscht kam. Sie war schon fertig angezogen und musste gleich los in den Handarbeitsladen, in dem sie arbeitete. Sie wirkte aufgedreht. Ihre Wangen glühten, und ihre grünen Augen funkelten.

„Dir auch einen guten Morgen“, erwiderte Emily lächelnd, gab einige frisch aufgeschnittene Birnenscheiben in eine Schüssel und bestäubte sie mit Zucker.

„Rate mal, wer wieder in der Stadt ist!“, sagte Julia.

Betont langsam und bedächtig wog Emily das Mehl ab, dann fügte sie kleingeschnittene Butter und je einen Teelöffel Zucker und Salz hinzu und schaltete den Standmixer ein. Offenbar freute sich Julia schon auf das lange Rätselraten, das sie sonst immer praktizierten, wenn sie mit dem neusten Klatsch und Tratsch aus der Stadt kam. Aber diesmal kannte Emily die Antwort längst. „Scott Collins“, sagte sie.

Julia wirkte so unendlich enttäuscht, dass Emily sofort bereute, sich nicht auf das Spielchen eingelassen zu haben.

„Was, du weißt schon Bescheid? Ich hätte dich deswegen fast gestern Nacht geweckt!“

„Er ist gestern zu mir in die Bäckerei gekommen“, erklärte Emily.

„Und, hast du dich mit ihm unterhalten?“ Mit großen Augen sah Julia sie an. „Wie war er denn so?“

Emily seufzte. „Ach, er hat sich nicht groß verändert“, erwiderte sie. Erschreckend, wie wehmütig sie dabei klang!

„Dann sieht er also immer noch so umwerfend aus wie damals?“, hakte Julia nach.

„Ganz genau.“

Ihre Schwester betrachtete sie lange und wirkte dabei seltsam entrückt. „Sorry“, sagte sie schließlich. „Ich weiß ja, dass das ein sensibles Thema für dich ist.“

„Ach was, ich war doch damals erst siebzehn“, erwiderte Emily. „Das hatte nicht viel zu bedeuten.“ Besonders überzeugend kam sie sich mit ihrer Antwort nicht vor.

„Für mich aber schon.“ Julia hob das Kinn, und ihr Blick verdunkelte sich. „Ich fand es schon sehr bedeutsam, dass er sich ohne ein Wort aus dem Staub gemacht hat.“

„Wirklich?“ Emily tat verwirrt. „Als du eben in die Küche gestürzt kamst, war das für dich noch kein so großes Thema.“ Sie zwinkerte ihrer Schwester zu, wickelte den Teig in Frischhaltefolie und legte ihn in den Kühlschrank. Dort wartete schon ein fertig gekühlter Teig, den sie auf die Arbeitsfläche legte und mit dem Nudelholz dünn ausrollte.

„Okay, ich geb’s ja zu“, gestand Julia. „Ich bin ein bisschen ins Schwärmen geraten, weil er früher so umwerfend aussah.“

Emily biss sich auf die Lippe, um nicht loslachen zu müssen.

„Aber er hat sich dir gegenüber auch unmöglich benommen“, fuhr Julia fort. „Einfach so abzuhauen – ohne eine Erklärung!“

Am Tag, nachdem Emily ihn das letzte Mal gesehen hatte, hatte sie eigentlich mit Scott ins Kino gehen wollen. Sie konnte sich noch genau daran erinnern, wie sie damals auf ihrer Veranda auf ihn gewartet hatte. Schließlich hatte sie besorgt bei ihm zu Hause angerufen. Vielleicht war er ja krank, oder es war ihm etwas zugestoßen? Seit ihr Vater tödlich verunglückt war, malte sie sich immer gleich das Schlimmste aus.

Ihren Anruf hatte Scotts Vater entgegengenommen. Kurz angebunden hatte er ihr erklärt, dass sein Sohn am Vorabend die Stadt verlassen hatte. Wann und ob er zurückkommen würde, wusste er nicht. Seitdem hatte Scott sich nie wieder in Maple Woods sehen lassen … bis gestern.

Bevor Emily aus dem Haus ging, bürstete sie sich noch besonders sorgfältig die Haare und überlegte lange, welche Lippenstiftfarbe sie auflegen sollte. Sie wusste selbst, wie lächerlich sie sich gerade aufführte. Aber wenn sie und Scott sich heute noch mal über den Weg laufen sollten, wollte sie entsprechend vorbereitet sein.

