Bianca Extra Band 38

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AM STILLEN SEE DER SEHNSUCHT von DARCY, LILIAN
Vor zehn Jahren hat sie Tucker Reid das letzte Mal gesehen: Damals haben er und ihre Schwester zum Entsetzen der Familie ihre Hochzeit abgesagt. Als Daisy ihn jetzt aufsucht, ahnt sie immer noch nicht, warum die beiden sich getrennt haben: Weil Tucker sich in sie verliebt hat …

VERDACHT AUF LIEBE von MAJOR, MICHELLE
Schlimm genug, dass Liam ihr vor Jahren in der Highschool das Herz gebrochen hat. Jetzt wirft er Natalie allen Ernstes vor, sie würde seine geliebte Ziehmutter betrügen! Aber wenn Liam Natalie wirklich für schuldig hält - warum küsst er sie dann so zärtlich?

DU BIST MEIN SCHÖNSTES GEHEIMNIS von SIMS, JOANNA
Hundertmal hat Tyler die wunderschöne London charmant in sein Bett eingeladen, und neunundneunzig Mal hat sie lachend abgelehnt. Aber dann wird er eines Nachts davon wach, dass sie ihn beim Wort nimmt. Eine Affäre beginnt - mit ungeahnten Folgen …

WENN JEDE SCHNEEFLOCKE EIN KUSS WÄRE von WEAVER, AMI
Als der erste Schnee fällt, weiß Darcy: Es ist an der Zeit, nach Hause zu fahren. Ihr Onkel braucht Hilfe auf seiner Christbaumfarm. Doch dieses Jahr arbeitet dort auch Mack - Darcys Exmann! Wartet nach sieben Jahren ein Weihnachtswunder auf sie beide?


  • Erscheinungstag 22.11.2016
  • Bandnummer 0038
  • ISBN / Artikelnummer 9783733732660
  • Seitenanzahl 448
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Lilian Darcy, Michelle Major, Joanna Sims, Ami Weaver

BIANCA EXTRA BAND 38

LILIAN DARCY

Am stillen See der Sehnsucht

Die große Liebe auf den ersten Blick: Das war Daisy für ihn! Weshalb Tucker die Hochzeit mit ihrer Schwester platzen ließ. Daisy ahnt von seiner Sehnsucht nichts, bis sie nach zehn Jahren vor ihm steht …

MICHELLE MAJOR

Verdacht auf Liebe

Betrügt Natalie seine alte Nanny wirklich um Geld? Liam muss sie zur Rede stellen. Aber als er seine Highschool-Liebe wiedersieht, packt ihn ohne Vorwarnung überwältigendes Verlangen …

JOANNA SIMS

Du bist mein schönstes Geheimnis

Dass die Affäre mit Tyler in Montana süße Folgen hat, ändert nichts an Londons Plänen: Nach dem Sommer wird sie nach Virginia zurückkehren. Denn dort ist jemand, der sie mehr braucht als ihr charmanter Cowboy …

AMI WEAVER

Wenn jede Schneeflocke ein Kuss wäre

Am liebsten würde er Darcy sofort unter den nächsten Mistelzweig ziehen und küssen! Doch Mack muss sich diese Gefühle verbieten. Sie sind schließlich geschieden. Auch wenn er bis heute nicht weiß warum …

1. KAPITEL

Mary-Jane lachte. Man konnte ihr Lachen dreißig Meter entfernt durch eine geschlossene Tür und eine Hecke hören – ein wundervolles Geräusch an diesem milden Montag Mitte Oktober.

Daisy Cherry stieg die Stufen ins Büro der Ferienanlage hoch und fand ihre Schwester tränenüberströmt inmitten eines Haufens alter Fotoalben und Umzugskartons vor. „Hey, was ist so lustig?“

Mary-Jane hockte sich auf die Fersen, legte eine Hand auf die Brust und atmete tief durch. „Dads Schnurrbart und Moms Hochzeitshut. Diese Klamotten! Dieser Badeanzug! Sorry, ich weiß auch nicht, warum mich das so amü…“

„Ist doch gut“, unterbrach Daisy sie rasch.

Mit vierunddreißig Jahren und als Älteste der drei Cherry-Schwestern war Mary-Jane manchmal viel zu ernst und verantwortungsbewusst. In diesem Augenblick war ihr mittelbraunes Haar völlig zerzaust und ihr cremefarbenes Oberteil verschmutzt. Man sah ihr deutlich an, dass sie schon viel zu lange viel zu hart arbeitete.

Daisy und Mary-Jane hatten sich seit Daisys Rückkehr vor zwei Wochen öfter gestritten, was Daisys Meinung nach nicht an ihr lag. Es war daher ein gutes Gefühl, Mary-Jane ausnahmsweise mal fröhlich und entspannt zu erleben.

Leider dauerte dieser Zustand nicht lange an.

„Ich habe keine Zeit hierfür.“ Entschlossen stand Mary-Jane auf, wischte sich die Tränen mit einem zerknüllten Taschentuch aus dem Gesicht und verstaute die Fotoalben in einem Karton.

„Wo hast du sie gefunden?“

„Hier im Büro, unter einem Stapel Akten. Weiß der Himmel, wie sie dahinkamen.“

„Hast du schon gepackt?“

„Du meinst das hier?“ Mary-Jane zeigte auf die zum Teil noch leeren Umzugskartons, die sie und Daisy zu ihren Eltern nach Südkalifornien schicken wollten.

„Nein, ich meinte für deine Reise.“

„Ja, schon vor einer Woche.“ Mary-Jane wirkte plötzlich etwas angespannt.

Am nächsten Tag wollte sie nach Afrika fliegen. Sie war sehr reiselustig und nutzte ihren Singlestatus jedes Jahr in den April- und Novemberwochen aus, in denen das Spruce Bay Resort in den Adirondack Mountains geschlossen war. Daisy hatte jedoch manchmal den Verdacht, dass Mary-Jane insgeheim gar nicht Single sein wollte. Sie war seit vier Jahren allein, nachdem sie lange Jahre mit einer Beziehung verschwendet hatte, die nirgendwohin geführt hatte. So etwas ging natürlich nicht spurlos an einem vorbei.

Mary-Jane und ich sind so unterschiedlich, dachte Daisy nicht zum ersten Mal. Mary-Janes Liebe für Alex war beständig geblieben, als sie längst erloschen hätte sein sollen. Daisy hingegen kühlte anscheinend genauso schnell ab, wie sie entflammte.

Ich habe mich viel zu schnell in die Beziehung mit Michael gestürzt und nicht hinter seine Fassade geblickt. Das Scheitern unserer Beziehung war genauso meine Schuld wie seine.

Aber stimmte das wirklich? Daisy hatte keine Ahnung, sie wusste nur eins: Ohne das Debakel mit Michael wäre sie jetzt nicht hier, sondern immer noch in Kalifornien. Kein Wunder, dass Mary-Jane ihr unterstellte, aus den falschen Gründen zurückgekehrt zu sein. „Ich will nicht, dass du nur deshalb meine Geschäftspartnerin wirst, weil du vor deinem Privatleben davonläufst.“

Spruce Bay hatte diesen Herbst einen Monat früher geschlossen, weil die Anlage renoviert werden sollte, bevor Mary-Jane und Daisy die Leitung übernahmen; ihre Eltern zogen sich endlich in den wohlverdienten Ruhestand in Südkalifornien zurück. Mary-Jane würde daher den Großteil des Oktobers auf Safari in Afrika verbringen. Zuerst hatte sie gar nicht fahren wollen, doch Daisy und ihre Eltern – und Lee in Colorado – hatten darauf bestanden.

„Mach dir keine Sorgen, ich komm die drei Wochen auch ohne dich zurecht“, versicherte Daisy ihr, als sie den gestressten Gesichtsausdruck ihrer Schwester sah. „Hey, ich habe in einem großen Fünfsternerestaurant in San Francisco Desserts gemacht, da komm ich auch mit einer Crew Handwerker zurecht. Ich habe schon jede Menge Ideen für den Umbau des Restaurants und für die neue Speisekarte.“

„Daran zweifle ich auch gar nicht.“

„Woran denn dann?“

„Manchmal bist du eben sehr impulsiv, Daisy. Bei Michael hast du es dir auch ganz schnell anders überlegt. Ich will nicht, dass hier das Gleiche passiert.“ Mary-Jane machte eine Geste, die das offene Fenster umfasste, durch das man den blauen Himmel und die Tannen sehen konnte, deren Nadeln einen intensiven Duft verströmten.

Daisy hörte die Nadeln im Wind rauschen. Es war so schön und friedlich in Spruce Bay, dass es manchmal fast schmerzte. „Keine Sorge“, versicherte sie ihrer Schwester. „Spruce Bay ist mein Zuhause.“

Mary-Jane musterte sie skeptisch. „Echt? Sogar nach zehn Jahren Abwesenheit?“

„Klar. Ich hätte selbst nicht damit gerechnet, so zu empfinden, aber ich liebe diesen Ort.“

„Okay, dann ist ja alles in Ordnung.“

Die Atmosphäre zwischen ihnen entspannte sich wieder.

„Was das Gelände angeht“, fuhr Daisy nach einer Weile fort, „sollten wir die Neugestaltung vielleicht zeitgleich mit den Renovierungsarbeiten vornehmen lassen, dann, wenn die Anlage sowieso geschlossen ist. Mit der Bepflanzung müssten wir natürlich bis zum Frühjahr warten, aber das Wichtigste wäre dann schon geschafft.“

„Das stimmt“, räumte Mary-Jane ein. „Aber wir sind mit der Renovierung der Hütten im Verzug, weil die Planung länger gedauert hat als gedacht. Das Gelände ist doch völlig in Ordnung, so wie es ist.“

„Ist es nicht.“

„Okay, vielleicht nicht. Aber beides gleichzeitig ist nicht zu schaffen. Lass uns bis zum Frühjahr warten.“

„Das brauchen wir vielleicht gar nicht. Ich habe nämlich gestern bei Reid Landscaping angerufen und für heute einen Termin vereinbart. Wenn alles glatt läuft, können wir vielleicht schon anfangen …“

Mary-Jane sprang entsetzt auf. „Du hast was?“

„Einen Termin vereinbart. Morgen um zehn.“

„Mit Reid Landscaping?“ Das klang weniger wie eine Frage als wie ein Vorwurf.

„Reid ist der beste Landschaftsarchitekt in der Gegend“, rechtfertigte Daisy sich.

„Tucker Reid?“

„Ja.“

„Wie kannst du nur so ignorant sein, Daisy?“, brauste Mary-Jane auf. „Ausgerechnet Tucker Reid!“

„Einen Moment mal …“

„Tucker Reid!“, wiederholte Mary-Jane mit nur mühsam verhohlener Ungeduld.

Schon gut, so begriffsstutzig war Daisy nun auch wieder nicht! „Das ist zehn Jahre her, Mary-Jane“, entgegnete sie gereizt. „Es handelte sich um eine geplatzte Verlobung, nicht um eine Scheidung, und es war in gegenseitigem Einvernehmen. Lee und Tucker haben ihre Entscheidung gemeinsam bekannt gegeben, schon vergessen? Außerdem wohnt Lee zweitausend Meilen weit weg in Colorado.“

„Bist du wirklich so naiv?“, fragte Mary-Jane wütend. „Weißt du wirklich nicht, warum Lee und Tucker ihre Hochzeit abgesagt haben?“

„Klar weiß ich das! Sie haben gemerkt, dass sie nicht zusammenpassen und dass sie noch viel zu jung für einen so wichtigen Schritt waren. Ich finde, es war eine kluge Entscheidung.“

„Lee war dreiundzwanzig und Tucker vierundzwanzig, so jung ist das gar nicht. Wir waren alle überglücklich über ihre Verlobung. Glaubst du wirklich, die Trennung war Lees Entscheidung?“

„Sie ist glücklich mit ihrem jetzigen Leben.“

„Inzwischen ja, aber das hat sehr lange gedauert. Jahrelang“, fügte Mary-Jane hinzu, als wisse sie, wovon sie sprach. Vermutlich dachte sie mal wieder an ihre eigenen Erfahrungen mit Alex Stewart.

„Dann hast du also etwas gegen Tucker Reid?“

„Er hat Lee einfach so fallen gelassen! Sie haben zwar so getan, als würden sie sich in gegenseitigem Einvernehmen trennen, aber so war das gar nicht. Der eine Grund war Lees Unfall und der andere …“ Mary-Jane verstummte plötzlich.

Daisy sah sie entsetzt an. „Der Unfall? Ist das dein Ernst? Nur weil Lee hinterher ein paar Narben hatte?“

Mary-Jane war sichtlich nervös. „Zum Teil ja“, bestätigte sie.

„Hältst du Tucker wirklich für so oberflächlich?“ Aus irgendeinem Grund war Daisy schockiert. Und enttäuscht. Es wäre ihr nie in den Sinn gekommen, die Motive von Lees Ex zu hinterfragen, aber damals, mit einundzwanzig, war sie so mit ihrem eigenen Leben beschäftigt gewesen, dass sie sowieso nicht viel darüber nachgedacht hatte.

