Bianca Extra Band 25

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DER ANDERE BRÄUTIGAM von RIMMER, CHRISTINE
Ihr Lachen bezaubert ihn, und ihre Augen versprechen das Paradies - Rafe kann dieser Frau nicht widerstehen! Obwohl er weiß, dass er von verbotenen Früchten nascht, denn Genevra wollte seinen verstorbenen Bruder heiraten. Jetzt umarmt sie Rafe und schwört ihm die ewige Liebe …

DENN DU GEHÖRST ZU MIR von BENNETT, JULES
Wie ein verliebter Teenager starrt er sie an - dabei liegt die Jugendzeit lange zurück! Doch kaum sieht er seine Nora wieder, will Eli sie nur stürmisch küssen. Warum versteht sein Herz nicht, was sein Kopf schon lange weiß: Die Frau seines Lebens gehört einem anderen!

WARUM HAST DU MICH VERRATEN, GELIEBTE? von MARSHALL, LYNNE
Nachts liegt sie in seinen Armen, und am Tag verrät sie ihn! Gunnar ist tief enttäuscht: Journalistin Lilly hat ein Geheimnis, das Gunnar ihr anvertraut hat, einfach ausgeplaudert. Nie wieder wird er ihren lockenden Lippen nachgeben - auch wenn sie noch so viel versprechen …

UND PLÖTZLICH LACHT DIE LIEBE von WOODS, AMY
Paige hat keine Zeit für einen Mann - das muss Liam verstehen. Zwar zieht der Lehrer sie geradezu magisch an, aber ihr kleiner Sohn braucht sie! Erst als es zu spät scheint, wird Paige plötzlich klar, dass sie und ihr Junge nur mit Liam glücklich werden können …


  • Erscheinungstag 24.11.2015
  • Bandnummer 0025
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732608
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Christine Rimmer, Jules Bennett, Lynne Marshall, Amy Woods

BIANCA EXTRA BAND 25

CHRISTINE RIMMER

Der andere Bräutigam

Kein Wunder, dass Rafe mir nicht traut … Vor Kurzem wollte Genevra noch seinen Bruder heiraten, und jetzt schwört sie ihm die ewige Treue! Wie kann sie Rafe überzeugen, dass ihre ganze Liebe ihm gehört?

JULES BENNETT

Denn du gehörst zu mir

Warum sucht der unwiderstehliche Eli immer wieder Noras Nähe? Das Herz gebrochen hat er ihr – da wird sie sich bestimmt nicht wieder auf ihn einlassen! Schon gar nicht jetzt, da sie ein Baby erwartet …

LYNNE MARSHALL

Warum hast du mich verraten, Geliebte?

Es war ein Versehen! Lilly wollte Gunnar nie verraten – doch er wendet sich ab! Sie versucht alles, um den sexy Polizisten von ihrer Unschuld zu überzeugen. Und davon, zu ihr zurückzukommen …

AMY WOODS

Und plötzlich lacht die Liebe

Was hat Paige nur erlebt, dass sie so verletzlich ist? In der einen Minute brennt sie vor Leidenschaft, in der nächsten ist sie eiskalt. Liam will ihr zeigen, dass seine Küsse ihre Wunden heilen …

1. KAPITEL

Genevra Bravo-Calabretti, Prinzessin von Montedoro, hievte die Leiter aus leichtem Metall in die Höhe und brachte sie in eine aufrechte Position.

Mit größter Vorsicht lehnte sie die Leiter gegen die hohe Steinmauer, doch schon im nächsten Augenblick drohte sie wieder abzurutschen. Das Metall machte ein hässliches Geräusch auf den verwitterten alten Steinen. Genny zuckte zusammen. Unruhig sah sie sich um. Sie rechnete damit, dass der Lärm die Dienstboten aufscheuchen würde. Doch zu ihrer Erleichterung blieb alles still.

Es war eine milde Mainacht, und der Mond stand einer silbernen Sichel gleich am Himmel und warf ein blasses Licht auf die Szenerie. Das tröstete Genny allerdings kaum. Mit einem wenig prinzessinnenhaften Uff stemmte sie die Füße der Leiter ins Gras und stellte sicher, dass diese sich nicht mehr bewegte.

Ihr Atem ging schwer. Die Leiter den Hügel heraufzutragen war anstrengender gewesen, als sie gedacht hatte. Aber jetzt durfte sie keinen Rückzieher mehr machen.

Seufzend lehnte sie sich mit dem Rücken gegen die Mauer und ließ sich auf die Fersen nieder. Nur einen Moment ausruhen.

Von hier oben hatte man einen fantastischen Blick auf den Hafen. Die Lichter der Schiffe funkelten heimelig im Halbdunkel. All das war ihr so vertraut: das Meer, die sanften Geräusche der Wellen und der schwere Duft nach Rosen.

Ihr Magen zog sich schmerzhaft zusammen. Sie sollte gar nicht hier sein. Sie sollte mit ihren Freunden in einem der unzähligen Cafés sitzen oder einen nächtlichen Strandspaziergang machen – und nicht hier herumschleichen, gänzlich in Schwarz gekleidet, wie ein Einbrecher, der sich unerlaubt Zutritt zu der Villa Santorno verschaffte.

Für einen Augenblick kämpfte sie mit den Tränen. Hatte sie denn eine Wahl? Nein. Und sie hatte weiß Gott schon genug Schmerz ertragen. Wut und Enttäuschung hatten sie in den vergangenen Wochen mürbe gemacht. Ganz zu schweigen von ihrem Körper. Ihre Hormone schienen verrückt zu spielen.

Sie wollte das nicht tun. Sie kam sich absolut lächerlich dabei vor. Lächerlich, aufdringlich und in höchstem Maße ungewollt. Bemitleidenswert.

Unwirsch rieb sie sich die Augen trocken. Genug jetzt. Sie war so weit gekommen, jetzt konnte sie es ebenso gut durchziehen.

Genny erhob sich, klopfte Schmutz und Staub vom Hosenboden und sah nach oben. Dummerweise reichte die Leiter nicht bis zur oberen Kante der Mauer. Voll Unbehagen fasste Genny die freie Stelle ins Auge. Es blieb ihr nichts anderes übrig, als von dort aus zu klettern.

Schritt für Schritt erklomm sie die Leiter. Doch als sie oben angekommen war, bekam sie es mit der Angst. „Dämliche Idee“, flüsterte sie in die Dunkelheit. Die obere Kante war viel weiter von der Leiter entfernt, als es von unten den Anschein hatte.

Sie nahm all ihren Mut zusammen, streckte die Arme aus und zog sich hoch. In dem Augenblick, in dem sie sich abstieß, geriet die Leiter ins Wanken und landete mit lautem Krachen auf dem Boden.

Gennys Herz hämmerte in ihrer Brust. Hatte man in der Villa den Lärm gehört? Würde man kommen und sie holen, bevor ihre Kraft sie verließ – oder würde sie fallen und sich den Hals brechen?

Eine Sekunde lang gab sie sich der Vorstellung hin, wie Rafe kommen und ihren leblosen Körper auf dem Boden liegen sah. Geschähe ihm bloß recht.

Aber ihr Überlebensinstinkt sah das völlig anders. Mit ungeahnter Kraft klammerte sie sich fest, fand mit den Füßen Halt in der Mauer und zog sich hoch.

Schließlich gelang es ihr, das rechte Bein über die Mauer zu schwingen.

Schwer atmend blieb sie auf der Mauer liegen.

Das wäre geschafft. Vorerst.

Durch die Zweige der Palmen und Olivenbäume hindurch sah sie die Villa. Hinter den Fenstern brannte Licht, doch offensichtlich hatte noch niemand ihr Kommen bemerkt.

Sie warf einen Blick in den dunklen Garten. Das Gras war hier höher und weicher. Doch das würde ihr wenig nutzen, denn ohne die Leiter musste sie eine schwindelerregende Höhe überwinden.

Lieber Himmel, was mach ich nur, was mach ich nur …

Aber ihr Stolz verbat ihr, nach Hilfe zu rufen. Was für eine armselige Figur sie abgegeben hätte, wenn man sie hilfeschreiend auf der Mauer finden würde!

Nein. Dann lieber auf direktem Wege nach unten. Genny hielt sich mit beiden Händen fest und ließ sich hängen. Ihre Füße baumelten im Nichts.

Lass los, Genevra. Du musst loslassen …

Ihr blieb keine Wahl. Auch wenn ihr Verstand sich wehrte, ihre Kräfte waren langsam erschöpft.

Sie ließ sich fallen und schlug hart auf dem Boden auf. Ein stechender Schmerz fuhr in ihre linke Ferse, schnitt durch ihren Knöchel und brannte sich einen Weg in ihre Wade. Ihr entfuhr ein erstickter Schrei, gefolgt von einer Reihe hässlicher Kraftausdrücke.

„Oh!“ Sie rollte sich zur Seite und griff nach ihrem Knöchel. „Au au au!“ Der Knöchel pochte im gleichen Rhythmus wie ihr Herz. „Autsch!“ Blindlings rieb sie über die schmerzende Stelle und rollte sich von einer Seite zur anderen.

„Gen.“ Die vertraute, tiefe Stimme erklang direkt hinter der Hecke, vor die sie gefallen war. „Ich hätte es wissen müssen.“

Sie wandte den Kopf. „Rafe?“

Rafael Michael DeValery, Graf von Hartmore, trat durch eine Öffnung in der Hecke. In voller Größe stand er vor ihr, und das Licht aus der Villa hinter ihm erhellte seine beeindruckende Silhouette.

Und bei seinem Anblick überschlug sich ihr albernes Herz beinahe vor Freude.

„Hast du dir wehgetan?“

Sie warf ihm einen finsteren Blick zu und rieb energisch ihren Knöchel. „Ich werd’s überleben. Aber du hättest ja einfach das Tor öffnen können, als ich angeklopft habe. Oder … lass mich nachdenken … einen meiner unzähligen Anrufe entgegennehmen.“

Es herrschte ein angespanntes Schweigen. Genny konnte den Blick seiner schwarzen Augen förmlich auf ihrem Körper spüren. Als er antwortete, war seine Stimme schwer vor Bedauern. „Ich hielt es für sinnvoll, mich an unser Abkommen vom März zu halten.“

Erneut stiegen heiße Tränen in ihre Augen. Ihre Kehle war wie zugeschnürt. „Und wenn ich deine Hilfe gebraucht hätte?“

Er zögerte. „Brauchst du meine Hilfe?“

Kein Wort kam über ihre Lippen.

Seine Stimme wurde sanfter. „In keiner deiner Nachrichten hast du erwähnt, dass du Hilfe brauchst.“

Ihre Wangen brannten wie Feuer. Es war, als würden vor ihr in der klaren Nachtluft die Erinnerungen wiederauferstehen. Die Erinnerungen an ihre heiße, vier Tage andauernde Liebesaffäre. Eine himmlische Zeit.

Und gleichzeitig ein schmerzvolles Andenken daran, wie hoffnungslos ihr seither alles vorkam.

„Hör zu: Auch wenn es gerade nicht so aussieht, habe ich auch meinen Stolz. Und ich erzähle deinem Dienstmädchen bestimmt nicht, dass ich dich brauche.“

„Gen …“ Er trat näher. Was hörte sie in seiner Stimme? Verlangen? Schmerz? Oder entsprang das bloß ihrer Wunschvorstellung?

Was auch immer sich in seiner Stimme verbarg, überspielte er gekonnt, indem er die Hand ausstreckte und Gen aufhalf. „Komm ins Haus“, sagte er ruhig.

Seine Berührung sandte einen leisen Schauer über ihren Rücken. Doch im nächsten Augenblick durchfuhr der stechende Schmerz ihren Knöchel, als sie versuchte zu gehen. „Au! Verdammt.“

Behutsam führte er ihren Arm um seinen Nacken. Seine anmutige Art, sich zu bewegen, hatte sie schon immer fasziniert. Er war groß und kräftig gebaut – doch er konnte sich so leicht und geschmeidig bewegen wie ein Tänzer.

Auch jetzt, obwohl er sich bei dem folgenschweren Unfall vor sechs Monaten das Bein gebrochen hatte. Ihre Affäre lag zwei Monate zurück, und zu diesem Zeitpunkt hatte er noch leicht das Bein nachgezogen.

Als sie aus dem Schatten der Hecke traten, fiel das Mondlicht auf sein Gesicht. Dort hatte der Unfall eine deutliche Spur hinterlassen. Er hatte eine lange rote Narbe auf seiner rechten Wange hinterlassen, die seine ebenmäßigen Gesichtszüge in Unordnung brachten. Sie zog sich vom rechten Augenwinkel über seine Wange wie der Halbmond bis zum Mund und schien daran zu ziehen, so, als würde sie ein Lächeln erzwingen wollen – und scheitern.

