Cora Collection Band 21

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VERFÜHRUNG AUF ITALIENISCH von CRAVEN, SARA
Clare hat sich unsterblich verliebt! Doch sie darf ihre Gefühle nicht zeigen, denn der faszinierende Marchese Guido Bartaldi wird in Kürze eine andere heiraten. Traurig beschließt sie, Italien sofort zu verlassen …

MIT EINEM SCHUSS EROTIK von SHALVIS, JILL
Heiße Flirts vor der Kamera - das ist das Rezept, mit dem Mitch ihre Kochshow retten will. Dimi weiß: Als TV-Profi sollte sie dabei cool bleiben - doch ihr Verlangen erreicht den Siedepunkt …

ICH WILL EINEN COWBOY ALS MANN von THACKER, CATHY GILLEN
Wenn Maggie heiratet, muss es ein Cowboy sein. Der millionenschwere James MacIntyre entspricht haargenau dem Mann ihrer Träume. Leider ist der umwerfend männliche Rancher nur an einer heißen Affäre mit ihr interessiert …

ICH KANN MALLORCA NICHT VERGESSEN von MCCALLUM, KRISTY
Beim Windsurfen auf Mallorca sieht Jane ihn wieder: Miguel de Tarrago! Der vermögende spanische Playboy hat schon einmal ihr Herz im Sturm erobert. Doch diesmal hat die hübsche Engländerin sich geschworen, ihm zu widerstehen …


  • Erscheinungstag 01.12.2017
  • Bandnummer 21
  • ISBN / Artikelnummer 9783733734923
  • Seitenanzahl 496
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Sara Craven, Jill Shalvis, Cathy Gillen Thacker, Kristy McCallum

CORA COLLECTION BAND 21

1. KAPITEL

In Rom war es unerträglich heiß gewesen, mit flirrender Luft und gleißendem Sonnenschein, aber als Clare jetzt weiter Richtung Norden fuhr, konnte sie dunkle Wolken über dem Apennin hängen sehen, und in der Ferne hörte sie rollenden Donner.

Von einem Gewitter ins nächste, dachte sie mit galligem Humor und griff das Steuer des gemieteten Fiats fester, als sie eine enge Kurve nehmen musste.

Das erste Gewitter war allerdings menschlicher Machart gewesen und hatte ihren Drei-Monats-Vertrag als Englischlehrerin bei einer reichen italienischen Familie mit einer vorzeitigen, nämlich fristlosen Kündigung beendet.

Und das alles nur, weil der Hausherr seine Finger nicht hatte bei sich behalten können.

„Sie trifft keine Schuld“, hatte Signora Dorelli, eine makellose Erscheinung in grauer Seide und Perlenkette, mit stahlharten Augen gesagt. „Ich laste Ihnen das Verhalten meines Mannes nicht an. Sie haben sich sehr anständig benommen. Ihr eigenes Verhalten gab zu keinerlei Beanstandung Anlass. Aber ich hätte es besser wissen müssen, anstatt eine junge, attraktive Frau ins Haus zu bringen. Immerhin haben Sie ihm gezeigt, dass er nicht der unwiderstehliche Adonis ist, für den er sich hält. Trotzdem werden Sie unser Haus verlassen müssen. Und der nächste Englischtutor wird mit Sicherheit männlichen Geschlechts sein.“

Also hatte Clare umgehend ihre Koffer gepackt, sich von den Kindern verabschiedet, die sie bereits ins Herz geschlossen hatten, und wortlos ihr Honorar für die gesamte Dauer der drei Monate zusammen mit einem ansehnlichen Bonus von einem sehr schweigsamen Signore Dorelli entgegengenommen.

Wenn es nach ihm gegangen wäre, dachte Clare, hätte er mich ohne eine Lira vor die Tür gesetzt. Glücklicherweise hatte seine Frau in dieser Angelegenheit andere Vorstellungen gehabt. Und nach Signora Dorellis Miene zu urteilen, würde der elegante Signore Dorelli auch noch auf andere Art und Weise für seinen Fauxpas zu zahlen haben.

Er hat es verdient, sagte sich Clare. Die letzten zehn Tage waren unerträglich gewesen. Ständig hatte sie seine Annäherungsversuche abwehren müssen, immer musste sie darauf bedacht sein, ihm aus dem Weg zu gehen. Aber selbst in der weitläufigen Villa war das nicht immer möglich gewesen, und mit Schaudern dachte sie daran, wie er sie immer wieder aufs Neue bedrängt hatte, wenn sie ihm zufällig allein begegnet war. Weder ihre abwehrende Haltung noch die schrill vorgetragenen Anschuldigungen seiner Frau hatten ihn davon abbringen können, ihr nachzustellen und ihr in der versammelten Peinlichkeit seiner alternden Leidenschaft seine Empfindungen und Gelüste zu unterbreiten.

Heute Morgen war er dann endgültig zu weit gegangen. Er hatte sie allein im Frühstückszimmer überrascht und nicht nur versucht, sie zu küssen, sondern hatte seine Hand auch unter ihre Kleidung gleiten lassen. Und da hatte Clare ihm den heißen Inhalt ihrer Kaffeetasse ins Gesicht geschüttet, genau in dem Moment, als die Signora ins Zimmer trat.

Das war also der Grund, weshalb sie sich jetzt, frei wie ein Vogel, auf dem Weg nach Umbrien befand.

Ihre Vernunft hatte dafür plädiert, nach England zurückzukehren, sich umgehend bei ihrer Agentur zu melden und einen neuen Posten anzunehmen. Das würde sie auch tun, allerdings erst nach ihrem Besuch bei Violetta.

Bei dem Gedanken an ihre Patentante lächelte Clare. Sie war ihr immer als die Verkörperung der weiblichen Eleganz erschienen, mit grazilen Gesten, teurer Garderobe und unauffälligem Schmuck, der allerdings ein Vermögen kostete. Eine reiche Witwe, die nie wieder in Versuchung gekommen war, ein zweites Mal zu heiraten.

„Warum sollte man sich täglich mit dem gleichen Essen zufrieden geben, cara, wenn man das ganze Büfett probieren kann?“ hatte sie einmal charmant lächelnd gesagt.

Violetta liebte das Leben und wurde vom Leben geliebt. Während der heißen Jahreszeit zog sie sich in ihren bezaubernden Sommerwohnsitz am Fuße der Berge in der Nähe von Urbino zurück, um sich von den anstrengenden gesellschaftlichen Verpflichtungen zu erholen, die sie das ganze Jahr über genoss.

Und ständig drängte sie Clare, sie doch zu besuchen.

„Du bist mir jederzeit willkommen“, hatte Violetta ihr versichert und sich mit einem Spitzentaschentuch eine echte Träne aus dem Augenwinkel getupft. „Ich würde dich so gern wieder sehen. Du bist das ganze Ebenbild deiner Mutter Laura, meiner Cousine und lieben Freundin. Sie fehlt mir so. Ich werde nie verstehen, wie dein Vater diese schreckliche Frau ihren Platz an seiner Seite einnehmen lassen konnte.“

Doch auf solche Bemerkungen reagierte Clare grundsätzlich nicht.

Laura Marriot war nun seit fünf Jahren tot, und wie immer Clares Meinung über ihre Stiefmutter sein mochte und welche mit Sicherheit bestehenden Schwierigkeiten es zwischen ihnen auch gab, Bernice machte ihren Vater glücklich. Und das war schließlich der wichtigste Grund für eine, für diese Ehe. Zumindest sagte sich Clare das immer wieder.

Aber durch John Marriots zweite Heirat hatten sich Clares Zukunftspläne radikal verändert. Der Traum, in die erfolgreiche Sprachenschule ihres Vaters in Cambridge als Partner einzusteigen, hatte sich damit zerschlagen. Bernice hatte dafür gesorgt, dass es diese Option für sie nicht mehr gab. Vielleicht lag es auch daran, dass Bernices besitzergreifender Charakter kein Verständnis dafür aufbrachte, dass John und Clare nicht nur Vater und Tochter, sondern auch wirkliche Freunde und Partner waren. Es mochte allerdings ebenso daran liegen, dass Clare das Ebenbild ihrer Mutter war und Bernice es nicht ertragen konnte, ständig die lebendige Erinnerung an diese schöne Frau in Gestalt einer erwachsenen Tochter vor Augen zu haben.

Jedes Mal, wenn Bernice Clare anschaute, sah sie den hellen, makellosen Teint, den Clare von ihrer Mutter geerbt hatte, das silbrig blonde Haar, die dunklen Augen mit den golden sprühenden Pünktchen und die vollen, fein geschwungenen Lippen, die sich jederzeit zu einem warmen Lächeln verziehen konnten oder aus denen ein hell klingendes Lachen drang.

Es war schwer gewesen, aber Clare hatte ihren Schmerz und ihre Enttäuschung schließlich hinuntergeschluckt und sich als freiberufliche Englischlehrerin beworben. Glücklicherweise hatte sie sofort die renommierte Agentur gefunden, für die sie jetzt arbeitete, und von Anfang an gut dotierte Aufträge erhalten.

Mittlerweile hatte sie sich einen sehr guten Ruf erarbeitet; mit Können, Enthusiasmus und absoluter Vertrauenswürdigkeit war sie fast an die Grenze der Erschöpfung geraten. Ein Engagement hatte das andere abgelöst, und sie hatte bereits die schönsten Gegenden Europas kennen gelernt – aus der Perspektive ihrer Herrenhäuser.

Sie seufzte leise. Die Dorellis waren ihr erster Fehlschlag gewesen. Deshalb hatte sie jetzt auch endlich eine kleine Pause verdient, bevor sie den nächsten Auftrag annahm. Und im Hause ihrer Patentante würde sie sicher verwöhnt und verhätschelt werden. Ein Ferienaufenthalt würde ihr ganz gut tun.

Ein Donnergrollen über den Bergen ließ sie aus dem Wagenfenster nach oben blicken. Sie hatte noch ein ganzes Stück bis nach Cenacchio, wo Violetta lebte, vor sich. Sie würde genau in das Unwetter hineinfahren.

Sie hatte den Gedanken kaum zu Ende gedacht, als auch schon die ersten dicken Regentropfen auf die Windschutzscheibe prasselten. Sekunden später goss es in Strömen, so dass die Scheibenwischer des kleinen Fiats die Wassermassen kaum noch bewältigen konnten.

Das waren nicht gerade die besten Bedingungen, um mit einem winzigen Auto auf einer unbekannten, kurvenreichen Strecke unterwegs zu sein. Also beschloss Clare, an den Straßenrand zu fahren. So ein Sommergewitter dauerte nie lange, sie würde es einfach aussitzen.

Sie griff nach hinten auf den Rücksitz, holte den Fruchtsaft und das Sandwich hervor, die sie unterwegs an einer Tankstelle gekauft hatte, und machte es sich gemütlich. Da draußen bot sich ihr ein überwältigendes Schauspiel der Naturgewalten, mit Blitz und Donner und einer schier undurchdringlichen Regenwand, und sie saß sicher und trocken in ihrem Auto.

Sie griff ins Handschuhfach, um eine Serviette herauszuholen – und stutzte.

Da vorn, am Straßenrand, war das etwa ein Mensch? Unmöglich, bei diesem Wetter konnte niemand in dieser Einöde zu Fuß unterwegs sein.

Und doch, als sie genauer hinsah, erkannte sie eine menschliche Gestalt, die die Straße entlang lief. Ein junges Mädchen mit einem großen Koffer in der Hand. Und es humpelte.

Clare kurbelte das Seitenfenster herunter. Als das Mädchen mit dem Wagen auf einer Höhe war, fragte Clare auf Italienisch:

„Brauchen Sie Hilfe? Kann ich etwas für Sie tun?“

Das Mädchen zögerte und blieb stehen. Sie war noch ein Teenager und interessanten hübsch, selbst in diesem ramponierten, tropfnassen Zustand. Vor allem aber sah sie trotzig aus, was einen bemerkenswerten Kontrast zu ihrer restlichen Erscheinung bildete „Ich danke sehr, Signora, aber das ist nicht nötig. Ich komme allein zurecht.“

„Das sieht mir aber nicht danach aus.“ Clare sah hinunter auf die Füße des Mädchens. „Haben Sie sich den Knöchel verstaucht?“

„Nein.“ Die Miene des Mädchens wurde noch trotziger, falls das überhaupt möglich war. „Das ist nur dieser dumme Schuh. Sehen Sie? Der Absatz ist abgebrochen.“

Clare blieb todernst. „Wenn Sie Ihren Spaziergang fortzusetzen gedenken, schlage ich vor, dass Sie den anderen Absatz auch abbrechen. Das bringt die Dinge mehr ins Gleichgewicht.“

„Ich gehe nicht spazieren“, erwiderte das Mädchen von oben herab. „Ich bin mit dem Auto gefahren, bis es stehen blieb. Mir ist das Benzin ausgegangen.“

Jetzt erlaubte sich Clare doch eine Regung und zog erstaunt die Augenbrauen hoch. „Sind Sie denn schon alt genug, um Auto zu fahren?“

Die kurze Stille, die entstand, verriet alles. „Natürlich bin ich alt genug“, log das Mädchen, dann verzog es das Gesicht. „Aber dieses Auto hat ja nie viel Benzin im Tank, für den Fall, dass ich durchbrennen will.“

Clare sah auf den schweren Koffer in der Hand des jungen Dings. „Und genau das tun Sie wohl im Moment, nicht wahr?“

Das Mädchen straffte sich und versuchte würdevoll auszusehen, was nicht so recht gelang. „Das, Signora, geht Sie überhaupt nichts an.“

„Wahrscheinlich haben Sie sogar Recht“, entgegnete Clare und lehnte sich zur Beifahrerseite, um die die Wagentür zu öffnen. „Aber Sie können sich wenigstens so lange zu mir in den Wagen setzen, bis dieser Regenguss aufhört. Sie holen sich ja den Tod.“

Der Teenager protestierte entrüstet „Ich kenne Sie doch überhaupt nicht! Vielleicht sind Sie ja auch … und wollen nur …“

Clare lächelte freundlich. „Ich versichere Ihnen, ich bin es nicht und ich will es auch nicht. Ich will nichts außer Sie aus diesem Regen herausholen. Hier im Auto sind Sie sicherer als da draußen auf der Straße.“

Nun riss das Mädchen die Augen auf. „Glauben Sie denn, ich könnte vom Blitz getroffen werden?“

„Und das wäre noch das kleinste Übel“, erwiderte Clare ruhig. „Jetzt kommen Sie schon, legen Sie Ihren Koffer auf den Rücksitz, und steigen endlich ein, bevor Sie weggeschwemmt werden.“

Das Mädchen tat, wie ihm geheißen, und als es auf den Beifahrersitz schlüpfte, bemerkte Clare, dass es vor Kälte zitterte. Das zartrosa Kleid, zweifelsfrei eine Kreation mit einem großen Designernamen auf dem Etikett, klebte an ihrem Körper, und den Riemchensandaletten, farblich passend zum Kleid, war nichts mehr von ihrer einstigen Eleganz geblieben.