Sie wusste noch genau, welchen Eindruck Tucker bei ihrer ersten Begegnung auf sie gemacht hatte. „Der ist wohl eher der schweigsame Typ, oder?“, hatte sie ihre Mutter gefragt und das weder als Kompliment noch als Kritik gemeint. Tucker war absolut nicht ihr Typ gewesen, aber ihrer Meinung nach hatte er gut zu Lee gepasst. „Sehen Mom und Dad ihn genauso kritisch?“, fragte sie ihre Schwester.

„Sogar noch kritischer als ich“, erwiderte Mary-Jane. „Aber das liegt daran, dass sie keine Ahnung hatten …“ Sie verstummte wieder.

„Niemand hat mir je davon erzählt!“

„Du warst ja auch nicht da, und wenn doch, war Lee meistens gerade zu Besuch, sodass wir nicht darüber geredet haben.“

„Ich verstehe. Ehrlich gesagt, bin ich etwas … schockiert.“

„Schockiert?“

„Ja. Ich hätte Tucker so etwas nie zugetraut.“

Mary murmelte irgendetwas Unverständliches vor sich hin.

„Und was war der andere Grund?“

„Ach, egal“, antwortete Mary-Jane ausweichend.

„Aber du hast doch gerade gesagt…“

„Lass uns einfach das Thema wechseln, okay?“ Mary-Jane presste stur die Lippen zusammen.

Daisy gab es auf. Sie würde jetzt sowieso nichts mehr aus Mary-Jane herauskriegen. „Lass mich mit Lee sprechen“, schlug sie vor. „Und mit Tucker. Sollte sich herausstellen, dass es gute Gründe gibt, die Umgestaltung des Geländes zu verschieben, dann machen wir das eben, aber falls nicht … hier geht es doch nur ums Geschäft. Wir brauchen privat nichts mit ihm zu tun haben.“

„Aber Lee …“

„Lee ist stärker, als du glaubst. Sie ist …“ … mit ihrem Singledasein viel glücklicher als du, Schwesterherz.

„Lee war damals unglücklicher, als du ahnst!“

„Aber sie ist doch gar nicht von der jetzigen Situation betroffen. Sie lebt in Colorado.“

„Ich geb’s auf“, murmelte Mary-Jane genervt. Sie verließ das Büro und schloss die Tür hinter sich, um keinen Zweifel daran zu lassen, dass sie das Gespräch als beendet betrachtete.

„Weißt du was?“, fragte Daisy laut in den leeren Raum hinein. „Ich auch.“

Natürlich stimmte das nicht ganz. Daisy hatte keineswegs die Absicht, vorschnell aufzugeben. Warum sonst stieg sie vierzig Minuten später in einem frischen Outfit vor dem Gebäude von Reid Landscaping aus ihrem Wagen? Sie hatte versucht, Lee zu kontaktieren, um ihre Pläne mit ihr zu besprechen, doch Lees Handy war ausgeschaltet gewesen, sodass Daisy ihr nur eine Nachricht hinterlassen hatte.

Eigentlich hatte sie erst morgen einen Termin mit Tucker, aber sie hatte beschlossen, den Ursachen für Mary-Janes Überreaktion noch rechtzeitig vor deren Abreise nach Afrika auf den Grund zu gehen. Manchmal musste man sich eben etwas anstrengen, wenn man ein Problem lösen wollte. Zumindest war das Daisys Motto.

Das große Blockhaus von Reid Landscaping war als Aushängeschild für die Firma sehr eindrucksvoll. Daisy hatte das Firmengebäude bisher noch nie gesehen. Vor zehn Jahren war Reid Landscaping nichts weiter als ein ambitionierter Traum Tuckers gewesen, über den er kaum je gesprochen hatte, noch nicht mal mit Lee, und auch bei Daisys Besuchen zu Hause war sie nie in dieser ruhigen Straße am Waldrand gelandet.

Sie war auch Tucker nie begegnet und wusste daher nichts über ihn. Gut möglich, dass er inzwischen verheiratet war und drei Kinder hatte … oder er war ein Frauenheld, der sich nicht festlegen wollte.

Sie hob den Blick zum ersten Stock, wo sich eine Wohnung mit Balkon zu befinden schien. Ein runder Holztisch und zwei Stühle luden zu einem kühlen Drink an einem lauen Sommerabend ein. Das Gelände selbst sah sehr vielversprechend aus, doch Daisy hatte keine Zeit, sich umzusehen. Das würde sie nachholen, sobald sie sich mit Tucker einig war.

Eine Glocke über der Eingangstür kündigte ihre Ankunft an. „Ich hatte gehofft, vielleicht kurz mit … äh … Mr. Reid sprechen zu können. Ist er da?“, fragte sie die Frau an der Rezeption. „Ich bin Daisy Cherry vom Spruce Bay Resort.“

„Ach ja, wir haben neulich telefoniert. Spruce Bay liegt doch am See zwischen Mission Point und Back Bay, oder? Tolle Lage. Ich bin übrigens Jackie, die Teamleiterin.“

„Stimmt, genau da liegen wir. Schön, Sie kennenzulernen Jackie. Bei mir ist ein unerwartetes Problem aufgetaucht, und ich würde gern fünf Minuten mit Mr. Reid sprechen, bevor wir uns morgen treffen.“

„Ich sehe mal nach, ob er da ist.“

„Das wäre lieb von Ihnen, danke!“ Daisy setzte sich in einen bequemen Ledersessel, während Jackie eine Nachricht an Jack in ihr Handy tippte. Ob Lee Daisys Nachricht schon gelesen hatte?

Daisy sah sich im Empfangsbereich um. An der Wand zu ihrer Rechten befanden sich jede Menge Fotos – Vorher- und Nachher-Aufnahmen von Projekten sowie Fotos vom Team. Auch Tucker selbst war zu sehen, im dunklen Anzug und mit kurzem Haar und Orlando-Bloom-Bart bei einer Preisverleihung und ganz leger in Shorts und Hemd mit hochgekrempelten Ärmeln, breit in die Kamera grinsend.

Er sah genauso aus wie vor zehn Jahren und zugleich ganz anders. Er war muskulöser und hatte mehr Lachfältchen um die Augen. Er wirkte viel selbstbewusster und strahlte eine unglaubliche Energie und Präsenz aus – die Zuversicht eines Mannes, der seine großen Pläne erfolgreich in die Tat umgesetzt hatte.

Dieses Lächeln … wow! Strahlend und zufrieden und voller Lebensfreude.

Daisy konnte sich nicht erinnern, ihn früher so gesehen zu haben. In jenen Tagen vor der Hochzeit hatte er eher angespannt und nachdenklich gewirkt, fast reizbar. Er hatte kaum gelächelt … falls überhaupt je. Irgendwie hatte sie damals anscheinend einen völlig falschen Eindruck von ihm bekommen.

Andererseits hatte sie auch keine Chance bekommen, ihn besser kennenzulernen, da kurz darauf die Hochzeit geplatzt war und Daisy nur wenig später für drei Monate nach Kalifornien gezogen war, um ein Praktikum bei einem berühmten Dessertkoch zu machen. Sie war so beschäftigt gewesen, dass sie nicht weiter über die Gründe für Lees und Tuckers Trennung nachgedacht hatte. Erst seit Mary-Janes Andeutungen ging ihr das Ganze im Kopf herum. Und was hatte Mary-Jane eigentlich gemeint, als sie von einem anderen Grund gesprochen hatte …?

In diesem Augenblick klingelte ihr Handy: Lee.

„Sorry, dass ich deinen Anruf verpasst habe. Was gibt’s?“

„Du klingst ja völlig außer Atem.“ Daisy war erleichtert, Lees Stimme zu hören. Sie wollte die Situation unbedingt klären, bevor sie mit Tucker redete.

„Ich komme gerade vom Joggen. Schieß los.“

Daisy zögerte einen Moment. „Hör mal, ich bin gerade bei Reid Landscaping …“

„Oh. Wow. Du meinst Tuckers Firma?“

„Ja.“

„Du spielst mit dem Gedanken, ihn für Spruce Bay einzuspannen?“

„Ja, aber Mary-Jane hat Zweifel.“

„Meinetwegen?“

Typisch Lee, direkt zur Sache zu kommen. „Genau.“

„Das ist absolut lächerlich!“

„Finde ich ja auch, aber ich dachte, ich rede lieber mit dir.“

„Ich habe kein Problem damit. Nur zu.“

Daisy lachte erleichtert. „Du bist die effizienteste Gesprächspartnerin, die ich kenne, Lee.“

„Nur wenn ich dringend unter die Dusche muss. Mal im Ernst, die Hochzeitsvorbereitungen damals kommen mir vor wie aus einem anderen Leben. Ich habe mich verändert. Mary-Jane projiziert nur ihre eigenen Probleme auf mich.“

„Dieser Gedanke kam mir auch schon.“

„Klar war ich damals tief verletzt, aber das ist lange her.“

Daisy bekam ein schlechtes Gewissen. „Davon habe ich gar nichts mitbekommen.“

„Du warst ja auch kaum da. Aber inzwischen weiß ich, dass es die richtige Entscheidung war, die Hochzeit abzusagen. War das vorerst alles?“

„Ja. Du kannst jetzt gern duschen gehen.“

Kaum hatte Daisy das Telefonat beendet, vibrierte das Handy auf dem Tresen der Teamassistentin. Jackie warf einen Blick auf das Display. „Okay, Sie haben Glück, Ms. Cherry.“

„Sagen Sie ruhig Daisy zu mir.“

„Daisy. Hübscher Name.“

„Danke.“

„Tucker kann Sie jetzt sprechen. Er kommt jeden Moment rein.“

Daisy sprang auf. „Kann ich ihn vielleicht draußen abfangen? Ich will hier drin nicht stören.“ Aus irgendeinem Grund fühlte sie sich plötzlich beengt und sehnte sich nach frischer Luft.

„Klar, gehen Sie durch diese Tür da drüben. Sie müssten ihn gleich sehen.“

Daisy war irgendwie neugierig auf Tucker. Würde er immer noch so ernst und zurückhaltend auf sie wirken wie früher? Oder war er so oberflächlich wie Mary-Jane ihm unterstellte – jemand, der seine Verlobte eiskalt fallen ließ, nur weil sie ein paar Brandnarben am Kinn, am Hals und an den Schultern hatte?

2. KAPITEL

Tucker war bewusst, dass es eine reine Verzögerungstaktik von ihm war, Pflastersteine zu verlegen, zumal er sich gar nicht auf die Aufgabe konzentrieren konnte, sodass er nicht nur die Begegnung mit Daisy Cherry hinauszögerte, sondern auch noch seine kostbare Zeit verschwendete.

Er seufzte genervt.

Was ihn nicht davon abhielt, nach einem weiteren Pflasterstein zu greifen. Körperliche Arbeit half ihm eigentlich immer, den Kopf freizukriegen. Das wusste er schon, seitdem er wegen der Krankheit seines Vaters viel zu früh in dessen Fußstapfen hatte treten müssen. Schon damals hatte er körperlich gearbeitet, wenn ihn etwas mental beschäftigt hatte, sei es mit Laub harken im Garten seiner Eltern oder indem er im örtlichen Gartencenter ausgeholfen hatte.

Oder wie jetzt sinnlos mit Pflastersteinen herumhantierte.

Was ihm in diesem Augenblick zu schaffen machte, war, dass er nicht gern an seine Beziehung mit Lee zurückdachte. Und schon gar nicht daran, welche Rolle Daisy bei alldem gespielt hatte.

Nein, das war nicht fair, denn Daisy selbst war damals völlig ahnungslos gewesen.

Die Schuld lag einzig und allein bei mir.

Das Ganze wäre um ein Haar in einer Katastrophe geendet, und es war nicht ihm zu verdanken, dass sie in letzter Sekunde noch abgewendet worden war. Er hatte seitdem öfter mit dem Gedanken gespielt, Lee einfach mal anzurufen und sich nach ihr zu erkundigen, aber bisher hatte er sich nie dazu überwinden können.

Frag doch ihre Schwester. Jetzt hast du die Gelegenheit dafür. Daisy weiß bestimmt, wie es Lee geht.

Als er Lee vor zehn Jahren hatte heiraten wollen, weil es ihm nach ihrem Unfall als das Richtige erschienen war, hatte er lediglich ein vages, aber nagendes und nicht abzuschüttelndes Gefühl gehabt, dass etwas nicht stimmte. Und dann hatte Daisys Besuch bei ihren Eltern alles endgültig aus dem Ruder laufen lassen.

Tucker hatte ihre Ankunft vom ersten Stock aus beobachtet, und ihr Anblick hatte ihn förmlich umgehauen. Er wusste noch genau, wie ihr blondes Haar und ihre Ohrringe in der Nachmittagssonne geleuchtet hatten. Sie hatte eine Jeans mit einer weißen Bluse und irgendein nutzloses, aber schönes Tuch in lebhaften Farben getragen, das sich bei ihrer stürmischen Umarmung mit Lee verheddert hatte. Ihre fröhliche und lebendige Ausstrahlung hatte ihn so fasziniert, dass er den Blick gar nicht von ihr hatte losreißen können.