„Hey, du siehst ja toll aus!“, begrüßte Lucy sie, als Emily durch die Hintertür in die Küche kam.

Emily zuckte bloß mit den Schultern und band sich eine Schürze um. „Und, was steht heute auf dem Plan?“

Einen kurzen Moment lang musterte Lucy ihre Freundin skeptisch. Dann zog sie eine Augenbraue hoch und wechselte einfach das Thema.

Okay, den Lippenstift wische ich bei der nächstbesten Gelegenheit wieder ab, dachte Emily. Plötzlich kam sie sich nur noch albern vor.

„Der Bürgermeister ist einverstanden mit dem Tortenwerfen“, sagte Lucy.

Emily lächelte. Flyer und Mundpropaganda waren schön und gut, aber so eine Werbeaktion brachte ihnen wahrscheinlich viel mehr Gäste ein. „Super, dann ist heute bestimmt eine Menge los.“ Sie holte die drei Kuchen, die sie zuvor gebacken hatte, aus ihren Verpackungen. „Heute habe ich Birnen-Kirsch-Pies mitgebracht. Ich stelle sie schnell in die Vitrine. Dann kümmere ich mich um die Aprikosen, die vorhin gekommen sind, in Ordnung?“

Lucy seufzte zufrieden. „Ach, ich weiß gar nicht, was ich ohne dich machen würde.“

Emily senkte den Kopf. Sie hatte ein schlechtes Gewissen, weil sie ihrer Freundin und Arbeitgeberin eine wichtige Information vorenthielt. Wenn die Kochschule in Boston Emily annahm, würde Lucy sich diese Frage tatsächlich beantworten müssen.

Während Lucy Kaffee kochte, bereitete Emily den Teig für die Aprikosenpasteten vor. Eine Weile arbeiteten beide still nebeneinander her, bis Emily das Schweigen brach: „Dann ist Scott also gerade zu Besuch in der Stadt.“

Lucy drehte sich zu ihr um. „Ja, unglaublich, nicht?“

„Allerdings. Und, freust du dich?“ Sie hoffte, dass Lucy ihr nicht anhörte, wie verletzt sie war. Nein, auch nach zwölf Jahren war sie noch nicht über sein damaliges Verhalten hinweggekommen. Wahrscheinlich hatte er sie und ihre Beziehung längst abgehakt und dachte überhaupt nicht mehr an sie. So cool, wie er sich ihr gegenüber gestern verhalten hatte, sah es ganz danach aus.

Lucy atmete hörbar aus. „Ach, Scott … ich musste ganz schön auf ihn einreden, bis er sich endlich bereit erklärt hat herzukommen. Und eigentlich habe ich bis zuletzt nicht richtig daran geglaubt.“

„Er war wirklich lange nicht mehr hier“, stimmte Emily ihr zu.

„Ja, viel zu lange. Als er damals einfach abgereist ist, hatte ich ja noch gehofft, er würde wiederkommen. Die Hoffnung habe ich irgendwann aufgegeben.“

Emily blickte zu Boden. Da warst du nicht die Einzige, dachte sie. Sie spürte einen Stich in der Herzgegend – ein vertrauter Schmerz. Warum war Scott bloß wieder hier aufgetaucht? Nach zwölf weiteren Jahren ohne ihn wäre es ihr vielleicht allmählich gelungen, nicht mehr an ihn zu denken. An sein umwerfendes Lächeln, das ihr wohlige Schauer über den Rücken jagte. Oder wie es sich angefühlt hatte, wenn er ihr zärtliche Worte ins Ohr geflüstert hatte.

Seufzend wandte sich Emily wieder ihrer eigenen Arbeit zu. Sie konnte Lucy schlecht fragen, warum Scott so lange weggeblieben war, das stand ihr nicht zu. Aber sie war sich sicher, dass es einen schwerwiegenden Grund dafür geben musste.

Scott schloss die Tür zu dem kleinen Apartment über dem Diner ab, das Lucy ihm überlassen hatte. Dann lief er die Treppe zur Hauptstraße hinunter. Als sein Blick auf die Bäckerei fiel, zögerte er. Die Versuchung, wieder dort vorbeizuschauen, war groß – und dabei ging es ihm ganz sicher nicht um die leckeren Kuchen. Er hatte ziemlich lange geschlafen, inzwischen war es fast Mittagszeit. Und eigentlich müsste er allmählich im Büro seines Vaters vorbeischauen.