„Sie müssen aus den nassen Sachen heraus, sonst bekommen Sie eine Lungenentzündung.“

Clare griff nach hinten und zog ihren Regenmantel hervor. „Hier. Ziehen Sie das stattdessen über. Wenn Sie den Mantel zuknöpfen und den Gürtel festziehen, merkt keiner, dass Sie darunter nichts anhaben.“ Sie betrachtete das junge Mädchen. „Ich würde Ihnen gerne etwas Heißes zu trinken anbieten, aber im Moment kann ich nur mit Fruchtsaft dienen.“

Das junge Mädchen schwieg kurz, dann besann es sich. „Danke, Sie sind wirklich sehr nett.“

Clare lächelte und kramte nach dem Saft. Die unwilligen leisen Flüche, die an ihr Ohr drangen, als das Mädchen sich in dem engen Wagenfond umzog, ignorierte sie.

„Das Kleid ist völlig hin.“ Das Mädchen schob das nasse, rosafarbene Leinenbündel achtlos in den Fußraum. „Das werde ich wohl nur noch wegwerfen können. Ein Jammer darum. Es ist zwei Tage alt.“

„Ist das nicht ein bisschen übertrieben?“ Clare reichte dem Mädchen den Saft. „Was ist mit Ihrem Auto? Wo haben Sie es stehen lassen?“

Das Mädchen zuckte nur mit den Schultern. „Irgendwo da hinten. So genau weiß ich das nicht mehr. Es muss mindestens eine halbe Stunde Fußweg zurück stehen. Das finden wir nie wieder.“

„Das ist schade“, meinte Clare trocken. „Aber vielleicht sollten wir uns erst mal miteinander bekannt machen. Ich bin Clare Marriot.“

Das Mädchen starrte sie verblüfft an. „Sie sind Engländerin? Das hätte ich nicht für möglich gehalten. Ihr Italienisch ist so gut, ich hätte nie gedacht, dass Sie keine Italienerin sind. Haben Sie italienische Eltern?“

Clare lächelte und unterbrach das Geplapper, das zweifellos als Kompliment gemeint war und klang, als befänden sich beide unter ihresgleichen auf dem Schulhof.

„Meine Mutter war Italienerin. Außerdem ist Italienisch eine von den Sprachen, die ich unterrichte.“

„Wirklich? Wie viele Sprachen unterrichten Sie denn?“

„Oh, Französisch, Spanisch, Italienisch – und Englisch natürlich.“

„Sind Sie deshalb hier? Um Englisch zu unterrichten?“

Clare schüttelte den Kopf. „Nein, im Moment mache ich Urlaub.“ Sie sah in das hübsche Gesicht. „Und wie heißen Sie?“

„Ich heiße Paola … Morisone.“

Auch wenn das Zögern kaum merklich gewesen war, Clare war es nicht entgangen. Aber sie beließ es dabei. „Sieht aus, als ob das Gewitter sich bald verzieht.“ Sie wandte sich wieder ihrem Gast zu. „Wenn Sie mir sagen, wo Sie wohnen, bringe ich Sie nach Hause.“

„Nein!“ stieß Paola heftig aus. „Ich gehe nie wieder nach Hause!“

Innerlich stöhnte Clare auf, äußerlich blieb sie ruhig. „Seien Sie doch vernünftig. Sie sind bis auf die Haut durchnässt, Ihre Schuhe sind hin, und Ihre Familie macht sich mittlerweile bestimmt Sorgen.“

Paola warf den Kopf zurück. „Sollen sie doch. Von mir aus. Und wenn Guido denkt, dass ich tot bin – umso besser. Dann brauche ich wenigstens seine Überredungsversuche, ihn zu heiraten, nicht mehr zu ertragen.“

Clare forschte in dem jungen Gesicht, dessen Augen jetzt düster dreinblickten, und langsam begriff sie den Sinn der Worte. „Guido?“ hakte sie vorsichtig nach.

„Mein Bruder. Er ist ein Mistkerl.“

Clare schaute sich das Mädchen genauer an. Sie wusste nicht, was sie davon halten sollte. Konnte es sein, dass sie nicht nur Unsinn redete? War sie aus einem Elternhaus fortgelaufen? Aber wie hätte sie anderswo mit dem Koffer entkommen können? Sie musste herausfinden, was mit dem Mädchen war. Schon, um sich selbst zu schützen.

„Ihr Bruder, sagten Sie? Aber das ist doch Unsinn. Sie können doch unmöglich Ihren Bruder …“

„Oh, er ist nicht mein leiblicher Bruder.“ Paola rümpfte abfällig die Nase. „Mein Vater und er waren Geschäftspartner, und dann ist mein Vater gestorben. Zio Carlo hat gesagt, dass ich bei ihm leben muss, obwohl ich nicht wollte. Ich wollte bei meiner matrigna bleiben, und sie wollte das auch. Aber die Anwälte haben das nicht erlaubt.“

Zumindest hat die kleine Paola mit ihrer Stiefmutter mehr Glück gehabt als ich, dachte Clare. Die liebe Bernice hat es nicht erwarten können, mich endlich aus dem Haus zu haben. Laut sagte sie: „Und Zio Carlo möchte, dass Sie diesen Guido heiraten?“

Dio, no! Zio Carlo ist auch tot.“ Paola seufzte schwer. „Aber in seinem Testament hat er bestimmt, dass Guido bis zu meinem fünfundzwanzigsten Lebensjahr mein Vormund sein soll, bis ich mit fünfundzwanzig dann auch über mein Erbe verfügen kann. Es sei denn, ich heirate vorher. Und das habe ich auch vor. Allerdings nicht Guido.“

Das war ja eine dramatische Geschichte! Clare atmete erst mal tief durch. „Sind Sie nicht ein bisschen sehr jung, um schon an Heirat zu denken?“, fragte sie vorsichtig.

„Ich bin achtzehn. Nun, also, fast“, fügte Paola schnell hinzu. „Außerdem ist das nicht wichtig. Meine Mutter war in demselben Alter, als sie meinen Vater traf und sich in ihn verliebte.“ Paolas Blick wurde träumerisch. „Das Alter spielt keine Rolle, wenn man den Mann seines Lebens gefunden hat.“

„Ah, jetzt verstehe ich“, meinte Clare trocken. „Und? Jetzt haben Sie diesen Mann gefunden und sind bereit für die Ehe. Und Guido teilt ihre Auffassung nicht ganz …“

„Oh ja! Fabio.“ Paolas Augen begannen zu glänzen. „Er ist wunderbar. Er wird mich vor Guido beschützen.“

Was ist das alles nur für haarsträubender Unsinn, dachte Clare halb amüsiert, halb entsetzt. Es war an der Zeit, dem Ganzen wieder ein bisschen Realismus beizumischen und das Kind zur Raison zu bringen. „Paola, wir leben im einundzwanzigsten Jahrhundert. Man zwingt Menschen schon seit langer Zeit nicht mehr zu einer Ehe. In den meisten europäischen Ländern sind Zwangsverheiratungen verboten. Wenn Sie Guido sagen, wie Sie wirklich fühlen, dann …“

„Das interessiert ihn nicht. Es geht hier um Geld, um viel Geld. Ich habe die Geschäftsanteile meines Vaters geerbt. Guido wird es nicht zulassen, dass ich einen anderen Mann heirate, denn dann sind die Anteile für ihn verloren. Seit drei Jahren schon hält er mich wie eine Gefangene.“

Das wurde ja immer wilder. „Eine Gefangene? Wie meinen Sie das? Erzählen Sie doch, wo …“

Paola schürzte schmollend die Lippen. „Er hat mich auf diese Schule geschickt. Die Nonnen waren die reinsten Gefängniswärter. Er hat das nur getan, damit ich nicht ausgehen und jemanden treffen kann.“

In Clare kam der Gedanke herauf, dass dieser Guido vielleicht gar nicht so Unrecht haben könnte. Paola schien den Realitätssinn eines unbeschwerten schönen Schmetterlings zu haben und Ansprüche auf Selbstverwirklichung, die sie vielleicht aus Illustrierten oder dem Nachmittagsfernsehen hatte. Allerdings war das keinesfalls eine Rechtfertigung, dieses Mädchen nur wegen seines Geldes zu heiraten. Wenn dem denn überhaupt so war.

„Vielleicht meint er es ja wirklich gut mit Ihnen, Paola“, meinte sie sanft.

Paola schnaubte abfällig. „Der? Der denkt doch nur daran, dass er die Kontrolle über meine Aktien verlieren könnte.“

„Aha.“ Clare schwieg einen Moment. „Und der Mann, mit dem Sie glücklich werden wollen? Fabio, nicht? Wo haben Sie ihn kennen gelernt?“

Wieder nahm Paolas Gesicht einen verträumten Ausdruck an. „Ich war im Urlaub. Mit meiner Freundin Carlotta und ihren Eltern. Guido hat mich nur mitfahren lassen, weil Carlottas Mutter mindestens genauso streng ist wie die Nonnen.“ Paola kicherte. „Aber Carlotta und ich sind nachts aus dem Fenster gestiegen und in die Stadt gegangen. Einmal waren wir in einer Disco, und ein paar Kerle haben uns belästigt. Fabio und sein Freund kamen dazu und haben uns geholfen.“ Sie seufzte laut. „Ach, ich habe ihn nur einmal angesehen, und wusste es sofort. Und für ihn war es genauso.“

„Wie romantisch.“ Clare bemühte sich, nicht ironisch zu klingen. „Und Sie haben noch Kontakt zueinander?“

Paola nickte. „Wir schreiben uns, und ich tue immer so, als wären die Briefe von Carlotta.“

„Haben Sie Guido denn von diesem Jungen erzählt? Wenn Sie ihn heiraten wollen, sollte Ihr Vormund ihn doch kennen lernen.“

„Sind Sie verrückt?“ Paola rollte mit den Augen. „Er würde mich sofort auf die nächste Schule schicken, wahrscheinlich in die Schweiz, und da müsste ich dann kochen und Blumen stecken und lernen, wie man eine perfekte Gastgeberin wird. Seine perfekte Gastgeberin“, fügte sie düster hinzu. „Außerdem“, fuhr sie fort, „ist Fabio kein Junge. Er ist ein Mann. Natürlich nicht so alt wie Guido, aber dafür viel, viel hübscher.“ Paola rollte schwärmerisch mit den Augen. „Ah, bello!“

So wie Paola von diesem Guido sprach, erstand vor Clare das Bild eines alternden Lüstlings, der es auf junge Mädchen abgesehen hatte. Natürlich musste ihr Fabio da wie der Ritter in goldener Rüstung erscheinen. „Und was haben Sie jetzt vor? Wollen Sie zu Fabio?“

„Si.“ Paola nickte stürmisch. „Wir werden heiraten.“

Misch dich da nicht ein, das geht dich nichts an, hörte Clare in sich die Stimme der Vernunft. Bring sie zur nächsten Tankstelle, und dann sieh zu, dass du weiterkommst. Laut fragte sie: „Und wo soll die Hochzeit stattfinden?“

Paola zuckte mit den Schultern. „Keine Ahnung. Fabio wird sich um alles kümmern.“

Clare betrachtete das Mädchen nachdenklich. Die Kleine war fast noch ein Kind, und mit ihren Heiratsplänen kam sie vom Regen in die Traufe. Dieser Guido schien kein sonderlich sympathischer Charakter zu sein, aber Fabio … für Fabio hatte Clare noch weniger Sympathien übrig. Wie konnte er ein junges, naives Ding zu einem so unvernünftigen Plan überreden? Vor allem, wenn dieses junge, naive Ding auch noch eine reiche Erbin war. „Wo wollen Sie sich treffen?“

„In Barezzo, am Bahnhof.“ Paola blickte auf ihre sündhaft teure Armbanduhr und stöhnte auf. „Ich werde zu spät kommen. Er wird böse auf mich sein.“

„Wollten Sie einen bestimmten Zug erreichen?“

„Nein, aber der Bahnhof ist immer ein guter Treffpunkt. Da sind so viele Leute, dass wir gar nicht auffallen werden.“

Je mehr Clare über diesen Plan hörte, desto weniger gefiel er ihr. „Ihr Fabio ist aber ein sehr umsichtiger Mann. Er scheint ja wirklich an alles gedacht zu haben.“

Der ironische Unterton war bei Paola völlig verschwendet. „Natürlich. In seinem Brief hat er mir genau geschrieben, was ich tun muss.“ Paola kramte in ihrer Handtasche und murmelte: „Irgendwo muss ich ihn doch haben …“ Dann sah sie auf. „Wenn ich zu spät komme, ist alles aus.“ Ihre Augen nahmen einen flehenden Ausdruck an. „Es sei denn, Signorina, Sie würden mich vielleicht …“

Clare wappnete sich gegen das schmeichelnde Lächeln und gegen die Einflüsterungen des Schicksals, das junge Ding vor seinen nächsten Fehlern bewahren zu sollen. „Tut mir Leid, aber Barezzo liegt nicht in meiner Richtung.“

Paola legte eine Hand auf Clares Arm. „Es ist doch nicht weit, und Sie würden mir sooo damit helfen. Außerdem muss ich in Barezzo sein, bevor sie merkt, dass ich verschwunden bin.“

„Sie?“ Clare kam nicht mit. Wer war „sie“?

„Die Signora. Die Frau, die Guido holt, um mich zu bewachen, wenn er nicht da ist.“

„Ist er denn öfter nicht da?“

Si. Jetzt ist er auch wieder unterwegs. Und ich muss bei ihr bleiben. Sie ist eine Hexe!“ stieß Paola inbrünstig hervor.

Eine besonders fähige Hexe kann das nicht sein, dachte Clare, sonst hätte sie die Kleine längst wieder zurückgezaubert. Aber vielleicht hatte sie ja für das knappe Benzin gesorgt. Immerhin ein Anfang. Sie verkniff sich ein Schmunzeln.

