Das Geheimnis des venezianischen Milliardärs

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Es ist eine Nacht zum Verlieben: Viel zu schnell schlägt Gingers Herz, als sie Hand in Hand mit dem Milliardär Vittorio Della Scalla das romantische Venedig erkundet. Das Schicksal hat sie beide zusammengeführt, und zum ersten Mal seit dem tragischen Tod ihres Mannes erlaubt Ginger sich, von Liebe zu träumen. Ein Traum, der am nächsten Tag in Vittorios prächtigem Palazzo in Erfüllung geht! Sie ahnt nicht, dass der charmante Italiener eine schwere Schuld auf sich geladen hat - die eine gemeinsame Zukunft unmöglich zu machen scheint … "Also sehen wir uns doch wieder, Signora Lawrence." Sie konnte kaum atmen. "Meine Pläne haben sich geändert." "Meine auch", entgegnete er heiser.


  • Erscheinungstag 18.12.2018
  • Bandnummer 262018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710620
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Vittorio Della Scalla, dreißig und Finanzdirektor der Della Scalla Schifffahrtsgesellschaft war den ganzen Morgen für seine Schwester und deren Freunde mit seinem Wasserskiboot gefahren. Aber nun reichte es ihm, und er verkündete, dass er wieder ins Büro musste.

„Bitte nimm Paola noch ein einziges Mal mit“, bat seine Schwester Maria außer Hörweite der beiden anderen. Ihre beste Freundin Paola Coronna war sechs Jahre jünger als Vittorio und genauso alt wie Maria. Beide arbeiteten in der Reiseagentur von Della Scalla. „Sie will dir unbedingt ihren Vorwärtssalto zeigen.“

Das schafften nur wenige, doch Paola und ihr ein Jahr jüngerer Bruder Dario waren schon immer ein bisschen waghalsig, wenn nicht sogar stur gewesen.

Er schüttelte den Kopf. „Ich bin jetzt schon zu spät und habe viel zu tun.“

„Tu es für mich, Vittorio. Paola ist verrückt nach dir und will dich beeindrucken“, bettelte Maria.

Das war das Letzte, was Vittorio hören wollte. Andererseits waren heute Abend für alle die Ferien vorbei. Und da schon September war, würde er dieses Jahr nicht mehr in die Familienvilla am Lido von Venedig fahren, sondern vermutlich erst wieder im späten Frühjahr des kommenden Jahres.

Er stöhnte. „Bene, aber das ist das letzte Mal. Und denk dran, du und Dario, ihr beobachtet sie genau. Lasst sie nicht eine Sekunde aus den Augen.“

„Grazie.“ Maria küsste ihn auf die Wange und stürmte zurück zu den anderen.

Vor fünfzehn Jahren war Vittorio hier mit drei Freunden Wasserski gefahren. Damals hätte es fast eine Katastrophe gegeben. Niemand hatte genau aufgepasst, auch Vittorio nicht, der wie heute der Fahrer gewesen war. Als das Mädchen aus ihrer Clique beim Wasserski fiel, bemerkten sie es nicht rechtzeitig, weshalb ein anderes Boot sie beinahe überfahren hätte.

Der Fahrer und Besitzer des anderen Bootes war ein Nachbar, der ebenfalls am Lido wohnte. Er blieb stehen und wartete, bis Vittorio neben ihm war. Dann hielt er ihm eine Standpauke, die Vittorio nie vergessen würde, und rief die Polizei. Offenbar hatte er die Mätzchen des jüngeren Sohns der Della Scalla und seiner Freunde, die ebenfalls prominenten Familien entstammten, verfolgt.

Dass die jungen Leute getrunken hatten und nachlässig gewesen waren, erschien sofort in den Zeitungen und im Fernsehen. Auch andere Anwohner gaben an die Presse weiter, dass die privilegierten Jugendlichen, einschließlich Vittorio Della Scalla, eine Gefahr darstellten. Mit dem Ergebnis, dass die Paparazzi Vittorio lange nachsetzten.

Vittorios Vater war ein freundlicher Mensch, ließ jedoch bei seinem jüngeren Sohn keine Gnade walten. Die nächsten Jahre waren ziemlich schwer für Vittorio. Keine Partys mehr auf dem Boot, kein Sporttauchen. Und die Villa am Lido war ohne Aufsicht von Erwachsenen auch tabu.