Früher hatte er noch gedacht, er würde eines Tages mit in das Bauunternehmen Collins Construction einsteigen und damit das Werk seines Vaters und Großvaters fortführen. Da hatten seine Zukunftspläne noch ganz einfach ausgesehen. Er wollte Emily Porter heiraten, mit ihr in Maple Woods leben und sein Geld mit ehrlicher Arbeit für das Familienunternehmen verdienen. Zu diesem Zeitpunkt hatte er allerdings noch nicht gewusst, was seine Familie Emilys Familie angetan hatte … und welche Rolle er selbst dabei gespielt hatte, weil er als kleiner Junge die Baustelle zu seinem Spielplatz erkoren hatte.

Zu diesem Zeitpunkt hatte er noch nicht geahnt, dass das Familienunternehmen sein Fortbestehen einer großen Lüge verdankte.

„Hey, Scott!“

Er erschrak, als er Lucys Stimme hörte. Was sie wohl von ihm dachte? Wahrscheinlich glaubte sie, dass er sich zu gut für diese Kleinstadt fühlte. Und zu gut dafür, mit den Menschen in Kontakt zu bleiben, die ihm früher einmal unendlich viel bedeutet hatten. Falls sie das wirklich dachte, täuschte sie sich massiv.

Immerhin ist es einfacher, wenn sie nichts von der Sache weiß, sagte er sich.

Seinetwegen war damals ein Mann ums Leben gekommen, seinetwegen war eine ganze Familie ins Unglück gestürzt worden.

Er zwang sich zu einem Lächeln und ging zu seiner Schwester hinüber. „Hi! Ich wollte gerade zu dir ins Diner kommen und mir etwas zu essen bestellen.“

„Dann hast du also noch nicht die Nase voll von meinen Kochkünsten?“, erkundigte sie sich im Scherz. Gestern hatte Scott zusammen mit Lucys Familie zu Abend gegessen. Es war ein wunderbar gemütliches Familiendinner gewesen.

„Wie bitte? So lecker wie gestern habe ich schon ewig nicht mehr gegessen.“ Er grinste.

„Prima, heute Abend kannst du das nämlich gleich noch mal haben. Nach der Arbeit fahre ich zu Mom und Dad und bekoche sie ein bisschen.“

Ihm zog sich der Magen zusammen. Trotzdem hielt er den Blickkontakt weiter aufrecht, während er nach einer guten Ausrede suchte. Und Lucy wartete geduldig auf seine Antwort. Sie hatte ihm den Vorschlag nicht ganz ohne Hintergedanken gemacht, offensichtlich wollte sie ihn und ihre Eltern zusammenbringen.

„Tu mir das bitte nicht an, Lucy.“ Er wandte den Kopf ab und schaute die Straße hinunter. Wie konnte er jetzt am besten aus diesem Gespräch aussteigen?

Als er sich wieder zu ihr umdrehte, musterte sie ihn aufmerksam. „Scott, Dad hat nicht mehr lange zu leben“, sagte sie eindringlich. „Die Behandlung schlägt nicht an, und der Krebs breitet sich immer weiter aus.“

„Du weißt doch, dass wir nicht miteinander klarkommen“, erwiderte Scott.

Lucy schüttelte bloß den Kopf. „Jetzt reicht’s mir aber. Ich hab mir diesen Blödsinn schon viel zu lange angehört“, sagte sie. „Egal, was zwischen dir und unseren Eltern passiert ist – das ist lange her. Damals warst du noch ein Teenager, jetzt bist du ein dreißigjähriger Mann. Benimm dich bitte entsprechend.“

Empört zog sich Scott einen Schritt zurück. Er musste sich erst mal beruhigen und sich immer wieder daran erinnern, dass Lucy schließlich nichts von dem wusste, was sein Vater getan hatte. Mit ihr war Scott in Verbindung geblieben, hatte sich bei den Telefonaten aber meistens nach ihr, George und Bobby erkundigt und wenig von sich erzählt. „Ich bin nur deinetwegen hergekommen“, erklärte er ihr. „Und zwar um die Stadtbücherei wieder instandzusetzen. Versuch jetzt bitte nicht, mich zu anderen Dingen zu überreden.“