Rafe lächelte nur noch selten. Vor zwei Monaten hatte sie ihn gefragt, ob er die Möglichkeiten der plastischen Chirurgie in Erwägung ziehen wollte. Nein, wollte er nicht. Und er gedachte, es dabei zu belassen.

„Geht es?“ Er legte den Arm um ihre Taille.

Ein warmer Schauer durchrieselte ihren Körper. Warum musste er sich bloß so gut anfühlen? Und warum in aller Welt musste er so köstlich duften?

Das war ihr schon früher aufgefallen. Selbst, als sie nichts weiter als gute Freunde waren, hatte sie seinen Duft gemocht. So rein und natürlich wie frisches Gras, Wind und satte, nahrhafte Erde.

Schluss damit. Wenn sie ihm sagen wollte, warum sie gekommen war, durfte sie sich nicht von seinem Duft ablenken lassen.

Behutsam führte er sie über den Rasen zu dem Steinplattenweg und von dort aus auf die weitläufige Terrasse. Dann betraten sie die Villa durch die große, doppelte Glastür und gelangten in das offene Wohn- und Esszimmer.

Dankbar sank Gen in einen Sessel und sah sich um. „Es hat sich so viel verändert“, stellte sie fest. Der Raum war renoviert worden, seit sie das letzte Mal hier gewesen war. Die Wände waren heller, das Mobiliar moderner und die Küchenzeile mit zeitgemäßem Gerät ausgestattet.

Sie vermisste die dicken Teppiche, die Tapeten mit den üppigen, floralen Mustern und die schweren Möbel im Barock- und Rokoko-Stil.

„Touristen mit dickem Geldbeutel legen keinen Wert auf verblichenen Glanz“, erklärte er. „Heutzutage will niemand mehr schwere Vorhänge und antike Herde. Sie wollen Komfort und helle Räume und freie Sicht auf das Meer.“

Sie folgte seinem Blick. Die Veranda, die um das gesamte Haus herumführte, endete an dieser Seite direkt am Kliff, wo die schroffen Felsen steil zum Meer abfielen. Die Aussicht war atemberaubend.

Die DeValerys stammten aus England und hatten normannische Vorfahren. Doch in ihrer Blutlinie gab es auch einen montedorischen Einschlag. Einst hatte ein DeValery seine Braut in Montedoro gewählt, und ihnen war es zu verdanken, dass die Villa am Meer seit Generationen im Besitz der Familie war.

„Heißt das, du willst es wirklich vermieten?“, fragte Genny mit kaum verhohlenem Bedauern.

„Ja.“ Sein Blick war ernst.

Als er vor zwei Monaten nach Montedoro gekommen war, war die Vermietung der Villa nichts weiter als eine vage Idee gewesen. Er hatte sich hierher zurückgezogen, um Abstand von dem Ort des Geschehens zu haben – seiner englischen Heimat, wo sein Bruder bei dem tragischen Unfall ums Leben gekommen war. Rafe hatte durch das Ereignis nicht nur die Narbe davongetragen, sondern er wurde zum rechtmäßigen Erben und hochoffiziell in den Stand des Grafen von Hartmore erhoben.

Genny hatte ihn kurz darauf hier aufgestöbert und gestellt. Genau wie jetzt.

Aber damals … Damals hatte es damit geendet, dass sie sich in genau diesem Raum geliebt hatten. Mehrmals.

Seither schienen Jahre vergangen zu sein.

„Musst du so traurig schauen?“, fragte er ungeduldig. Beinahe schroff. Als könne er den Anblick nicht ertragen.

„Ich mochte es vorher lieber. Das ist alles.“ Schon während ihrer gesamten Kindheit hindurch pflegten Mitglieder seiner Familie dann und wann hier zu residieren, um sich in Montedoros Nachtleben zu stürzen, Urlaub zu machen oder an den Festlichkeiten im Palast der Bravo-Calabrettis teilzunehmen.

Im Gegenzug wurden die Bravo-Calabrettis hierher zum Tee oder Abendessen eingeladen. Genny sah sich selbst als zehnjähriges Mädchen, wie sie auf einem der samtbezogenen Sofas saß und voll Inbrunst darauf wartete, mit Eloise zu sprechen. Rafes Großmutter hatte einen besonders guten Draht zu ihr – und Genny hoffte jedes Mal, eine weitere Einladung auf ihren englischen Landsitz zu bekommen.

Hartmore. Für sie war es ein verzaubertes Wort. Das Anwesen der DeValerys in Derbyshire war so ziemlich der schönste Ort, den sie sich vorstellen konnte.

Rafe setzte ihren Gedanken ein jähes Ende, indem er vor ihr auf die Knie ging. „Soll ich mir das mal ansehen?“

Da erst wurde ihr bewusst, dass er lediglich ihren Knöchel untersuchen wollte. Noch ehe sie einen Ton hervorbringen konnte, hob er behutsam ihren Fuß an und entknotete mit der anderen Hand die Schnürsenkel ihres Turnschuhes. Dann streifte er den Schuh ab.

Er ging dabei so vorsichtig und bedacht vor, dass ihr das Herz wehtat. Mit unendlicher Sorgfalt bewegte er den Fuß und betastete die geschwollene Stelle. „Es scheint nicht gebrochen zu sein. Wahrscheinlich ist es eine leichte Verstauchung.“

„Es geht schon wieder. Es tut kaum noch weh.“

Er blickte auf. „Wir sollten den Knöchel trotzdem verbinden.“

„Nein“, entgegnete sie heftiger als beabsichtigt. „Lass es, Rafe. Es geht schon.“

„Na schön.“ Er erhob sich zu seiner vollen, beeindruckenden Größe.

Schon wieder erwischte sie sich dabei, wie sie ihn sehnsüchtig anstarrte. Seltsam. Sie hatte ihn immer gemocht – als Freund. Aber als Mann war er ihr zu wild und grob erschienen. Vor allem als Teenager war er ziemlich rau und ungehobelt gewesen.

Sie musste blind gewesen sein. Eine blinde, kindische Idiotin.

„Jetzt sag mir, warum du hergekommen bist“, verlangte er. Sein Blick war undurchdringlich. Er konnte einem das Gefühl geben, bis auf den innersten Grund der Seele zu sehen – ohne dabei auch nur das Geringste über sich selbst preiszugeben. Er war wie ein stiller Beobachter aus einem anderen Reich, der sich seiner Stärke zwar bewusst war, aber still und unbemerkt zwischen den Normalsterblichen wandelte. „Sag es mir, Gen. Bitte. Was immer es ist.“

„Gut.“ Sie holte tief Luft. Jetzt gab es kein Zurück mehr. „Ich bin schwanger. Es ist von dir.“

War er zusammengezuckt?

Sie war sich nicht sicher. Wahrscheinlich nicht. So etwas tat er nie. Und ihre Nerven waren bis zum Zerreißen gespannt. Sie hatte es sich bestimmt nur eingebildet.

„Mein Gott, Gen.“ Mit ein Mal war er völlig verändert. Seine Stimme hatte einen fast ehrfürchtigen Klang. „Wie kann das sein? Wir haben doch aufgepasst.“

„Offensichtlich nicht genug. Wenn du einen Vaterschaftstest willst, können wir gerne …“

„Das ist nicht notwendig. Ich glaube dir.“

Ich glaube dir. Seine Worte hallten in ihrem Kopf wider.

Langsam breitete sich die Erleichterung in ihrem Inneren aus wie eine sanfte Brise. Jetzt war es heraus. Sie hatte es ihm gesagt. Und er versuchte nicht, es zu verleugnen. Er wandte sich nicht ab.

Stattdessen stand er noch immer vor ihr und sah sie an – ohne die geringste Spur von Groll oder Vorwürfen.

Sie lehnte den Kopf zurück, schloss die Augen und seufzte tief. „Das wäre geschafft.“

„Geht es dir gut?“ Seine Stimme klang unerwartet nah.

Sie öffnete die Augen. Er kniete vor dem Sessel und musterte sie aufmerksam. „Perfekt“, antwortete sie.

„Warst du schon beim Arzt?“

„Noch nicht. Aber ich habe drei Schwangerschaftstests gemacht. Verschiedene. Und alle drei waren positiv.“

„Du solltest zum Arzt gehen.“

„Ich weiß. Bald. Aber mir geht’s gut.“

„Gut.“ Er straffte sich. „Ich werde mich um alles kümmern.“

Ihr Magen schlug einen Salto. „Was meinst du damit?“

„Wir werden heiraten.“ Sein Tonfall ließ nicht den geringsten Zweifel daran aufkommen, dass er es ernst meinte.

Um ein Haar wäre sie in Tränen ausgebrochen. Tränen der Erleichterung – aber auch Tränen der Verzweiflung. War das die richtige Entscheidung? Es fühlte sich merkwürdig an. Und irgendwie falsch.

Es hatte eine Zeit gegeben, in der sie sich nichts sehnlicher gewünscht hatte, als seinen Bruder zu heiraten. Wie konnte sie die Brüder einfach austauschen? In ihrem Leben – und in ihrem Herzen?

Davon abgesehen war Rafe ihr seit der Affäre beharrlich aus dem Weg gegangen. Ein Mann, der wirklich beabsichtigte, sie zu heiraten, würde sie wohl kaum wochenlang meiden. Um dann bei der Aussicht auf ein Baby auf die Knie zu fallen und um ihre Hand anzuhalten.

„Rafe, ganz ehrlich, ich … Ich weiß nicht, ob das eine gute …“

„Natürlich ist es das. Es ist das einzig Richtige.“

Sie hatte das Bedürfnis, sich zu widersetzen. Sich ihm entgegenzustellen und stark zu sein – und sei es nur aus dem Grund, um ihm zu zeigen, dass er nicht einfach über ihren Kopf hinweg entscheiden konnte. Schließlich heiratete heutzutage niemand mehr, nur weil ein Baby unterwegs war.

Nun, außer vielleicht ihrem Bruder Alex. Und vielleicht ihrer Schwester Rhia.

Und jetzt, da sie darüber nachdachte, funktionierten beide Ehen ziemlich gut.

Davon abgesehen war sie neuerdings so verknallt in ihn. Neuerdings? Sie wusste es nicht. Aber eines wusste sie sehr genau: Ihr Baby hatte ein Recht auf das Erbe von Hartmore. Ein Recht darauf, ein anerkanntes, eheliches Kind zu sein. Zumindest würde das die Dinge sehr vereinfachen.

Und Hartmore … Ihr geliebtes Hartmore war zum Greifen nahe.

Herrin von Hartmore. Die Stimme der Versuchung flüsterte in ihr Ohr. Plötzlich konnte ihr Traum wahr werden – obwohl sie ihn nach Edwards Tod schon begraben hatte.

Edward.

Allein sein Name erfüllte ihr Herz mit Verwirrung und Schuldgefühlen. Sie hatte wirklich geglaubt, dass sie ihn liebte. Sie hatte nur darauf gewartet, dass er ihr einen Antrag machte, damit sie gemeinsam das Leben führten, das ihnen vorherbestimmt war.

Aber jetzt, im Angesicht dessen, was sie für Rafe empfand, war sie sich ihrer früheren Gefühle überhaupt nicht mehr sicher. Sie war sich über gar nichts mehr klar.

„Sag Ja.“ Es war, als habe sich ihr einstiger bester Freund in einen dunklen, verführerischen Fremden verwandelt. Einen Fremden, dem sie sich nicht entziehen konnte. Und dem man nicht widersprechen konnte.

Bebend sah sie ihn an. „Bist du sicher?“

„Das bin ich. Sag Ja.“

Und in ihrem Inneren hatte ihre Antwort längst Gestalt angenommen, hatte ihr Wesen durchforstet und zu dem einzigen Wort verdichtet, das sie diesem Mann entgegenbringen konnte. Sie musste es nur noch aussprechen.

„Ja.“

2. KAPITEL

Nach diesem Ja war alles sehr schnell gegangen.

Sie hatten vereinbart, bereits am kommenden Samstag zu heiraten, und Rafe hatte darauf bestanden, dass sie Gennys Eltern gemeinsam und so schnell wie möglich von der Heirat in Kenntnis setzten.

In diesem Punkt war er unbeirrbar. Beinahe herrisch. Zunächst hatte Genny gezögert. Sie hatte zwar keine Angst, dass ihre Eltern etwas dagegen einzuwenden hätten, doch sie mussten ja nicht sofort von dem Baby erfahren. Vor allem ihr Vater. Er war unglaublich verständnisvoll, aber Gen wollte ihn auf keinen Fall enttäuschen.

Allerdings war Rafe auch in dieser Angelegenheit sehr deutlich gewesen. Er konnte ziemlich bestimmend sein – und dabei vernünftig und zielorientiert.

Daher hatte er auch beschlossen, als allererstes Eloise anzurufen. Seine Großmutter wusste am besten, wie man alles rechtzeitig in die Wege leitete. Sie war ein Fels in der Brandung.