„Aber Guido kommt bald wieder zurück, vielleicht schon morgen, und dann wird er wieder alles versuchen, damit ich ihn heirate.“ Paola erschauerte theatralisch. „Das ist meine letzte Chance, ihm zu entkommen. Danach bin ich verloren. Helfen Sie mir doch!“ Sie rang die Hände, und plötzlich tauchte das Bild des aufdringlichen Signor Dorelli vor Clare auf, und sie presste die Lippen zusammen. „Was … was versucht er denn?“

„Sie meinen, ob er mit mir schläft?“ Paola warf Clare einen Blick zu, den sie ganz bestimmt nicht von den Nonnen gelernt hatte, und schüttelte den Kopf. „Nein, dafür bin ich ihm zu jung. Außerdem hat er ja eine Freundin. Sie wohnt in Siena.“

Das wird ja immer schlimmer, dachte Clare mit gerunzelter Stirn. „Trotzdem“, sie holte tief Luft, „ich denke, Sie sollten sich erst einmal überlegen, was Sie tun wollen, bevor Sie sich so einfach auf eine andere Heirat einlassen. Sie kennen Fabio doch kaum, und so ein Urlaubsflirt überlebt nur selten …“

„Sie wollen, dass ich wieder nach Hause gehe! In dieses Gefängnis!“ Paola schaute Clare vorwurfsvoll an. „Na schön, wenn Sie mich nicht nach Barezzo fahren, dann laufe ich eben.“ Sie beugte sich vor und griff nach ihrem nassen Kleid.

„Nein, das werden Sie nicht“, erwiderte Clare. „Ich fahre Sie.“

Vielleicht konnte sie das Mädchen ja während der Fahrt zur Vernunft bringen. Oder sie zumindest vor jungen Männern warnen, die an den Urlaubsorten des Jet-Set herumlungerten, um eine reiche Erbin zu erobern. Dieser Fabio musste wohl wissen, dass er das große Los gezogen hatte. Immerhin war Paola nicht nur reich, sondern auch ausgesprochen hübsch.

Während Clare den Wagen anließ und langsam anfuhr, dachte sie darüber nach, wie sie das Thema am taktvollsten anschneiden könnte. Aber als sie nach ein paar Minuten einen Blick auf Paola warf, musste sie feststellen, dass die Kleine friedlich eingenickt war.

Als sie eine halbe Stunde später in Barezzo ankamen, schien die Sonne wieder. Clare parkte direkt vor dem Bahnhof und wandte sich Paola zu. Vielleicht war es sogar gut, dass sie eingeschlafen war. Ich werde mir diesen Fabio erst einmal ansehen, dachte Clare. Ihm ein paar Fragen stellen. Ihn wissen lassen, dass ich seinen Plan durchschaut habe.

Sie hatte wirklich keine Ahnung, warum sie sich überhaupt einmischte. Schließlich war Paola eine Fremde für sie, und sie war eine Fremde für Paola. Aber das Mädchen brauchte einen Freund, und im Moment war sie, Clare, der einzige Mensch, der etwas von einem Freund hatte.

Im Gegensatz zu Paolas Vermutung und Fabios Instruktion, dass der Bahnhof vor Menschen wimmeln würde, war der Bahnsteig völlig menschenleer. Nur ein einzelner Mann stand da, lässig an einen Betonpfeiler gelehnt.

Er wirkte wie jemand, der schon einige Zeit dort wartete, und er sah auch aus, als würde er noch tagelang dort warten wollen. Das musste dann also wohl Fabio sein.

Die Absätze ihrer Sommersandaletten klapperten auf dem Steinboden, als Clare auf den Mann zuging. Als sie näher kam, richtete er sich zu seiner vollen imposanten Größe auf. Und ihre Nerven begannen zu flattern. Er wirkte wie ein Raubtier, das zum Sprung auf die Beute ansetzt.

Sie musterte ihn, als sie ein paar Schritte entfernt von ihm Halt machte. Himmel, dachte sie, die Verkörperung der puren Erotik!

Die langen Beine steckten in maßgeschneiderten Hosen, das blaue Hemd stand am Hals offen, und das Jackett, das lässig über die breiten Schultern geworfen war, stammte eindeutig von einem Top-Designer.

Klar, dass dieser Mann eine reiche Frau brauchte! Wahrscheinlich würde Paola jede Lira ihres Erbes darauf verwenden müssen, seinen Lebensstil zu finanzieren.

Er muss ungefähr Mitte dreißig sein, schätzte Clare. Das glänzende schwarze Haar fiel in lässiger Eleganz bis auf den Hemdkragen. Aber er war ganz bestimmt nicht „hübsch“, das Wort, das Paola benutzt hatte, auch wenn seine markanten Züge und die sinnlichen Lippen jede Frau dahinschmelzen lassen würden. Außerdem umgab ihn eine ungenierte Selbstsicherheit – Macht war das einzige Wort, das Clare dazu einfiel. Eine Macht, die ihr körperliches Unbehagen bereitete, aber auch das ultimative Aphrodisiakum war.

Kein Wunder, dass Paola so hingerissen war. Solche Männer sollten gesetzlich verpflichtet werden, ein Warnschild zu tragen!

„Sie warten auf Paola, Signore?“, fragte Clare den Mann in Italienisch.

Si, signorina.“ Seine Stimme war tief und warm, als er höflich antwortete. Aber Clare hörte noch etwas anderes heraus – etwas Lauerndes.

Zwischen ihnen gab es immer noch genügend Abstand, es war also unsinnig – aber trotzdem fühlte Clare eine Bedrohung von diesem Mann ausgehen. Dieser Mann war gefährlich, und genau deshalb brauchte Paola ihre Hilfe.

Der Blick aus den dunklen Augen des Mannes lag unverwandt auf ihr. „Wissen Sie, wo sie ist?“

„Ja, ich weiß, wo sie ist, aber zuerst will ich mit Ihnen reden.“

„Aha, und Sie sind …?“

„Das tut nichts zur Sache“, erwiderte sie schnell.

„Oh, ich denke schon.“ Er musterte sie durchdringend von Kopf bis Fuß, und seine Lippen umspielte ein kleines Lächeln.

Seltsamerweise ärgerte Clare dieses Lächeln. Was konnte er an ihr zum Lächeln finden, sie in ihrem Kleid von der Stange und den Sandaletten aus dem Kaufhaus? Sie riss sich zusammen. Sie musste für ihren Lebensunterhalt arbeiten, sie war keines von diesen reichen, verwöhnten Mädchen, die er ausnehmen wollte. Also, warum ärgerte sie sich dann?

„Sie sind nicht so, wie ich erwartet hatte“, hörte sie ihn jetzt sagen.

Sie hob angriffslustig das Kinn. „Sie aber auch nicht.“

Er neigte den Kopf zur Seite. „Das glaube ich gern“, murmelte er. „Also, wo ist Paola?“

„Ihr geht es gut.“

„Ich bin erleichtert, das zu hören.“ Sein Blick schien sie zu durchbohren. „Kann ich sie sehen?“

„Natürlich.“ Clare war irgendwie verwirrt. „Aber vorher möchte ich mit Ihnen reden.“

Jetzt lächelte er sie an. „Oh ja, Sie werden reden, signorina. Aber nicht mit mir.“

Er machte eine knappe Geste mit der Hand, und im gleichen Augenblick wurde Clare gewahr, dass sie von Männern umringt war. Männern in Uniform und mit angelegten Gewehren in der Hand!

Ihre Arme wurden mit eisernem Griff umklammert und ihr auf den Rücken gedreht, dann hörte sie das metallene Klicken von Handschellen an ihren Gelenken. Sie wollte protestierend aufschreien, aber vor Entsetzen kam kein Ton aus ihrer Kehle.

Fassungslos starrte sie ihr Gegenüber an. Und endlich, nachdem sich der Tumult ein wenig gelegt hatte, fand sie ihre Stimme wieder.

„Wer sind Sie?“, fragte sie heiser.

„Ich bin Guido Bartaldi, signorina. Und Sie sind eine von den Personen, die mein Mündel entführt haben.“ Seine Worte trafen sie wie Peitschenhiebe. „Und jetzt sagen Sie mir, was Sie mit Paola gemacht haben.“

„Entführt?“ Clares Stimme überschlug sich. „Sind Sie noch zu retten? Sie müssen völlig verrückt geworden sein! Was bilden Sie sich ein? Lassen Sie mich sofort frei!“

Die plötzlich einsetzende Stille und das jähe Erstaunen auf Guido Bartaldis Gesicht sagten ihr, dass sie die Worte in Englisch hervorgestoßen hatte.

„Sie sind hier die Verrückte“, erwiderte Guido Bartaldi nun auch in Englisch, „wenn Sie und Ihre Komplizen sich eingebildet haben, Sie kämen damit durch.“

„Ich habe keine Komplizen.“ Langsam sickerte es in Clares Bewusstsein, was hier vor sich ging. „Ich habe Paola auf der Straße im Regen getroffen, und ich habe sie nur hierher gefahren.“

„Marchese!“ Ein Polizist kam auf die Gruppe zugerannt. „Das Mädchen sitzt in einem Wagen, draußen vor dem Eingang. Sie ist bewusstlos, offensichtlich betäubt. Aber sie lebt.“

„Das ist doch bodenloser Unfug“, protestierte Clare, während das Wort „Marchese“ in ihrem Kopf widerhallte, „sie ist eingeschlafen, nicht betäubt.“ Bei allem, was Paola ihr so freizügig erzählt hatte, hatte sie doch vergessen zu erwähnen, dass der ungeliebte Bräutigam ein Marchese war.

„Sie soll sofort in die Klinik gebracht werden“, ordnete der Marchese jetzt mit knapper Stimme an. „Und was diese Dame hier anbelangt“, er wandte glühende Augen auf Clare, „bringt sie weg. Sofort. Ich will sie nicht mehr sehen.“

2. KAPITEL

Sie wurde in einen kleinen Raum gebracht, mit einem vergitterten Fenster, einem Tisch und einem Stuhl. Auf dem Tisch stand eine Plastikflasche mit Mineralwasser und ein Pappbecher.

Wahrscheinlich, damit ich nicht auf die Idee komme, mir mit einer Glasscherbe die Pulsadern aufzuschneiden, dachte Clare zerknirscht.

Aber zumindest hatte man sie nicht in eine Gefängniszelle gesteckt. Noch nicht. Und die Handschellen hatte man ihr auch wieder abgenommen.

Zwei Männer in Zivil hatten ihr einige Fragen gestellt. Sie hatte Name, Alter, Beruf und den Grund ihres Aufenthaltes angeben müssen. Danach hatte man sie allein gelassen.

Fabio war mit keinem Wort erwähnt worden, obwohl sie sicher war, dass der Marchese ihn für den fraglichen Komplizen hielt. Aber was konnte der Junge denn überhaupt getan haben? Dass zwei Jugendliche durchbrannten, war schließlich kein Verbrechen.

Obwohl – mit der zukünftigen Frau des Marchese Bartaldi durchzubrennen ist hier zu Lande sicherlich ein Kapitalverbrechen, dachte Clare mit einem schiefen Grinsen. Sie hatte gesehen, welche Ehrerbietung ihm entgegengebracht wurde.

Guido Bartaldi – irgendwie kam der Name ihr bekannt vor. Woher nur? Aber ihr Hirn war zu ausgelaugt vor Angst und weigerte sich, mit der Information herauszurücken.

Nur eines wusste sie sicher: Sie hatte Guido Bartaldi nie zuvor im Leben gesehen. Eine solche Begegnung hätte sie nie vergessen. Dieses schmale, wachsame Gesicht ließ sie an einen Falken denken, diese Augen, die einen zu durchbohren schienen. Paola hatte diesen Mann kalt genannt, aber in Wirklichkeit war er noch viel schlimmer. Er war wie Eis, wie Marmor, wie kalter Stahl.

Aber was nützte es schon, hier zu sitzen und ihn zu verwünschen?

Denk nach, ermahnte sie sich und straffte die Schultern. Ich muss das britische Konsulat anrufen. Und Violetta. Meinen Vater werde ich erst informieren, wenn es sich absolut nicht mehr vermeiden lässt.

Aber so weit würde es doch nicht kommen, oder? Sicherlich war Paola inzwischen aufgewacht und hatte das Missverständnis geklärt.

Oder auch nicht. Vielleicht hatte Paola zu viel Angst davor, die Wahrheit zuzugeben. Vielleicht würde sie lieber diese Fremde der italienischen Polizei opfern, anstatt zugeben zu müssen, dass sie versucht hatte wegzulaufen.

Clare spürte einen faden Geschmack im Mund. Ja, das war sehr viel wahrscheinlicher.

Sie wünschte sich, sie wüsste besser über das italienische Rechtssystem Bescheid. Brauchte sie einen Anwalt? Violetta kannte bestimmt einen guten. Natürlich würde sie Hilfe bekommen. Aber wann? In Fernsehsendungen durfte man nicht länger als einen Tag ohne Anwalt festgehalten werden. Aber in Italien war das bestimmt alles anders. Und wie sollte Violetta von ihr erfahren, wenn man sie nicht telefonieren ließ?

Ihr Nacken schmerzte, und ihr Kleid klebte an ihrem Körper. Es war schwierig, vernünftig nachzudenken, wenn man sich nervlich und körperlich so am Ende fühlte.

In diesem Moment wurde der Schlüssel in der Tür gedreht. Zu ihrem Erstaunen trat der Marchese Bartaldi ein. Er schaute sie stumm an, mit schmalen Augen und zusammengekniffenen Lippen.

Clare stieg ein unaufdringlicher Duft in die Nase, ein Gemisch aus teurem After Shave und gepflegter Haut. Ein Duft, der sofort das ganze Zimmer erfüllte. Ärgerlich über sich selbst, weil dieser Duft sie so betörte, war sie fest entschlossen, sich unbeeindruckt zu geben. Sie schob den Stuhl zurück und erhob sich mit geradem Rücken. Dabei fiel ihr auf, dass der Marchese ihre Handtasche in der Hand hielt, die er jetzt achtlos auf den Tisch warf. Autoschlüssel, Brieftasche und ihr Pass fielen heraus auf das blank gescheuerte Holz, und Wut regte sich in Clare. Er war kein Polizist, was also hatte er mit ihren Sachen zu schaffen?

Aber er ist reich und mächtig, dachte sie wütend. Wahrscheinlich hat er die ganze Polizei im Umkreis geschmiert.