Sofort veränderte sich Lucys Blick. Sanft schaute sie ihren Bruder an. „Ich weiß, und ich bin dir auch sehr dankbar dafür.“ Sie senkte den Kopf. „Ich fühle mich so mies, weil Bobby das Feuer ausgelöst hat … obwohl es ein Versehen war. Und es bedeutet mir unendlich viel, dass du jetzt hier bist.“

Scott musterte sie skeptisch. „Du klingst so, als würdest du gleich noch ein großes, fettes Aber hinterherschieben.“

Lucy lächelte traurig. „Das ist jetzt vielleicht deine einzige Chance, noch mal mit Dad zu sprechen“, sagte sie. „Lass doch bitte die Vergangenheit ruhen. Nachher ist es zu spät, und dann bereust du es womöglich für den Rest deines Lebens.“

Scott schüttelte entschlossen den Kopf und spürte, wie ihm das Blut heiß ins Gesicht schoss. „Ich bereue überhaupt nicht, dass ich so lange weggeblieben bin“, beteuerte er. Sein Vater mochte ja kein Problem damit haben, mit einer schrecklichen Lüge zu leben – Scott selbst allerdings schon.

„Okay, wenn du es nicht für dich tun willst, dann tu es bitte für mich“, beharrte Lucy. Wut und Verzweiflung mischten sich in ihren Augen, die sich jetzt mit Tränen füllten.

Scott fluchte innerlich. Lange Zeit schwieg er, schließlich erwiderte er: „Ich kann noch nichts versprechen.“

Lucy entspannte sich merklich. Dann berührte sie sanft seinen Arm. „Komm doch mit in die Bäckerei“, forderte sie ihn auf. „Wir haben heute etwas Besonderes geplant, das darfst du nicht verpassen.“

Scott zögerte. „Dann arbeitest du also heute nicht im Diner?“

„Nicht, wenn sich das irgendwie vermeiden lässt. Gestern hatte ich ja kaum etwas von Sweetie Pie, weil ich ständig im Diner aushelfen musste, und dabei war es der Eröffnungstag.“ Sie stieß die Tür zur Bäckerei auf, drehte sich wieder zu Scott um und blickte ihn so lange an, bis er ihr folgte. Ihm stockte der Atem, als er Emily hinter dem Tresen entdeckte. Sie war wunderschön, genauso schön wie gestern.

Ihre Blicke begegneten sich, und sie lächelte sanft. Ihm wurde ganz flau im Magen, also sah er schnell weg und schaute sich lieber im gut gefüllten Raum um. Diesmal waren fast alle Tische besetzt. Die Gäste unterhielten sich angeregt, im Hintergrund spielte leise Musik, und ein süßer Kaffee- und Kuchenduft lag in der Luft. In so einer Atmosphäre konnte man sich nur wie zu Hause fühlen.

Darüber, wie es war, irgendwo „zu Hause“ zu sein, hatte er lange nicht mehr nachgedacht. Er war sich auch nicht sicher, ob er mit dem Begriff überhaupt etwas verband. Seit er Maple Woods verlassen hatte, hatte er diesen Ort nicht mehr als sein Zuhause betrachtet. Und seine Eigentumswohnung in der Großstadt Seattle war für ihn nur eine Unterkunft, nichts weiter.

„Emily!“, rief Lucy in diesem Moment laut aus. „Kümmerst du dich ein bisschen um Scott? Ich muss dringend schauen, was aus den Erdbeeren geworden ist, die ich für heute bestellt habe.“

Emily wurde weiß wie eine Wand und sah hektisch zwischen Lucy und Scott hin und her. „Klar, sofort“, murmelte sie und legte einem ungeduldigen Gast ein Stück Obstkuchen auf den Teller.

Widerwillig ging Scott zum Tresen und lächelte Emily befangen an.

„Hi“, begrüßte sie ihn mit ihrer sanften Stimme und riss ihn damit aus seinen düsteren Gedanken. Er hob den Kopf und betrachtete ihr schönes Gesicht, ihre rauchgrauen Augen und die vollen, dunkelroten Lippen. Sein Pulsschlag beschleunigte sich.

„Hey.“ Er fixierte seinen Becher, während sie ihm Kaffee einschenkte. Dann ließ er den Blick wieder nach oben schweifen, über ihre Schürze und die weiblichen Rundungen, die sich darunter abzeichneten. Wie hatte es sich damals angefühlt, sie zu berühren, ihren Körper an seinem zu spüren? Die Erinnerung war fast greifbar – aber eben nur fast.