Auf sie konnte Genny sich verlassen. Trotzdem konnte sie in dieser Nacht kaum schlafen. Unruhig wälzte sie sich in ihrem Bett hin und her und grübelte, ob dies auch die richtige Entscheidung war.

Am Morgen stand sie früh auf, nahm eine Dusche und ein leichtes Frühstück und bat ihre Mutter um eine Unterredung am Nachmittag.

Genny hatte ihr eigenes Apartment im Prinzenpalast. Dieser thronte hoch oben auf dem Kap Royale und bot einen ziemlich beeindruckenden Anblick. Ihr Leben lang hatte sie diese Räume bewohnt – und dabei gleichzeitig davon geträumt, wie es sei, im romantischen englischen Anwesen Hartmore zu leben.

Eine halbe Stunde vor der Besprechung mit ihren Eltern traf Rafe ein.

Sobald sie ihn sah, wich etwas von der Anspannung aus Gennys Körper. „Du siehst toll aus.“ Unwillkürlich hielt sie den Atem an. Er trug ein geschmackvolles, leichtes Jackett mit passender Hose und eleganten Schuhen.

Trotzdem wirkte seine Garderobe nicht übertrieben. Im Gegenteil. Sein Aufzug schien noch zu unterstreichen, dass er eine wilde, ungezähmte Seite hatte. Eine Seite, die er perfekt unter Kontrolle halten konnte – wenn er nur wollte.

Ein Raubtier in einem Maßanzug.

Sein schwarzes Haar lockte sich über den Kragen des Jacketts, und seine Augen sprühten wilde Funken. Und die Narbe über seiner Wange verlieh ihm diese seltsame, anziehende Andersartigkeit.

„Und du bist wunderschön“, entgegnete er in seiner ruhigen, formellen Art.

Aber das war sie nicht. Nicht wirklich. Ihre Mutter war wunderschön. Und ihre vier Schwestern. Genny hatte das unscheinbarste Äußere von allen. Sie fand ihr blondes Haar zu dünn und ihre braunen Augen nicht besonders auffällig. Hübsch, im besten Fall. Aber nicht schön.

Unruhig strich sie über die Jacke. Sie trug eine taillierte, weiße Jacke über einem einfachen, royalblauen Kleid. Ein Outfit, das hoffentlich dem Anlass gemäß war. „Danke. Hast du Eloise erreicht?“

„Ja.“

„Hast du ihr … von dem Baby erzählt?“

„Das habe ich.“

Genny schluckte. „Wie hat sie es aufgenommen?“

„Sie war in höchstem Maße erfreut.“

„Sie war nicht überrascht? Ich meine, dass du und ich … zusammen sind?“

Er sah sie an. In seinen Augen spiegelte sich unendliche Geduld. „Meine Großmutter kann überhaupt nichts überraschen. Das müsstest du doch wissen.“

„Ich …“ Sie wollte eine vage, nicht besonders ehrliche Antwort geben. Dann bremste sie sich. Warum lügen? „Ja. Das weiß ich.“

Immerhin hatte Eloise nie ein Geheimnis daraus gemacht, dass sie Genny gerne in der Familie der DeValerys aufnehmen würde. Allerdings hatte sie früher an eine Verbindung zwischen Genny und Edward gedacht.

Nicht nur, weil Genny Hartmore sehr zugetan war. Sie hatte auch Geld. Eine ganze Menge sogar. Und gigantische Anwesen wie das von Hartmore waren auf Geld angewiesen, wenn man sie instand halten wollte.

Der Großteil des Erbes war Genny von ihrer Patentante und Namenspatronin zugefallen, Genevra DeVries. Tante Genevra hatte nie geheiratet und hatte keine eigenen Kinder. Dafür hatte sie Genny zeitlebens so liebevoll behandelt, als sei sie ihre eigene Tochter.

Jetzt, da Edward nicht mehr am Leben war, sah eine vernunftbegabte und extrem pragmatisch denkende Frau wie Eloise sicher kein Problem darin, dass Genny ihren zweiten Enkelsohn heiratete. Genny wünschte, sie wäre nur halb so unerschütterlich wie Eloise.

„Meine Großmutter liebt dich“, stellte Rafe fest. „Vergiss das niemals.“

„Nein. Natürlich nicht …“

„Hab keine Angst, Liebes.“

Liebes. So nannte er sie, seit sie dreizehn Jahre alt war. Und sie hatte es immer gemocht.

Aber in diesem Augenblick war es mehr als verwirrend. Schließlich waren sie keine Freunde mehr. Nicht im wörtlichen Sinn. Und Liebende auch nicht. Sie waren drauf und dran, ein Ehepaar zu werden.

„Hab ich nicht. Dann los. Lass es uns hinter uns bringen.“

Gennys Eltern empfingen die beiden im Büro ihrer Mutter.

Es gab Tee und Gebäck, und wie immer saßen sie auf dem geschmackvollen Sofa mit dem schweren roten Samtbezug.

Ihre Hoheit Prinzessin Adrienne war eine elegante Erscheinung. Sie verkörperte den perfekten, zeitlosen Schick in ihren klassischen Chanel-Kostümen. Außerdem war sie ausgesprochen jung geblieben und konnte so manch jüngere Frau mit ihrem Aussehen in den Schatten stellen.

In ihrer gewohnt kultivierten Art erkundigte sie sich nach Rafes Familie. Doch der unverfängliche Small Talk war viel schneller vorüber, als Genny gehofft hatte. Sie bemerkte die fragenden Blicke ihrer Eltern und wusste, dass es an der Zeit war, sich ein Herz zu fassen.

Leichter gesagt als getan. Ihr Herz flatterte wie ein ängstlicher Vogel in einem Käfig und ließ sich kein bisschen fassen. Sie räusperte sich, doch es kam kein Wort über ihre Lippen.

„Gen.“ Rafe legte die Hand auf ihre. Und dann übernahm er die Führung. „Madam. Sir. Ich weiß, dass das jetzt unerwartet für Sie ist. Aber ich liebe Ihre Tochter von ganzem Herzen.“

Liebe sie von ganzem Herzen? Hatte er das gerade wirklich gesagt? Ihre Kehle war wie zugeschnürt. Sie versuchte ein Lächeln.

Rafe fuhr mit ruhiger, entschlossener Stimme fort. „Und Genevra hat mir die Ehre erwiesen, meinen Antrag anzunehmen. Wir werden heiraten. Daher bitte ich um Ihren Segen.“

Genny wartete gespannt auf die Reaktion ihrer Eltern. Die beiden tauschten einen überraschten Blick aus. Überrascht, ja – aber nicht auf eine unangenehme Weise. Oder täuschte sie sich?

Ihre Mutter fasste sich als erste. „Wir hatten ja keine Ahnung.“

Gen errötete. Rafe ergriff erneut das Wort. „Von heute an würden wir gerne zusammenleben. Wir möchten so schnell wie möglich heiraten, um … es offiziell zu machen. Deswegen haben wir uns überlegt, die Hochzeit am Samstag zu feiern. In der Saint Ann’s Kapelle in Hartmore.“

Ihr Vater zog die Brauen zusammen. „Samstag? Das ist in ein paar Tagen.“

„So schnell“, sagte ihre Mutter leise. Ihre schmale Hand flog an ihren Hals. Sie sah ihren Mann an.

Doch dieser war viel zu sehr damit beschäftigt, seine Tochter eingehend zu mustern. „Genevra, bist du krank?“

In diesem Moment wurde Genny klar, dass sie nicht länger schweigen konnte. Ihren Eltern gegenüber wäre es unfair, die Wahrheit zu verschweigen. Und Rafe gegenüber war es unfair, ihn alles alleine erklären zu lassen.

Sie öffnete den Mund. „Als Rafe das letzte Mal hier in Montedoro war, waren wir zusammen. Ich, äh, wurde schwanger. Und … Rafe besteht darauf, das Richtige zu tun. Also werden wir heiraten.“

Rafe berichtigte sie. „Wir wollen beide das Richtige tun. Und selbstverständlich will ich Ihre Tochter heiraten.“

Eine bedrückende Stille trat ein. Dann sagte ihre Mutter: „Oh. Ich verstehe.“

Gennys Vater schien sich nur mühsam zu beherrschen. Er wandte sich an Rafe. „Du weißt, dass wir sehr große Stücke auf dich halten, Rafael“, begann er. „Aber was zur Hölle hast du …“

„Evan.“ Seine Frau unterbrach ihn sanft.

Evan sah sie wild an, doch dann seufzte er. „Ja. Schon gut.“

Gen wäre am liebsten im Erdboden versunken. Es war furchtbar, ihren Eltern das anzutun – nachdem sie diese peinliche Unterredung schon mit ihren beiden Geschwistern durchgemacht hatten.

Und der arme Rafe! Er mochte ihre Eltern sehr. Die Situation war für ihn sicher mehr als unangenehm.

Davon abgesehen sollte man meinen, dass es heutzutage ausreichend Verhütungsmethoden gab. Natürlich hatten sie auch verhütet. Sie hatten Kondome benutzt. Jedes Mal. Und es waren einige Male gewesen …

„Ihr seid beide erwachsen“, meinte ihre Mutter diplomatisch. „Und selbstverständlich ist es eure Entscheidung. Aber ich will sicher sein, dass du das wirklich willst, Schätzchen.“ Genau das hatte Genny von ihrer Mutter erwartet.

Sie schluckte. Wollte sie das wirklich?

Es sprach so viel dafür. Das Geburtsrecht ihres Babys. Ihre lebenslange Freundschaft mit Rafe. War das nicht eine gute Grundlage für eine Ehe? Und mit ihm das Bett zu teilen würde ihr nicht schwerfallen.

Im Gegenteil. Wem wollte sie etwas vormachen? Der Sex mit Rafe war berauschend.

Und Hartmore …

Hartmore würde ihr gehören. Und auch, wenn sie es sich nicht ohne Weiteres eingestehen wollte, spielte Hartmore für sie eine enorm wichtige Rolle.

„Genevra?“, hakte ihr Vater nach.

Sie drückte Rafes Hand. „Ja.“ Ihr Tonfall war entschlossen. „Ich will es. Ich will Rafes Frau werden.“

Nach dem Gespräch mit ihren Eltern folgten drei endlose Tage voll Besprechungen, Meetings und Terminen mit Anwälten, Notaren und Steuerberatern, um die rechtliche und finanzielle Sachlage zu klären.

Am Freitag flogen sie schließlich nach England. Das Paar wurde von Gennys Eltern begleitet und von ihrer Schwester Aurora, die alle Rory nannten. Es sollte eine überschaubare, private Feier im engsten Familienkreis werden, und Rory wollte die Hochzeitsbilder machen.

Gennys jüngere Schwester war in jeder Hinsicht außergewöhnlich. Sie liebte das Abenteuer. Sie hatte ihren Bachelor-Abschluss der schönen Künste mit dem Schwerpunkt Fotografie an der Kunsthochschule in Chicago gemacht und bereits einige Bilder veröffentlicht, unter anderem im National Geographic, Country Digest und Birds & Blooms. Manchmal fand Genny ihre kleine Schwester fast ein bisschen einschüchternd.

Im Grunde fand sie all ihre Geschwister bisweilen einschüchternd. Sie schienen immer genau zu wissen, was sie wollten, und ihre Ziele mit Talent und Beharrlichkeit ins Auge zu fassen, bis sie sie erreichten.

Arabella reiste als Krankenschwester durch die ganze Welt und sammelte Spenden für notleidende Kinder. Rhia überwachte die Akquisition und Restaurierung von Kunstgegenständen in Montedoros Nationalmuseum. Und Alice züchtete und trainierte einige der besten Pferde der Welt.

Sicher, auch Genny hatte ihr Leben lang gewusst, was sie wollte: Herrin von Hartmore werden. Aber das war etwas anderes. Die Ambitionen ihrer Geschwister waren ungleich größer und bedeutsamer. Verglichen mit ihnen kam Genny sich oft vor wie das hässliche, graue Entlein, das in einer Familie anmutiger Schwäne lebte.

Vom East Midlands Flughafen wurden sie mit zwei Limousinen abgeholt. Rafe, Gen und Rory teilten sich einen Wagen mit zwei Bodyguards. Die Fahrt nach Hartmore dauerte eine gute Stunde, und anfangs versuchte Rory ein Gespräch in Gang zu bringen. Wie immer war sie voll Energie und tausend neuer Ideen und Pläne. Doch sowohl Gen als auch Rafe waren ziemlich schweigsam, sodass sie das Reden bald aufgab.

Schließlich fiel Gen in einen unruhigen Schlaf und erwachte erst wieder, als sie das gewaltige Nordtor zu Hartmore passierten. Der Anblick des geliebten Parks ließ ihr Herz schneller schlagen. Hier gab es riesige alte Eichen und Buchen, die den Weg durch das imposante Gelände zum Anwesen flankierten.