„Setzen Sie sich bitte“, sagte er in Englisch.

Clare verschränkte die Hände hinter dem Rücken. „Ich ziehe es vor zu stehen.“

„Wie Sie wünschen.“ Er schwieg und musterte sie eingehend von Kopf bis Fuß.

Sogar ein wenig anerkennend, wie ihr schien. Trotzig hob sie das Kinn und hielt seinem Blick stand.

„Signorina, könnten Sie mir bitte genau berichten, wie und wo mein Mündel und Sie sich getroffen haben?“ hob er an.

„Das werde ich dem britischen Konsul erzählen“, erwiderte sie eisig. „Außerdem verlange ich, meine Patin anzurufen, um einen Anwalt gestellt zu bekommen.“

Er seufzte. „Eins nach dem anderen, Miss Marriot. Zuerst möchte ich wissen, wieso Paola in Ihrem Auto saß.“

„Wie oft soll ich das denn noch sagen?“, fauchte sie. „Ich war auf dem Weg zu meiner Patin, nach Cenacchio, und wurde von einem Unwetter überrascht.“

„Und wer ist Ihre Patin?“

„Signora Andreati in der Villa Rosa.“

Er nickte. „Ich habe von ihr gehört.“

„Ich bin sicher, sie wird entzückt sein.“ Ihre Stimme troff vor Sarkasmus.

Sein Mund wurde schmal. „Signorina, ich rate Ihnen, Ihre Zunge im Zaum zu halten.“

„Oh, ich bin untröstlich. Zeige ich nicht genügend Unterwürfigkeit, Marchese? Das muss für Sie ja eine ganz neue Erfahrung sein.“

„Die ganze Situation ist eine neue Erfahrung, auf die ich gerne verzichtet hätte“, meinte er scharf. „Aber bitte, erzählen Sie.“

Mit einem Seufzer erklärte Clare zum wiederholten Mal, wie sie Paola im strömenden Regen auf der Straße angetroffen hatte. „Da sie auf dem Weg hierher eingeschlafen war, dachte ich, ich würde mir diesen Fabio genauer ansehen. Und ihn verscheuchen, falls möglich.“ Sie zuckte mit den Schultern. „Ich hielt Sie für Fabio.“

„Dieser Irrtum ist nicht gerade schmeichelhaft für mich.“

„Oh, entschuldigen Sie, wenn ich Sie beleidigt habe“, meinte sie ironisch, „immerhin habe ich ja einen wunderbaren Nachmittag verbringen dürfen.“ Ihr Ton wurde beißend. „Als Entführerin beschuldigt, umzingelt von bewaffneten Polizisten, verhört und in dieses Zimmer gesteckt, in dem es heißer ist als in einem Backofen.“

„Vielleicht wird Sie das lehren, sich in Zukunft nicht in Dinge einzumischen, die Sie nichts angehen“, erwiderte er kalt. „Aber es wird Sie sicherlich freuen zu hören, dass Paola Ihre Version des Hergangs bestätigt.“

„Wirklich?“ Clare vergaß alle Absichten und hob ungläubig eine Augenbraue. „Das überrascht mich aber. Paola schien mir nämlich mit der Wahrheit ein wenig auf Kriegsfuß zu stehen. Ich hatte damit gerechnet, dass sie sich alles Mögliche einfallen lassen würde, um sich selbst möglichst unbeschadet aus der Affäre zu ziehen.“

Der Marchese runzelte verärgert die Stirn, und in Erwartung eines Wutanfalls senkte Clare vorsichtigerweise schon mal den Kopf. Sekundenlang war es erschreckend still, und dann – dann lachte der Marchese leise!

„Sie scheinen sich ausgezeichnet mit Menschen auszukennen, signorina.“

Ziemlich verwirrt schaute sie ihn an. „Man braucht kein Psychologiestudium, um zu erkennen, dass Paola unberechenbar ist. Vor allem, wenn sie sich in die Enge getrieben fühlt oder sich langweilt. Sie ist noch sehr jung.“ Sie erlaubte sich ein kleines hämisches Grinsen. „Sicherlich haben Sie alle Hände voll mit ihr zu tun.“

„Ich danke Ihnen für Ihre präzise Einschätzung der Situation.“ Hörte sie da etwa einen Anflug von Ärger in seiner Stimme? „Aber glauben Sie mir, ich bin durchaus in der Lage, die entsprechenden Maßnahmen in Bezug auf mein Mündel zu treffen.“

„Deshalb wollte sie ja auch mit einem halbseidenen Schönling durchbrennen.“ Clare hielt inne. „Apropos Fabio – was ist aus ihm geworden? Sitzt er in der Zelle nebenan?“

Guido Bartaldi schüttelte den Kopf. „Nein, er wurde nicht festgenommen.“

„Aha“, meinte Clare trocken, „dieses Privileg war also allein für mich reserviert.“

„Sie wurden verhaftet, signorina“, gab er kühl zurück, „weil die Polizei der Meinung war, dass Fabio nicht allein arbeitete. Sie waren unglücklicherweise zur falschen Zeit am falschen Ort.“

Clare schnappte nach Luft. „Sie wollen mir weismachen, ich wäre noch gut weggekommen, nicht wahr? Haben Sie eigentlich keine Befürchtungen, dass ich Sie wegen dieser Verhaftung in rechtliche Schwierigkeiten bringen könnte? Ist Ihr Ansehen so fraglos, dass Ihnen dergleichen nicht schaden kann?“

„Als Sie auf den Bahnsteig kamen, konnte ich nicht wissen, in welcher Eigenschaft Sie dort auftauchten und was Sie zu tun beabsichtigten. Ich hatte einzig und allein die Sicherheit meines Mündels im Auge, daher durfte ich kein Risiko eingehen. Es ging schließlich um Paola.“

„Na ja, das ist ja schon was“, konnte Clare sich nicht verkneifen. Sie musste an Paolas Schilderung von der Frau in Siena denken. Vielleicht hatte dieser Zwischenfall ihm ja klar gemacht, dass er mehr für Paola empfand, als er glaubte. Sie runzelte die Stirn. „Also, wo ist dieser Fabio nun?“

Der Marchese zuckte mit den Schultern. „Wer weiß das schon? Er besaß die Unverschämtheit, mich anzurufen und zu fragen, wie viel ich ihm dafür zahlen würde, dass er Paola nicht heiratet.“

„Die arme Paola“, meinte Clare mitfühlend.

„Er nahm an, ich wüsste nicht, wo Paola zu finden sei, und meinte deshalb Forderungen stellen zu können. Allerdings ist die liebe Paola noch nicht sonderlich erfahren, was Verschwörungen anbelangt. Sie hat den Brief, in dem Fabio ihr seinen Plan erklärte, auf ihrem Bett liegen lassen. So kannte ich jede Einzelheit und wusste, wo ich sie finden konnte. Als Fabio das bemerkte, hat er das Gespräch sehr abrupt beendet. Ich kam, um Paola abzuholen – und habe Sie gefunden.“

„Ja, allerdings.“ Clare starrte ihn aufsässig an. „Aber, trotz alledem, auch wenn Sie das als unzulässige Einmischung empfinden … Ich bin jetzt doch froh, dass ich sie nicht allein gelassen habe.“

„Könnten Sie sich vorstellen, dass es mir ebenso geht? Ja, dass ich sogar dankbar bin?“

„Oh, bitte, brechen Sie sich ja keinen Zacken aus der Krone“, entschlüpfte es Clare. Sie zögerte kurz. „Was passiert jetzt mit Fabio? Werden Sie ihn anzeigen?“

Der Marchese schüttelte den Kopf. „Er ist nur ein kleiner Geschäftemacher, äußerst unangenehm zwar, aber kein Kidnapper. Ich nehme an, es ist nicht das erste Mal, dass man ihn bezahlt, damit er verschwindet.“

„Allerdings hat er dieses Mal seinen Gegenpart unterschätzt, nicht wahr?“

„Stimmt.“

„Meinen Glückwunsch, signore“, sagte sie ironisch. „Ich kann nur hoffen, dass Sie beim nächsten Mal keine so schweren Geschütze auffahren müssen.“

„Es wird kein nächstes Mal geben“, erwiderte er knapp. „Ich glaubte, ausreichend für ihren Schutz gesorgt zu haben. Offensichtlich hatte ich mich geirrt. Das heißt, es werden andere Maßnahmen ergriffen werden müssen.“

„Aber bestimmt nicht das Internat in der Schweiz, oder?“

Seine dunklen Augen musterten sie forschend. „Paola scheint Sie wirklich sehr ins Vertrauen gezogen zu haben.“

Clare hielt dem Blick stand. „Manchmal ist es einfacher, sich einem Fremden anzuvertrauen. Jemandem, den man nie wieder sehen wird.“ Sie hielt kurz inne. „Da wir gerade davon sprechen … Ich nehme an, dass ich jetzt gehen kann?“

„Natürlich. Ich bedauere aufrichtig, dass Ihr Urlaub eine so unangenehme Unterbrechung erfahren musste. Werden Sie nun weiter nach Cenacchio fahren?“

„Ich habe noch keine genauen Pläne gemacht“, wich Clare aus. Wie auch immer ihre Pläne aussehen mochten, diesem Mann würde sie sie ganz bestimmt nicht mitteilen – diesem italienischen Aristokraten, für den andere Menschen nur Marionetten waren, mit denen er beliebig verfahren konnte und sein eigenes Spiel spielte.

Er nahm ihre Handtasche auf und schob die Sachen, die auf den Tisch heraus gerutscht waren, wieder hinein. Nur ihren Pass hielt er für einen Moment in der Hand und betrachtete das Bild. Dann wandte er ihr seinen Blick zu, und um seine Lippen spielte die Andeutung eines Lächelns. „Dieses Foto wird Ihnen nicht gerecht, Chiara.“

Es war lange her, seit jemand die italienische Form ihres Namens benutzt hatte. Seit ihre Mutter … Clare biss sich auf die Unterlippe und starrte angestrengt auf den Tisch. Etwas Seltsames hatte in seinem Ton mitgeschwungen, etwas Unerklärliches, ja, Sinnliches, das ihr einen Schauer über den Rücken jagte und ihre Nerven zum Flattern brachte.

„Möchten Sie Paola sehen?“, fragte er jetzt. „Sicherlich möchte sie sich bei Ihnen bedanken.“

Plötzlich schien der Raum zu klein zu werden. Clare kannte sich nicht wieder. Neurotische Anwandlungen gestand sie einer anderen Art Frauen zu; sich selbst nicht. Guidos Nähe machte sie nervös. Sie hatte das Gefühl, sich in einer Gefahr zu befinden, deren Ausmaß ihr völlig unabsehbar vorkam, und viel mehr noch als vorhin auf dem Bahnsteig beunruhigte sie die Nähe dieses Mannes. Sie musste hier weg, und zwar sofort.

„Nein, besser nicht.“ Sie zwang sich zu einem Lächeln. „Sagen Sie ihr bitte Auf Wiedersehen von mir. Und ich wünsche ihr alles Glück dieser Welt. Sie wird es brauchen.“ Sie deutete auf ihre Tasche. „Kann ich die jetzt bitte haben?“

Einen kurzen Moment lang fürchtete sie, sie müsste ihm die Tasche aus der Hand nehmen und könnte ihn dabei vielleicht berühren, aber er schob ihr die Tasche kommentarlos über den Tisch zu. Dabei fielen ihr seine Hände auf. Schmale, kraftvolle Hände mit schlanken, gepflegten Fingern. Wie es wohl sein musste, von diesen Händen liebkost zu …

Abrupt brach sie den Gedanken ab. Sie konnte es sich nicht leisten, sich in solchen Spekulationen zu ergehen. Das war gefährlich. Guido Bartaldi war gefährlich. Sie überprüfte den Tascheninhalt und stellte fest, dass alles vorhanden war. Und dann fühlte sie …

„Moment mal!“ Sie zog einen dicken Umschlag hervor. „Das gehört nicht mir.“

„Öffnen Sie ihn.“

In dem Umschlag steckten Banknoten in großen Scheinen, mehrere tausend Euro. Sie spürte einen gähnenden Abgrund in sich. Vor sich. Dieser Mann kam ihr nicht nur gefährlich vor, er war es. Und er zeigte keine Bedenken, ihr dies zu demonstrieren.

Sie hob den Blick. „Was soll das? Wollen Sie mir noch eine Falle stellen?“

„Aber nein. Nennen wir es einfach einen Ausdruck meines Bedauerns für die Unannehmlichkeiten, die Sie erleiden mussten.“

„Ja, natürlich“, meinte sie ätzend, „das ist immer die einfachste Lösung für reiche Leute. Geld. Tut mir leid, signore. Sie mögen die hiesige Polizei gekauft haben, aber meine Hilfsbereitschaft ist nicht käuflich. Meine Zeit ist so nicht zu bezahlen, und Unrecht schaffen Sie so nicht aus der Welt.“

Die Scheine waren ganz leicht zu zerreißen. Clare riss sie erst quer, dann längs und noch einmal quer durch, während Guido Bartaldi sie schweigend dabei beobachtete. Dann warf sie die Schnipsel in die Luft – sicherlich das teuerste Konfetti der Welt, und in einem rauschhaften Moment fühlte sie sich, als flöge sie mit dem leichten Geld davon.

„Betrachten Sie die Schulden als annulliert, Marchese“, und damit wandte sie sich zur Tür und ging würdevoll aus dem Raum.

Halb erwartete sie, dass er sie gewaltsam zurückhalten würde. Wartete auf seinen Wutausbruch. Aber nichts geschah. Sie spürte nur diese absolute Stille in ihrem Rücken und musste sich zusammennehmen, um nicht loszurennen. Noch eine Tür, noch ein Büroraum, ein stolzes Nicken für die Polizeibeamten – und dann stand sie endlich draußen, geblendet im hellen Sonnenschein, in einer Welt, in der das Geschehene unwirklich erschien, wie ein körniges schwarz-weißes Standfoto aus einem alten Film.

Der kleine Fiat wartete auf sie auf dem Parkplatz neben der Polizeistation, und sie ließ sich wie betäubt auf den Fahrersitz gleiten. Für einen Moment starrte sie mit leeren Augen vor sich hin, dann legte sie den Kopf auf das Lenkrad und ließ den Tränen, die sich während der letzten Stunden vor Angst und Schock in ihr aufgestaut hatten, freien Lauf.

Als der Strom endlich versiegt war, schnäuzte sie sich ausgiebig und wenig damenhaft, zog ihren Lippenstift nach und startete den Motor.