Emily erwiderte seinen Blick, wirkte dabei allerdings völlig unbewegt. Sie war höflich, aber distanziert, gab sich ihm gegenüber ganz professionell. Das traf ihn überraschend tief. Am liebsten wäre er mit ihr nach hinten in die Küche gegangen, um sich in Ruhe mit ihr zu unterhalten. Er wollte alles wiedergutmachen, was er ihr angetan hatte … was auch immer er dafür tun musste. Aber dann stellte er sich vor, wie sie reagieren würde, wenn sie die schreckliche Wahrheit erfuhr. Wie der Schmerz auf ihrem wunderschönen Gesicht sichtbar wäre.

„Tja, erst sehe ich dich zwölf Jahre lang nicht, und jetzt kommst du gleich an zwei aufeinanderfolgenden Tagen hier vorbei“, bemerkte sie. „Dann sind unsere Kuchen wohl noch besser, als ich dachte.“

Scott verzog das Gesicht und trank schnell einen Schluck heißen Kaffee. „Lucy meinte, dass ich herkommen soll“, erklärte er. „Aber wenn ich dich störe, kann ich mich auch wieder dünnmachen.“

Sie lachte kurz auf und funkelte ihn dann wütend an. „Dünnmachen, aha“, wiederholte sie abfällig. „Darin hast du ja inzwischen viel Übung.“

Scott holte mühsam Luft, dann rieb er sich über das Gesicht. Wenn er ihr doch bloß die Wahrheit sagen könnte! „Ich hatte damals gute Gründe dafür, die Stadt zu verlassen. Das kannst du mir glauben.“ Er räusperte sich und trank seinen Kaffee aus. Am besten, er sah zu, dass er so schnell wie möglich hier rauskam.

Emily verschränkte die Arme vor der Brust und lehnte sich mit der Hüfte gegen den Tresen. „Ach ja? Und warum konntest du mir diese Gründe nicht mitteilen?“

Ihm schnürte sich die Kehle zu. Er konnte es ihr nicht sagen. Hier am Tresen schon gar nicht, aber auch sonst nicht. „Das ist alles ziemlich lange her“, sagte er stattdessen.

Darauf schenkte sie ihm nur ein welkes Lächeln und zog ihm den leeren Kaffeebecher weg. „Da hast du allerdings recht“, gab sie zurück. „Und ich bin damit nach einem einfachen Prinzip umgegangen: aus den Augen, aus dem Sinn.“

Fassungslos blickte er sie an. „Das meinst du doch nicht ernst!“

„Warum, was ist daran so unvorstellbar?“ Sie zog einen Putzlappen unter dem Tresen hervor und rieb damit hektisch die ohnehin schon saubere Holzplatte ab. „Wir waren ja praktisch noch Kinder. Wir hatten ein bisschen Spaß miteinander, und das war’s auch schon.“

„Emily.“ Er konnte das einfach nicht glauben. Sie hatten sich damals geliebt! „Das war nicht bloß Spaß.“

Abrupt hielt sie in ihren Bewegungen inne. Ihre Hand umklammerte so fest den Lappen, dass ihre Knöchel weiß hervortraten. „Kann sein“, gab sie zurück. „Aber am Ende hatte es trotzdem nichts zu bedeuten.“ Dann drehte sie ihm den Rücken zu und ließ ihn einfach am Tresen stehen.

Was fällt diesem Menschen eigentlich ein! dachte Emily. Das Blut rauschte ihr in den Ohren, während sie den nächsten Kunden wie ferngesteuert bediente. Ein Stück weiter sah sie Scott am Tresen sitzen. Seine Hände bildeten ein Dreieck, die Lippen hatte er fest zusammengekniffen.

Als hätte er gemerkt, dass sie ihn anstarrte, sah er plötzlich zu ihr herüber und erwiderte ihren Blick. Emily zuckte zusammen. Der Kaffee, den sie gerade einem Gast einschenken wollte, lief stattdessen über den Tresen. Fluchend griff sie nach einem Lappen. Dieser verdammte Scott Collins! Trotz allem, was er ihr angetan hatte, war sie ihm immer noch hoffnungslos verfallen. Wie dumm war sie eigentlich?