Das Haupthaus war im Georgianischen Stil erbaut. Zu beiden Seiten gab es einstöckige Verbindungshäuser, durch die man in den jeweils dreistöckigen Ost- und Westflügel gelangte. Das zentrale Giebeldreieck des Haupthauses wurde von sechs korinthischen Säulen getragen.

Von außen wirkte die Fassade jedes Mal aufs Neue beeindruckend. Aber Genny wusste, wie es um das Innere des Hauses bestellt war. Die gesamte Residenz umfasste zweihundert Räume. Mindestens ein Dutzend davon wies Wasserschäden auf, weil das Dach des Westflügels undicht war. In den kommenden Jahren würde eine ganze Menge auf sie zukommen, wenn sie das Haus instand halten wollte.

In diesem Augenblick dachte Genny an das erste Mal zurück, als sie Hartmore gesehen hatte. Als sie noch klein war, hatte ihre Mutter sie und ihre vier Schwestern Arabella, Rhiannon, Alice und Rory hierher mitgenommen.

Und im zarten Alter von fünf Jahren war ihr schlagartig bewusst geworden, was ihre Bestimmung war: Ein Leben in Hartmore. Es war wie eine Offenbarung. Hier gehörte sie hin.

Und heute, zwanzig Jahre später, hatte sie wieder genau die gleiche Empfindung. Sie kam nach Hause. Und diesmal für immer.

„Wir sind zu Hause“, sagte Rafe sanft und bestätigte ihren Gedanken.

Sie strich sich das Haar aus der Stirn und schenkte ihm ein zaghaftes Lächeln.

Nachdem sie ihr Gepäck verstaut und sich frisch gemacht hatten, trafen Genny und Rafe seine Großmutter in ihren Gemächern im Ostflügel.

Eloise Gräfin von Hartmore war verwitwet und hatte in ihrem Leben sowohl gute als auch schlechte Zeiten durchlebt – doch ihre Haltung und ihre Energie waren ungebrochen.

Zu Hause sah man sie meistens in abgetragenen Hosen und derben Gummistiefeln, gefolgt von ihren zwei Collies Moe und Mable. Sie war leidenschaftliche Hobbygärtnerin und hielt sich am liebsten im Freien auf.

Ihr längliches Gesicht war durchzogen von unzähligen kleinen Fältchen, und ihr straffes festes Haar war mit der Zeit fast weiß geworden. Sie trug es noch immer geflochten und zu einem strengen Dutt am Hinterkopf festgesteckt. Ihre blassblauen Augen strahlten Entschlossenheit und Tatkraft aus, und jede ihrer Gesten war wohlberechnet und kraftvoll.

Genny liebte sie. Mit ihrer aufrichtigen Art und natürlichen Autorität war sie die geborene Herrscherin. Und sie herrschte über Hartmore – mit wachsamen Augen und strenger Hand. Zumindest herrschte sie über Garten und Anwesen.

Als Genny und Rafe eintraten, befahl sie den Hunden zunächst, ihr Freudengebell abzustellen. Gehorsam trotteten sie zum Kamin und ließen sich auf ihrer Decke nieder. Dann breitete Eloise die Arme aus. „Mein liebes Mädchen. Endlich gehörst du zur Familie.“

Genny lief zu ihr und schmiegte sich an sie. Der vertraute Duft nach Lavendel und Limonen umfing sie. „Wie schön, dich zu sehen, Eloise.“

„Du bist ein bisschen blass, Kind.“ Eloise musterte sie von oben bis unten.

„Mir geht es gut. Wirklich.“

„Schön. Wir werden dich trotzdem aufmöbeln. Und ein bisschen Speck auf die Rippen bringen.“ Sie berührte Gennys Wange. „Ich bin so stolz darauf, dich am Ende doch noch zur Enkeltochter zu haben.“

Genny biss sich auf die Unterlippe und nickte. Was sollte sie dazu sagen? „Es … ist alles so überwältigend.“

Plötzlich drang Lärm vom Flur herein. Die Hunde spitzten die Ohren. Eine Sekunde später flog die Tür auf. „Genny!“ Geoffrey, Rafes achtjähriger Neffe, stürmte herein. Er trug noch immer seine Schuluniform und stürzte sich begeistert auf Genny. „Du bist wirklich hier!“

„Zügle dich, junger Mann“, befahl Eloise, doch sie konnte ihr Lächeln nicht verbergen.

Geoffrey warf sich in Gennys Arme. „Sie haben mir schulfrei gegeben, damit ich zur Hochzeit kommen kann“, erklärte er atemlos. „Granny sagt, du wirst jetzt meine Tante.“

„Ja, das stimmt.“

„Ich bin so froh! Hallo, Onkel Rafe!“ Der Junge wandte sich an Rafe, doch in diesem Augenblick trat seine Mutter ein. „Nicht so wild, Geoffrey.“

Brooke DeValery Landers, Rafaels Schwester, stand im Türrahmen und bot wie immer einen imponierenden Anblick. Sie trug elegante, türkisfarbene Leggins aus Seide, eine geschmackvolle weiße Tunika – und einen missbilligenden Ausdruck in ihrem schönen Gesicht. „Er soll sich nicht so aufregen. Das schickt sich nicht.“

Energisch strich sie durch ihr langes, glänzendschwarzes Haar und richtete den Blick auf Genny. Ihre blauen Augen funkelten gefährlich. „Wie nett, dich zu sehen, Genevra.“ Ihr Ton strafte ihre Worte Lügen.

Brooke war geschieden. Ihr Exmann war Amerikaner. Er lebte in den Staaten, wo er auch zum zweiten Mal geheiratet und zwei weitere Kinder hatte.

„Hallo, Brooke.“ Genny und Brooke waren noch nie besonders gut miteinander ausgekommen. Im besten Fall begegneten sie sich mit kühler Höflichkeit. Genny trat zu ihr und küsste die Luft neben ihren Wangen. „Du siehst gut aus.“

Brooke starrte an ihr vorbei und ihren Bruder an. „Ich nehme an, es gibt einen Grund zum Gratulieren.“

Rafe nickte. „Sehr richtig. Gen hat mich zum glücklichsten Mann der Welt gemacht.“

Geoffrey zupfte an Gennys Hand. „Stell dir vor, wir haben junge Kätzchen bekommen. Darf ich sie dir zeigen?“

„Geoffrey! Zuerst einmal wirst du dich umziehen. In diesen Kleidern geht man nicht in den Stall.“

Geoffreys Lächeln erlosch. „Aber ich würde Genny so gerne die Kätzchen zeigen …“

„Geoffrey. Sofort.

Mit hängenden Schultern folgte der Junge seiner Mutter nach draußen.

Genny sah ihm nach. Und sie nahm sich vor, sich Zeit für ihn zu nehmen, bevor er zurück ins Internat geschickt wurde.

Um acht Uhr traf sich die Gesellschaft zum Abendessen im Speiseraum. Genny liebte die Einrichtung, die vertraute Chippendale-Anrichte und den wuchtigen alten Tisch, an dem gut vierzig Personen Platz fanden.

Nur Geoffrey war nicht dabei. Brooke behauptete, er sei müde gewesen und früh zu Bett gegangen.

Die Gespräche während des Abendessens blieben unverfänglich. Rory zückte ihre Kamera und machte einige Bilder. Sie wollte am Montag nach Colorado reisen, um sich mit Clara, ihrer Lieblingscousine in der Bravo-Familie, zu treffen.

Eloise berichtete Genny von ihren Gartenplänen und den Obst- und Gemüsebeeten, die sie anlegen wollte. Gennys Eltern waren liebenswürdig und umgänglich wie immer.

Und Rafe war wie gewohnt still, aufmerksam und geduldig. Er aß langsam und verursachte kaum ein Geräusch mit dem wertvollen Silber. Genny versuchte, ihn nicht anzustarren, doch sie konnte die Augen kaum von ihm wenden. Sobald sie ihn ansah, ging ihre Fantasie mit ihr durch. Was würde in den kommenden Tagen zwischen ihnen passieren? Oder sollte sie sich fragen … Was würde nicht passieren?

Sie lenkte sich mit Erinnerungen an ihre gemeinsame Kindheit ab. Rafe war ein wilder, freiheitsliebender Junge gewesen. Seine Mutter Sabrina hatte einen Narren an ihm gefressen und weigerte sich, ihn zu bändigen. Sein Vater, Edward II, schien sich selten mit seinem Sohn zu befassen – außer, um ihm eine ungerechtfertigt harte Strafe zu erteilen.

Als sie sich das erste Mal begegnet waren, waren Genny fünf und Rafe dreizehn Jahre alt gewesen. Während sie mit kindlicher Bewunderung durch den Garten von Hartmore gelaufen war, war Rafe plötzlich von einer der alten Eichen gesprungen.

Sie hatte sich furchtbar erschrocken und war schreiend zum Haus zurück gerannt. Am nächsten Tag hatte er sie wieder erschreckt: Aber dieses Mal war sie tapfer stehengeblieben.

Am Ende ihres Besuchs waren sie ziemlich ungleiche Freunde geworden: der große, wilde Grafensohn und die zierliche Prinzessin.

Gennys Mutter hatte den beiden ihre aufregenden Streifzüge über das Anwesen erlaubt, solange Rafe ein Auge auf ihre Tochter hatte.

Bei einem dieser Ausflüge hatte er ihr erzählt, wie sehr er seinen Vater hasste. Und sie hatte zugegeben, dass sie gerne für immer in Hartmore geblieben wäre.

Im kommenden Herbst hatte sein Vater durchgegriffen und ihn auf das St. Pauls Internat in London geschickt. Zu jedermanns größtem Erstaunen hatte Rafe einen Erfolg nach dem anderen eingefahren. Anschließend besuchte er das Emmanuel College in Cambridge und schloss die Ausbildung als Klassenbester ab.

Eloise hatte oft bemerkt, dass Rafes wacher Verstand seinem starken Körper in nichts nachstand. Er hatte eine ungewöhnlich gute Auffassungsgabe und ein Händchen für Finanzen.

Das hatte ihm dabei geholfen, aus dem bescheidenen Erbe seines Onkels mit einigen geschickten Anlagen eine hübsche Summe zu machen, sodass er von nun an auf nichts und niemanden mehr angewiesen war.

Vor Edwards frühem Tod hatte Eloise einmal anklingen lassen, dass Hartmore besser versorgt wäre, wenn Rafael der offizielle Erbe wäre – anstelle seines charmanten, leichtherzigen Bruders.

Brookes hohles Lachen riss Genny aus ihren Gedanken. „Genevra, träumst du? Was in aller Welt starrst du so angestrengt an?“

Natürlich wusste sie es. Sie warf Rafe sogar ein anzügliches Grinsen zu.

Genny errötete. Doch so schnell wollte sie sich nicht geschlagen geben. „Dich natürlich, Brooke. Du trägst ein umwerfendes Kleid.“

Brooke sah sie verächtlich an. „Sicher. Also dann.“ Sie hob ihr Weinglas. „Auf das Eheglück. Auch wenn meine Erfahrung gezeigt hat, dass es nicht immer ein Glück ist.“

3. KAPITEL

Die Prunkzimmer von Hartmore waren der Öffentlichkeit von April bis Oktober zugänglich. Montags bis donnerstags von zwölf Uhr Mittag bis sechzehn Uhr gewährte man Besuchern einen Blick in die prachtvollen Säle und üppigen Speisezimmer.

Die Residenz hatte schon als Drehort für eine Verfilmung von Jane Austens Emma und einige BBC-Sondersendungen gedient.

Außerdem gab es die Möglichkeit, sich in Hartmore trauen zu lassen. Für Samstag hatten sich bereits zwei Paare angemeldet, für ein Uhr und vier Uhr am Nachmittag. Somit würde Genny und Rafe die Saint Ann Kapelle erst am späten Nachmittag zur Verfügung stehen.

Da die anderen Brautleute sowohl die Kapelle als auch den großen Festsaal für den Empfang gebucht hatten, würde Gens eigene Hochzeit in einem anderen Speiseraum stattfinden. Mit leisem Bedauern dachte sie an den prächtigen Festsaal, den sie schon als Kind geliebt hatte. Doch es ließ sich nun einmal nicht ändern.

Um viertel nach sechs schritt sie an der Seite ihres Vaters den schmalen Gang zum Altar hinab. Die Saint Ann war eine sechshundert Jahre alte kleine Kirche aus grobem Sandstein, und das Innere war über und über mit Blumenbouquets geschmückt.

Genny trug ein ärmelloses Kleid aus weißer Spitze, das sie vor drei Tagen in Montedoro erstanden hatte.

Rafe wartete am Altar. Er war in einen schwarzen Anzug gekleidet und sah aus wie ein junger Gott.

Die Szenerie war so unwirklich, dass Gen unwillkürlich blinzelte. Doch als sie die Augen wieder öffnete, bot sich ihr noch immer dasselbe Bild.