Er war sich wie ein Voyeur vorgekommen, wie ein Verräter, doch er war machtlos dagegen gewesen. Als man sie wenig später einander vorgestellt hatte, war es noch schlimmer geworden. Sie von Nahem zu sehen, war noch überwältigender gewesen als ihr Anblick aus der Ferne.

Wow.

Einfach nur wow.

Tucker hatte das nicht gewollt, wirklich nicht.

Er hatte Lee heiraten wollen.

Oder sich vielmehr gewünscht, sie heiraten zu wollen.

Aber irgendwie hatte sich das mit Lee falsch angefühlt, obwohl eine Freundschaft seiner Meinung nach eine gute Basis für eine stabile Ehe war. Es konnte fatale Auswirkungen haben, wenn man seinen Impulsen nachgab und sich allein von seinen Emotionen und Leidenschaften leiten ließ, das hatte er bei seinem Vater mit angesehen. Nein danke, Tucker gab harter Arbeit jederzeit den Vorzug.

Deshalb hatte er das mit Daisy auch nie weiterverfolgt. Sie war eine Illusion gewesen und noch dazu komplett ahnungslos, was seine Gefühle für sie anging. Was auch besser so war …

Daisy sah Tucker ein Stück entfernt Pflastersteine in einem der Ausstellungsbereiche verlegen. Wie auf einem der Fotos im Empfangsbereich trug er eine abgetragene Jeans und ein kariertes Flanellhemd mit hochgekrempelten Ärmeln.

Er richtete sich auf und trat einen Schritt zurück, um sein Werk zu begutachten. Die Schultern lockernd, warf er einen Blick auf sein Handy, bevor er sich umdrehte und in Daisys Richtung ging. Erst als er das Handy wieder einsteckte und den Blick hob, schien er sie zu bemerken.

Daisy winkte ihm zu und ging ihm entgegen, damit sie womöglich nicht doch hineingingen. Sie wollte unter vier Augen mit ihm sprechen, um herauszufinden, ob Mary-Jane mit ihrer schlechten Meinung über ihn recht hatte.

Tucker blieb stehen und wartete, bis Daisy ihn eingeholt hatte. Sein unverwandter Blick verunsicherte sie irgendwie. Er wirkte genauso undurchschaubar auf sie vor wie vor zehn Jahren.

Ernste schweigsame Männer waren damals nicht ihr Fall gewesen, aber inzwischen sah sie vieles anders, und Tucker Reid war in natura sogar noch beeindruckender als auf den Fotos in seinem Büro – stark, verlässlich und solide. Und auf eine sehr männliche Art durchtrainiert. Man sah ihm die harte körperliche Arbeit im Freien deutlich an.

Trotzdem war es gut möglich, dass er ein Idiot war. Oberflächlich und eiskalt. Oder ein Frauenheld. Oder alles zusammen.

„Hallo, Daisy“, begrüßte er sie schwach lächelnd. Sie wollte ihm die Hand reichen, doch als er ihr seine schmutzigen Handflächen zeigte, zuckte sie verlegen die Achseln und ließ die Hand wieder sinken. „Lange nicht gesehen.“

„Stimmt.“

„Jackie hat gesimst, dass du lieber draußen mit mir reden willst?“

„Hat sie das?“

„Ja, vor etwa zehn Sekunden. Das Internet hat die Welt wirklich revolutioniert, oder?“

Die meisten Menschen würden eine solche Bemerkung mit einem Lächeln begleiten, aber offensichtlich nicht Tucker. „Ja, es ist schon seltsam“, bestätigte Daisy. „Aber ganz praktisch.“

Er zeigte auf eine Bank in der Sonne. „Wollen wir uns vielleicht hierhin setzen? Da ist es windgeschützt. Bei diesem Wetter ist es hier draußen angenehmer als drinnen.“

„Sehe ich genauso.“ Oh ja, Tucker wirkte genauso zurückhaltend und distanziert wie früher, beschränkte sich auf kurze Sätze und allgemeine Floskeln.

Steif setzte Daisy sich auf die sonnenbeschienene Holzbank. Das friedliche Plätschern eines Springbrunnens in der Nähe machte ihr bewusst, wie angespannt sie innerlich war.

Kannten wir uns damals eigentlich selbst, Mary-Jane, Lee, Tucker und ich? Was verschweigt Mary-Jane mir? Und warum bin ich eigentlich so nervös, jetzt, wo ich hier bin?

„Was kann ich für dich tun?“, fragte Tucker und setzte sich neben sie. Mit gebührendem Sicherheitsabstand. Was sollte das denn?

„Du weißt, dass wir morgen in Spruce Bay einen Termin haben?“

„Ja, schon.“ Er zuckte die Achseln und lächelte verkrampft.

Daisy wurde plötzlich bewusst, dass sie keine Ahnung hatte, was sie sagen sollte. Auf dem Hinweg hatte sie sich dieses Gespräch so einfach vorgestellt, aber offensichtlich hatte sie sich geirrt. Tucker wartete anscheinend darauf, dass sie das Wort führte, was sie zutiefst verunsicherte. Sie konnte ihn schließlich nicht direkt fragen, ob er vor zehn Jahren aus völlig egoistischen Motiven mit ihrer Schwester Schluss gemacht hatte und ob er noch derselbe Mann war wie damals. Aber irgendeinen Grund für ihr unangemeldetes Auftauchen musste sie ihm nennen.

Sie beschloss, möglichst ehrlich zu sein. „Mary-Jane hält es für falsch, deine Firma für unsere Ferienanlage zu engagieren, weil du mal mit unserer Schwester verlobt warst.“

„Ach“, sagte Tucker nur.

Was ungefähr genauso unbefriedigend war wie alles andere, was vor zehn Jahren von ihm gekommen war – ein Händeschütteln, beiläufige Worte und ein paar sehr seltsame Blicke.

Daisy wartete darauf, dass er etwas hinzufügte. Nach einer Weile sagte er tatsächlich etwas, auch wenn ihr das nicht weiterhalf: „Und wie siehst du das?“ Er rutschte noch ein Stück weiter von ihr weg. Paradoxerweise machte diese Bewegung ihr seine Gegenwart nur umso bewusster. Er war so stark und muskulös. Irgendwie … einschüchternd.

„Ich … Ich habe kein Problem damit. Deshalb hatte ich den Termin mit dir vereinbart, ohne ihr vorher Bescheid zu sagen.“

„Und jetzt ist es doch ein Problem für dich?“

Er hatte die Augen wegen der Sonne zusammengekniffen, doch sie sahen trotzdem noch unglaublich blau aus. Daisy fragte sich, was gerade in ihm vorging. Sein Gesichtsausdruck gab keinerlei Aufschluss darüber.

„Nein, ich …“ Sie zögerte. „Na ja, ich hielt es für besser, wenn wir uns vorher noch mal unterhalten. Mary-Jane ist ziemlich empfindlich und …“ Daisy setzte sich etwas gerader hin, um sich zumindest einen Anschein von Kontrolle zu geben. „Ehrlich gesagt, finde ich, dass sie in diesem Fall unrecht hat. Ich habe mit Lee telefoniert, und sie hat grünes Licht gegeben. Aber ich will Mary-Jane zumindest versichern können, dass wir beide alles Nötige vorher geklärt haben und die Vergangenheit nicht zwischen uns steht.“

Tucker holte tief Luft. „Wie geht es Lee eigentlich?“, fragte er. „Lebt sie noch in Colorado? Ist sie verheiratet? Hat sie Kinder?“ Nach kurzem Zögern fügte er hinzu: „Ist sie glücklich?“

Gott sei Dank fiel Daisy die Antwort auf diese Frage leicht. „Ja, sie lebt noch in Colorado, und sie ist sehr glücklich. Mann und Kinder gehören zurzeit allerdings nicht zu ihrem Lebensplan.“

„Nicht?“ Tucker sah Daisy aufmerksam an.

„Zumindest sagt sie das. Ich habe sie ein paar Mal in Colorado besucht, und sie machte einen sehr glücklichen Eindruck auf mich.“

„Freut mich zu hören. Toll.“

„Ja, das finden wir alle.“

„Vermutlich findet ihr auch, dass Lees Befinden mich nichts angeht, weil ich zum falschen Zeitpunkt aus ihrem Leben verschwunden bin, oder?“

„Das gilt nur für Mary-Jane, nicht für mich“, versicherte Daisy ihm hastig.

„Du meinst, sie macht mich dafür verantwortlich, dass die Hochzeit abgesagt wurde?“

„Sieht so aus.“

„Sie sollte sich kein Urteil über Dinge erlauben, die vor langer Zeit passiert sind!“

„Mary-Jane wird keine Probleme machen, glaub mir“, sagte Daisy. „Sie reist morgen nach Afrika ab.“

„Afrika?“

„Ja, sie verreist öfter. Sie wird drei Wochen lang weg sein. Ich meine, ich weiß ja nicht, wie voll euer Terminkalender ist, aber …“

„Ziemlich voll.“

„Oh. Okay.“

„Mal sehen, ob ich euch noch einschieben kann. Meinst du, sie lässt sich umstimmen, wenn wir die Entwürfe und den Kostenvoranschlag bis zu ihrer Rückkehr schon fertig haben?“

„Ehrlich gesagt, habe ich gehofft, ihr könnt vielleicht schon eher anfangen.“

„Ich fürchte, daraus wird nichts.“

Anscheinend war Reid Landscaping sehr gefragt. Daisy war die Vorstellung sehr unangenehm, so zu wirken, als würde sie Anspruch auf eine Sonderbehandlung erheben. Sie hätte sich dieses Gespräch anscheinend sparen sollen. „Wenn das so ist, reichen der Kostenvoranschlag und die Pläne vollauf.“

„Ist es okay, wenn ich dich jetzt Jackie übergebe?“ Tucker machte keinen Hehl daraus, dass dieses Gespräch für ihn beendet war. Er wirkte so gleichgültig, dass Daisy sich allmählich fragte, ob er den Auftrag überhaupt wollte.

Unbeholfen stand sie auf. „Natürlich. Du hast offensichtlich viel zu tun“, sagte sie steif.

Tucker schloss gequält die Augen und seufzte. „Tut mir leid, das war unhöflich von mir.“

„Du bist beschäftigt.“

„Jackie kennt sich einfach besser mit den Preisen und den Lieferfristen aus als ich, und sie hat ein gutes Gespür für Design. Ich habe jetzt tatsächlich einen Termin, aber das ist natürlich trotzdem kein Grund, dich einfach so abzufertigen. Sorry.“

„Schon gut.“

Er lächelte, diesmal entspannter und offener als vorhin. Er wirkte plötzlich viel weniger distanziert und einschüchternd. „Sieh dich hier ruhig ein bisschen um und lass dir von Jackie Fotos von früheren Aufträgen und die Kataloge unserer Lieferanten zeigen, um ein paar Ideen zu bekommen.“

„Mach ich. Dann sehen wir uns also wie geplant morgen?“

„Ja. Ich freu mich schon drauf.“

Doch Daisy sah ihm an, dass er sich keineswegs freute.

Tucker ließ die schief verlegten Pflastersteine links liegen und ging durch den Seitenausgang zu seinem Wagen. Während er darauf wartete, dass der Motor warmlief, beobachtete er verstohlen, wie Daisy sich auf dem Gelände seiner Firma umsah. Sie trug eine leuchtend blaue Jacke im Biker-Stil und eine schwarze Hose und ging langsam von Schaustück zu Schaustück.

Sie trat einen Schritt zurück, um die in der Morgensonne glitzernde Fontäne eines Springbrunnens zu betrachten, bevor sie wieder näher trat und eine Hand über ein Stück Schiefer gleiten ließ. Sie nahm einen schwarzen Topf mit Bambus und stellte ihn auf den Schiefer, als wolle sie die Farbkombination ausprobieren, bevor sie ihn wieder behutsam zurückstellte.

Genau das hatte Tucker schon vor zehn Jahren so fasziniert – Daisys ausgeprägter Sinn für Schönheit, ihre kreative Energie und das Strahlen, das von ihr auszugehen schien.

Der Motor war inzwischen warmgelaufen, sodass Tucker keinen Vorwand mehr hatte, im Wagen sitzen zu bleiben. Auf der anderen Seite war Daisy gerade so versunken in das, was sie tat, dass sie nichts um sich herum wahrzunehmen schien … genauso wie an jenem ersten Tag.

Nur gut, dass es ihm damals gelungen war, seine Gefühle vor ihr zu verbergen!

Auch Lee hatte keine Ahnung gehabt, genauso wenig Marshall und Denise.

Tucker konnte sich noch gut daran erinnern, wie Marshall ihn in sein Büro gebeten hatte. „Ich kann es immer noch kaum glauben, Tucker. Meine schöne tapfere Tochter tut zwar so, als hättet ihr diese Entscheidung gemeinsam getroffen, aber mich könnt ihr nicht zum Narren halten. Du bist hier eindeutig die treibende Kraft. Du ziehst dich schon seit Wochen zurück und hältst sie auf Abstand. Sollte es daran liegen, dass sie seit ihrem Unfall entstellt ist …“

„Marshall, sie ist doch nicht …“ Tucker war das Wort nicht über die Lippen gekommen. Er hatte es noch nicht mal gedacht.