In diesem Moment gab es einen kleinen Tumult an der Eingangstür. Als Emily in diese Richtung sah, erblickte sie Jack Logan und Cole Davis, zwei ehemalige Mitschüler von ihr und Scott. Beide brüllten eine freudige Begrüßung zu Scott hinüber, dann kamen sie zu ihm an den Tresen, schlugen ihm auf die Schulter und klatschten ihn ab. Die drei waren damals zusammen in der Footballmannschaft von Maple Woods gewesen.

Mit einem Ohr lauschte sie dem Gespräch der drei Männer. Sie tauschten sich über die Ereignisse der letzten Jahre aus und beschlossen, sich in den nächsten Tagen „auf ein Bier“ zu treffen. Warum hatte er ihr eigentlich nicht etwas Entsprechendes vorgeschlagen? Hatte sie ihm etwa weniger bedeutet als seine ehemaligen Mannschaftskollegen?

„Emily? Wir haben ein Problem.“ Lucy kam aus der Küche auf sie zu. Sie war völlig außer Atem.

Emily betrachtete sie beunruhigt. „Was ist passiert?“, erkundigte sie sich. Dabei wurde ihr bewusst, dass Scott sich inzwischen nicht mehr mit Jack und Cole unterhielt und genau mitbekam, was sie und Lucy besprachen.

„Der Bürgermeister hat eben abgesagt. Ihm ist in letzter Minute noch ein wichtiger Termin dazwischengekommen, darum schafft er es nicht, herzukommen und sich mit Torte bewerfen zu lassen.“ Mit einer ausschweifenden Handbewegung wies sie auf die zahlreichen Gäste, die alle auf ihre Chance warteten, dem Bürgermeister einen Pappteller mit Sahne ins Gesicht zu schleudern. „Was soll ich denn den ganzen Leuten sagen?“

Gerade wollte Emily ihre Freundin beruhigen, da schaltete sich Scott ein: „Was ist denn los, Lucy?“

„Es geht um das Tortenwerfen“, erklärte seine Schwester ihm. „Unsere Zielscheibe hat gerade abgesagt.“

„Nimm doch einfach Scott“, schlug Jack vor. Cole lachte herzhaft auf und schlug Scott kräftig auf die Schulter. Dann packten die beiden Männer ihn an den Armen und redeten so lange auf ihn ein, bis er lachend zustimmte. „Okay, in Ordnung“, sagte er und hob im Scherz beide Hände, als wollte er sich ergeben. „Aber ich mache das nur für meine Schwester.“

Die Gäste begrüßten jubelnd die Entscheidung, und Lucy strahlte über das ganze Gesicht. Allen voran ging sie nach draußen vor den Laden. Dort auf dem Bürgersteig stand schon ein Stuhl für die menschliche Zielscheibe bereit.

„Gib ruhig ordentlich Schlagsahne drauf“, wies Jack Emily an, als sie den ersten Pappteller für Scott vorbereitete. Dann sah er sie herausfordernd an. „Hey, hattet ihr zwei nicht mal etwas miteinander, du und Scott?“, sagte er.

Emily spürte, wie ihr das Blut in die Wagen schoss. Doch bevor sie das Thema im Keim ersticken konnte, hatte Jack sich auch schon zu Scott umgedreht, der gerade auf dem Klappstuhl vor dem Laden Platz nahm. „Da haben wir ja heute ein großes Wiedersehen zu feiern“, rief er ihm zu. „Du und Emily – ihr hattet doch mal was miteinander, oder?“

Emily wagte nicht zu atmen, während sie den zweiten Pappteller mit Sahne besprühte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals.

Eine halbe Ewigkeit verstrich, bis Scott die Frage endlich beantwortete: „Ja, wir haben uns ein paarmal getroffen.“

Abrupt hielt sie inne. Hatte sie das eben richtig verstanden? Drei ganze Jahre ihres Lebens hatte sie mit Scott Collins verbracht. Sie hatten sich alles erzählt und zusammen gelacht, hatten sich aneinandergeschmiegt und von einer gemeinsamen Zukunft geträumt. Und ihr gegenüber hatte er gerade noch behauptet, es wäre etwas Ernstes gewesen. Aber jetzt, vor seinen Freunden behauptete dieser Mann, sie hätten sich bloß „ein paarmal getroffen“?

Tränen schossen ihr in die Augen – ob aus Wut oder Enttäuschung, das konnte sie nicht sagen. Sie stellte den Teller mit dem Sahneberg ab und drehte sich zu ihm um. Unglaublich, wie selbstverliebt er da auf seinem Stuhl saß, in die Runde grinste und sich in der Aufmerksamkeit der halben Stadt sonnte.