Rafe am Altar. Ihre Hochzeit!

Die Zeremonie ging wie im Flug vorüber. Sie gaben sich gegenseitig das Eheversprechen, bevor Rafe erlaubt wurde, seine Braut zu küssen.

Es war das erste Mal seit dem Abend in der Villa Santorno, als er ihr zum Abschied einen flüchtigen Kuss gegeben hatte. Gen erzitterte. Die kurze Berührung weckte in ihrem Körper ein tiefes, ungeahntes Verlangen.

In den vergangenen Tagen hatten sie sich kaum berührt. Dazu war auch kaum Gelegenheit gewesen zwischen Meetings, Einkäufen und Organisation.

Erst, als sie sich nach der Zeremonie für die Hochzeitsbilder aufstellten, begann die Tragweite ihres Handelns in Gens Bewusstsein zu sinken.

War sie verrückt geworden? Sie heiratete ihren besten Freund, der sich in den vergangenen Wochen mehr und mehr wie ein Fremder benommen hatte. Und sie bekam sein Kind! Jetzt war sie Mistress von Hartmore.

Es kam ihr vor wie ein seltsamer, weit entfernter Traum.

Nach dem Abendessen begab sich die Familie in den Wintergarten im Ostflügel. Hier wurden Hochzeitstorte und Champagner serviert, den Gen allerdings nur vorgab zu trinken, während Rory unermüdlich Fotos machte.

Gegen elf Uhr fand Gen sich in Rafes Schlafzimmer wieder. Seine Gemächer befanden sich im Ostflügel. Es gab das Hauptschlafzimmer, ein Ankleidezimmer, ein Badezimmer – und jenseits davon ein weiteres Schlafzimmer.

Die Einrichtung war zugleich üppig und geschmackvoll, und Gen liebte die reich verzierten Sofas und das schwere Himmelbett.

In diesem Moment konnte sie den Anblick jedoch kaum genießen. Sie saß an der schweren Kommode vor dem großen, antiken Spiegel und betrachtete voll Nervosität ihr Ebenbild in dem leicht angelaufenen Glas.

Sie trug ein weißes, tief ausgeschnittenes Etwas aus Satin – nicht mehr als ein Hauch von Nichts –, das sie zusammen mit dem Brautkleid gekauft hatte.

Ob sie es überhaupt gebraucht hätte? Noch war Rafe nicht aufgetaucht. So distanziert, wie er sich in den vergangenen Wochen benommen hatte, musste sie ja wohl befürchten, dass er auf getrennte Schlafzimmer bestand.

Und dann? Er konnte ihr nicht ewig ausweichen. Und Leidenschaft war schließlich nicht das Problem zwischen ihnen … Ihre kurze Affäre war jedenfalls ziemlich befriedigend gewesen. Zumindest für sie.

„Wenn du nicht gleich kommst, hole ich dich und zerre dich eigenhändig ins Bett“, murmelte sie.

„Das wird nicht nötig sein.“

Erschrocken wandte sie den Kopf. „Rafe! Du hast mich zu Tode erschreckt!“

Er war zur anderen Tür hereingekommen und sah sie an. Sein Blick war unlesbar. Die halbmondförmige Narbe zeichnete den falschen Hauch eines Lächelns in sein Gesicht. „Vergib mir.“

Unwillkürlich erinnerte sich Gen an den wilden Jungen, der er einst gewesen war. Er war stets misstrauisch, vor allem seinem Vater gegenüber. Nur ihr hatte er sich geöffnet. Doch seit dem Unfall schien er sich ebenso vor ihr zu verschließen.

Er zog die Stirn kraus. „Geht es dir gut?“

Himmel, das war furchtbar. Sie benahmen sich wie Fremde. Die Situation erschien Gen mit einem Mal so absurd, dass sie beinahe gelacht hätte. Aber nur beinahe. Sie erhob sich. Gleich darauf hätte sie sich am liebsten versteckt, weil ihr schmerzlich bewusst wurde, wie viel nackte Haut das zarte Nachthemd durchschimmern ließ.

„Ja, sicher. Ich … dachte schon, du möchtest lieber allein …“

Er schüttelte den Kopf. „Ich gehe nur rasch ins Bad. Ich bin in ein paar Minuten zurück.“ Mit diesen Worten wandte er sich ab, ging ins Badezimmer und schloss die Tür hinter sich.

Gens Herz schlug bis zum Hals. Für einige Sekunden stand sie unschlüssig in der Mitte des Raumes und blickte auf ihre nackten Füße. Dann straffte sie sich, ging zum Bett und knipste den Deckenfluter aus.

Sie zog die schweren Vorhänge beiseite und kroch unter die Decke.

Schließlich kam er zurück. Er trug nichts außer schwarzen, seidigen Boxershorts. Sein Körper war genauso durchtrainiert und hart, wie sie ihn in Erinnerung hatte.

Er löschte die Nachtlampe und legte sich neben sie ins Bett.

Selbst in der Dunkelheit war seine Präsenz überwältigend. Sie spürte seine Energie, seine wilde Kraft und die Hitze, die in kleinen Wellen von seinem Körper ausging.

Eine Minute lang lagen sie schweigend nebeneinander.

Dann konnte sich Gen nicht mehr beherrschen. Die Situation war einfach zu absurd. Ein hysterisches Lachen löste sich in ihrer Brust und blubberte hervor.

Erschrocken schlug sie die Hand vor den Mund, doch das Lachen ließ sich nicht ersticken. Schließlich gab sie nach und ließ es heraus. Ihr schmaler Körper schüttelte sich vor Lachen und wollte gar nicht mehr aufhören damit.

„Du findest das witzig, wie?“, fragte er in die Dunkelheit.

„Ich … Oh, Gott, ich …“ Ein neuer Anfall wirbelte ein irres Kichern aus ihrer Brust.

Und dann konnte sie es hören. Es begann mit einem tiefen, heiseren Ton. Es war unglaublich – aber Rafe brach ebenfalls in Lachen aus.

So lagen sie nebeneinander im dunklen Schlafzimmer. Es tat so gut, die Anspannung des Tages herauszulachen. Und es erinnerte Gen daran, wie sie früher zusammen gelacht hatten. Über jede Kleinigkeit konnten sie sich ausschütten. Wie viel Spaß sie immer gehabt hatten!

Als Kind hatte sie dieser Umstand unheimlich stolz gemacht – denn Rafe brachte sonst niemand so leicht zum Lachen. Aber in den vergangenen Jahren war er vorsichtiger geworden. Die Zeiten, in denen er mit ihr auf Bäume geklettert war, waren nun einmal vorbei. Dagegen hatte er sie immer mehr wie etwas Zartes, Zerbrechliches behandelt und war auf Abstand gegangen.

Das Lachen war verstummt. Die Stille, die jetzt eintrat, hatte nichts Peinliches. Im Gegenteil.

Und plötzlich kam Rafe näher und legte den Arm um sie.

Sie seufzte und lehnte den Kopf an seine starke Schulter. „Ich fürchte, ich habe mich gar nicht mehr unter Kontrolle.“

„Das müssen die Hormone sein.“ Er rieb ihren Arm.

Sie kuschelte sich an ihn. „Tja, das ist der Vorteil: Solange ich schwanger bin, darf ich mich ungestraft daneben benehmen.“

„Das hast du doch nicht.“

„Was?“

„Dich daneben benommen.“ Er gab ihr einen flüchtigen Kuss auf das Haar.

Schon besser. „Trotzdem. Ich halte mich nicht einmal mehr an meine eigenen Worte. Da bitte ich dich, vor meinen Eltern das Baby zu verschweigen, und dann rutscht es mir selbst heraus.“

„So bist du nun einmal.“

„Grundehrlich? Kreuzbrav?“

„Ja.“ Er klang vollkommen ernst.

Es war schön, dass er an sie glaubte. Aber im gleichen Augenblick regte sich in ihr das schlechte Gewissen. Wenn kein Baby unterwegs wäre, hätten sie nicht geheiratet. Und Gen hatte sich ihr Leben lang nichts sehnlicher gewünscht, als Herrin von Hartmore zu werden …

„Aber das bin ich nicht“, begann sie. „Ich bin nicht immer ehrlich gewesen …“

„Schhhh.“

Sie hob den Kopf. „Rafe, ich …“

„Schhhh“, wiederholte er. Dann berührte er ihren Hals. Er strich zaghaft über ihr Kinn und hob es an. „Gen.“

Seine Berührung brachte sie zum Schweigen. Es tat so gut, von ihm berührt zu werden. Sie hatte sich so danach gesehnt, ohne es sich wirklich einzugestehen.

Und dann – so zaghaft und vorsichtig, als wolle er eine Blüte berühren – legte er die Lippen auf ihren Mund.

Und küsste sie. Endlich.

Sie folgte seiner Bewegung und öffnete die Lippen, um ihn zu bestärken.

Er ging auf ihre Einladung ein und berührte mit der Zunge ihre Lippen.

Ein leiser Seufzer löste sich in ihrer Brust.

Er wandte sich ihr zu, und sein großer, starker Körper schmiegte sich an ihren.

Sie stöhnte auf, als ihre Brüste seine nackte Brust berührten. Mit beiden Händen packte sie seine Schultern und zog ihn dichter an sich heran. Ihr Nachthemd war verrutscht. Es bildete eine Kaskade von kühlem Satin um ihre Hüften. Gen brannte darauf, ihre nackte Haut an seiner zu reiben.

Sie kam näher und spürte durch den Stoff seine harte Erregung an ihrer Hüfte.

Er wollte sie.

Und sie wollte ihn. Wenn sie in dieser Nacht Sex hatten, konnte das womöglich alle Blockaden lösen, die sich zwischen ihnen gebildet hatten. Und außerdem war es ihre Hochzeitsnacht.

Sie hob die Hand und berührte sein Gesicht. Ihre Finger strichen über das zarte Gewebe, wo die Narbe seine Wange durchtrennte. Sie wollte ihn überall berühren.

Doch dann war es plötzlich vorbei. Wie aus dem Nichts heraus war alle Leidenschaft aus ihm gewichen. Er war starr und unbeweglich wie ein Fels.

Sie machte ein beruhigendes Geräusch und versuchte, ihn wieder in das Liebesspiel einzubinden.

Aber es war zwecklos. Er zog das Nachthemd über ihre Hüften und setzte sich aufrecht hin.

„Rafe, was …“

Er legte den Finger an ihre Lippen. Im Dunkeln waren seine Augen unergründlich. Sie hoffte, er würde etwas sagen – sich auf irgendeine Weise erklären –, doch es kam nichts. Nichts.

Er lehnte sich zurück. Dann zog er sie erneut an sich. Es war eine unaufgeregte, endgültige Geste. „Lass es uns für heute dabei belassen“, sagte er leise. „Alles wird gut.“

Sie wollte ihm glauben. Aber sie tat es nicht. Nicht wirklich. Und aus irgendwelchen Gründen erinnerte sie das an Edward.

Edward, ein großer schlanker Mann mit blauen Augen und goldbraunem Haar. Er war stets elegant – und so charmant und schmeichelnd, wie Rafe stur und zurückhaltend war. Er hatte immer schamlos mit Gen geflirtet. Und Gen hatte es schamlos gefallen. Jeder vielsagende Blick von ihm, jedes smarte Kompliment hatte sie buchstäblich aufgesogen.

Edward …

Vielleicht war es das, was sie tun mussten, um als Paar voranzukommen. Sich den unangenehmen Wahrheiten stellen und aussprechen. Wie Edwards Tod. Rafe weigerte sich beharrlich, darüber zu sprechen.

Gen nahm sich vor, es sofort zu versuchen. „Geht es hier vielleicht um Edward?“

„Schlaf jetzt, Gen.“

„Ich habe die Narbe auf deiner Wange berührt, und dann … ist es irgendwie schief gelaufen.“

„Nein.“

„Rafe, wir sollten wirklich darüber reden.“

„Lass es gut sein.“

„Nein. Nein, das werde ich nicht tun. Ich will wissen, was in dieser Nacht passiert ist. Ich weiß nur, was Eloise mir erzählt hat. Dass ihr von einer Party nach Hause gefahren seid. Von Fionas Party.“

Fiona Bryce-Pemberton war Brookes Busenfreundin. Die beiden hatten schon dieselbe Grundschule besucht und verbrachten seither so viel Zeit wie möglich miteinander.

Im Alter von neunzehn Jahren hatte Brooke einen reichen Banker geheiratet. Dieser hatte ihr einen imposanten Landsitz gekauft, Tillworth, der sich ganz in der Nähe von Hartmore befand.