„Hast du etwa ein Problem damit? Ist das Wort dir zu direkt? Oder trifft es einfach nur den Nagel auf den Kopf, was deine Gefühle angeht?“

Nein, das Gespräch war alles andere als angenehm gewesen. Tucker hätte damals um ein Haar Daisys Namen fallen lassen, hatte sich jedoch gerade noch rechtzeitig gebremst. Marshall sollte ruhig glauben, dass Lees Unfall die Ursache für die geplatzte Hochzeit war. Damit konnte Tucker leben.

Er hatte Daisy nicht in den ganzen Schlamassel mit hineinziehen und Lee damit noch mehr verletzen wollen. Damit hätte er alles nur noch schlimmer gemacht. Also hatte er sich vorgenommen, einfach abzuwarten, bis sich die Wogen glätteten und sich dann mit Daisy zu treffen, um sich zu vergewissern, ob er immer noch … ob sie … ob es vielleicht irgendeine Chance für sie gab …

Doch dazu war es nie gekommen.

Als Tucker den Parkplatz verließ, musste er wieder daran denken, wie er der sehr aufgekratzten Daisy ein paar Tage nach der geplatzten Hochzeit in einem Geschäft begegnet war. „Du siehst ja heute so fröhlich aus“, hatte er zu ihr gesagt, seine Freude über das unverhoffte Wiedersehen hinter einer dunklen Sonnenbrille verbergend.

„Stimmt, ich bin total aufgeregt. Ich fliege morgen nach Kalifornien, um ein Praktikum bei einem berühmten Konditor anzufangen. Das hat sich so schnell ergeben, dass ich gar nicht weiß, wo mir der Kopf steht! Jemand hat abgesagt, und ich war anscheinend die Zweite auf der Liste. Wahnsinn, oder? Also … es war schön, dich zu sehen, Tucker, aber ich muss jetzt los.“

Und das war’s gewesen.

Er hatte die Sache mit Daisy nie weiterverfolgt. Wozu etwas hinterherjagen, von dem sein Verstand ihm sowieso abriet? Etwas, das vielleicht nur ein Symptom für die wahren Probleme zwischen ihm und Lee gewesen war? Etwas, das niemand in ihrer Familie gutheißen würde? Etwas, das das Schicksal ihm ohnehin aus der Hand genommen hatte?

„Zehn Jahre …“, murmelte er vor sich hin.

Zehn Jahre waren seitdem vergangen, doch er empfand immer noch das Gleiche für Daisy, so verrückt das auch war. Es war, als habe damals der Blitz eingeschlagen. Seitdem war nichts mehr so wie vorher.

Magie.

Chemie.

Wie auch immer man es nennen wollte.

Seine Gefühle für Daisy waren noch immer genauso stark wie damals, und er misstraute ihnen genauso sehr. Er hatte sie vorhin jedoch mannhaft vor Daisy verborgen – hoffentlich mit Erfolg, denn an seinen Prinzipien hatte sich nichts geändert.

Es gab da unter anderem eine so unwesentliche Kleinigkeit wie eine Heiratsurkunde. Vielleicht war es altmodisch von ihm, aber seiner Meinung nach durfte ein Mann, der verheiratet war, keiner anderen Frau hinterherlaufen, ganz egal, unter welchen Umständen.

„Ich habe heute deinen Halbbruder gesehen“, teilte Tuckers Mutter Nancy ihm am selben Abend mit.

Sie hatte ihn zu sich gebeten, um das tropfende Abflussrohr unter der Küchenspüle zu reparieren und die Glühlampe oberhalb der Treppe auszuwechseln. Letzteres selbst zu machen hatte Tucker ihr ausdrücklich verboten, weil sie dafür auf einen Stuhl steigen und sich vorbeugen musste.

Tucker war stolz auf seine Mutter, die ihren Alltag ansonsten völlig allein bewältigte. Schlank und attraktiv wie sie war, hätte sie bestimmt wieder heiraten können, wenn sie gewollt hätte, doch soweit Tucker wusste, war sie noch nicht mal ansatzweise in die Nähe einer Beziehung gekommen. Ein paar Mal hätte er sie fast gefragt, ob es daran lag, dass sie seinem Vater immer noch hinterhertrauerte … oder ob er sie so tief verletzt hatte, dass sie niemandem mehr über den Weg traute. Doch er hatte seine Neugier gezügelt.

„Ach ja?“

„Ja. Er arbeitet in der Bankfiliale Ecke Maple und Twenty-second Street. Ich habe dort ein paar Schecks eingelöst“, erklärte Tuckers Mom. „Normalerweise gehe ich nie dorthin, aber ich kam zufällig vorbei, als ich Blumen ausgeliefert habe.“ Sie hatte nach dem Tod ihres Mannes einen eigenen Blumenladen eröffnet. „Er sieht so erwachsen aus. Ich glaube, er ist inzwischen volljährig.“

„Kommt ungefähr hin.“

„Er hat mich nicht erkannt, oder zumindest hat er sich nichts anmerken lassen, genauso wie ich.“

Tucker wusste nicht, was er dazu sagen sollte. Jonah war bei der Beerdigung ihres Vaters erst drei Jahre alt gewesen. Tuckers Mom war entsetzt gewesen, dass Andrea ihn mitgebracht hatte. „Wie kann sie nur?“, hatte sie wieder und wieder gefragt. Für sie war das Maß damit endgültig voll gewesen.

Drei Monate, nachdem ihr Mann ihr von seiner Krebsdiagnose erzählt hatte, hatte sie von seiner Affäre erfahren und wiederum drei Monate später, dass die Frau, mit der er eine Affäre hatte, im achten Monat schwanger von ihm war. Er hatte nämlich schon viel länger gewusst, dass er Krebs hatte, und die Affäre fast sofort angefangen – „als Reaktion darauf“. Diese Erklärung machte Tucker immer noch wütend.

Ich musste meinen Gefühlen einfach folgen. Ich wollte mein Leben auskosten, solange ich noch eine Chance dazu hatte.

Aber so läuft das nicht, Dad. Eine Krebsdiagnose sollte einem die Menschen näherbringen, die einen lieben, nicht einen dazu treiben, der verlorenen Jugend hinterherzujagen.

„Es ist nicht Jonahs Schuld“, sagte Tuckers Mom nicht zum ersten Mal, womit sie natürlich recht hatte. Eine Weile hatte sie ihn kennenlernen wollen. „Er sieht dir und Mattie so ähnlich, als ihr in dem Alter wart, Tucker.“

Aber ein Kontakt war völlig ausgeschlossen. Es gab so viel Bitterkeit zwischen Andrea Lewers und seiner Mom, welche Andrea die Schuld für die Affäre gab, während Andrea Nancy vorwarf, sie auszuschließen und ihr ihre Trauer zu verwehren.

„Du bist doch nicht absichtlich in die Filiale gegangen, weil du wusstest, dass er dort arbeitet, oder?“, fragte Tucker.

Nancy seufzte. „Nein, das war reiner Zufall. Es würde zu viel negative Gefühle aufwühlen, ihn zu kontaktieren, und Jonah hat es nicht verdient, in das Chaos mit hineingezogen zu werden.“

„Ich finde auch, das ist die beste Lösung.“

„Da wir gerade von Chaos reden …“

Tucker verkrampfte sich innerlich. „Tun wir das?“

Nancy holte tief Luft. „Emma hat vorgestern hier angerufen.“

„Ach ja?“ Tucker irritierte es immer, wenn seine Mom auf Emma zu sprechen kam.

„Tucker, ich habe nicht den Eindruck, dass sie eine Scheidung will. Ich verstehe nicht, warum ihr beide euch nicht mehr Mühe gebt.“

„Wir haben etwas anderes vereinbart, das weißt du genau.“

„Vereinbarungen lassen sich ändern. Ich glaube, tief im Innern will sie eine echte Ehe.“

„Nein, das will sie nicht, Mom, glaub mir.“

Nancy ignorierte seinen Einwand einfach. „Ihr könntet so glücklich sein. Erst sagst du eine Hochzeit ab, und jetzt führst du eine Ehe, die keine ist. Ich verstehe dich einfach nicht. Ich …“

„Du irrst dich, was Emma angeht.“

„Sie hat vielleicht nur Angst, sich ihre Gefühle einzugestehen. Sie wartet darauf, dass du den ersten Schritt machst.“

„Nein, Mom. Wir sind seit drei Jahren verheiratet. Wenn es möglich gewesen wäre, einander näherzukommen, wäre das längst passiert. Es funkt einfach nicht zwischen uns.“

„Aber ihr versteht euch doch so gut und …“ Nancy verstummte plötzlich. „Bleibst du noch zum Kaffee? Ich habe Kuchen gebacken“, fragte sie, vermutlich, um Tucker zu signalisieren, dass sie nicht länger auf dem Thema herumreiten würde.

„Klar, gern.“

Während Tucker den Kaffee trank und den Kuchen aß, unterhielten sie sich über seine Geschwister Carla und Mattie, die beide in New York lebten. Anschließend fuhr Tucker mit dem sehr vertrauten Gefühl nach Hause, mal wieder eine potenzielle Krise abgewendet zu haben.

Oder auch zwei.

Wegen seiner Ehe und Jonah.

Aber vielleicht war es gut, dass Nancy dem Jungen ausgerechnet heute über den Weg gelaufen war. Das hatte Tucker wieder ins Gedächtnis gerufen, wie sehr er emotional komplizierte und verwirrende Situationen hasste. Und sich von seinen Gefühlen für die Schwester seiner Ex-Verlobten leiten zu lassen, während er noch verheiratet war – wenn auch nur auf dem Papier –, war eindeutig zu kompliziert für seinen Geschmack.

3. KAPITEL

Bevor Daisys Eltern Mary-Jane nach Albany zum Flughafen brachten, umarmten die beiden Schwestern einander zum Abschied, ohne ihre gestrige Auseinandersetzung, Tucker Reid oder die Umgestaltung des Geländes auch nur mit einem Wort zu erwähnen.

„Viel Spaß in Afrika!“

„Ich versuch’s … werde ich haben!“

Tucker kam ungefähr zum selben Zeitpunkt in Spruce Bay an, wie Mary-Jane an Bord ihres Fliegers stieg. Da Daisys Eltern noch auf dem Rückweg zu Mittag essen wollten, würde er vermutlich längst verschwunden sein, wenn sie zurückkehrten.

Was vermutlich auch besser so war.

Daisys Eltern zogen sich zwar allmählich aus dem Familienbetrieb zurück, weil sie nach Südkalifornien ziehen wollten, aber noch waren sie nicht weg und mischten sich immer noch in alles ein. Auch wenn sie sich jedes Mal wortreich dafür entschuldigten. Daisy wollte auf keinen Fall, dass Tucker in diese Auseinandersetzungen hineingezogen wurde.

Um zwei Minuten vor zehn hörte sie, dass draußen eine schwere Autotür zugeschlagen wurde, und spähte aus dem Bürofenster. Vor dem Hauptgebäude stand ein Pick-up mit dem blaugrünen Reid-Landscaping-Logo. Daisy stapelte die Ausdrucke und Broschüren, die sie gestern von Jackie bekommen hatte, und legte ihre eigenen abgehefteten Notizen dazu.

Sie machte sich gern Notizen, weil das nicht nur praktisch, sondern auch professionell war. Man konnte darin vor unangenehmen zwischenmenschlichen Beziehungen Zuflucht suchen, so wie sie es damals im Nobelrestaurant Niche gemacht hatte, nachdem ihre berufliche und persönliche Beziehung mit dem Chefkoch und Eigentümer Michael Drake den Bach runtergegangen war.

Mist, warum dachte sie eigentlich schon wieder daran zurück?

Bei ihrer ersten Begegnung vor fast zwei Jahren hatte sie sich Hals über Kopf in Michael verliebt. Bis dahin hatte sie sich so intensiv ihrer Karriere als Dessertköchin gewidmet, dass sie kaum Zeit für Männer gehabt hatte und eine richtige Beziehung längst überfällig gewesen war. Sie war für einen Mann in ihrem Leben bereit gewesen, und Michael war da gewesen.

Er hatte sie mit seinem Charme verzaubert und sie mit romantischen Gesten überschüttet. Es war die perfekte Beziehung gewesen. Sie wusste noch, wie sie Lee eines Abends angerufen und ihr von Michael vorgeschwärmt hatte. „Ach, Lee, ich hätte nie gedacht, dass mir so etwas passieren würde. Es ist wie im Märchen. Es heißt ja, nichts im Leben sei perfekt, aber das hier … das hier ist tatsächlich perfekt.“

Überwältigend geradezu.

Wunderschön.

Zu schön, um wahr zu sein.