Es war Zeit, dass sie wieder mit ihrem Leben fortfuhr.

Mia cara!“ Violettas Stimme klang so weich, so mitfühlend. „Was für ein schrecklicher Albtraum! Aber jetzt erzähl mir erst einmal alles. Man hat dich tatsächlich ins Gefängnis gesteckt?“

Sie saßen zusammen im salone. Die Rollläden waren halb heruntergelassen, um die glühende Nachmittagssonne auszuschließen. Die Spannung fiel von Clare sichtlich ab. Die Frauen tranken Espresso, stark und süß, den Violetta zu jeder Tages- und Nachtzeit in rauen Mengen konsumierte, und knabberten Mandelgebäck.

„Nun, nicht in eine Zelle“, stellte Clare richtig. Die überschwängliche Wärme, mit der ihre Patin und Angelina, die Haushälterin, sie empfangen hatten, war Balsam auf ihre Wunden. Und während sie in diesem wunderbaren, beruhigenden Raum saß und für die schreckliche Geschichte, die sie hatte durchmachen müssen, offene Ohren fand, merkte sie, wie die Anspannung langsam von ihr abfiel und sie nach und nach wieder zu sich fand.

„Aber das Gefühl war bestimmt das gleiche.“ Sie schüttelte sich bei der Erinnerung. „Ich wusste nicht ein noch aus. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Jetzt verstehe ich, wie man Leute zu einem Geständnis bringen kann, obwohl sie nichts verbrochen haben.“ Eine tiefe Falte bildete sich auf ihrer Stirn. „Und dann dieser widerliche Guido Bartaldi.“

„Nun“, Violetta wedelte graziös mit einer Hand, „er ist ein sehr wichtiger Mann in dieser Region. Seine Familie ist schon seit dem quattrocento dort ansässig.“ Sie senkte verschwörerisch die Stimme. „Du weißt natürlich, wer er ist?“

„Er ist ein Marquis. Das hat man immer wieder betont.“

„Nicht nur das.“ Violetta streckte die Hände vor und spreizte ihre Finger. „Selbst du, carissima, die an solchen Dingen kaum Interesse hat, müsstest schon von dem Juwelierhaus Bartaldi gehört haben.“

Langsam dämmerte es Clare. „Jetzt weiß ich auch, warum mir der Name so bekannt vorkam. Allerdings wäre ich nie darauf gekommen, dass sich ein Aristokrat dazu herablässt, als simpler Geschäftsmann zu arbeiten.“

Cara, das ist doch nicht nur ein einfaches Geschäft!“ Violetta war über so viel Unwissenheit ehrlich entsetzt. „Bei den Bartaldis ist die Goldschmiederei zu einer Kunstform geworden, schon seit dem sechzehnten Jahrhundert. Das Haus Bartaldi ist einer der exklusivsten Juweliere der Welt. Und Guido Bartaldi hat das Geschäft auf weitere Bereiche ausgedehnt: Boutiquen mit den elegantesten Lederaccessoires und auch herrliche Düfte und Parfüms, für die man sterben möchte.“ Sie seufzte verträumt. „Sein Tentazione ist einfach himmlisch.“

Natürlich musste ein Mann wie Guido einen Namen wie „Versuchung“ wählen! „Der Preis ist bestimmt ebenso sphärisch hoch“, gab Clare abfällig zurück. „Jetzt erinnere ich mich … In Rom wurde gerade eine neue Boutique von ihm eröffnet. Die Damen haben den Laden ja regelrecht gestürmt.“

Violetta lächelte mokant. „Natürlich. In der Hoffnung, ihm persönlich zu begegnen. Er ist attraktiv wie il diavolo, der Teufel. Und noch Junggeselle.“

„Nicht mehr lange. Er wird sein Mündel heiraten.“ Clare nahm sich noch ein Stück Gebäck. „Das arme kleine Ding.“

„Sie tut dir leid?“ Violetta schüttelte den Kopf. „Nur wenige Frauen würden sich deiner Meinung anschließen.“

Clare sah ihre Tante an. „Sie will ihn nicht.“

„Die Kleine muss verrückt sein!“ Violetta goss Kaffee nach. „Dass ein Mann erfolgreich und wohlhabend ist, das würde ja schon fast ausreichen, aber wenn er auch noch Sex-Appeal hat – eine so wunderbare attrazione del sesso –, dann ist er doch unwiderstehlich.“ Sie wedelte mit der Hand. „Die kleine Paola wird ihm auch nicht lange widerstehen. Wenn er sie erst einmal in seinem Bett gehabt hat …“

Der Kuchen schmeckte Clare plötzlich nicht mehr. Sie stellte den Teller ab und erhob sich. „Violetta, Liebes, ich hoffe, es macht dir nichts aus, wenn ich mich vor dem Abendessen noch ein wenig hinlege. Ich habe fürchterliche Kopfschmerzen. Der Schock, die Aufregung …“

„Meine arme Kleine!“ Violettas Mitgefühl war echt. „Und ich plappere und plappere, ohne Rücksicht auf dich zu nehmen. Geh nur, mia cara. Ich werde Angelina sagen, sie soll dir meine Tropfen bringen. Das wird die Kopfschmerzen im Nu vertreiben.“

Die Kopfschmerzen vielleicht, dachte Clare, als sie die geschwungene Marmortreppe hinaufstieg. Aber was war mit diesem seltsamen, ja schmerzhaften Gefühl der Leere, das so urplötzlich über sie gekommen war?

Und als sie auf ihrem Bett lag und mit leerem Blick auf den sich drehenden Ventilator an der Decke starrte, sah sie die schwarzen, glühenden Augen Guido Bartaldis vor sich. Sie schienen sich einen Weg direkt in ihren Kopf zu brennen.

Dann hörte sie seine Stimme, wie er ihren Namen ausgesprochen hatte – Chiara –, und es war wie eine Liebkosung.

Und das war viel, viel schlimmer als alle Kopfschmerzen der Welt.

3. KAPITEL

Die Tropfen halfen bald, und Clare konnte tatsächlich ein paar Stunden schlafen. Nach einem heißen Bad mit wohlduftenden Essenzen regten sich ihre Lebensgeister wieder. Mit weiblicher Neugier machte sie sich daran, die Töpfe, Tiegel, Flaschen und Flakons zu untersuchen, die Violetta zuhauf im Gästebad für Clare arrangiert hatte.

Sie schraubte Deckel ab, strich Cremeproben auf ihre Haut und schnüffelte prüfend an Parfümflakons.

Normalerweise bevorzugte sie leichte, frische Düfte, aber dieser hier war anders. Exotisch, mit einem intensiven Duft nach Lilien und Jasmin. Obwohl es schwer war, gefiel es ihr. Warum nicht, dachte sie und tupfte sich ein paar Tropfen auf Handgelenk und Nacken.

Während sie sich anzog, überlegte Clare, wie der Abend wohl verlaufen würde. Da heute keine Gäste eingeladen waren, würden sie und Violetta auf der Terrasse einen Aperitif zu sich nehmen, bevor sie sich zu einem von Angelina delikat zubereiteten Dinner niedersetzten. Danach würden sie im salone Musik hören und sich unterhalten. Clare freute sich auf den ruhigen Abend.

Da ihre Patentante ihre Abende auch ohne Gäste gern in eleganter Atmosphäre verbrachte, wählte Clare ein Kleid aus ihrer Garderobe, das sie erst kürzlich erstanden hatte. Es war aus seidigem Krepp, gerade geschnitten, knöchellang, mit einem großzügigen V-Ausschnitt auf Rücken und Brust. Das tiefe, warme Rot ließ ihr hellblondes Haar strahlen und verlieh ihrer Haut einen sanften Schimmer.

Sie schminkte sich dezent und drehte sich noch einmal vor dem Spiegel. Einer meiner besten Käufe, dachte sie zufrieden und machte sich auf den Weg nach unten zum salone.

Als sie den salone betrat, hörte sie von der Terrasse Violettas charmantes Lachen durch die großen Flügeltüren zu ihr dringen.

Oh, hat sie also doch Gäste eingeladen, dachte Clare. Das hat sie mir gar nicht gesagt.

Mit einem Lächeln auf den Lippen trat sie ins Freie. Der freundliche Gruß, den sie auf den Lippen hatte, blieb ihr in der Kehle stecken.

Sie sah hin, sah noch einmal genauer hin – und erstarrte. Violettas Gast, der neben ihr unter dem großen Sonnenschirm saß, war niemand anderes als Guido Bartaldi!

Jetzt erhob er sich und deutete eine leichte Verbeugung an. Doch diese formelle Geste wurde durch das belustigte diabolische Funkeln in seinen schwarzen Augen Lügen gestraft. Er amüsierte sich königlich über ihre schockierte Miene!

Der Schock hatte ihr die Sprache verschlagen. Und was soll ich jetzt machen? dachte sie stumm. Vielleicht einen Hofknicks?

Endlich fand sie ihre Stimme wieder. „Welche Angelegenheit führt Sie denn jetzt hierher?“, stieß sie nicht gerade freundlich hervor.

„Clare, mia cara“, mischte sich Violetta mit leicht tadelndem Ton ein, „der Marchese macht uns seine Aufwartung, um herauszufinden, ob du auch wohlbehalten angekommen bist. Das ist so liebenswürdig von ihm.“ Sie lächelte ihren Besucher einnehmend an.

Violetta trug Chiffon, hellgrau, und dezente Diamanten an Hals und Ohren. Als habe der Marchese es gewusst, hatte auch er seine legere Kleidung gegen einen perfekt sitzenden anthrazitfarbenen Anzug aus leichter Sommerwolle, ein blütenweißes Hemd und eine elegante Seidenkrawatte getauscht. Und Violetta taxierte Guido mit einem Blick, als wolle sie ihn jeden Moment anfallen.

Nicht dass man es ihr verübeln kann, dachte Clare gallig. Selbst heute Mittag, als sie vor Angst halb verrückt geworden war, hatte sie sie bemerkt: die enorme sexuelle Anziehungskraft dieses Mannes. Und heute Abend, aus welchem Grund auch immer, schien er es darauf angelegt haben zu …

„Ich habe Signora Andreati um Verzeihung gebeten, dass ich einfach so unangemeldet hier auftauche“, drang Guido Bartaldis dunkle Stimme in Clares Gedanken, „und jetzt bitte ich um Ihre Nachsicht. Aber ich musste einfach mit eigenen Augen sehen, dass es Ihnen gut geht. Sie machten einen sehr aufgewühlten Eindruck, als wir uns heute trennten.“

„So?“, fragte Clare eisig. „Ich fand eigentlich, ich sei noch sehr beherrscht gewesen, wenn man die Umstände in Betracht zieht.“

„Ihre Patin berichtete mir, dass Sie unter Kopfschmerzen litten und sich deshalb zurückgezogen hätten. Ich hoffe, Sie haben sich wieder erholt?“

„Meinem Kopf geht es wieder gut, ja“, antwortete sie nur. Was man von ihren Nerven nicht behaupten konnte.

„Liebes, klingle doch bitte nach Angelina.“ Violetta hatte die Spannung gespürt und versuchte abzulenken. „Sie möchte bitte noch einen Campari Soda für den Marchese und mich bringen. Und für dich natürlich auch.“

Am liebsten hätte Clare giftig geantwortet, dass sie weder Lust auf einen Drink noch auf das Abendessen hatte, solange dieser Mann anwesend war. Aber das konnte sie der Gastgeberin nicht antun. Selbst Violetta, so erfahren und bewandert sie in der Schicht war, die man „die bessere Gesellschaft“ nannte, war offensichtlich von ihrem unerwarteten Gast beeindruckt.

Auch Angelina strahlte und zeigte sich von ihrer besten Seite, als sie die Drinks und eine Schale mit winzigen crostini brachte.

Also würde Clare wohl in den sauren Apfel beißen und das Beste aus der Situation machen müssen. Ganz bewusst ließ sie sich auf dem am weitesten von Guido Bartaldi entfernten Sessel nieder und ignorierte sein rasend machendes sanftes Lächeln.

„Außerdem wollte ich auch sichergehen“, hob er an, „dass Sie Ihren Regenmantel wiederbekommen, sobald er gereinigt worden ist.“

Clare nippte an ihrem Campari. „Danke.“

„Ich bitte Sie, das ist doch das Mindeste.“ Er machte eine kurze Pause. „Paola bedauert es sehr, dass sie Ihnen nicht mehr persönlich für Ihre Hilfe danken konnte.“

„Das ist schon in Ordnung so.“ Clare hatte nicht die geringste Lust, diese Konversation weiterzuführen, aber wenn sie Violetta nicht verprellen wollte, musste sie zumindest höflich bleiben. Sie räusperte sich. „Wie geht es ihr denn?“

Er zuckte mit den Schultern. „Natürlich ist sie nicht gerade glücklich, aber das ist verständlich.“

„Völlig verständlich“, stimmte Clare mit Inbrunst zu.

Er überhörte die Anspielung. „Aber sie ist noch sehr jung. Sie wird darüber hinwegkommen. Um genau zu sein, ich werde alles mir Mögliche tun, damit sie darüber hinwegkommt.“

„Paola kann sich glücklich schätzen.“ Clare musste sich wirklich Mühe geben, ihren Ton neutral zu halten.

„Leider ist sie da ganz anderer Meinung. Ich verstehe das vollkommen, denn schließlich hat sie hier nur wenig Abwechslung und kaum Kontakt, vor allem, da ich häufig geschäftlich unterwegs bin. Und dies ist ein weiterer Grund meines Besuches, wie ich bereits zu Signora Andreati sagte. Ich würde Sie beide morgen Abend gerne als meine Gäste in der Villa Minerva begrüßen dürfen.“

„Natürlich habe ich dem Marchese gesagt, dass wir die Einladung sehr gern annehmen, ist es nicht so, mia cara?“

Clare legte ihren Appetithappen unberührt wieder ab. Nein, dachte sie wütend, es ist keineswegs so. Und Guido Bartaldi wusste genau, dass sie sehr viel lieber in einen Fluss voller Krokodile springen würde, als in seinem Haus zu Abend zu essen.

Ich werde eine andere Verabredung vorschützen. Oder Kopfschmerzen. Oder am besten einen Hirntumor! Laut sagte sie jedoch: „Vielen Dank.“

„Sie erweisen mir eine Ehre“, sagte er höflich, dann wandte er seine gesamte Aufmerksamkeit Violetta zu, die diese in vollen Zügen auskostete.