„Eloise hat erzählt, dass ihr gegen zwei Uhr morgens aufgebrochen seid. Edward ist gefahren. Brooke wollte die Nacht bei Fiona verbringen. Demnach waren nur du und Edward im Wagen, als er von der Straße abkam und gegen die Eiche prallte. Und ich weiß, dass du von aller Mitschuld freigesprochen wurdest. Es war ein schrecklicher Unfall. Niemand konnte etwas dafür.“

Rafe lag vollkommen bewegungslos da. Sein Atem war flach. Dann löste er vorsichtig ihre Hand von seinem Arm und rückte von ihr ab. „Das ist alles. Mehr gibt es nicht zu wissen.“

Sie richtete sich auf. „Aber warum redest du nie darüber? Warum bist du so verschlossen? Und wieso willst du nicht, dass deine Narbe behandelt wird?“

Er sog scharf den Atem ein. „Was willst du hören? Dass ich mich beschissen fühle? Es war ein Alptraum. Aber ich lebe noch. Ich bin davongekommen. Und ich bin jetzt offizieller Erbe von Hartmore. Und was mein Gesicht angeht, so ist es vielleicht nicht das schönste, aber das interessiert mich einen Dreck. Wenn du es nicht ansehen willst, dann schau eben weg.“

„Oh, Rafe, das ist nicht fair. Du kannst nicht einfach …“

Er brachte sie zum Schweigen, indem er ihre Schultern packte und ihre Lippen mit einem harten, wütenden Kuss versiegelte.

Sie hob die Hände und wehrte ihn energisch ab, bis er von ihr abließ. „Was ist nur los mit dir?“

„Lass. Es. Gut. Sein.“ Jedes Wort war so hart und kalt wie ein Stein.

Sie berührte ihre Lippen, die von der Macht des Angriffs prickelten. „Das sieht dir gar nicht ähnlich. Das bist nicht du.“

„Ich mein’s ernst, Gen. Edward ist tot. Mehr gibt es dazu nicht zu sagen.“

„Doch, gibt es. Ich weiß, dass du ihn geliebt hast. Und er hat dich geliebt. Es muss dich doch umbringen, dass er …“

„Genug.“ Rafe schlug die Decke zurück und schwang die Beine aus dem Bett. „Gute Nacht.“ Dann verließ er das Zimmer.

Sprachlos blickte sie ihm nach. Er schlug die Tür nicht zu, stampfte nicht wütend auf, sondern verließ das Zimmer sehr leise.

Am liebsten wäre sie ihm gefolgt.

Aber nein. Das wäre keine gute Idee. Sie sollte es wirklich gut sein lassen. Für heute.

Sie kuschelte sich in die Kissen und legte die Hand auf ihren Bauch. Ob ihr Baby schlief?

Alles wird gut.

Irgendwie würden sie die Vergangenheit überwinden. Und einen Weg zueinander finden – als Liebende. Als Mann und Frau.

Niemals hätte sie zugegeben, dass sie ihre Entscheidung in Zweifel zog. Dass sie einen Mann geheiratet hatte, der ihr fremd geworden war.

Erst gegen drei Uhr früh fiel Gen in einen unruhigen Schlaf.

Kurz nach neun Uhr erwachte sie und fühlte sich wie durch die Mangel gedreht. Sie widerstand dem Impuls, sofort in das andere Schlafzimmer zu stürmen, und zwang sich, in aller Ruhe zu duschen und sich anzuziehen.

Danach klopfte sie leise an Rafes Tür.

Keine Reaktion.

Auch auf das zweite Klopfen folgte keine Antwort. Gen öffnete die Tür und fand das Zimmer leer vor.

Seufzend trat sie in den Flur hinaus. Ihr Bodyguard Caesar wartete bereits auf sie und begleitete sie in den Frühstücksraum. Caesar war ein angenehmer, stiller Begleiter, doch Gen war der Überzeugung, dass ihre Familie ihn völlig umsonst eingestellt hatte.

Niemand würde ihr etwas tun. Aber seit ihr Bruder Alex damals entführt und vier Jahre lang in Afghanistan gefangen gehalten worden war, mahnte ihr Vater stets zur Vorsicht. Sobald ein Familienmitglied Montedoro verließ, bestanden ihre Eltern auf einen persönlichen Leibwächter.

Das würde sich jetzt ändern. Schließlich war Hartmore ihr neues Zuhause – und kein fremdes Reiseziel. Gen würde Caesar nach Hause schicken, sobald ihre Eltern den Rückweg nach Montedoro antraten.

In dem großen, lichtdurchfluteten Frühstückszimmer war ein üppiges Buffet aufgebaut. Bis elf Uhr konnte man sich hier nach Herzenslust bedienen. Niemand war zu sehen. Gen nahm sich Toast und Apfelsaft und setzte sich an den langen, leeren Tisch.

Gerade, als sie die dritte Scheibe Toast mit Marmelade bestrich – offensichtlich wirkte sich die Schwangerschaft bereits auf ihren Appetit aus –, betrat Rory den Raum. „Gibt es Neuigkeiten?“

„Worüber?“

„Oh.“ Rory hob die Brauen. „Hat man es dir nicht gesagt? Geoffrey ist verschwunden.“

Gen blieb der Bissen im Hals stecken. „Wie meinst du das – verschwunden?“

Rory goss sich Kaffee in eine Tasse. „Als Brooke ihn vorhin wecken wollte, war er nicht in seinem Zimmer. Auf seinem Kopfkissen lag eine Nachricht. Er schrieb, dass er die Schule hasst. Und dass er nie wiederkommen will.“

Gennys Magen zog sich schmerzhaft zusammen. „Geoffrey … ist weggelaufen?“

Rory nickte betrübt. „Rafe, Eloise, die Gärtner und einige Angestellte sind draußen und suchen ihn. Sie drehen buchstäblich jeden Stein um.“

„Was ist mit Brooke?“

„Sie ist in ihrem Zimmer und hat vermutlich den fünften Nervenzusammenbruch. Mom und Dad kümmern sich um sie.“

Genny erhob sich. „Weißt du, wo die anderen suchen wollten?“

„Sie sagten etwas vom Steg … und von dem Pfad, der um den See herumführt.“

„Gut. Ich werde ihn beim Schloss suchen.“ Schloss Hartmore wurde im dreizehnten Jahrhundert erbaut und lag gut drei Kilometer vom Haupthaus entfernt. Heute war es nicht mehr als eine Ruine; sogar das Dach fehlte. Die verfallenen Überreste waren zwar wildromantisch, aber nicht bewohnbar.

Im letzten Sommer hatten Genny und Geoffrey gemeinsam die Ruine erkundet. Sie hatte das sichere Gefühl, dass der Junge dort Zuflucht gesucht hatte.

„Soll ich mitkommen?“, rief Rory ihr nach, als sie zur Tür hinausstürmte.

„Nein. Ich schaffe das schon.“

Wenige Minuten später verließ Genny das Haus durch einen Nebeneingang. Sie war in aller Eile in Jeans und Turnschuhe geschlüpft und rannte über die Wiese in Richtung Wald. Caesar folgte ihr unmittelbar.

Während sie den Weg zur Ruine einschlug, nagte in ihr das schlechte Gewissen. Sie hatte Geoffrey versprochen, sich Zeit für ihn zu nehmen. Doch in all dem Durcheinander der überstürzten Hochzeit hatte sie am Wochenende keine einzige Minute für ihn übrig gehabt.

Genny passierte den alten Friedhof, rannte über eine Lichtung und folgte dem schmalen Pfad eine Anhöhe hinauf zur Ruine. Kurz bevor das Schloss in Sicht kam, bat sie Caesar, Abstand zu halten, damit sie allein mit dem Jungen reden konnte. Der Bodyguard trat lautlos zwischen die Bäume und machte sich buchstäblich unsichtbar.

Wie immer wurde Genny von einem beinah ehrfürchtigen Gefühl erfasst, als sie sich der Ruine näherte. Selbst an einem warmen, sonnigen Frühlingsmorgen war das Schloss von einer eigentümlichen, gespenstischen Stille umgeben.

Die Zinnen zeichneten sich scharf gegen den blauen Himmel ab, und der verfallene Hauptturm ragte wie ein düsterer Krieger über die zerstörten Mauerwände.

In den vergangenen Jahrhunderten war dem Schloss stark zugesetzt worden. Steine waren entfernt worden, um Baumaterial für andere Gebäude zu gewinnen, und Wind und Wetter hatten das Bauwerk gezeichnet.

Trotzdem bot es noch immer einen imposanten Anblick. Genny musterte den verfallenen Eingang zum Schlosshof. Ob Geoffrey dort eingestiegen war? Bestimmt nicht. Man hatte ihn oft genug gewarnt, dass es im Inneren des Hofes nicht sicher war. Und Geoffrey war ein kluger Junge – er würde sich nicht in Gefahr bringen.

Einer Eingebung folgend ging Gen um das Schloss herum und zur steilen, der Sonne zugewandten Seite des Hügels. Hier fand sie den Jungen an die Mauer gekauert – unverletzt, aber mit einem unglücklichen Ausdruck im Gesicht.

„Hallo, Geoffrey.“

Seine Wangen waren verschmiert. „Hast du jetzt Zeit für mich?“, fragte er bitter.

Genny kam näher. „Du hast recht. Ich hatte am Wochenende keine Zeit für dich. Es war so viel los. Ich habe es versemmelt.“

Er sah zur Seite. „Ist doch egal. Mich will doch sowieso keiner. Mein Vater hat jetzt neue Kinder. Er hat mich völlig vergessen.“

„Bestimmt nicht. Dein Vater liebt dich. Auch wenn er in Amerika wohnt.“ Sie strich ihm eine Strähne aus der Stirn. „Würdest du gerne bei ihm wohnen?“

Der Junge schüttelte heftig den Kopf. „Nein! Ich will bei euch wohnen. Bei Granny und Rafe und dir.“

„Aber das tust du doch. Hartmore ist dein Zuhause.“

„Warum muss ich dann ins Internat gehen? Ich bin erst neun. Ich könnte doch hier im Dorf zur Schule gehen, wie alle anderen Kinder auch.“

„Weil du ein sehr kluger Junge bist, Geoffrey. Deine Mutter möchte dir die beste Ausbildung ermöglichen.“

Er schüttelte traurig den Kopf. „Mom will mich nur loswerden.“

Aber selbst Genny, die keine allzu hohe Meinung von Brooke hatte, konnte nicht glauben, dass die Frau ihren Sohn gerne wegschickte. Sie mochte eigensüchtig und streitbar sein – und sich bisweilen benehmen wie ein wütendes Kind –, aber sie liebte Geoffrey über alles. Sie konnte nur nicht besonders gut mit ihm umgehen.

„So etwas darfst du nicht einmal denken. Deine Mutter liebt dich sehr. Und sie möchte, dass du eine großartige Zukunft vor dir hast. Dazu gehört nun einmal eine gute Schule. Und ich bin sicher, dass du dort bald Freunde findest.“

Geoffrey ließ die Schultern sinken. „Das ist so schwierig.“

„Aber du wirst es schaffen“, ertönte eine tiefe Stimme.

Gen und Geoffrey blickten auf.

Es war Rafe. Er lenkte seinen schwarzen Hengst um die Ecke der Schlossmauer und dirigierte ihn vorsichtig um die Felsbrocken herum den Hang hinauf.

Beim Anblick seines Onkels entfuhr dem Jungen ein Freudenschrei. Er vergaß sogar, wütend zu sein, und rannte auf Rafe zu.

Dieser stieg vom Pferd, hob seinen Neffen hoch und wirbelte ihn durch die Luft.

Genny starrte ihn an. In seiner schlichten dunklen Reitkleidung wirkte er noch größer und muskulöser als sonst, und seine Bewegungen waren geschmeidig und kraftvoll.

„Du hast uns einen schönen Schrecken eingejagt“, erklärte Rafe streng, aber mit geduldiger Stimme.

Geoffrey sah ihn an. In seiner Miene spiegelten sich Schuldgefühle und eine unverhohlene Bewunderung. Es war unübersehbar, dass er seinen Onkel anbetete.

Rafe zog sein Mobiltelefon aus der Brusttasche, um der Familie Bescheid zu geben.

Der Junge blickte zu Boden. „Ich will nicht zurückgehen. Ich hasse das Internat.“

Rafe nickte. „Ich verstehe. Ich habe das Internat damals auch gehasst. Bis ich gemerkt habe, wie viele Vorteile ich gegenüber der normalen Schule hatte.“

Er legte Geoffrey sanft die Hand auf die Schulter. „Hast du mir nicht neulich erzählt, dass du gerne zum Aikido-Unterricht gehst?“

Geoffrey nickte. „Ja. Das macht Spaß. Und der Wissenschaftskurs auch. Wir dürfen sogar eigene Experimente machen.“

„Siehst du? In der Dorfschule wäre das nicht möglich.“

„Aber … die anderen mögen mich nicht.“

„Bist du dir da sicher? Oder liegt es vielleicht daran, dass du dir vorgenommen hast, nichts am Internat zu mögen? Vielleicht solltest du mal mit den anderen reden. Mir ging es damals genauso. Bis ich herausfand, dass die anderen genauso viel Heimweh hatten wie ich. Und so habe ich einen meiner besten Freunde kennengelernt.“

Genny beobachtete ihn beim Sprechen. Er war sanft und nahm sich alle Zeit der Welt, um den Jungen zu trösten. Eine Welle der Zuneigung erfasste sie. Wer so viel Verständnis aufbringen konnte, dem würde es nicht schwerfallen, sich am Ende zu öffnen – und ihrer Ehe die Chance zu geben, die sie verdiente.