Sie hatte sich nicht lange von den Blumen, den Anrufen, den romantischen Abendessen und der öffentlichen Zurschaustellung von Intimitäten blenden lassen, bevor sie sehr unsanft auf dem Boden der Tatsachen gelandet war. Denn schon sehr schnell waren die ersten Risse in Michaels Fassade aufgetaucht. Sie hatte festgestellt, dass er ein Riesenego und keinen Sinn für Humor hatte und dazu neigte, sich tagelang gekränkt zurückzuziehen, wenn sie sich nicht bei jeder seiner Gesten vor Dankbarkeit überschlug.

Sie hatte sich daher genauso schnell entliebt, wie sie sich verliebt hatte und nicht fassen können, dass sie seine romantischen Gesten und seine Begierde mit echter Liebe verwechselt hatte. Doch als sie mit ihm Schluss gemacht hatte, hatten die Probleme erst richtig angefangen. Denn in Michael Drakes Welt war er derjenige, der die Frauen fallen ließ, nicht umgekehrt.

Daisy hatte ihm versichert, dass ihre Trennung keine Auswirkungen auf ihre berufliche Beziehung haben würde, und er hatte ihr beigepflichtet, doch diese Zustimmung war genauso oberflächlich gewesen wie ihre Romanze. Von da an hatte Michael Daisy nämlich im Restaurant bei jeder sich bietenden Gelegenheit heruntergemacht, manchmal versteckt, manchmal ganz offen, je nachdem, wie sehr ihn seine neueste Eroberung ablenkte.

Sie hatte gehofft, dass er irgendwann das Interesse an diesem albernen Spiel verlieren würde, aber Michael vergaß und verzieh nie, sodass die Atmosphäre in der Küche bei Niche immer unerträglicher wurde. Irgendwann fand sie heraus, dass Michael sie auch hinter ihrem Rücken diskreditierte, sodass es nicht einfach werden würde, in San Francisco einen anderen Job zu bekommen.

Das ganze Debakel brachte sie dazu, ihr Leben in Kalifornien auf den Prüfstand zu stellen. Was war ihr wirklich wichtig? Was wollte sie? Wo sah sie sich in fünf Jahren oder zehn?

Diese Fragen hatten eine wichtige Rolle bei ihrer Entscheidung gespielt, nach Spruce Bay zurückzukehren, doch immer wieder musste sie über jene ersten Tage mit Michael nachdenken und machte sich Vorwürfe, dass sie die ersten Wahnsignale übersehen hatte. So etwas durfte ihr nie wieder passieren!

Was sie wieder zu Tucker Reid brachte.

Als Daisy mit ihrem Papierstapel das Büro verließ, stand Tucker neben seinem Pick-up und betrachtete die verwilderte Hecke neben der Hauptzufahrt, den Halbkreis gemähten Rasens vor den beiden Motelflügeln und den Pool.

Daisy wusste sofort, was ihm durch den Kopf schoss. „Du hast recht, das alles ist total veraltet.“

Er drehte sich zu ihr um. Sein dunkles Haar glänzte in der Vormittagssonne. Er trug eine Jeans und ein dunkelblaues Polohemd mit dem Firmenlogo. Eigentlich war es zu kalt für kurze Ärmel, aber er schien die Kälte nicht zu spüren. „Hi … Sorry, sieht man mir so leicht an, was ich denke?“

Ausnahmsweise mal ja!

„Das ist nicht schwer zu erraten“, antwortete Daisy. „Mom und Dad haben die Umgestaltung immer wieder hinausgezögert. Es wird daher allerhöchste Zeit.“

„So etwas kommt vor, vor allem bei Familienbetrieben.“ Tucker beugte sich durch das offene Fenster seines Trucks, griff nach einem Tablet und schaltete es ein.

Daisy seufzte. „Ich glaube, sie haben sich so an diesen Zustand gewöhnt, dass sie ihn gar nicht mehr wahrnehmen. Mary-Jane konnte sich nicht allein gegen sie durchsetzen. Unsere Buchungen sind in den letzten sieben Jahren stark zurückgegangen, und das liegt bestimmt nicht nur an der schlechten Wirtschaftslage.“

Nickend ließ Tucker die Finger über den Bildschirm gleiten. Daisy fiel auf, wie groß, kräftig und braun seine Hände waren. „Wer in Urlaub fährt, will nicht durch veraltete Anlagen an die schlechte Wirtschaftslage erinnert werden.“

„Ganz genau.“

Endlich blickte er hoch. „Zeig mir, was deiner Meinung nach am dringendsten eine Verjüngungskur benötigt. Ich kann noch nichts zu den Kosten sagen, aber es würde mir helfen, deine Prioritäten zu kennen. Und vielleicht solltest du das da hierlassen.“ Er nickte in Richtung Stapel in ihren Armen.

Daisy fühlte sich plötzlich schutzlos, fast nackt. „Wenn du meinst. Brauchen wir die Unterlagen nicht?“

„Ich würde lieber deine Vorstellungen hören, ganz egal, wie vage sie sind.“

Wie wär’s mal mit einem Lächeln, Tucker? So schwer kann das doch nicht sein!

Sie brachte den Stapel ins Büro zurück. Als sie kurz darauf zurückkehrte, stieß Tucker mit der Spitze eines Arbeitsstiefels gegen die verrottete Kante eines überwucherten Beets. „Machen wir uns eigentlich nur etwas vor?“, platzte sie heraus, bevor sie sich davon abhalten konnte.

„Du meinst …?“, fragte er zögernd.

„… ob diese Anlage überhaupt wieder zu Leben erweckt werden kann. Es ist so viel zu tun. Sollten wir sie nicht vielleicht verkaufen, sodass irgendein Tourismusunternehmen alles ganz neu aufbauen kann?“

Daisy mochte noch nicht mal daran denken. Dieser Ort bedeutete ihr sehr viel, mehr als ihr während ihrer Zeit in Kalifornien bewusst gewesen war. Voller Zuneigung betrachtete sie den glitzernden See, die Hütten und das Restaurant mit seiner hölzernen Terrasse über dem Wasser.

Tucker sah sie an. „Willst du denn verkaufen?“, fragte er sanft.

„Nein, absolut nicht.“ Sie blinzelte gegen die Tränen an, die ihr in die Augen schossen. „Ich glaube, das wäre unerträglich für meine Eltern und Mary-Jane.“

„Was ist mit Lee?“

„Lee würde sich nie in unsere Entscheidungen einmischen, aber sie würde das hier auch vermissen.“

„Und du?“

Daisy hatte das Gefühl, dass er sie aufmerksam ansah, aber wegen seiner Sonnenbrille war sie sich da nicht ganz sicher. „Ich fände das auch schrecklich. Ich liebe diesen Ort. Hier habe ich gelernt, was Schönheit ist, und meine ersten Koch- und Backversuche gemacht.“

Tucker beobachtete sie schweigend. Da Daisy nicht wusste, wo sie hinsehen sollte, richtete sie den Blick auf den Spielplatz, die Feuerstellen, das Gebäude mit dem Indoor-Spielplatz, den Bootssteg und den kleinen Strand.

„Ich glaube, du kriegst das hin“, sagte er irgendwann. „Ich würde ein Projekt dieser Größenordnung nicht jedem zutrauen, aber dir schon. Nicht jeder ist so wie …“ Er stockte. „Doch, ich glaube, du wirst hier deine Visionen verwirklichen können, da bin ich ganz sicher.“

Daisy glaubte ihm, so verrückt das auch war. Dabei hatten sie noch nicht mal über die Kosten gesprochen, geschweige denn konkrete Pläne gemacht.

„Erzähl mir, was du hier gern ändern würdest“, forderte er sie auf und zeigte Richtung Pool.

Daisy folgte ihm dorthin. „Ich will keinen überflüssigen Luxus“, erklärte sie. „Das hier soll ein Urlaubsort für normale Familien und Paare bleiben. Wir brauchen weder Marmorfußböden noch vergoldete Armaturen oder Vollzeitgärtner.“

„Nicht?“

„Nein, wir sollten einfach nur mehr aus dem machen, was schon vorhanden ist. Der Pool und der Spielplatz müssen etwas aufgepeppt werden. Außerdem brauchen wir Wege, die unsere Gäste zum See, zum Pool und zu den Feuerstellen locken.“ Sie beschleunigte ihre Schritte. „Es ist zwar alles da, was man braucht, aber es ist völlig ohne Sinn und Verstand angelegt.“

„Haben deine Eltern die Anlage nicht entworfen?“

„Nein, sie war bereits fünfzehn Jahre alt, als sie sie gekauft haben.“ Daisy ging weiter. „Außerdem müssen Bäume gefällt und Büsche beschnitten werden. Und ich hätte gern einen direkten Zugang zur Restaurantterrasse, damit man bequemer zwischen Restaurant und Pool hin- und herlaufen kann. Viele Menschen wissen gar nicht, dass sie direkt am Wasser sitzen können. Und ich wünschte, der Pool wäre nicht so langweilig.“

Sie zeigte auf das einfallslose rechteckige Becken, das von grauem Beton und Gras sowie einem Metallzaun umgeben war. „Anscheinend hat man in den Sechzigern noch nicht viel über Landschaftsarchitektur nachgedacht, aber jetzt …“ Sie machte eine vage Geste. „Wir brauchen einen neuen Pool und neue Pflanzen. Irgendetwas Fantasievolles.“

Als sie sich wieder zu Tucker umdrehte, stand er ein paar Meter von ihr entfernt. Er hatte die Hände in seinen Jeanstaschen vergraben und sah so aus, als müsse er ein Lächeln unterdrücken. Aber vielleicht hatte sie sich das auch nur eingebildet. Jetzt lächelte er nämlich eindeutig nicht mehr.

„Kein Problem“, antwortete er mit jenem professionellen Ernst, der in krassem Gegensatz zu ihrer eigenen kreativen und visionären Energie stand. „Das ließe sich alles umsetzen.“

„Auch der neue Pool?“

„Ihr braucht nicht unbedingt einen neuen.“

„Aber …“

Er grinste. „Es gibt nichts gegen rechteckige Becken einzuwenden. Man kann eine Menge damit anfangen, wenn man außen herum etwas Abwechslung ins Spiel bringt.“ Er öffnete die kindersichere Pforte und kniete sich neben den Pool, um einen Arm bis zum Ellenbogen ins Wasser zu tauchen und über die glatte Betonwand gleiten zu lassen.

„Was machst du da?“, fragte Daisy.

„Mich vergewissern, dass die Struktur noch stabil ist.“

Daisy verzog das Gesicht, aber ihm schien das eiskalte Wasser nichts auszumachen. Er wischte es sich einfach vom Arm, als er wieder aufstand. Wie hypnotisiert starrte Daisy ihn an. Es war völlig verrückt. Der kurze Ärmel von Tuckers Polohemd war am Rand durchnässt und betonte seinen starken Bizeps. Das nasse Haar verlieh den Überbleibseln seiner Sommerbräune einen
Extraschimmer.

Tucker hatte wirklich Wahnsinnsarme.

Schöne Arme.

Was zum Teufel mache ich hier eigentlich? Das ist Lees Ex-verlobter!

„Der Pool muss natürlich entleert und neu gestrichen werden“, fügte er hinzu und lenkte Daisys Aufmerksamkeit wieder dorthin, wo sie hingehörte. „Vielleicht solltet ihr ihn sogar neu fliesen. Mit den aktuellen Designs kann man tolle Effekte erzielen, aber wir sollten erst den Zustand überprüfen, bevor wir damit anfangen.“

„Ihr baut auch Pools?“

„Nein, dafür haben wir einen Subunternehmer, aber Pools gehören zum Gesamtkonzept. Ihr solltet vielleicht eine Solarheizung installieren.“ Er hatte inzwischen eine Gänsehaut auf dem nassen Arm und grinste deswegen.

Wow, das zweite Lächeln innerhalb nur weniger Minuten! Er schien allmählich aufzutauen! Sie war diejenige, die sich plötzlich ernst vorkam – vor lauter Schreck über ihre Reaktion auf seine männliche Ausstrahlung. „Sorry.“ Mitfühlend verzog sie das Gesicht.

Hör auf, ihn so aufdringlich anzustarren, Daisy. Hast du etwa noch nie einen gut gebauten Mann gesehen?

„Keine Sorge, wir haben Oktober, da muss man mit so etwas rechnen. Es ist nicht das erste Mal, dass ich bei der Arbeit mit kaltem Wasser in Berührung komme.“

„Dann reicht es also wirklich aus, das Becken neu zu fliesen und zu beheizen?“

Tucker erläuterte ihr seine Ideen und zeigte dabei in verschiedene Richtungen. Um seine Perspektive einzunehmen, musste sie sich neben ihn stellen – dichter, als ihr lieb war.

„Ich würde euch auch raten, den Zaun zu entfernen und einen neuen zu bauen, der den Spielplatz mit einschließt. Das lockert das Ganze optisch auf. Die Anlage wirkt dann weniger streng.“

Daisy musste wieder an Michael denken und an ihre letzten schwierigen Monate bei Niche. Er hatte sich immer viel zu dicht neben sie gestellt, wenn sie die Speisekarte besprochen hatten – so als habe er sie daran erinnern wollen, dass sie mal intim gewesen waren.