Clare saß steif in ihrem Stuhl und klammerte sich an ihr Longdrink-Glas, als sei es der Seidenfaden, an dem ihr Leben hing. Denn plötzlich kroch ihr wieder die Angst über den Rücken. Dass er sich um ihr Wohlergehen kümmerte, war nur ein Vorwand. Auch ihr Regenmantel war ihm völlig gleichgültig. Heute in Barezzo hatte sie die Macht dieses Mannes zu spüren bekommen, und sie hatte es gewagt, sich gegen ihn und seine Macht aufzulehnen. Gemessen an seinem Gesamtvermögen konnten die Geldscheine in diesem Umschlag nicht mehr als die wöchentliche Portokasse gewesen sein; das bedeutete allerdings nicht, dass er es amüsant gefunden hatte zu beobachten, wie es ihm in kleinen Schnipseln ins Gesicht geworfen wurde.

Heute Vormittag war ihr das wie eine großartige Vorstellung vorgekommen, doch jetzt hatte sie das Gefühl, dass sie diese Tat noch bereuen werde. Er war nicht der Mann, der sich so etwas gefallen ließ – schon gar nicht von einer Frau.

Etwas sagte ihr, dass sich unter diesem sanften Lächeln und der erlesenen Eleganz eiskalter Stahl verbarg. Und unter diesem Stahl lag höchstwahrscheinlich ungezügelte Wildheit.

Sie konnte nur hoffen, dass sie es nur mit dem Stahl zu tun bekommen würde.

Angelina erschien kurz auf der Terrasse. „Signora, ein Anruf für Sie. Signore Caprani.“

„Ich komme sofort.“ Violetta erhob sich, doch als Guido Bartaldi ebenfalls aufstehen wollte, legte sie ihm die Hand auf die Schulter. „Nein, bleiben Sie nur, es wird bestimmt nicht lange dauern. Clare wird Ihnen gern solange Gesellschaft leisten.“

Trotzdem stand er auf. „Leider habe ich auch Verpflichtungen.“ Sein Bedauern klang nahezu echt. „Mein Onkel aus Venedig wird heute Abend bei uns erwartet, ich muss zurück. Aber wir sehen uns ja morgen“, er drehte sich zu Clare, „in meiner eigenen kleinen Welt. Arrivederci.“ Er küsste Violetta die Hand. „Bis morgen also.“

Während Violetta ins Haus hinein schwebte, starrte Clare den Marchese feindselig an.

„Per Dio.“ Seine Lippen verzogen sich. „Wenn ich zum Dinner bleiben sollte, würde ich einen Vorkoster für mein Essen verlangen.“

„Was soll das alles?“, fragte sie rau. „Was wollen Sie eigentlich?“

„Seien Sie versichert, sobald ich es selbst weiß, werden Sie die Erste sein, die es erfährt. Und jetzt sollten Sie mir eine gute Nacht wünschen.“

Bevor sie wusste, wie ihr geschah, hatte er sie aus dem Sessel hochgezogen. Er neigte den Kopf und ließ seinen Blick über ihr Gesicht wandern, bis er schließlich auf ihren Lippen haften blieb.

„Nein“, hauchte sie.

Er lachte leise. Mit den Fingern strich er ihr sanft über die Wange, dann zeichnete er die Konturen ihrer Lippen nach. Atemlos ließ Clare es geschehen. Die Berührung schien sie zu verbrennen.

Er streichelte sanft ihren Hals, hinunter bis zum Rand des Kleidausschnittes, ließ die Finger darunter gleiten und schob den luftigen Stoff zur Seite. Er entblößte ihren Nacken. Sie spürte seinen warmen Atem auf ihrer Haut, dann seine Lippen, die, Schmetterlingsflügeln gleich, über ihre Halsbeuge glitten. Die Sanftheit der Berührung ging ihr unter die Haut.

„Sie sind die Versuchung selbst, signorina“, flüsterte er.

Und im gleichen Moment war sie wieder frei, ihr Kleid saß wieder dort, wo es sitzen sollte, und bevor sie einen Ton herausbrachte, war Guido Bartaldi bereits im Dämmerlicht in den Garten verschwunden.

Als Violetta auf die Terrasse zurückkam, stand Clare immer noch regungslos da.

„Oh, ist der Marchese schon gegangen? Wie bedauerlich.“ Violetta seufzte. „Manchmal wünsche ich mir, ich wäre zwanzig Jahre jünger. Aber setz dich doch, cara. Angelina wird unsere Drinks nachfüllen.“

Clare setzte sich, aber dabei gehorchte sie eher ihren weichen Knien denn Violettas Aufforderung.

Ihr kam ein Gedanke. „Violetta, was war das eigentlich für ein Parfüm, das du mir ins Gästebad gestellt hast?“

„Ich hatte es doch erwähnt. Bartaldis Tentazione.“ Sie warf ihrer Patentochter einen merkwürdigen Blick zu. „Warum? Hat er den Duft erkannt?“

„Ja“, antwortete Clare bitter. „Ich fürchte, das hat er.“

Das Dinner war keineswegs so ruhig und entspannend, wie Clare sich erhofft hatte.

Auch wenn Violetta ein sehr ausgefülltes Gesellschaftsleben führte, so war die Einladung in die Villa Minerva ein Thema, das sie aufgeregt und ausführlich bereden wollte.

„Diese Einladung verdanken wir nur dir, meine Liebe.“ Sie zwinkerte Clare viel sagend zu.

Clare biss sich auf die Lippen. „Ich wüsste wirklich nicht, warum.“

„Aber es ist doch klar, dass er sich für all die Unannehmlichkeiten entschuldigen will.“ Violetta neigte den Kopf. „Er hat ein schlechtes Gewissen.“

Ja, er hat etwas, aber ganz bestimmt kein schlechtes Gewissen, dachte Clare.

Violetta plauderte freudig erregt weiter. „Natürlich habe ich den Marchese schon auf der einen oder anderen Veranstaltung gesehen, aber nicht sehr oft. Er ist, wie er selbst gesagt hat, ständig geschäftlich unterwegs. Das wird sich sicherlich ändern, wenn er erst einmal verheiratet ist und eine eigene Familie hat.“ Sie überlegte kurz. „Obwohl, man sagt, dass sein Verwalter, Antonio Lerucci, ein sehr fähiger und loyaler junger Mann ist, der sich ganz hervorragend um das Anwesen kümmert.“

Violetta redete und redete, während Clare nur hier und da an passender Stelle einen kurzen Kommentar einwarf oder freundlich nickte. Dabei hörte sie kaum zu und war meilenweit entfernt. Violetta bemerkte nichts von dem Aufruhr, den der Besucher in Clares Leben hinterlassen hatte.

Eigentlich hatte sie zwei Wochen in Cenacchio bleiben wollen, aber das ging jetzt nicht mehr. Sie würde ihre Agentur anrufen und um den nächsten Auftrag bitten. Am besten einen dringenden Auftrag, so dass sie einen guten Grund für ihre schnelle Abreise nach England hatte.

Ein Job in Italien kam vorerst auf gar keinen Fall in Frage, davon hatte sie im Moment genug. Erst dieser Signore Dorelli und dann Guido Bartaldi. Wobei Signore Dorelli einfach nur ein geschmackloser Lüstling war, während der Marchese Bartaldi in eine ganz andere Kategorie gehörte. Sie hätte es nicht mit Worten beschreiben können, aber bei dem bloßen Gedanken an ihn heulten sämtliche Alarmsirenen in ihr auf, und ihr Instinkt riet ihr, sich so schnell und so weit wie möglich aus dem Einflussbereich dieses Mannes zu entfernen.

„Morgen früh fahren wir nach Perugia“, drang Violettas Stimme in ihre Gedanken. „Du brauchst ein Kleid, carissima. Eines, das deine Vorzüge betont. Ich werde es dir schenken, zu deinem Geburtstag.“

Clare fühlte sich überrumpelt. „Ich bin zuversichtlich, dass ich etwas Passendes in meiner Garderobe finde. Bin ich so nicht passabel genug?“

Violetta schnaubte ungnädig. „Wenn man bei den Bartaldis eingeladen ist, dann reicht etwas Passables nicht.“ Sie betonte das Wort abfällig. „Außerdem stellst du dein Licht immer unter den Scheffel. Du brauchst etwas Atemberaubendes, etwas Großartiges. Wie die richtige Fassung für einen Edelstein. Das ist es, was der Marchese verstehen wird.“

Clare war entsetzt. „Violetta, ich weiß nicht, was du dir da zurechtreimst, aber …“

„Ich reime mir überhaupt nichts zurecht“, unterbrach Violetta sie. „Aber ich finde, dass dir ein wenig männliche Aufmerksamkeit, noch dazu von einem so attraktiven Vertreter dieser Spezies, zur Abwechslung mal wieder ganz gut tun würde.“ Sie schaute Clare fragend an. „Hat es eigentlich jemanden seit diesem … diesem … Wie hieß er denn noch?“

„James“, half Clare aus. „Nein, es hat niemanden gegeben. Weil ich nach diesem James und dieser Erfahrung niemanden wollte. Und niemanden brauchte.“

„Aber Liebes, du bist ein so wunderschönes und warmherziges Mädchen!“ Violetta war ehrlich bestürzt. „Du kannst dich doch nicht abkapseln, nur weil dieser Narr nicht erkannt hat, was du wert bist.“

„Ich kapsele mich nicht ab“, protestierte Clare. „Ich habe einen wunderbaren Beruf, gute Freunde, und ich reise durch ganz Europa. Es gibt viele, die in einer Beziehung festsitzen und mich beneiden.“

„Von denen rede ich auch nicht. Ich rede von der Liebe. Die alles verzehrende, wahre Liebe. Dante und Beatrice, Petrarca und Laura …“

„Ja, ja. Und Romeo und Julia. Schließlich wissen wir alle, wie diese Geschichte ausgegangen ist.“

Violetta schmollte beleidigt. „Ach, wenn du in dieser Stimmung bist, lässt du einfach nicht mit dir reden.“

„Falls du beabsichtigst, mich mit diesem Marchese Bartaldi zu verkuppeln, dann hast du völlig Recht. Da ist wirklich nicht mit mir zu reden.“ Sie bemühte sich um einen zwanglosen Ton, doch als ihr die Erinnerung an den Kuss, den der Marchese in ihre Halsbeuge gesetzt hatte, zurückkam, erschauerte sie. Glücklicherweise hatte Violetta diese Szene nicht mitbekommen.

„Tut mir leid, Violetta“, lenkte sie ein, „aber der Marchese ist der letzte Mann auf Erden, dessen Aufmerksamkeit ich auf mich ziehen möchte. Außerdem vergisst du, dass er sich bereits für Paola entschieden hat.“

„Pah! Es hat keine offizielle Ankündigung gegeben. Niemand hat von einer Verlobung gehört. Also, wenn ich du wäre, cara, ich würde keine Sekunde zögern.“

„Vorhin hast du noch das Gleiche von Paola gesagt.“

Violetta lächelte das Lächeln einer Katze, die den Sahnetopf ausgeschleckt hatte. „Vorhin kannte ich ihn noch nicht persönlich.“

Clare schlief schlecht in dieser Nacht. Sie wälzte sich von einer Seite zur anderen, und wenn sie sich wieder einmal drehte, sah sie im halb wachen Zustand unweigerlich das Gesicht Guido Bartaldis vor sich.

Blass und mit tiefen Ringen unter den Augen gesellte sich Clare am nächsten Morgen zu Violetta an den Frühstückstisch. Nicht dass sie versucht hätte, ihr schlechtes Aussehen mit Make-up zu kaschieren. Im Gegenteil, wenn ihr Plan gelingen sollte, musste sie so miserabel wie möglich aussehen.

Violetta war auch sofort besorgt. „Fühlst du dich nicht wohl, cara? Du bist schrecklich blass.“

„Es geht schon.“ Sie setzte ein bewusst gequältes Lächeln auf.

„Du hast doch nicht vergessen, dass wir nach Perugia fahren wollten?“

„Nein, ich freue mich darauf.“ Eine Weigerung hätte ihre Patentante misstrauisch gemacht, also hatte Clare sich vorgenommen, nur darauf zu achten, dass Violetta nicht zu viel Geld für sie ausgab.

Sie parkten den Wagen unter der Piazza degli Invalidi, fuhren mit dem Lift hinauf und traten am Corso Vannucci wieder ins Sonnenlicht.

Nach zwei Stunden fragte Clare sich verzweifelt, ob Violetta ernsthaft vorhatte, jede einzelne Boutique in der Stadt aufzusuchen. Sie selbst hatte schon mehrere Kleider gesehen, die ihr gefielen, aber Violetta hatte alle unerbittlich abgelehnt.

„Ich habe eine genaue Vorstellung von dem, was ich für dich suche“, hatte sie immer wieder gesagt und sie dann hoheitsvoll zum Ausgang hinausgenötigt.

Aber schließlich, nach weiteren Stunden und mehreren Zwischenaufenthalten für caffe und aperitivi stieß sie in einem winzigen Laden mit exklusiver Auswahl in einem historischen Gebäude einen entzückten kleinen Aufschrei aus. „Ah, das ist es! Hier, probier das an, cara.“

Es war eine lange, eng anliegende Kreation aus schwarzem, fließendem Seidenjersey, mit einem weiten Ausschnitt, der den Brustansatz und die Schultern freigab, und einem Seitenschlitz, der fast bis zur Hüfte reichte.

Viel zu freizügig, entschied Clare und wagte einen schwachen Protest. „Violetta, das kann ich unmöglich anziehen. Das bin ich einfach nicht – so ein Vamp.“

Doch ihr Protest stieß auf taube Ohren. Die Verkäuferin und Violetta warfen sich zustimmende Blicke zu, und schon wurde das schwarze Kleid aufwändig in eine große Schachtel verpackt. Dazu wählten die Frauen für Clare atemberaubend hohe schwarze Riemchensandaletten und eine passende Abendtasche aus weichem Wildleder.

Violetta war sehr zufrieden, als sie aus der Boutique auf die Straße traten. „So, meine Liebe, und nun haben wir uns einen angenehmen Lunch verdient.“

Clare lächelte matt. So beeindruckend das Kleid und das Ambiente ihrer Patin waren; aber bisher hatte sie sich anderes und anders verdient.