Geoffrey streichelte den Hals des Pferdes. „Gehen wir nach Hause? Mom ist bestimmt traurig.“

„Ja, das machen wir.“ Rafe nickte Gen zu.

Gemeinsam kehrten sie zu der Stelle zurück, wo Caesar auf sie wartete. Gen und Rafe hatten Geoffrey in die Mitte genommen, der Hengst trabte hinter ihnen her.

Sie wirkten wie eine ganz gewöhnliche, kleine Familie.

Und der Gedanke machte Genny das Herz schwer.

4. KAPITEL

Schon als sie die Eingangshalle betraten, hörten sie Brookes Schluchzen.

Sie hatte sich auf einem zierlichen goldenen Sofa zusammengerollt und das Gesicht in den Händen verborgen.

Dann blickte sie auf. Sie sprang auf und eilte auf Geoffrey zu. Ihr Nachthemd und die zarte Chiffonrobe darüber umwehten sie beim Gehen, und als sie sich neben ihren Jungen kniete, wallten die Kleider wie Blütenblätter auf dem Boden. „Geoffrey. Mein Gott. Du hast mich zu Tode erschreckt.“

Sie packte seine schmalen Schultern und zog ihn an sich. „Wie konntest du nur?“

Gen und Rafe tauschten einen Blick. Beide hätten gerne eingegriffen. Brookes theatralisches Gehabe half im Moment niemandem. Aber ihr das zu sagen hätte alles nur noch schlimmer gemacht.

Ihr Schluchzen begann von Neuem. „Wie konntest du mir das antun? Du grausames, kleines Biest!“

Geoffrey wandte den Blick ab. „Sorry, Mom …“

„Sorry? Sorry!“ Sie packte ihn fester und schüttelte ihn ein wenig. „Mach das nie, nie, …“

„Brooke.“ Rafe trat neben sie. „Geoffrey ist nichts passiert. Er weiß, dass es falsch war. Könntest du dich ein bisschen zusammennehmen?“

Brooke fuhr herum. Sie richtete sich auf und warf ihrem Bruder einen wuterfüllten Blick zu. Dieser Blick schien an seiner Schulter abzuprallen und sich direkt gegen Genny zu wenden. „Du.“ Brooke spuckte ihr das Wort entgegen. Ihre blauen Augen funkelten voll selbstgerechtem Zorn. „Rory hat gesagt, dass du einfach auf die Suche gegangen bist, ohne jemandem Bescheid zu sagen.“

„Nun, ich habe Rory Bescheid gegeben, wie du selbst sagst“, stellte Gen richtig.

Brooke schniefte. „Du hättest mir Bescheid sagen müssen. Ich bin schließlich seine Mutter. Und ich war krank vor Sorge. Aber du musstest wieder einen Alleingang machen, nicht wahr? Eure Hoheit wollten unbedingt die Heldin spielen.“

Rafe hob warnend die Hand. „Brooke …“

Genny schüttelte den Kopf. „Schon gut. Es tut mir leid, Brooke. Ich hätte dir Bescheid sagen sollen.“

Brooke sah sie höhnisch an. „Oh, bitte. Es tut dir nicht im Geringsten leid.“

Hinter ihr betraten Eloise und ein Hausmädchen die Halle.

Brooke fuhr fort: „Ich durchschaue dich, Genevra. Immer bist du so süß und aufrichtig, und so nett zu allen.“

Geoffrey zupfte an ihrer Robe, aber Brooke ignorierte ihn und redete sich immer weiter in Rage. „Alle lieben dich, nicht wahr? Du bist ja auch so liebenswert. Und trotzdem findest du immer einen Weg, dich in den Mittelpunkt zu stellen.“

„Das reicht!“, brauste Rafe auf.

Geoffrey ballte die kleinen Hände zu Fäusten. „Mom, lass Tante Genny in Ruhe!“ Dann wirbelte er herum und rannte die Treppe hoch.

Brooke sah ihm entsetzt nach. „Geoffrey! Oh, Schätzchen …“ Sie brach erneut in Tränen aus, raffte dramatisch ihre Kleider zusammen und rannte ihm nach.

Genny wäre am liebsten im Erdboden versunken.

Rafe legte den Arm um ihre Taille und drückte sie. In all diesem Chaos war er ein wunderbarer Trostspender.

Eloise seufzte. „So ein Drama. Und das noch vor dem Mittagessen.“ Sie sah Genny aufmerksam an. „Mein liebes Mädchen. Ist alles in Ordnung?“

Gen brachte nur ein Nicken zustande.

„Natürlich.“ Eloise straffte sich. „Na schön. Dann will ich mal sehen, ob ich die Wogen glätten kann.“ Mit diesen Worten ging sie ihrer Enkelin nach.

Am späten Nachmittag traf sich die Familie zum Kaffee auf der Terrasse.

Jeder setzte eine fröhliche Miene auf und tat so, als sei nichts vorgefallen. Eloise schlug vor, einen Picknickkorb zu füllen und den Kuchen am See zu essen.

In diesem Augenblick stieß Brooke zu ihnen. Sie war perfekt geschminkt und frisiert und begrüßte die anderen höflich.

Als sie sich an Genny wandte, war sie ziemlich kleinlaut. „Genevra, hast du einen Augenblick Zeit für mich?“

Rafe blickte alarmiert auf, aber Genny legte ihm beruhigend die Hand auf den Arm. „Ist schon gut. Geht ihr schon mal vor zum See, ich komme gleich nach.“

Dann wandte sie sich an Brooke. „Natürlich. Lass uns nach draußen gehen.“

Sie gingen in den Garten und nahmen auf einer Bank Platz. Es herrschte ein unangenehmes Schweigen. Dann sagte Brooke: „Es tut mir leid, okay? Ich bin eine fiese Hexe. Das weiß jeder. Ich habe mich und meine Familie beschämt. Ich weiß nicht, was in mich gefahren ist.“

Genny wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Auf der einen Seite wollte sie keinen Streit. Auf der anderen Seite machte sie Brookes Verhalten wütend. Was auch immer diese Frau für Probleme hatte, am Ende trug sie sie fast immer auf dem Rücken des armen Geoffrey aus. Sie war blind für die Sorgen und Bedürfnisse ihres Sohnes.

In Wahrheit steckte noch viel mehr dahinter. Genny wusste, dass Brooke sich vernachlässigt fühlte. Edward war der Liebling ihres Vaters gewesen. Und Rafe war der Liebling ihrer Mutter. Brooke war oft übergangen worden.

Und dann kam Genny. Genny, die Prinzessin aus Montedoro, die schon im zarten Alter von fünf Jahren die Herzen in Hartmore höher schlagen ließ. Der Graf hatte sie immer verwöhnt. Die Gräfin und Eloise empfingen sie mit offenen Armen.

Brooke war noch immer niemandes Liebling. Aber jetzt gab es jemanden, dem sie dafür die Schuld geben konnte.

Und das war noch nicht alles. Es gab da auch noch Geoffrey, um dessen Aufmerksamkeit sie buhlen musste. Denn Geoffrey mochte Genny ebenfalls von Anfang an.

Genny hätte gut daran getan, sich weniger um den Jungen zu kümmern.

Aber wie sollte sie das machen? Man musste ihn einfach mögen. Er war clever und lieb und witzig, und Genny war ihm verfallen, seit Brooke ihn im Alter von drei Jahren von Amerika nach Hause gebracht hatte.

„Möchtest du mir nicht antworten?“, fragte Brooke säuerlich.

Genny sah sie direkt an. „Ich nehme deine Entschuldigung an.“

Brooke schürzte die Lippen. „Ja, sicher …“

Genny unterdrückte den Impuls, aus voller Lunge zu schreien. „Was willst du eigentlich von mir, Brooke?“

„Ich weiß auch nicht … Alles, was du mir genommen hast?“

Ein plötzlicher Schwindel erfasste Genny. Ihrem Baby gefiel die Anspannung überhaupt nicht. Sie stand auf. „Ich weiß, warum du mich ablehnst. Und ich kann sogar verstehen, warum. Aber in Wirklichkeit habe ich dir deinen Platz nicht streitig gemacht, und wir beide wissen das. Wenn du dich von deiner Familie übergangen fühlst, dann ist das deine Sache, Brooke. Es ist deine Sicht der Dinge. Und du würdest darunter leiden – ganz egal, ob es mich gibt oder nicht.“

Brooke seufzte. Ausnahmsweise lag nichts Theatralisches in ihrer Geste. Ihre Schultern sackten herab. „Ich habe Granny versprochen, die Dinge wieder geradezubiegen. Und Geoffrey auch. Ich schätze, wir müssen in Zukunft irgendwie miteinander klarkommen.“

Genny legte die Hand auf ihren Bauch und atmete tief ein. „Schön. Schließen wir einen Waffenstillstand. Ich werde mir Mühe geben – genauso wie du.“

Brookes Augen wurden zu schmalen Schlitzen. Ihr Blick glitt zu Gennys Bauch. „Du bist schwanger, stimmt’s?“

Am liebsten hätte sie geleugnet. Aber wozu? Brooke würde es ohnehin bald merken. „Ja.“

„Jetzt ergibt alles einen Sinn.“

Genny ignorierte die Bemerkung. „Rafe und ich sind sehr glücklich darüber. Ebenso wie Eloise.“

Brookes Gesicht wurde von einem unheilvollen Lächeln erhellt. Ihr schwarzes, seidiges Haar fiel wie ein Schleier darüber. „Dann darf ich dir gratulieren.“

„Danke.“

„Granny hat mich gebeten, Hartmore für eine Weile zu verlassen. Hast du das gewusst? Ich werde zu Fiona fahren. Es wird mir gut tun, wenigstens eine Person um mich zu haben, die mich mag.“

Genny hätte sie am liebsten bei den schmalen Schultern gepackt und geschüttelt. „Warum gibst du mir die Schuld daran, dass du dich in Hartmore nicht geliebt fühlst?“

„Habe ich je gesagt, dass ich mich hier ungeliebt fühle?“

„Das brauchst du gar nicht auszusprechen.“

Brooke atmete geräuschvoll aus. „Denk doch, was du willst.“

Gen riss sich zusammen. „War das alles, Brooke?“

„Oh. Ja.“

„Dann werde ich mich jetzt verabschieden. Ich wünsche dir eine gute Reise.“

Der restliche Tag verlief ohne weitere Zwischenfälle.

Nachdem Brooke und Geoffrey aufgebrochen waren, gesellte sich Genny zu den anderen. Sie verbrachten einen wundervollen, sonnigen Nachmittag am See, wo sie mit den Hunden spielten und in der Sonne lagen.

Am Abend gab es ein üppiges Dinner zu Ehren des Brautpaares. Danach zogen sich Gennys Vater und Rafe in den Salon zurück, während die Damen auf der Terrasse Platz nahmen. Wenig später verabschiedete sich Eloise und ging zu Bett.

Genny, Rory und ihre Mutter genossen den milden Abend und den Anblick des Sternenhimmels. Es war schön, mal unter sich zu sein. So sehr Genny Hartmore liebte, so sehr würde sie es vermissen, Zeit mit ihrer Mutter zu verbringen.

Gegen halb zwölf traten Rafe und ihr Vater auf die Terrasse. Genny fing Rafes Blick. Er durchfuhr sie von Kopf bis Fuß. Was würde heute Nacht geschehen? Würde er wieder auf getrennten Schlafzimmern bestehen? Sie konnte seinen Gesichtsausdruck nicht deuten. Wehmütig dachte sie an die Zeit zurück, als sie sich auch ohne Worte verstanden hatten.

Die Gruppe löste sich auf. Gens Familie verabschiedete sich und wünschte den beiden eine Gute Nacht.

Dann waren sie allein auf der Terrasse. Rafe sah sie aufmerksam an. Dann streckte er die Hand aus.

Gens Herz machte einen Satz.

Mit zitternden Knien folgte sie ihm in den Ostflügel.

Zwanzig Minuten später trat Genny aus dem Badezimmer und setzte sich neben Rafe auf das Bett.

Heute trug sie ein kurzes Sommernachthemd. Es wurde über den Schultern mit pinkfarbenen Schleifen zusammengehalten und war weit weniger offenherzig als das Satinkleid.