Tucker war so ganz anders. Es gab da zwar dieses unterschwellige Prickeln zwischen ihnen, aber er machte keinerlei Anstalten, sie zu berühren, weder zufällig noch bewusst.

„Man könnte hier unterschiedliche Ebenen anlegen, Hochbeete, Sitzbereiche, die wie Außenräume wirken“, fuhr er fort. „Dann können die Eltern ihre Kinder von verschiedenen Stellen aus beim Spielen und Schwimmen beobachten, im Schatten oder in der Sonne.“

„Klingt toll. Wir hatten bisher wirklich keine Sitzplätze für Erwachsene auf dem Spielplatz oder am Pool. Die meisten Eltern sahen immer so aus, als müssten sie eine Haftstrafe verbüßen, wenn sie auf ihre Kinder aufpassten.“

„Was ist eigentlich am Ende des Komplexes da drüben?“ Tucker zeigte auf das langweiligste Gebäude der ganzen Anlage.

„Ach, du meinst … Da ist der Waschraum.“

„Könnte man die Waschmaschinen nicht woandershin verlegen und den Raum hier erweitern und große Glastüren einsetzen? Mit neuen Fliesen, Zedernholzbänken und einem Whirlpool könnte man einen Spa-Bereich daraus machen, der sich bei schönem Wetter öffnen lässt.“

„Du überraschst mich. Ich hätte solche Vorschläge nicht von dir erwartet.“

„Du dachtest, ich würde nur über Azaleen und Birken reden?“

„Bisher hast du noch keine einzige Pflanze erwähnt.“

„Wenn ihr hier nur die Bepflanzung erneuert, ohne etwas an der Struktur zu ändern, werft ihr euer Geld zum Fenster heraus. Man muss mit der Struktur anfangen. Mit dem Gerippe.“

Daisy erschauerte, als sich eine kleine Wolke vor die Sonne schob.

Sie fühlte sich wacher und lebendiger denn je, und das konnte nicht an der Herbstsonne oder an der aufregenden Zukunft Spruce Bays liegen. Ihre Sinne waren geschärft, ihr Verstand arbeitete auf Hochtouren, und die ganze Zeit war ihr Tuckers Nähe nur allzu intensiv bewusst. Es war ein verstörendes Gefühl. Irgendwie musste sie es loswerden.

„Wollen wir uns jetzt das Seeufer ansehen?“, fragte sie und eilte durch die Pforte hinaus, ohne Tucker Zeit für eine Antwort zu lassen.

Als Tucker ihr den mit Tannennadeln bedeckten Pfad zum Wasser entlangfolgte, fiel es ihm schwer, sich auf seine Aufgabe zu konzentrieren. Stimmt, sie mussten ein paar Bäume fällen, aber nicht zu viele …

Es war zwecklos. Er hatte für nichts anderes Augen als für Daisy. Das hier ist nur ein Job, ein Projekt, versuchte er sich einzureden. Nur weil Daisy Cherry genau die gleiche Wirkung auf mich hat wie vor zehn Jahren …

Tucker ließ sich grundsätzlich nicht von so etwas so Trügerischem wie Emotionen leiten, ganz egal, wie stark sie waren. Die Folgen der Affäre seines Vaters hatten ihn ein für alle Mal davon kuriert, und dann war da noch seine Ehe.

Tucker hatte Emma zwar nur aus Vernunftgründen geheiratet, aber trotzdem. Gott sei Dank war bald alles vorbei. Emmas zehnjähriger Sohn Max hatte seine Chemotherapie inzwischen hinter sich, und Emma war die Staatsbürgerschaft sicher. Sie kam ursprünglich aus Großbritannien. Vor zwei Monaten hatten sie endlich die Scheidung eingereicht, die in etwa vier Wochen rechtskräftig werden müsste.

Nein, Tucker folgte grundsätzlich nicht seinen leidenschaftlichen Impulsen. Dazu war er viel zu vernünftig und noch dazu ein Ehrenmann, wie Emma öfter zu sagen pflegte, aber leider schien sein Körper diese Botschaft heute nicht verstanden zu haben. Tuckers Körper sagte ihm laut und deutlich, dass er und Daisy zusammengehörten – für eine Nacht oder eine Woche, ein Jahr oder ein ganzes Leben. Was das anging, war Tuckers Körper ziemlich unspezifisch.

Eins wusste Tucker jedoch ganz genau, und das war, dass er seinem Körper nicht traute. Vielleicht war er einfach nur vorsichtig, vielleicht auch bindungsgestört, aber er wollte nun mal keinen Fehler machen. Dass seine Empfindungen sehr intensiv waren, hieß noch lange nicht, dass er ihnen folgen durfte. Wohin so etwas führte, hatte sein Vater bewiesen.

Tucker und Daisy schlenderten noch eine halbe Stunde über das Gelände, während Tucker versuchte, sich zusammenzureißen und sich nichts anmerken zu lassen. Anschließend teilte er Daisy im Büro mit, welche Kosten ungefähr auf sie zukommen würden.

Erst heute Morgen hatte ihn ein Auftraggeber angerufen, um ein bereits länger geplantes Projekt zu verschieben. In zwei Wochen hätte es eigentlich losgehen sollen. Jetzt gähnte in Tuckers normalerweise randvollem Terminkalender eine vierwöchige Lücke, die gefüllt werden wollte, aber noch hatte er Daisy nichts davon erzählt.

Jetzt war der Zeitpunkt, das nachzuholen. Das Spruce-Bay-Projekt bot sich als idealer Lückenfüller an. Trotzdem sagte Tucker keinen Ton, sondern machte, was er in solchen Situationen immer tat: Er teilte Daisy mit, dass er ihr Bescheid sagen würde, sobald der Kostenvoranschlag fertig war. Sie konnte ihn dann abholen, oder Jackie brachte ihn vorbei.

Als er in seinen Truck stieg, hatte er das Gefühl, gerade noch mal mit heiler Haut davongekommen zu sein. Erst um vier Uhr Nachmittag wurde ihm bewusst, dass Jackie an seiner Zurechnungsfähigkeit zweifeln würde, wenn er Daisys Auftrag nicht annahm. Jackie, die von Anfang an für ihn gearbeitet hatte. Zu Recht.

Er griff nach seinem Handy und wählte die Nummer von Spruce Bay. Sein Herzschlag beschleunigte sich, als er das Freizeichen am anderen Ende hörte. „Spruce Bay Resort?“, hörte er kurz darauf eine weibliche Stimme.

„Daisy?“

„Nein, hier ist Denise.“

Lees Mom. Sie hatte nach der geplatzten Hochzeit kaum mit Tucker gesprochen, was fast alles sagte. Tucker bekam ein mulmiges Gefühl. Denise Cherry war eine tolle Frau, aber er hatte einen Heidenrespekt vor ihr, seitdem er bei einer ihrer Töchter Mist gebaut hatte. Da wollte er bei einer zweiten kein unnötiges Risiko eingehen.

Bevor er etwas sagen konnte, kam sie ihm zuvor: „Ich hole sie, einen Moment bitte.“

Erleichtert seufzte er auf. Sie hatte ihn nicht gefragt, wer dran war, und offensichtlich hatte sie seine Stimme nicht erkannt.

4. KAPITEL

„Tucker sagt, ein anderes Projekt sei überraschend verschoben worden, was heißt, dass er übernächste Woche hier anfangen kann“, erzählte Daisy ihren Eltern.

„Das alles geht ja ganz schön schnell“, erwiderte ihr Vater. „Dann wird das Gelände ja zur selben Zeit umgestaltet wie die Häuser.“

„Darauf habe ich ihn auch schon hingewiesen, aber er sagt, das sei kein Problem. Seine Leute werden aufpassen, dass sie nicht die Zufahrt blockieren oder die Handwerker stören.“

„Das lässt uns kaum Zeit, in Ruhe über alles nachzudenken. Meinst du nicht, es wäre besser, bis zum Frühjahr zu warten?“

„Außerdem handelt es sich um Tucker“, warf Denise ein. „Wenn ich gewusst hätte, dass er am Apparat war, als ich abgehoben habe … Bist du sicher, dass das eine gute Idee ist, Daisy?“

„Ihr und Mary-Jane nehmt das alles zu persönlich, Mom. Es ist doch gut, wenn wir die Anlage nicht so lange schließen müssen. Wenn wir Mitte Dezember oder sogar früher wieder aufmachen, haben wir mehr Einkünfte. Die Neupflanzung können wir im
April vornehmen lassen, wenn wir sowieso geschlossen haben.“

Daisys Vater seufzte. „Du hast recht, die Umgestaltung des Geländes ist wichtig, genauso wie das Timing.“

„Absolut. Außerdem hat Tucker tolle Ideen. Wir können es uns nicht leisten, auf ihn zu verzichten, nur weil …“ Sie stockte.

Wegen Lee.

Und meinetwegen.

Letzteres war völlig verrückt, denn Tucker stellte für sie absolut kein Problem dar.

Ihre Mutter nickte zögernd. „Du hast vermutlich recht, aber irgendwie kann ich nicht vergessen, was damals passiert ist.“

„Ich schon“, antwortete Daisy resolut. „Ich habe kein Problem mit Tucker.“

„Dann hast du unser Okay.“

Daisy rief Tucker sofort zurück. „Wir haben beschlossen, dein Angebot anzunehmen, Tucker.“

„Gut“, entgegnete er sachlich. „Danke für eure schnelle Entscheidung. Ich hätte euch das Zeitfenster nämlich nicht lange offenhalten können.“

„Kein Problem.“

Das Datum für den Beginn der Arbeiten stand fest, bevor der Kostenvoranschlag oder die Entwürfe vorlagen, aber aus irgendeinem Grund hatte Daisy ein gutes Gefühl dabei. Während Mary-Jane also auf den Kilimandscharo kletterte und Fotos von Löwen und Elefanten knipste, suchte Daisy Fliesen für den Pool, Gartenbänke und andere Dinge aus, bis die Kataloge sie im Schlaf verfolgten.

In den nächsten Tagen hatte sie mindestens einmal täglich mit Tucker Kontakt. Sie sahen sich, telefonierten oder schickten einander Faxe, E-Mails und SMS. Dabei blieben sie absolut sachlich und fast schon unangenehm unpersönlich, auch wenn Daisy dem Frieden nicht recht traute.

Die Arbeiten auf dem Gelände begannen mit einem lauten Krach. Oder vielmehr einigem Krachen.

In Kalifornien war Daisy wegen ihres Restaurantjobs immer erst um acht oder neun Uhr aufgestanden. Da die Handwerkercrew letzte Woche jedoch schon um sieben Uhr morgens angefangen hatte, hatte sie sich widerstrebend dazu durchgerungen, auch früher aufzustehen. Die letzte Nacht hatte sie jedoch schlecht geschlafen, sodass sie den Wecker um halb sieben ausstellte und um viertel vor acht immer noch im Bett lag.

Krach!

Im Hintergrund dröhnte ein Motor. Okay, jetzt war sie endgültig wach. Benommen kletterte sie aus dem Bett und ging zum Fenster, um die Gardinen zur Seite zu ziehen. Auf den ersten Blick war nichts zu sehen. Sie schob das Fliegengitter hoch und beugte sich aus dem Fenster. Der Krach war von links gekommen.

In die Morgensonne blinzelnd, sah sie eine Art Bulldozer, der den alten Zaun vom Pool niederriss. Sie sah, dass Tucker seinen Arbeitern etwas zurief, konnte es jedoch nicht verstehen. Als er sie sah, verstummte er und schien für einen Moment zu erstarren, bevor er ihr zögernd zuwinkte, ohne eine Miene zu verziehen. Sie winkte zurück. „Alles okay?“, rief sie.

Er schien sie nicht zu hören, denn er zuckte nur die Achseln, noch immer mit versteinerter Miene.

Sie legte die Hände um den Mund. „Ist alles okay?“, rief sie lauter. „Soll ich rauskommen?“

Diesmal verstand er sie. „Nein, alles in Ordnung“, rief er zurück. „Komm, wann du willst.“

Das klang nicht gerade enthusiastisch. Nickend zog Daisy sich wieder in ihr Zimmer zurück. Erst dann wurde ihr zu ihrem Schreck bewusst, welchen Blick sie Tucker gerade geboten hatte – einen in ihr tief ausgeschnittenes Pyjamaoberteil nämlich. Hoffentlich dachte Tucker nicht, dass sie das mit Absicht gemacht hatte.

Warum sollte ich? Und warum sollte er so etwas denken?

Aus irgendeinem Grund wollte sie lieber nicht zu intensiv über diese Fragen nachdenken. Sie ging unter die Dusche und zog sich rasch an. Wenig später war sie im Freien.

Der Zaun lag bereits am Boden, und ein anderes Fahrzeug pflügte gerade den Rasen. Tucker unterhielt sich mit dem Subunternehmer, der das Restaurantdeck erweitern und auf einer Seite Stufen einbauen würde.

„Wir können heute mehr Holz bestellen und es zusammen mit der Lieferung für morgen kommen lassen“, sagte Tuckers Geschäftspartner gerade, als Daisy bei den beiden Männern ankam.