„So, wer will anfangen?“, rief Lucy. Die Umstehenden fingen an zu tuscheln, einige lachten nervös.

„Okay, dann gebe ich mal den Startschuss“, erwiderte Emily laut, bevor sie sich bremsen konnte.

Scott blickte sich zu ihr um. Obwohl er ein bisschen beunruhigt wirkte, wagte er es trotzdem, sie herausfordernd anzugrinsen.

Emily nahm sich einen Pappteller mit Sahne und ging damit auf die Kreidelinie zu, die Lucy auf den Boden gemalt hatte. Ohne auf ein Startzeichen zu warten, schleuderte sie den Teller in seine Richtung, dass die Sahne ihm nur so um die Füße spritzte.

Ein Raunen ging durch die Zuschauermenge, aber sie bekam kaum etwas davon mit. Atemlos und wütend starrte sie ihn an … Schließlich hob sie das Kinn und rauschte zurück in die Bäckerei.

Eine gebannte Stille breitete sich unter den Zuschauern aus, dann fingen sie an, miteinander zu tuscheln. Emily ging hinter den Tresen, nahm sich Scotts geliebte Kirschtorte und trug sie ebenfalls nach draußen auf den Bürgersteig. Einige Zuschauer schnappten hörbar nach Luft, aber das war ihr egal. Im Moment ging es ihr nur um einen einzigen Menschen, und der hatte eine Abreibung verdient. Schon längst.

„Emily …“, begann Scotts Kumpel Jack, verstummte aber sofort, als sie ihm einen eisigen Blick zuwarf.

Dann stellte sie sich an die Kreidelinie und sah Scott direkt ins Gesicht. Ihre Blicke trafen sich. Inzwischen wirkte er nicht mehr so entspannt. Er hatte die Stirn leicht gerunzelt und lachte nervös auf.

Das hier ist dafür, dass du mir das Herz gebrochen hast, Scott Collins.

Sie holte weit aus, während sie sein schiefes Grinsen fixierte. Es wich ihm sofort aus dem Gesicht, als sie die Aluminiumform mit der Kirschtorte losließ und in seine Richtung schnellen ließ.

Sie hatte perfekt gezielt. Kurz bevor ihn die Torte mitten ins Gesicht traf, hatte sie noch das blanke Entsetzen in seinen Augen gesehen. Dann hatten sie erst mal keinen Blickkontakt mehr, weil sein Kopf von der Aluminiumform verdeckt war. Eine dicke, dunkelrote Flüssigkeit lief ihm den Hals hinunter, und ganz langsam rutschte die Kirschtorte zu Boden.

Scott wirkte völlig hilflos und verwirrt, wie er so dasaß, mit weit aufgerissenen Augen und lauter Kirschen und Teigstücken im Gesicht. Emily war schon kurz davor zu bereuen, was sie eben getan hatte. Aber dann rief sie sich ins Gedächtnis, dass nicht sie diejenige war, die sich zu entschuldigen hatte, sondern er.

Die umstehenden Leute lachten, sie schienen sich gut zu amüsieren. Emily ging zu Lucy und murmelte ihr zu, dass sie sich jetzt wieder hinter die Theke stellen würde. Dann schlängelte sie sich durch die Menge zurück in den Laden, um dort sofort in der Küche zu verschwinden. Erst jetzt, wo sie sich sicher sein konnte, dass sie völlig unbeobachtete war, ließ sie ihren Tränen freien Lauf.

3. KAPITEL

Scott parkte den Wagen und schaltete den Motor aus. Seufzend lehnte er den Kopf gegen die Nackenstütze aus glattem Leder. Das Licht der Abendsonne spiegelte sich in den Fensterscheiben seines Elternhauses und verhinderte, dass er ins Innere sehen konnte. Hier hatte er die ersten achtzehn Jahre seines Lebens verbracht. Er hatte jeden Winkel gekannt und sich zu Hause gefühlt … er konnte es heute kaum glauben!

Das Haus war immer noch eins der schönsten in ganz Maple Woods, obwohl der Zahn der Zeit schon kräftig an ihm genagt hatte. Hier und da blätterte die weiße Fassadenfarbe ab, die Hecke war schon lange nicht mehr geschnitten worden, und überall wuchs Unkraut.