Mit scheuem Blick betrachtete sie Rafe. Seine nackte Brust war in das sanfte Licht der Nachtlampen getaucht. Er hatte den Körper eines Naturburschen, definiert und gut gebräunt. Es fiel ihr schwer, den Blick davon abzuwenden.

„Was hat Brooke gesagt?“, wollte er wissen und setzte ihrer Fantasie damit ein jähes Ende.

Gen seufzte leise. „Dass es ihr leid tut.“ Sie hatte überhaupt keine Lust, jetzt über seine impertinente Schwester zu sprechen. „Wir haben einen Waffenstillstand geschlossen.“

Er hob die Brauen. „So so. Aber ich nehme an, nach ihrer Aktion hättest du sie am liebsten erwürgt.“

Gen schluckte. „Ach was. Sie wird sich von nun an zusammennehmen.“

Rafe wirkte wenig überzeugt, doch er behielt seine Gedanken für sich. Dann meinte er: „Es ist ein Wunder, dass Geoffrey kein kleines Monster ist.“

Gen sah ihn entsetzt an. „Nein! Er macht das großartig. Und er weiß, dass sie ihn liebt … Auch wenn sie manchmal eine seltsame Art hat, es zu zeigen. Vielleicht liegt es daran, dass sie sich selbst nicht geliebt fühlt. Aber ich habe oft den Eindruck, Geoffrey ist erwachsener als seine eigene Mutter.“

„Schon möglich.“ Sein Blick verfinsterte sich. „Ich habe immer gehofft, dass Brooke etwas findet, das sie glücklich macht. Als sie Derrick kennenlernte, dachte ich, sie würde mit ihm glücklich werden – in Amerika. Aber sie hasste Atlanta.“

Derrick Landers entstammte einer alten Familie aus Georgia. Er war sehr erfolgreich in der Grundstückserschließung tätig und besaß ein beachtliches Vermögen.

„Ihre Ehe hat vier Jahre gehalten“, sagte Rafe nachdenklich. „Derrick hat Brooke nach der Scheidung sehr großzügig ausgezahlt. Aber sie war unglücklich. Und wütend. Ich habe das Gefühl, seither ist sie nur noch wütend.“

„Ich weiß nicht, Rafe. Es kommt mir eher so vor, als sei sie schon immer wütend gewesen.“

Rafe nickte langsam. Er roch nach Zahnpasta und einem Hauch Zigarrenrauch.

Gen sah ihn an. „Was habt ihr eigentlich im Salon gemacht?“, wechselte sie das Thema.

„Wir haben uns unterhalten. Und bei Brandy und Zigarren hat mir Evan einen väterlichen Rat erteilt.“

„Oh je.“ Gens Hals wurde eng. „War es schlimm?“

„Nicht im Geringsten. Ich habe deinen Vater immer gemocht. Er ist sehr gütig. Und verständig.“

„Und … was hat er dir geraten?“

Rafe lächelte. „Tut mir leid. Das bleibt unter uns.“

„Ich verstehe. Was im Herrenzimmer besprochen wird, bleibt im Herrenzimmer.“

„So könnte man es sagen.“ Er wandte sich ihr zu. Dann hob er die Hand und berührte zärtlich ihr Kinn.

Ein Schauer rann über ihren Rücken.

„Du duftest nach Rosen“, sagte er unvermittelt. „Schon seit deiner Kindheit.“

Gen wusste nicht, was sie darauf erwidern sollte.

„Jedes Mal, wenn es irgendwo nach Rosen duftet, muss ich an dich denken.“

Ein warmes Gefühl breitete sich in ihrem Bauch aus. „Das … hast du schön gesagt.“

Er sah sie ernst an. „Aber du hast dich verändert. Du bist kein Kind mehr. Du bist eine Frau geworden … meine Frau.“ Mit diesen Worten streifte er den Träger über ihre Schulter.

Unerwartet heftig bündelte sich die Hitze in ihrem Inneren und floss zwischen ihre Beine.

Sie wollte ihn. Jede Faser ihres Körpers sehnte sich nach seiner Berührung. Sie wollte seine nackte Haut, seine starken Arme um ihre Hüften. Sie wollte ihn in sich, so vollkommen und mächtig, bis er alle Grenzen überwand und ihre Welt zum Einstürzen brachte.

Aber da gab es eine Grenze, die zwischen ihnen stand: Edward.

Es war, als würde die Nacht des Unfalls wie eine düstere Barriere zwischen ihnen stehen. Und solange Rafe ihr nicht verriet, was ihm auf dem Herzen lag, würden sie immer getrennt sein.

Nach dem Unfall hatte er sich vier lange Monate nicht bei ihr gemeldet. Zur Beerdigung konnte er nicht kommen, weil er zu diesem Zeitpunkt noch im Krankenhaus gelegen hatte.

Und als Gen sich endlich ein Herz gefasst und ihn in der Villa Santorno gestellt hatte, hatte er sich ebenfalls gewehrt. Solange, bis Gen die Nerven verloren und ihn angeschrien hatte, dass er sich nicht länger verschließen dürfe.

Dass er sie nicht wegstoßen sollte, nach all den Jahren ihrer Freundschaft – in einem Moment, in der er sie wirklich brauchte.

Sie war außer sich gewesen vor Wut und Enttäuschung.

Bis er sie plötzlich gepackt und geküsst hatte.

Das hatte sie zum Schweigen gebracht.

„Erinnerst du dich an unseren ersten Kuss?“, fragte sie. Ihre Stimme bebte.

„Natürlich.“ Er rückte näher heran. „Ich wollte nie mehr aufhören, dich zu küssen.“ Er strich über ihre Wange und griff in ihr Haar. Dann packte er mit sanftem Griff ihren Nacken und zog sie dichter an sich.

„Aber du hast aufgehört“, flüsterte sie mit gespielter Empörung.

„Zuerst, ja. Aber dann habe ich dich angesehen. Du hast so heftig geatmet. Genau wie ich. Und ich konnte es nicht länger aushalten, ich musste dich berühren.“

„Ja“, wisperte sie atemlos. „Du hast mich hochgehoben und in das nächstbeste Bett getragen.“ Sie berührte seine unverletzte Wange. „Es war wundervoll.“

„Also … bereust du nicht, was geschehen ist?“

„Nein. Nein, das tue ich nicht. Du?“ Bitte, bitte, sag, dass du es nicht bereust.

Aber er konnte es nicht. „Ich habe dich ausgenutzt“, sagte er stattdessen.

„Ach, hör doch auf. Das hast du nicht. Ich bin kein Kind mehr, Rafe. Ich wollte es. Ich wollte dich und ich … nahm dich.“

„So, hast du?“ War er erfreut? Sie hoffte es.

„Ja, habe ich. Und ich bereue es kein bisschen. Obwohl wir etwas vorsichtiger hätten sein können. Wir hätten zumindest das Datum auf der Kondomschachtel prüfen sollen.“

„Das Wunder der späten Einsicht.“ Er legte die Stirn an ihre und umfasste ihre Schultern. Dann küsste er sie.

5. KAPITEL

Behutsam streifte er den anderen Träger von ihrer Schulter.

Das Nachthemd glitt hinab und entblößte die zarten Spitzen ihrer Brüste. Sie sog scharf den Atem ein.

„Irgendwelche Einwände?“, flüsterte er. Seine Lippen berührten ihre Wange.

Sie blickte hinab und fühlte sich mit einem Mal schrecklich nackt. „Ich …“

„Soll ich aufhören?“ Er streichelte ihr Dekolleté.

„Nein! Nein, hör nicht auf.“

„Bist du dir sicher?“ Seine Fingerspitze streifte ihren Nippel.

„Quäl mich nicht. Das ist grausam.“

Er warf ihr einen dunklen Blick zu. „Was weißt du schon über Qualen?“, fragte er. Seine Stimme war heiser vor Verlangen.

Sie hielt den Atem an. Ihr ganzer Körper verzehrte sich nach seiner Berührung. „Wenn du jetzt aufhörst“, brachte sie mühsam hervor, „dann fange ich an zu schreien. Wie damals in der Villa Santorno. Ich schreie das ganze Haus zusammen. Und dann wird mein Vater kommen und nachsehen, was los ist.“

Seine Brust hob sich verdächtig. „Nun, wie ich bereits sagte – er ist ein verständiger Mann.“

„Das denkst du. Vergiss nicht, dass er ein waschechter Amerikaner ist. Aufgewachsen im Wilden Westen.“ Sie lehnte sich näher an ihn. „Dort nimmt man die ehelichen Pflichten sehr ernst.“

„Ist das so?“ Er rückte von ihr ab und betrachtete ihre milchweiße Haut. „Sag bitte.“

„Oh, du …“ Sie errötete. „Bitte.“

Er sah sie nur an. Seine Blicke hinterließen brennend heiße Spuren auf ihrer Haut.

Endlich, endlich zog er die Bettdecke beiseite. „Setz dich auf. Ich will dich ansehen.“

Sein Tonfall ließ sie zittern. Gehorsam setzte sie sich auf. Das Nachthemd glitt über ihre Hüften. Rafe griff danach und streifte es über ihre Beine. Gen trug niemals Höschen zum Schlafen.

Jetzt war sie vollkommen nackt.

„Vollkommen“, flüsterte er. Er beugte sich vor und küsste die zarten Locken zwischen ihren Beinen.

Oh, es fühlte sich himmlisch an. Sie legte die Hand auf seinen Kopf, um ihn dichter an sich zu pressen.

Aber er sah mit strengem Blick zu ihr auf. „Heb die Hände über den Kopf.“

„Rafe …“

„Tu es. Jetzt. Heb sie hoch … Ja, so. Beweg dich nicht.“

Sie fluchte leise, aber sie bewegte sich nicht.

Er lehnte sich zurück und ließ den Blick über ihren Körper gleiten. Er nahm sich dabei viel Zeit. Quälend langsam streifte sein Blick ihre Brüste, ihren Bauch und das zarte Dreieck ihres Schritts. „Wunderschön.“

„Ich werde dich umbringen“, drohte sie atemlos.

„Daran habe ich keinen Zweifel. Behalte die Arme oben. Sitz still.“

Sie tat wie ihr geheißen. Aber er hatte ihr nicht verboten, zu schauen.

Und das tat sie. Sie betrachtete seinen festen, flachen Bauch, seine muskulösen Oberschenkel, die tiefe Narbe, die sich quer über sein rechtes Bein zog.

Und die Boxershorts, unter der sich deutlich seine Härte erhob.

Gut so. Sie war hier nicht die einzige, die Qualen litt.

Süße Qualen …

Plötzlich wurde sie von einer Erinnerung heimgesucht, die sie schon beinahe verdrängt hatte.

Es war in dem Sommer, als sie vierzehn wurde. Rafe war damals zweiundzwanzig. Eine Zeit, in der sie nicht im Traum daran gedacht hatte, jemals mit ihm im Bett zu landen.

Sie hatte einen dreiwöchigen Urlaub in Hartmore verbracht. Damals war alles leichter. Sie brauchten noch keine Bodyguards und konnte sich frei und sorglos bewegen.

Genny war mit ihrer Tante Genevra gekommen. Eines Nachmittags hatte sich ihre Tante zurückgezogen, um einen Mittagsschlaf zu halten.

Edward hatte wie immer mit ihr geflirtet. Er gab ihr das Gefühl, erwachsen zu sein. Eine Frau zu sein. Sie liebte dieses Gefühl.

Aber dann waren Freunde von ihm vorbeigekommen, um ihn abzuholen, und Gen war allein zurückgeblieben.

Rastlos war sie durch den Park und über das Gelände gestreift, um nach Rafe zu sehen. Sie hatte das große Bedürfnis, mit ihm zu reden.

Warum genau wusste sie im Nachhinein nicht mehr.

Dann hatte sie ihn gefunden. Er war unten am Steg. Aber er war nicht allein. Neben ihm saß eine zierliche, dunkelhaarige Frau, ungefähr in seinem Alter. Bei ihrem Anblick hielt Gen erschrocken die Luft an und duckte sich hinter einen Strauch.

Seite an Seite saßen die beiden auf dem Steg, hatten die Schuhe abgestreift und hielten die Füße ins Wasser. Sie unterhielten sich leise. Die Frau lachte. Dann neigte Rafe den Kopf und küsste sie.

Gen schlug die Hand vor den Mund, um nicht aufzuschreien. Und dann war da die Wut. Heiß kochte sie in ihrem Inneren auf und drohte sie mit ihrer überschäumenden Macht zu ersticken.

Autor

Lynne Marshall
<p>Die USA-Today-Bestsellerautorin Lynne Marshall war beim Schreiben eine Spätzünderin: Lange dachte sie, sie hätte ein ernsthaftes Problem, weil sie so oft Tagträumen nachhing. Doch dann fand sie heraus, dass sie diese einfach niederschreiben konnte und daraus tolle Geschichten entstanden! Diese Erkenntnis traf sie erst, als ihre Kinder schon fast erwachsen...
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