„Auch eine Art Unterricht“, dachte sie, schon fast amüsiert, wäre da nicht der lauernde Hintergrund dieser Einkäufe, ihr Anlass gewesen – die Einladung zu Bartaldi. Und als gälte es, ihr Gefühl der lauernden Präsenz zu bestätigen, nahm Violetta plötzlich Clares Ellbogen, während sie die Straße entlang bummelten. „Sieh nur, da drüben, das ist eines von Bartaldis Juweliergeschäften.“

Und schon hatte Violetta Clare über die Straße gezogen, und nun standen sie zusammen vor den exquisiten Auslagen. Clare war wie geblendet von dem Funkeln und Glitzern der erlesenen, sündhaft teuren Stücke.

„Ist das nicht überwältigend?“, fragte Violetta begeistert. „Manche dieser Designs stammen noch von den Etruskern, andere erinnern an die Blütezeit der Renaissance, nicht wahr? Und Guido Bartaldi steht hinter allem. Man sagt, in ihm stecke die Seele eines Renaissance-Prinzen.“

„So, sagt man das?“, fragte Clare hohl. Die Seele eines condottiere, eines Räuberbarons, bestimmt.

Bei dem Gedanken wurde ihr unbehaglich. Es wurde Zeit, etwas zu unternehmen – in vielerlei Hinsicht.

„Violetta, ich habe wirklich keinen Hunger. Wärst du sehr enttäuscht, wenn wir auf den Lunch verzichten, und wieder nach Hause führen? Ich … ich fühle mich ein wenig schwindlig.“

Auf der Rückfahrt kam sie sich regelrecht schäbig vor, als Violetta sie immer wieder besorgt anschaute, aber das hinderte sie nicht daran, sich bei der Ankunft in der Villa Rosa mit schwacher Stimme zu entschuldigen und sich sofort auf ihr Zimmer zurückzuziehen.

Sie legte sich aufs Bett und beobachtete die Schattenspiele der Sonnenstrahlen auf der Decke. Ich bin wirklich mies, dachte sie, aber keine zehn Pferde bringen mich in die Villa Minerva.

Irgendwann schlief sie sogar ein, wurde dann aber von Violettas Hausarzt, den diese voller Sorge um ihr Patenkind gerufen hatte, geweckt.

Zähneknirschend ließ sie die Untersuchungsprozedur über sich ergehen.

„Das muss der Stress sein.“ Clare erzählte dem Doktor, was sich in den letzten zwei Tagen zugetragen hatte. Der Doktor lauschte verständnisvoll, stimmte ihrer Vermutung zu und verschrieb ein mildes Beruhigungsmittel und strikte Ruhe. Clare willigte scheinbar zerknirscht in die Anordnung ein, aber innerlich jubelte sie.

Violetta verabschiedete den Arzt und kam zu Clare zurück. „So ein Jammer“, meinte sie betrübt. „Ich werde in der Villa Minerva anrufen und Bescheid sagen, dass wir nicht kommen können.“

Clare stützte sich auf einen Ellbogen. „Aber nein, du wirst eben allein gehen, liebste Tante. Ich werde hier ruhen, wie der Doktor es verordnet hat. Außerdem werde ich sicher sowieso schlafen, sobald ich die Pillen“, sie spielte mit dem Tablettenröhrchen, das der Arzt ihr dagelassen hatte, „eingenommen habe. Sei ganz beruhigt und genieß den Abend. Entschuldige mich beim Marchese. Du kannst mir ja morgen erzählen, wie es war.“

Violetta sträubte sich noch ein wenig, doch schließlich ließ sie sich überzeugen. „Nun gut, wie du meinst. Angelina wird sich auch um dich kümmern können.“

Und sich über meine schnelle Genesung wundern, sobald die Luft rein ist, dachte Clare.

Als Violetta das Zimmer verließ, setzte Clare sich ans Fenster. Die Sonne tanzte auf den dunkelgrünen Blättern des wilden Weines, der sich an der Hauswand emporrankte. Von hier aus hatte sie freien Blick auf die Straße und würde die Ankunft des Wagens des Marchese, der sie abholen sollte, mitverfolgen können.

Als der Wagen dann ankam, riss sie erstaunt die Augen auf. Sie hatte nicht damit gerechnet, dass Guido Bartaldi persönlich auftauchen würde! Hastig wich sie von ihrem Platz am Fenster zurück. Hoffentlich hatte er sie nicht gesehen.

Mit wehenden Haaren eilte sie zurück zum Bett, sprang mit einem Satz hinein und zog sich die Bettdecke bis ans Kinn. Sicherlich würde Violetta sich von ihr verabschieden wollen, aber wenn sie sah, dass sie schlief, würde ihre Tante sich umdrehen und die Tür leise wieder schließen.

Doch das Schicksal schien ihr heute keineswegs freundlich gesinnt.

Cara, du hast Besuch.“

Am liebsten hätte Clare laut losgeschrieen, doch sie hielt die Augen geschlossen und atmete ruhig. Sie hörte, wie sich leise Schritte dem Bett näherten.

„Das Beruhigungsmittel wirkt“, hörte sie Violetta flüstern.

„Ja, scheint so.“

Vielleicht bildete Clare sich das nur ein, aber sie meinte einen spöttischen Unterton aus Guido Bartaldis Stimme herauszuhören.

„Die Arme“, hob Violetta wieder an. „Sie hatte sich so auf den Abend gefreut.“

„Dann werde ich zusehen, dass sich eine solche Gelegenheit bald wieder bietet. Sobald sie sich besser fühlt“, hörte sie die verhasste Stimme sagen. „Aber jetzt sollten wir gehen, signora, und sie in Ruhe lassen.“

Clare hörte, wie Violettas Schritte sich leise in Richtung Tür entfernten, doch seine Schritte hörte sie nicht. Stattdessen brannte ihr noch immer der Duft seines Eau de Cologne in der Nase, und sie spürte die Wärme, die sein Körper so nah neben ihr ausstrahlte.

„An Ihnen ist eine großartige Schauspielerin verloren gegangen, mia bella.“ Die leise Bemerkung bestätigte ihre schlimmsten Befürchtungen. „Aber ich werde Sie nicht weiter quälen. Schlafen Sie gut, und träumen Sie etwas Schönes.“

Und dann beugte er sich zu ihr hinunter und berührte mit seinem Mund flüchtig ihre Lippen, bevor er sich aufrichtete und Violetta aus dem Zimmer folgte.

Erst als Clare den Wagen abfahren hörte, richtete sie sich auf und trommelte wütend mit den Fäusten auf der Bettdecke herum. Tränen der Wut brannten in ihren Augen.

„Morgen“, stieß sie mit zitternder Stimme aus, „morgen werde ich nach Hause fahren. Ich will ihn nie wieder sehen! Diesen … diesen widerwärtigen Aristokraten!“

4. KAPITEL

Clare lag lange wach und starrte gegen die Decke, als weit nach Mitternacht der Wagen vorfuhr, der Violetta zurückbrachte. Und auch dann konnte sie nicht richtig einschlafen. Selbst im Halbschlaf kreisten ihre Gedanken ständig um Guido Bartaldi.

Als sie am nächsten Morgen Violetta gegenüber am Frühstückstisch Platz nahm, stählte sie sich in banger Erwartung eines detaillierten Berichtes über das Dinner in der Villa Minerva. Doch überraschenderweise sagte Violetta kaum etwas über den tatsächlichen Verlauf, sondern begnügte sich mit Beschreibungen des Hauses und des Essens und fügte noch an, dass sie sich glänzend unterhalten habe. Danach versank sie in einen für sie völlig ungewohnten in sich gekehrten Zustand.

Während Clare an sich feststellen musste, dass sie danach lechzte, mehr zu erfahren.

„Was hältst du von Paola?“, fragte sie schließlich.

„Paola?“, wiederholte Violetta obenhin. „Ach, das junge Mädchen. Ja, sie schien enttäuscht. Ich glaube, sie hatte gehofft, dich wieder zu sehen.“ Violetta hielt nachdenklich inne. „Alle waren enttäuscht.“ Dann lächelte sie Clare an. „Aber wie geht es dir heute? Fühlst du dich jetzt besser?“

„Oh ja.“ Eine zarte Röte huschte über ihre Wangen. „Die Tabletten, die der Arzt verschrieben hat, wirken wahre Wunder. Um genau zu sein, ich fühle mich so voller Tatendrang, dass ich den Urlaub eigentlich abkürzen und mich wieder an die Arbeit machen wollte.“

„Nein, ich bin dafür, dass du hier bei mir bleibst und dich von mir verwöhnen lässt. Du kommst so selten, und da werde ich dich nicht so schnell wieder weglassen, vor allem, wenn du einen längeren Urlaub geplant hattest.“

Dem konnte Clare sich unmöglich widersetzen, und so stimmte sie mit gespielter Heiterkeit zu, noch etwas zu bleiben.

Nach dem Frühstück kündigte Violetta an, dass sie nach Cenacchio zum Friseur wolle.

„Möchtest du mitkommen, cara, oder soll ich Giacomo sagen, dass er dir einen Liegestuhl an den Swimmingpool stellen soll?“

„Ja, ich würde gern ein wenig in der Sonne liegen.“ Wenn sie schon gezwungenermaßen hier die Urlauberin spielen sollte, dann richtig.

Wenig später hatte sie sich umgezogen und war, mit einem Handtuch bewaffnet, auf dem Weg zum Pool. Giacomo, Angelinas Mann, hatte bereits den Liegestuhl aufgestellt und mühte sich nun mit einem Sonnenschirm ab. Als er sie kommen sah, grüßte er sie freundlich.

„Ah, signorina, jedes Mal, wenn ich Sie sehe, ähneln Sie Ihrer seligen Mutter mehr und mehr.“ Sein Blick ruhte auf ihren Händen, ganz offensichtlich suchte er nach einem Ehering. „Wo ist Ihr Mann, wo sind die bambini?“

Clare lachte. „Nicht jede Frau kann so viel Glück haben wie Angelina, Giacomo.“

Fast vorwurfsvoll schüttelte Giacomo den Kopf. „Das ist so schade. Sie sind so eine schöne Frau“, murmelte er, während er davonging.

Der Pool war nicht sehr groß, aber trotzdem würde es sehr erfrischend sein, sich bei der Hitze in dem klaren Wasser ein wenig abzukühlen.

Also, was zuerst? fragte sich Clare. Erst sonnenbaden oder erst ins Wasser? Ach, wenn sich doch alle Entscheidungen auf diesem Niveau bewegten, wie schön wäre das Leben!

Leider war dem nicht so. Stattdessen musste sie ständig an den Marchese Bartaldi denken, und sie bezweifelte ernsthaft, dass es ihr vergönnt sein würde, ihn nicht wieder zu sehen.

Sie entschied sich fürs Sonnenbaden, griff vielleicht ein wenig zu energisch nach der Sonnenmilch und begann sich sorgfältig einzucremen. Sie wurde schnell und problemlos braun, trotzdem war sie vorsichtig und hatte Respekt vor den heißen Strahlen der Sonne, die die Haut so leicht verbrennen konnten. Und genau so würde sie es auch mit Guido Bartaldi halten.

Sie richtete den Sonnenschirm aus, entledigte sich ihres Bikini-Tops und machte es sich auf der Liege bequem. Schwerer Rosenduft wehte von der Terrasse zu ihr herüber, in der Luft summten leise die Insekten, und die Hitze breitete sich angenehm in ihrem Körper aus. Die ruhelose Nacht verlangte ihren Tribut – Clare schloss die Augen und war schon bald eingeschlafen.

Ein leises Geräusch weckte sie. Noch schlaftrunken drehte sie den Kopf und stellte fest, dass eine Karaffe mit Fruchtsaft und Eiswürfeln sowie ein Glas auf das kleine schmiedeeiserne Tischchen neben ihr gestellt worden war.

Ach, die gute Angelina, dachte Clare. Eine wunderbare Art, so geweckt zu werden.

Sie reckte sich genüsslich und setzte sich dann auf. Und erstarrte.

Guido Bartaldi saß keinen Meter von ihr entfernt auf einem Terrassenstuhl, ein Glas mit eisgekühltem Fruchtsaft in der Hand, und musterte sie mit ausdrucksloser Miene. Dunkelblaue Shorts ließen seine langen, gebräunten Beine sehen, das lässige Polohemd, am Hals offen, betonte die muskulösen Oberarme und ließ durch den kleinen Ausschnitt das dunkle, dichte Brusthaar erahnen.

Clare starrte ihn regungslos an, dann plötzlich kam Bewegung in sie. Ihr war eingefallen, welches Bild sich ihm bieten musste, und so griff sie hektisch nach dem Handtuch und bedeckte ihre bloße Brust.

„Wie zum Teufel sind Sie hier hereingekommen?“, stieß sie atemlos hervor.

Er zog spöttisch eine Augenbraue hoch. „Nun, ich nehme an, wie die meisten Leute. Ich habe an der Tür geklingelt und man hat mich eingelassen.“ Er deutete auf die Karaffe. „Die Haushälterin wollte Ihnen gerade etwas zu trinken bringen, also habe ich mich erboten, diesen Dienst zu übernehmen.“

Wütend schob Clare das Kinn vor. „Sagen Sie, signore, wann gedenken Sie, diese Hetzjagd einzustellen?“

„Ich bedaure zutiefst, dass Sie meine Besuche in diesem Licht sehen.“ Seine Stimme blieb aufreibend ruhig. „Dabei möchte ich mich wirklich nur vergewissern, dass Sie sich von dem Schock erholt haben und es Ihnen wieder gut geht.“

Clare hielt die ausfällige Beleidigung, die ihr auf der Zunge lag, zurück. „Wie Sie sehen, geht es mir ausgezeichnet“, sagte sie eisig. „Wenn das dann alles ist, signore …“ Sie machte eine bedeutungsvolle Pause, die deutlich zu verstehen gab, dass er gehen solle.

„Nein, das ist nicht alles“, erwiderte er jedoch ruhig. „Ich hatte einen weiteren Grund, Sie aufzusuchen. Ich möchte Ihnen einen Job anbieten.“

Clare war fassungslos und rang um ihre Geistesgegenwart. „Einen Job? Ich soll für Sie arbeiten? Nach allem, was bisher geschehen ist?“

„Nicht direkt. Sicherlich hat Paola Ihnen erzählt, dass eine ältere Dame ihr Gesellschaft leistet?“ Er sah Clare fragend an, und sie nickte. Sie war plötzlich verstummt und nervös, worauf dies hinauslaufen würde.