Lucys Auto stand schon am Ende der Auffahrt. Widerwillig ging Scott zum Haus. Vor der verblichenen grünen Tür zögerte er. Und jetzt? Sollte er anklopfen oder einfach versuchen, die Klinke herunterzudrücken? Schließlich betätigte er zweimal den Klopfer und spähte durch das schmale Fenster rechts von der Tür. Wenige Sekunden später erschien eine plumpe, grauhaarige Frau im Eingangsbereich. Als sie sein Gesicht vor dem Fenster erblickte, hielt sie inne und griff sich ans Herz.

Seine Mutter.

Sofort zog er sich vom Fenster zurück. Als sie sich zuletzt gesehen hatten, war sie eine attraktive Frau von Ende vierzig gewesen. Inzwischen war sie sechzig. Und obwohl er wusste, dass viel Zeit vergangen war, konnte er nicht fassen, welche Spuren die Jahre bei ihr hinterlassen hatten.

In diesem Moment ging die Tür auf, und seine Mutter sah ihm mit ihren strahlendblauen Augen direkt ins Gesicht. Sie blinzelte ein paarmal, dann zog sie ihn fest an sich. Wie sie sich anfühlte, wie sie duftete … das alles kam Scott noch sehr vertraut vor.

Trotzdem löste er sich so schnell wie möglich von ihr. Er fühlte sich unbehaglich, als sie ihn mit Tränen in den Augen musterte, ein wehmütiges Lächeln auf den Lippen. Eigentlich hatte er gedacht, er würde dieser Situation gewachsen sein. Aber jetzt wurde es ihm doch erschreckend eng in der Brust.

„Ich freue mich so, dich wiederzusehen“, stieß seine Mutter atemlos aus.

Scott zwang sich zu einem Lächeln. „Das Haus ist wirklich schön“, sagte er höflich und ging in den Eingangsbereich. Dort schaute er sich um. Alles war noch genau so wie damals, als er ausgezogen war. Die Gemälde hingen an ihren gewohnten Plätzen, jeder Stuhl stand an Ort und Stelle. Und trotzdem fühlte sich alles ganz anders an.

„Na ja, ich wollte eigentlich schon längst mal jemanden damit beauftragen, sich um unseren Garten zu kümmern – jetzt, wo …“ Sie hielt inne und atmete hörbar ein. Dann schloss sie die Haustür und strich sich die Schürze glatt.

Vor Anspannung ballte Scott die Hände zu Fäusten. „Wo ist denn Lucy? In der Küche?“, erkundigte er sich und ging dem Duft nach, der aus dem hinteren Teil des Hauses kam.

Seine Schwester stand an der großen Kücheninsel und richtete gerade einen gemischten Salat an. Bei der Begrüßung klang ihre Stimme deutlich höher als sonst. Ihm fiel auf, dass sie auch nervös war. Dabei war dieses peinliche Treffen doch ihre Idee gewesen!

„Na, hast du den Kirschkuchen gut wieder abbekommen?“, fragte sie ihn.

Scott zuckte mit den Schultern. Eigentlich hatte er für den Rest des Tages nicht mehr an Emily denken wollen, aber das ließ sich wohl nicht vermeiden. „Wenn ihr mich weiter mit Torten bewerft, komme ich nie dazu, mich um die Bibliothek zu kümmern.“

„Keine Angst“, erwiderte Lucy. „Mit solchen Werbeveranstaltungen sind wir erst mal durch. Ich glaube übrigens nicht, dass der Bürgermeister auch nur halb so gut angekommen wäre wie du.“

„Freut mich, wenn ich dir damit helfen konnte.“ Er sah sich um. „Wo sind eigentlich George und Bobby?“

„George ist noch im Diner, und Bobby schreibt morgen eine Klausur, dafür lernt er gerade.“

Scott nickte. Damit war das Thema beendet, und in der Küche herrschte Schweigen. Er seufzte. „Und wo ist …“

„Dad?“ Lucy zog eine Augenbraue hoch, dann wandte sie sich wieder dem Salat zu. „Er ist oben.“

Seine Mutter stand jetzt im bogenförmigen Durchgang, der Küche und Esszimmer verband. „Er hat sich so gefreut, als er gehört hat, dass du hier bist!“

Tja, das beruht ...

Autor

Olivia Miles
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Lynne Marshall
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Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

...

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