„Das wäre großartig“, sagte Tucker erfreut.

„Bei der Breite der Stufen ist das kein Problem.“

Tucker drehte sich zu Daisy um. „Daisy, wir reden gerade über hölzerne Pflanzkübel, die in die Stufen integriert werden, um einen Übergang vom Deck zum Gelände zu schaffen.“

„Tolle Idee!“ Daisy konnte die Kübel lebhaft vor sich sehen, und da diese Fantasie viel angenehmer war als die, die sie bisher im Kopf gehabt hatte – den Anblick ihres Ausschnitts von Tuckers Perspektive aus nämlich – stürzte sie sich dankbar darauf. „Wie viele Extraelemente sollen es werden?“

„Mindestens vier, stimmt’s, John?“ Tucker drehte sich zu dem anderen Mann um und sah ihn fragend an.

„Prima“, sagte Daisy. „Ich bin einverstanden.“

„Ich zeige dir die Entwürfe, sobald sie fertig sind“, sagte John zu Tucker.

„Schickst du sie mir aufs Handy?“

„Kein Problem.“

„Daisy, ich würde dir gern die Platten für den Rand des Pools zeigen.“ Tucker ging auf einen der Laster zu, und sie folgte ihm.

„Ach, die sind schon angekommen? Tut mir übrigens leid, dass ich ausgerechnet heute verschlafen habe.“

„Kein Problem.“

Daisy musterte Tucker verstohlen. Sie hatte Mühe, mit ihm Schritt zu halten. Er hatte den Blick starr geradeaus gerichtet, und sein Gesichtsausdruck war so unergründlich wie immer. Plötzlich wurde sie von einer so starken Mischung aus Begierde und Frustration erfüllt, dass es ihr den Atem verschlug.

Kein Zweifel, sie fühlte sich unwiderstehlich zu ihm hingezogen.

Körperlich.

Und es kam so plötzlich!

Tucker zog sie an wie ein Magnet, obwohl er ihr gegenüber total distanziert und zurückhaltend war. Obwohl er kaum lächelte.

Letzteres frustrierte sie unendlich, weil sie mehr wollte.

Sie wollte ihn berühren. Sie wollte ihn ansehen, und sie tat es auch, weil sie den Blick einfach nicht von ihm losreißen konnte. Gut, dass er schneller ging als sie, denn das hatte den Vorteil, dass sie ihn hemmungslos von hinten betrachten konnte – seine muskulösen Beine und seinen knackigen Po in der engen Jeans, seine breiten Schultern, sein dunkles Haar, das er erst letzte Woche hatte schneiden lassen, sodass der Umriss seines schönen Kopfes betont wurde.

„Die Farbe fällt etwas anders aus als bei den Mustern“, erklärte er. „Es ist eine andere Lieferung. So etwas kommt manchmal vor.“

„Ist das ein Problem?“

„Nein, ich finde die Nuance sogar besser. Sie ist etwas heller und wärmer. Da du dich für die dunklen Poolfliesen entschieden hast, ergibt das einen sehr schönen Kontrast. Aber sieh sie dir erst mal an. Wir können sie immer noch zurückschicken, wenn sie dir nicht gefallen.“

Als sie beim Truck ankamen, nahm er die oberste Platte von einer Palette. Unwillkürlich blieb Daisys Blick an seinen muskulösen Unterarmen hängen. „Und?“, fragte er, als sie nicht reagierte.

„Kann ich sie mir flach neben dem Pool ansehen? Hier im Schatten sieht der Farbton grauer aus als gedacht.“

„Klar.“

Ob er sie jetzt wohl für schwierig oder überkritisch hielt? Er blieb ihr gegenüber immer so höflich, dass das schwer zu erkennen war. Sie wünschte wirklich, er wäre ihr gegenüber ein bisschen lockerer und weniger förmlich. Dass er ab und zu mal einen Witz fallen ließ oder etwas Privates erzählte – ob er eine Frau, eine Freundin oder ein Kind hatte zum Beispiel, damit sie wusste, woran sie war, aber in den letzten zehn Tagen war er ihr gegenüber eher noch distanzierter geworden, falls das überhaupt möglich war.

Nach ein paar Schritten Richtung Pool kehrte er um. „Ich glaube, wir brauchen mehr als eine.“ Er nahm drei weitere Platten vom Truck. „Ich hole noch zwei von der anderen Palette, die mit der Rundung.“

„Die übernehme ich, Tucker. Du hast jetzt schon die Arme voll.“

„Bist du sicher?“

Daisy griff bereits nach zwei Platten. Sie waren schwerer als vermutet. Tucker legte seine neben dem Pool ab und reihte sie geschickt auf. „Gib mir deine.“

Als er sie ihr abnahm, streiften sich ihre Hände fast.

Fast, aber nicht ganz.

Daisy spürte lediglich seinen Hemdsärmel an ihrem Pullover. Sein Geruch stieg ihr in die Nase – eine Mischung aus Moschus, Holz und frischer Erde. Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und einfach nur tief eingeatmet.

„Stell sie dir zusammen mit den dunkleren Fliesen darunter vor“, sagte er und brach damit gerade noch rechtzeitig den Zauber.

Ich hätte mich bestimmt verraten, wenn er nichts gesagt hätte. Ihr ganzer Körper kribbelte und pulsierte vor Erregung. „Du hast recht“, sagte sie mit zittriger Stimme. „Die Platten sehen toll aus.“

„Sind deine Eltern auch da?“

„Nein, sie sind diese Woche in Südkalifornien, weil sie niemanden stören wollten.“

„Die Crew?“ Er warf ihr einen fast belustigten Seitenblick zu. „Oder dich?“

Das war die persönlichste Frage, die er ihr seit Tagen gestellt hatte, und sie löste … ein Glücksgefühl in ihr aus. Daisy lachte, bevor sie sich davon abhalten konnte. „Beides natürlich. Mom würde vermutlich sofort Bedenken äußern, und Dad würde versuchen, eine Platte durchzubrechen, um die Stabilität zu prüfen.“

„Die sind stabil.“

„Sei froh, dass die beiden weg sind, sonst würde Dad dich ständig mit Fragen löchern.“ Sie lächelte ihm in der Hoffnung zu, dass er ihr Lächeln erwidern würde, aber das war leider Fehlanzeige. Sie hätte sein Verhalten gern auf einen mangelnden Sinn für Humor geschoben, aber sie hatte ihn mit Jackie und seinen anderen Angestellten herumalbern hören. Nur in ihrer Gegenwart war er immer steif und ernst.

Vergiss ihn einfach, Daisy, sagte sie zu sich selbst. Du stehst zwar ein bisschen auf ihn … okay, mehr als nur ein bisschen … aber er empfindet nichts für dich, also vergiss ihn. Glaub mir, das ist besser so.

„Wir sollten die Platten zurückbringen“, sagte er nach einer Weile. „Hast du jetzt einen Eindruck?“

„Ja. Ich bin sehr zufrieden.“ Sie beobachtete, wie Tucker seine vier Platten stapelte und ihre beiden oben drauf legte. „Du kannst die doch unmöglich alle allein tragen!“

Er zuckte die Achseln. „Kein Problem.“

Es schien tatsächlich kein Problem für ihn zu sein. Als sie zum Truck zurückkehrten, schob Tucker den Stapel vorsichtig auf die Palette. Ob er in anderer Hinsicht auch so … feinfühlig war?

Vergiss es, Daisy! Willst du wirklich jemanden, der so distanziert und unfreundlich ist? Jemanden, der mal mit Lee verlobt war?

„Ich habe noch im Büro zu tun“, sagte sie abrupt. Vor ihr lag zwar nur langweiliger Bürokram, aber sie musste weg von Tucker, weg von den Empfindungen, die seine Gegenwart in ihr auslöste.

Er schien ihren inneren Widerwillen zu teilen. „Ich hasse es, wenn ich stundenlang vor einem Computer sitzen muss.“

„Warum braucht man heutzutage eigentlich bei jedem Job einen? Sogar als Dessertköchin musste ich ständig online sein, um mich auf dem Laufenden zu halten und Lieferanten ausfindig zu machen.“

„Tja, Pläne und Designs am Bildschirm zu entwerfen, ist halt einfacher als auf Papier.“

Als Daisy zum Büro ging, war sie erschreckend aufgeregt. Und das nur, weil Tucker und sie gerade eine Gemeinsamkeit festgestellt hatten?

In der Küche machte sie sich einen Kaffee und Toast mit Marmelade zum Frühstück und ging damit ins Büro, um ein bisschen mit Zahlen zu jonglieren. Vielleicht sollte sie ein Christmas-Special-Angebot entwerfen? Würden die höheren Gästezahlen die niedrigeren Zimmerpreise ausgleichen?

Zu ihrer Überraschung war sie erstaunlich konzentriert bei der Sache. Nicht mehr lange, und sie würde ein paar hübsche Kalkulationen haben, die sie Mary-Jane nach ihrer Rückkehr nächste Woche vorlegen konnte – und Mom und Dad, falls die sich dafür interessierten.

Sie hörte Schritte auf der Veranda und sah Tucker durch das Fenster spähen. Rasch strich sie sich das Haar hinter die Ohren und sicherte ihre Datei, bevor er das Büro betrat. „Brauchst du mich?“, fragte sie fröhlich.

Das hättest du auch besser formulieren können, Daisy Cherry!

Er nickte hölzern, bevor er ihr ausführlich erklärte, warum Erdarbeiten am Seeufer nötig waren, um Stufen und Pfade anlegen zu können. „Das wird nicht ganz billig“, schloss er seinen Vortrag.

„Ich sollte mir das Ufer vermutlich selber ansehen, oder?“

„Ja. Sorry für die Unterbrechung.“ Er klang so kurz angebunden und steif wie immer.

„Schon gut, für so etwas bin ich ja hier.“

Seite an Seite überquerten sie das, was früher mal der Rasen gewesen war und jetzt nur noch einer schlammigen Baustelle glich. In zwei der Hütten konnte Daisy Handwerker bei der Renovierung der Bäder hören – Männer, mit denen sie sich tagelang besprochen hatte, denen sie Kaffee angeboten und mit denen sie herumgewitzelt hatte.

Männer eben.

Doch bei dem Mann, der gerade neben ihr ging, war alles anders. Irgendwie hatte sie bei ihm ein ganz seltsames Gefühl – eins, das sie nicht länger ignorieren oder runterspielen konnte. Während sie schweigend den Weg zum See zurücklegten, fühlte sie sich mehr denn je zu ihm hingezogen. Ihr wurde heiß, ihr Atem beschleunigte sich, und ihr ganzes Bewusstsein war gesteigert.

Was für ein blödes Wort, Bewusstsein, aber es passte irgendwie. Sie war sich Tuckers Nähe nämlich nur allzu bewusst. Ihre Sinne waren komplett auf ihn ausgerichtet, auf den Rhythmus seiner Bewegungen, auf seine Atemzüge.

Mehr denn je sehnte sie sich nach irgendeiner Reaktion von ihm. Sie wollte, dass er sie als Frau wahrnahm und sie attraktiv fand. Sie wollte ihn irgendwie auf dieser Ebene erreichen. Es machte sie fertig, dass er sich so gleichgültig und distanziert gab, so als habe er eine Mauer um sich errichtet, die sie nicht niederreißen konnte.

Stand er nun auf sie oder nicht? Oder fing er grundsätzlich nichts mit seinen Auftraggeberinnen an? Hing sein distanziertes Verhalten mit Lee und ihrer vor zehn Jahren abgesagten Hochzeit zusammen? Oder hatte Mary-Jane recht, und er war einfach ein gefühlloser Idiot?

Daisy kam sich vor wie ein Teenager oder wie vor zehn Jahren, als sie noch keine Erfahrung im Umgang mit Männern gehabt hatte.

Was völlig verrückt war, denn sie war inzwischen einunddreißig.

Wie verhielt sich also eine Frau jenseits der gefürchteten Dreißig in einer Situation wie dieser?

Mach schon, Daisy, denk nach! Du weißt doch, wie das funktioniert … oder du solltest es zumindest wissen.

Sie signalisiert ihm ihr Interesse.

Sie sagt es mit Blicken, streift ihn wie zufällig mit der Hüfte. Zieht sich wieder zurück, wenn er nicht darauf reagiert. Daisy beschloss, sich Tucker hinterher aus dem Kopf zu schlagen und nicht schon jetzt, wo sie noch nicht wusste, woran sie war. Innerlich schwankte sie zwischen Hoffnung und Angst hin und her. Die Vorstellung, sich einer Abfuhr auszusetzen, war furchterregend, aber sie musste es zumindest versuchen. Wozu gegen ihre Gefühle ankämpfen?

Sie waren jetzt an der Stelle angelangt, die Tucker ihr zeigen wollte. Es war still hier draußen, der Baulärm und der Trubel waren weit weg. Man konnte in der Ferne zwar eine Säge und einen Bagger hören, aber das waren bloße Hintergrundgeräusche, übertönt vom Plätschern des Wassers am Bootssteg und vom Geräusch des Herbstlaubs unter ihren Schritten.