„Nun, diese Dame ist nicht mehr in meinen Diensten. Es war dumm von mir, anzunehmen, eine Frau ihres Alters könne eine Beziehung zu Paola herstellen, geschweige denn mit Paolas Temperament mithalten. Sie war nicht einmal eine besonders fähige Aufseherin.“

Clare presste das Handtuch fester an die Brust. „Und jetzt sind Sie auf der Suche nach einer fähigeren Aufseherin?“

„Aber nein.“ Guido winkte ab. „Das wäre unnütz und zudem erniedrigend. Nein, ich suche eine Gefährtin, eine Begleiterin für Paola. Jemanden, den sie mag und dem sie vertraut.“ Er sah sie unverwandt an. „Ihnen hat sie sich bereits anvertraut. Daher scheinen Sie mir im Moment die ideale Kandidatin zu sein.“

„Zu viel der Ehre, Marchese“, gab sie gallig zurück. „Ich unterrichte Sprachen. Ich bin keine Gouvernante.“

„Umso besser. Auf Grund meiner internationalen Geschäftsbeziehungen muss ich durch die ganze Welt reisen. Meine Frau wird auch andere Sprachen als nur ihre eigene sprechen müssen.“

Clare konnte es nicht glauben, dass er diese Unverfrorenheit besaß. „Sie wollen, dass ich Paola in Englisch unterrichte?“

„Und in Französisch, ja.“ Er nickte kurz. „Sie sind dessen doch fähig?“

Clare knirschte mit den Zähnen. „Fähig ja, aber nicht willens.“

„Ich verstehe. Auf Grund Ihrer kürzlich gemachten Erfahrung mögen Sie Paola nicht?“

„Paola ist hier nicht der Hauptfaktor.“

„Dann machen Sie sie doch bitte dazu. Sie braucht Sie“, meinte er leise.

Clare schnappte erstaunt nach Luft. Dann schnaubte sie. „Ach, das ist doch lächerlich!“

„Was ist lächerlich daran?“

„Alles.“ Sie sah auf das Handtuch herunter, das sie immer noch vor die Brust gepresst hielt. „Vor allem das hier.“

Sie legte sich zurück, breitete sorgfältig das Handtuch über sich und angelte nach ihrem Bikini-Top. Doch in dieser Stellung konnte es ihr unmöglich gelingen, die kleinen metallenen Haken auf dem Rücken zu verschließen.

„Erlauben Sie, dass ich Ihnen helfe.“ Der Marchese erhob sich ohne Eile und trat hinter sie.

„Danke, aber ich komme schon zurecht“, lehnte sie eisig ab.

Guido schnalzte tadelnd mit der Zunge. „Sie müssen lernen, nicht so nervös zu sein, Chiara.“

Clare versteifte sich, als sie seine Finger an ihrem Rücken spürte, und war entsetzt über ihre eigene Reaktion. Denn er tat nichts anderes, als in Bruchteilen von Sekunden die Haken ineinander zu stecken und sich dann wieder aufzurichten.

„Entspannen Sie sich. Es ist vorbei.“

„Danke“, gab Clare hölzern zurück, und diesmal lachte er offen, als er zu seinem Stuhl zurückkehrte.

„Sie brauchen den Schein nicht um jeden Preis zu wahren, signorina. In Wirklichkeit wünschen Sie mich zum Teufel.“

Sie musste sich ein Grinsen verkneifen. „Das wäre noch einer der harmloseren Plätze.“

„Trotz und alledem bleibt es dabei. Ich wünsche mir, dass Sie mein Stellenangebot noch einmal ernsthaft überdenken.“ Er musterte sie, während sie ihn mit ablehnender Miene anfunkelte. „Ich habe den Eindruck, dass Sie glauben, in meinem Haus drohe Ihnen Gefahr.“

„Wollen Sie etwa behaupten, dem sei nicht so? Einiges in Ihrem Verhalten mir gegenüber könnte man ja fast als sexuelle Belästigung auslegen.“

„So?“ Die Andeutung eines Lächeln spielte um seine Lippen. „Aber Sie sollten sich keine Sorgen machen. Die Tatsache, dass Sie unter meinem Dach leben, garantiert Ihnen absoluten Schutz. Ich habe nicht die Angewohnheit, meine – Angestellten zu belästigen.“

„Das ist in der Tat beruhigend, signore, aber das Angebot reizt mich trotzdem nicht.“

„Sie haben ja noch nicht einmal gefragt, wie viel ich zu investieren bereit bin, um mir Ihre Dienste zu sichern.“

„Ich will Ihr Geld nicht“, gab sie scharf zurück.

„Das haben Sie bereits hinreichend deutlich gemacht“, murmelte er.

Clare biss sich auf die Lippen. „Signore, Sie müssen doch einsehen, dass es unmöglich ist. Wir können nicht zusammen unter einem Dach leben – Sie und ich.“ Und ich kann dieses Risiko nicht eingehen, fügte sie in Gedanken hinzu.

„Ich stelle Sie ein, um mit Paola zusammen zu sein“, widersprach er brüsk, „nicht mit mir. Außerdem bin ich die meiste Zeit geschäftlich unterwegs. Wir würden einander also nur sehr selten begegnen.“

Clare ließ die Schultern hängen. „Und was hält Paola davon? Ich kann mir nicht vorstellen, dass das die ideale Art ist, um Ihre zukünftige Frau zu werben.“

Er horchte auf. „Besten Dank für Ihre Fürsorge. Auch wenn ich Ihre Anteilnahme noch nicht ganz nachvollziehen kann. Aber meinen Sie nicht, dass meine Abwesenheit ihre Sehnsucht eher beflügeln wird?“

„Meiner Meinung nach wird es sie davon überzeugen, dass Sie sich keinen Deut um sie scheren“, antwortete Clare unverblümt.

„Dann würde sie sich gewaltig irren.“ Er war nicht beeindruckt. „Sie liegt mir sogar sehr am Herzen. Aber mir ist auch klar, dass sie meine Gefühle nicht erwidert. Noch nicht.“ Er hielt inne. „Ich hoffe, Sie können das ändern.“

„Ich?“, wiederholte Clare entgeistert. „Wie sollte ich das können?“

„Indem Sie sie dazu bringen, die Sache noch einmal zu überdenken. Ihr klar machen, dass ich sie sehr glücklich machen kann.“

Clare schnappte nach Luft. „Sie verlangen von mir, dass ich ein feindseliges, aufsässiges junges Ding in eine anschmiegsame Braut für Sie verwandle?“

Er brachte es tatsächlich fertig, sie anzulächeln. „Genau.“

„Das ist unmöglich!“

„Im Gegenteil, ich denke, es ist sogar sehr wahrscheinlich – wenn Sie es nur versuchen, Chiara mia. Wenn Sie sich ganz darauf konzentrieren, wer weiß, welche Wunder Sie dann vollbringen können?“

Clare presste die Lippen zusammen. „Vielleicht will ich mich aber nicht darauf konzentrieren. Warum beharren Sie eigentlich so auf diese Heirat, signore?“

„Ich habe ein Haus, aber es ist kein Heim. Ich trage einen großen Namen, aber ich habe keine Erben. Ich leide keineswegs an einem Mangel weiblicher Bekanntschaften, aber es gibt keine Frau, der ich mein Herz schenken kann. Sind diese Gründe ausreichend?“

„Für mich hört sich das alles sehr kaltblütig an.“

„Oh, da irren Sie“, widersprach er sanft. „Meine Frau wird selbst herausfinden, was ich ihr zu geben habe, sobald sie ihre Nächte in meinen Armen verbringt.“

Clare merkte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. Sie starrte angelegentlich auf die Fliesen zu ihren Füßen. Ein seltsames Gefühl überkam sie, ein Gemisch aus Neid, Eifersucht und Bedauern, das sie verzweifelt zu ignorieren versuchte.

Endlich hatte sie sich wieder in der Gewalt und hob den Kopf. „Tut mir Leid, Marchese, aber das kann ich nicht tun. Ich kann auch nicht wirklich verstehen, warum Sie unbedingt meinen, jemanden heiraten zu müssen, der bereits vor Ihnen davongerannt ist.“

Er erhob sich und zuckte mit den Schultern. „Vielleicht ist das die Liebe – die Frau rennt davon, und der Mann versucht sie einzufangen.“ Er schwieg einen Moment. „Ist das Ihr einziger Grund für eine Absage?“

„Nein.“

Da sie nichts weiter sagte, meinte er nach einer Weile: „Paola wird enttäuscht sein. Es war ihre Idee, Sie als Gesellschafterin anzuwerben.“

„Richten Sie ihr aus, dass es mir leid tut.“

„Ich hoffte, Sie würden ihr das selbst sagen.“ Wieder schwieg er. „Sie sollten den Kontakt zu Paola nicht nur auf Grund Ihrer Abneigung mir gegenüber abbrechen. Sie würde sich sehr freuen, wenn Sie sie besuchten, solange Sie in Umbrien sind.“

Clare schluckte. „Ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre.“

„Warum nicht?“ Guido Bartaldi hob fragend die Schultern. „Ich habe Ihre Entscheidung akzeptiert. Also, was kann es schaden?“

Du hast ja nicht die geringste Ahnung, dachte Clare, und das ist auch gut so. Laut sagte sie: „Ich werde wahrscheinlich sowieso nicht mehr lange hier sein. Immerhin muss ich …“

„Sie müssen sich Ihren Lebensunterhalt verdienen?“ beendete Guido Bartaldi den Satz für sie. „Und trotzdem lehnen Sie eine Stelle ab, wenn sie Ihnen angeboten wird? Das ist schon interessant.“

„Ich bin erwachsen, signore, und treffe meine Entscheidungen selbst“, bemerkte sie beißend. Dann wurde ihr Ton umgänglicher. „Aber richten Sie Paola bitte aus, dass sie mir jederzeit willkommen ist, wenn sie mich hier besuchen kommen möchte.“ Sie griff nach ihrem Handtuch. „Wenn Sie mich jetzt bitte entschuldigen wollen. Ich bin sicher, meine Patentante wird gern ein wenig mit Ihnen plaudern, bevor Sie sich verabschieden.“

„Ich glaube, sie genießt die Aufmerksamkeit meines Onkels im Moment sehr viel mehr als die meinige.“ Er klang doch tatsächlich amüsiert. „Er wollte Sie eigentlich kennen lernen, aber ich bemerke, dass Sie sind nicht in der Stimmung dazu sind.“ Er kam zu ihr und schaute auf sie hinunter.

„Ich habe Sie verärgert“, meinte er leise. „Und verschreckt. Das wollte ich nicht.“ Er nahm ihre Hand, und sie wehrte sich nicht, als er sie an seine Lippen führte. „Arrivederci, Chiara.“ Seine Stimme war leise, tief – liebkosend.

Die Sonne schien Clare in ein Netz aus feinen goldenen Sommerfäden einzuspinnen. Stumm starrte sie in Guidos Gesicht, gebannt vom Zauber des Moments.

Und dann brach der Bann.

„Falls Sie Ihre Meinung doch noch ändern sollten“, meinte der Marchese in geschäftsmäßigem Ton, „lassen Sie es mich wissen.“

Enttäuschung. Ja, maßlose Enttäuschung, das war der Stich, der sie scharf wie ein Messer durchzuckte. Doch anstatt aufzuschreien, lächelte sie ihn an, mit Augen, aus denen Pfeile schossen.

„Eher wird die Hölle zufrieren, bevor ich meine Meinung ändere.“

Und damit wandte sie sich um, stieg zur Terrasse hinauf und verschwand im Haus.

5. KAPITEL

Clare hatte den salone gemieden und war direkt in ihr Zimmer gegangen. Sie zog den Bikini aus und stellte sich unter die Dusche. Sie nahm sich Zeit und hielt das Gesicht lange in den heißen Strahl, wie um alle Gedanken aus ihrem Kopf zu verbannen. Das eiskalte Wasser, dem sie sich danach aussetzte, wirkte wie ein heilsamer Schock und fegte alle Erinnerungen und Gefühle an die vorangegangenen Ereignisse fort. Sie schrie leise und schüttelte sich unter dem scharfen Strahl der Dusche.

Als sie sich mit dem großen Badelaken abtrocknete, erhaschte sie einen Blick auf ihre Gestalt im Spiegel und betrachtete sich eine Weile, so als sehe sie dort eine völlig fremde Person. Größer kam sie sich vor, schmaler auch. Aber das mochte das Licht des fremden Landes sein oder vielleicht einfach nur der fremde Spiegel, der ihre Erscheinung verzerrte.

Sie ging in den Raum zurück, zog eine dunkelgrüne Seidenkombination aus dreiviertellanger Hose und passendem Top mit dünnen Trägern über. Gerade kämmte sie sich das feuchte Haar, als sie Stimmen unter ihrem Fenster hörte und einen vorsichtigen Blick nach unten riskierte.

Guido Bartaldi und ein älterer Mann, groß, grauhaarig und sehr gediegen, gingen auf die wartende Limousine zu und stiegen ein.

Sie seufzte erleichtert. Sie hatte befürchtet, Violetta könnte die beiden zum Mittagessen eingeladen haben. Gastfreundschaft galt hier sowieso als hohes Gut, und sie zwei gesellschaftlich so bedeutenden Männern zu verwehren, konnte Violetta möglicherweise in Schwierigkeiten bringen. So hoffte sie, dass die Männer Wichtigeres zu erledigen hatten und sich nicht so unwillkommen fühlen mochten, wie der eine ihr, Clare, es war. Schließlich konnte sie unmöglich schon wieder Unpässlichkeit vortäuschen.

Sie schlüpfte in flache Sandalen und ging nach unten.

Ihre Patentante stand an die großen Flügeltüren zur Terrasse gelehnt und starrte gedankenverloren hinaus in den Garten. Als Clare sie ansprach, zuckte sie zusammen.

„Ah, carissima.“ Ein leicht vorwurfsvoller Unterton schwang in der Begrüßung mit. „Wo warst du nur? Ich hätte dich so gern dem Conte di Mantelli vorgestellt.“

Autor

Cathy Gillen Thacker
<p>Cathy Gillen Thacker ist eine Vollzeit-Ehefrau, - Mutter und – Autorin, die mit dem Schreiben für ihr eigenes Amusement angefangen hat, als sie Mutterschaftszeit hatte. Zwanzig Jahre und mehr als 50 veröffentlichte Romane später ist sie bekannt für ihre humorvollen romantischen Themen und warme Familiengeschichten. Wenn sie schreibt, ist ihr...
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