„Laut Plan sollen hier Treppen entstehen“, sagte Tucker. „Aber wenn ich mir den Hang so ansehe, ist er nicht stabil genug.“

„Was für Optionen haben wir?“

„Wir könnten auf hölzerne Stufen zurückgreifen, die im Boden verankert werden. Oder wir stabilisieren den Hang und bleiben bei unserem ursprünglichen Plan – Schotter und Stein.“

„Hm …“

Tucker lenkte sie von ihrem Vorsatz ab, ihn subtil spüren zu lassen, dass sie auf ihn abfuhr. Sollte sie es riskieren? Daisy trat einen Schritt zurück, gerade so viel, dass sie Tucker besser beobachten konnte, als er sich hinhockte, um den sandigen Boden zu inspizieren, der Teil des Problems war. Sie mochte seine Art, sich zu bewegen – selbstsicher, effizient, männlich, fokussiert und …

„Du willst bestimmt einen Preisvergleich, bevor du eine Entscheidung triffst, oder?“, riss er sie aus ihren Gedanken.

„Äh … ja klar … ja, ich glaube schon.“

„Reicht dir morgen?“

„Absolut, Tucker.“ Sie trat einen Schritt vor und legte ihm eine Hand auf einen Unterarm – eine völlig harmlose Geste der Dankbarkeit … und zugleich ein kleiner Test.

Er senkte den Blick zu ihrer Hand. Seine Haut fühlte sich sogar durch sein Arbeitshemd hindurch warm an. Daisy hatte den Blick ebenfalls gesenkt. Sie hatte jetzt jede Menge Muße, ihre Hand zu betrachten, denn die Zeit war komplett stehen geblieben. Tucker und sie waren wie erstarrt, verbunden durch ihre Handfläche und seinen Unterarm.

Ihr Herz schlug heftig. Dieser kurze Augenblick kam ihr lächerlich bedeutsam vor, so als würde Tuckers Reaktion über Leben und Tod entscheiden. Würde er ihre Hand abschütteln, ihre Berührung ignorieren oder sie an sich ziehen? Was würde er tun?

Ich stelle dir hier gerade eine Frage, Tucker, und ich warte auf eine Antwort. Ich entblöße mich vor dir und vermittle dir, was ich will, um zu erfahren, ob du das auch willst. Bisher hast du mir nicht viel gegeben, aber ich habe da dieses Gefühl …

Würde er sie küssen? Würde er ihr eine Hand in den Nacken legen und sie an sich ziehen, sodass sie eng aneinander gepresst waren? Würde er einen Seufzer der Erleichterung ausstoßen, weil er sich genauso zu ihr hingezogen fühlte wie sie sich zu ihm und dankbar dafür war, dass sie den ersten Schritt machte?

Oder würde er so tun, als sei nichts passiert und irgendetwas Neutrales über imprägniertes Holz oder die Zufahrt für den Zementlaster faseln?

Nein.

Nichts davon.

Sie hatten die Aufmerksamkeit immer noch auf die Kontaktstelle gerichtet, warme Hand auf warmem Unterarm … Nähe … Daisys unterschwellige Botschaft. Sekunden verstrichen. Oder vielleicht auch nicht, denn die Zeit schien anderen Gesetzen zu folgen als sonst.

Und dann nahm Tucker endlich Daisys Hand. Nahm sie einfach weg, so wie man ein Blatt Herbstlaub wegnehmen würde, das zufällig dort gelandet war, oder nein, einen Käfer – einen hübschen Käfer, dem man nicht wehtun wollte, dem man aber nicht erlauben konnte zu bleiben, wo er war, weil er nicht dorthin gehörte. Er nahm Daisys Hand und gab sie ihr zurück.

Hier, deine Hand, Daisy. Sie ist aus Versehen auf meinem Arm gelandet, und ich nehme sie ganz vorsichtig dort weg, um ihr nicht wehzutun, aber ich will sie nicht, okay?

Daisy wurde innerlich heiß vor Scham. Unbeholfen trat sie einen Schritt zurück. Ihre Wangen brannten, was verräterischer war als ihr Handeln. Abgesehen von seiner kleinen Geste der Zurückweisung. hatte Tucker sich nicht vom Fleck gerührt, hatte keinen Ton von sich gegeben und wahrte immer noch einen neutralen Gesichtsausdruck, und doch hatte Daisy keinerlei Zweifel an dem, was gerade passiert war.

Sie hatte die Initiative ergriffen, und er hatte darauf reagiert. Sie hatte ihm eine stumme Frage gestellt, und er hatte darauf geantwortet. Mehr brauchte sie nicht, um zu wissen, woran sie war.

Botschaft verstanden, Tucker.

Laut und deutlich.

Das Gefühl der Enttäuschung war überwältigend.

5. KAPITEL

Tucker war spät dran. Morgens hatte er sich in Vermont ein letztes Mal ein fertiges Projekt angesehen, um rechtzeitig zum
Zementgießen wieder in Spruce Bay zu sein, aber leider spielte der Verkehr nicht mit. Er schickte seinen Jungs daher eine SMS, dass er sich verspäten würde.

Als er um drei ankam, war der Zementlaster bereits weg und der Zement schon an manchen Stellen um den Pool herum geglättet. Tuckers neuer Angestellter Kyle alberte herum, während Tuckers Bauleiter Brad ihn ermahnte, seinen Job zu machen.

Kyle ignorierte die Ermahnung.

Tucker beschloss, sich einzuschalten. Der Neue war Anfang zwanzig und schmal gebaut, aber kräftig. Er war ein witziger gutmütiger Typ, hatte jedoch keine Erfahrung. In diesem Augenblick balancierte er am Rand des frisch gegossenen Zements und fragte den neunzehnjährigen Scott, ob er nicht auch schon immer mal in frischen Zement hatte treten wollen. Er packte Scott an einem Arm und tat so, als wolle er ihn in den nassen Zement werfen.

„Hör auf damit, Kyle“, sagte Scott, dem das Missfallen seines Bauleiters nicht entgangen war. Genauso wenig Tuckers Ankunft.

Kyle ignorierte ihn. Er balancierte weiter, sah jedoch plötzlich so aus, als verliere er das Gleichgewicht. Seine Hände begannen zu flattern. Alberte der Idiot etwa immer noch herum?

Als Scott sich aus Kyles Griff befreite, taumelte Kyle zurück in den frischen Zement und hinterließ dort tiefe Spuren, bevor er in die andere Richtung schwankte – direkt in den Pool, den sie vor einigen Tagen geleert hatten, um ihn neu zu fliesen. Als er unten aufschlug, hörte Tucker ein deutliches Knacken, auch wenn er noch fünfzehn Meter vom Pool entfernt war. Er beschleunigte seine Schritte. „Verdammt!“, rief er. „Was ist mit ihm, Brad?“

„Rührt sich nicht.“ Der Bauleiter kletterte rasch hinunter in den Pool.

„Ich rufe einen Krankenwagen.“ Tucker griff nach seinem Handy, doch es steckte nicht in seiner Jeanstasche. Er hatte es anscheinend im Wagen liegen lassen. „Beweg ihn nicht. Ich weiß nicht, ob er sich etwas gebrochen hat, aber sollte es die Wirbelsäule sein …“

„Ich weiß.“

Brad und Scott hatten auch kein Handy dabei.

„Ich ruf vom Büro aus an“, sagte Tucker und eilte an den halb verteilten Haufen nassen Zements vorbei. Wenn sie nicht bald fertig wurden, würde er aushärten, und dann würde es schwierig werden, ihn wieder zu entfernen. Verdammt, es war völlig unangebracht, auf den verletzten Kyle wütend zu sein, aber Tucker war es trotzdem.

Als er sich dem Büro näherte, kam Daisy ihm bereits entgegen. Sie hatte anscheinend schon mitbekommen, dass etwas vorgefallen war. „Was ist los?“ Sie verschränkte die Arme vor der Brust – eine unbewusste Verteidigungsgeste, an die Tucker sich in den letzten Tagen hatte gewöhnen müssen. Vermutlich war er dafür verantwortlich. Sie trug Jeans und einen eng geschnittenen hellblauen Pullover. Wenn sie die Arme verschränkte, schoben sich ihre hübschen, sich deutlich unter dem Pullover abzeichnenden Brüste nach oben.

Verdammt, er durfte nicht hinsehen! „Kyle ist in den Pool gefallen und bewusstlos.“

„Mist.“ Daisy wirbelte herum und eilte zurück ins Büro. Sie hatte den Hörer schon in der Hand, als Tucker zur Tür hereinkam. Fast hätte er ihn ihr weggenommen, aber sie telefonierte bereits. „Wir haben einen Verletzen auf unserer Baustelle, und er ist bewusstlos. Wir brauchen dringend einen Krankenwagen.“

Eine Woche war vergangen, seitdem sie ihm eine Hand auf einen Arm gelegt hatte, und Tucker konnte an nichts anderes mehr denken. Ihre Geste war unmissverständlich gewesen.

Verdammt, er dachte schon wieder dran!

In jenem Augenblick war er wie zu Eis erstarrt gewesen und hatte verzweifelt versucht, sich zu beherrschen. Daisys magische Aura hatte ihn eingehüllt wie Honig oder warmes Licht. Er hätte sich ihr mühelos nähern können, seine Stirn an ihre legen, ihre süßen Lippen küssen und sie an sich ziehen können, bis sie Schenkel an Schenkel, Brust an Brust, Mund an Mund standen.

In seiner Fantasie war das alles passiert und mehr, doch er hatte sich mit aller Kraft zurückgenommen und nichts davon getan. Stattdessen hatte er die Zähne so fest zusammengebissen, dass sie schmerzten, und Daisys Hand weggenommen.

Es war ihm unendlich schwergefallen!

Seitdem gingen sie einander aus dem Weg oder vermieden es vielmehr, allein miteinander zu sein. Wenn sie wegen des Projekts etwas zu klären hatten, tauschten sie Nachrichten aus oder unterhielten sich in Brads oder Scotts oder Kyles Beisein.

Und jetzt lag Kyle bewusstlos im Pool, während Daisy dem Krankenhaus die Adresse der Ferienanlage nannte, den knackigen Po gegen eine Schreibtischkante gelehnt. Ihr blondes Haar war heute etwas zerzaust, und sie hatte einen kleinen blauen Tintenfleck auf einer Wange und an den Fingern. Tucker begehrte sie so heftig, dass es schmerzte.

Er verließ das Büro, um die kalte Herbstluft einzuatmen und einen klaren Kopf zu bekommen.

Kurz darauf kam Daisy zu ihm nach draußen. „Sie sind unterwegs.“

Tucker nickte. „Hast du ein paar Decken, damit Kyle nicht auskühlt?“

„Ach ja, stimmt. Sorry, ich hätte selbst daran denken können, aber ich …“ Sie schlug sich mit einer Hand gegen den Kopf und lächelte zerknirscht, ohne den Satz zu vollenden.

„Mach dir keine Gedanken deswegen“, sagte Tucker heiser. Er spürte, dass sie sich nicht nur wegen der vergessenen Decken, sondern auch wegen des Augenblicks am See entschuldigte. Sie dachte anscheinend, dass sie einen Fehler gemacht hatte. Dass sie seine Signale missdeutet hatte.

Nein, hast du nicht, Daisy. Du hast sie genau richtig gedeutet, mehr als du ahnst. Ich habe einfach andere Gründe, ihnen nicht nachzugeben, das ist alles.

Daisy ging wieder ins Bürogebäude und kehrte kurz darauf mit einem Stapel Decken zurück.

„Kann es nicht sein, dass Kyle schon vor dem Sturz in den Pool ohnmächtig wurde?“, sagte Tucker aus einem Moment der Eingebung heraus. „Ich glaube, er ist genau deshalb in den Pool gefallen: weil er ohnmächtig wurde. Er alberte herum und verlor plötzlich das Gleichgewicht … Seine Hände zuckten unkontrolliert. Es sah aus wie eine Art Anfall.“

Autor

Lilian Darcy

Die Australierin Lilian Darcy hat einen abwechslungsreichen Weg hinter sich. Sie studierte Russisch, Französisch und Sprachwissenschaften und ging nach ihrem Abschluss als Kindermädchen in die französischen Alpen. Es folgten diverse Engagements am Theater, sowohl auf der Bühne als auch als Drehbuchautorin. Später hat Lilian Darcy als Lehrerin für Französisch und...

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Die USA-Today-Bestsellerautorin Michelle Major liebt Geschichten über Neuanfänge, zweite Chancen - und natürlich mit Happy End. Als passionierte Bergsteigerin lebt sie im Schatten der Rocky Mountains, zusammen mit ihrem Mann, zwei Teenagern und einer bunten Mischung an verwöhnten Haustieren. Mehr über Michelle Major auf www.michellemajor.com.

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Joanna Sims brennt für moderne Romances und entwirft gerne Charaktere, die hart arbeiten, heimatverbunden und absolut treu sind. Die Autorin führt diese auf manchmal verschlungenen Pfaden verlässlich zum wohlverdienten Happy End. Besuchen Sie Joanna Sims auf ihrer Webseite www.joannasimsromance.com. 

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