Dabei spielte es keine Rolle, dass nicht Vittorio derjenige gewesen war, der getrunken hatte. Er hatte das Boot gefahren und sich unverantwortlich verhalten. Und natürlich hatte er sich von seinem Vater anhören müssen, dass sein älterer Bruder Gaspare die Familie niemals so in Verlegenheit gebracht hätte.

Diese Bemerkung und die Enttäuschung seines Vaters hatten Vittorio sehr getroffen, und er hatte sich geschworen, dass so etwas nie wieder passieren würde. Er hatte sein Leben geändert und sich seinem Studium gewidmet. Irgendwann hatte er genug gespart, um sich ein Segelboot zu kaufen, und einen Plan entwickelt, wie er sein eigenes Geld verdienen konnte. Auch nachdem sein Vater ihm eine Position im Familienunternehmen eingeräumt hatte, betrieb er sein eigenes Geschäft weiter, fest entschlossen, seinen Vater stolz zu machen.

„Sie ist so weit, Vittorio!“

Er kehrte in die Gegenwart zurück und ließ den Motor an. Nachdem er sich vergewissert hatte, dass alles in Ordnung war, gab er Gas und spürte den Ruck des Seils. Bald sah er, dass Paola aufrecht stand. Sie war eine gute Fahrerin und prahlte gern damit. Sie fuhr einen großen Bogen.

Vittorio steuerte auf den Strand zu und beobachtete sie im Rückspiegel. Sie stellte sich in Position für den Überschlag. Plötzlich stürzte sie nach vorn und schlug in einem seltsamen Winkel auf dem Wasser auf.

„Halt das Boot an!“, schrien Dario und seine Schwester gleichzeitig.

Hektisch drehte Vittorio und fuhr zu Paola. Er hielt neben ihr an und zog sie zusammen mit Dario ins Boot. Erst da bemerkte er zwei Slalomski im Wasser. Wo zum Teufel war der zweite hergekommen?

Kaum hatten sie die stöhnende Paola auf die Bank gelegt, sah er, dass Blut von ihrem Knöchel tropfte. Sie musste bei dem Überschlag heftig gegen den anderen Ski gestoßen sein. Er griff nach einem der Handtücher, um den Blutfluss zu stoppen.

„Halt sie fest, Dario. Ich rufe die Ambulanz.“

Wenige Minuten später sah er die blauen Lichter der Wasserrettung, die mit angeschalteter Sirene auf sie zuraste. Maria hatte sich neben ihre Freundin gehockt, um sie zu trösten.

Vittorio beugte sich über sie. „Ich verspreche, dass ich auf dich aufpasse, Paola.“

Während seine Schwester beruhigend auf Paola einsprach, zog Vittorio beide Skier aus dem Wasser. Vielleicht hatte jemand hinter dem anderen Boot, das er in einiger Entfernung gesehen hatte, den Ski fallen lassen, um auf einem zu fahren, und die Strömung hatte den anderen Ski in ihre Richtung getrieben. Oder er war hinten aus dem Boot gefallen. Er verstaute beide Skier, damit sie niemandem mehr im Weg waren.

Während die Sanitäter Paola auf das Rettungsboot trugen, rief er die Familie Coronna an, um sie über den Unfall zu informieren. Dario stieg zu seiner Schwester an Bord, weil er sie zum Krankenhaus begleiten wollte. Maria fuhr mit Vittorio zurück zur Villa.

Zwei Stunden später lag Paola im OP. Der Chirurg setzte spezielle Schrauben und Platten ein, um die Knochen wieder zusammenzufügen.

Vittorio sprach mit dem Arzt, der ihm erklärte, dass es durch den Aufprall auf den anderen Ski zu einer schweren Verletzung und zum Bruch gekommen sei. Er hoffte, dass alles gut verheilen würde. Es sei aber noch zu früh, um das sicher sagen zu können.

Im Januar hatte Paola noch größere Schmerzen als direkt nach dem Unfall, sodass ein paar Schrauben ausgetauscht werden mussten. Nach der zweiten Operation und der anschließenden Physiotherapie erholte sie sich endlich. Aber sie konnte mit dem Fuß nicht mehr so gehen wie vor dem Unfall.

Maria fühlte sich schrecklich, weil sie Vittorio gebeten hatte, noch ein letztes Mal zu fahren. Und er war entsetzt, dass es einen Unfall gegeben hatte. So wie beinahe vor fünfzehn Jahren …

Auch sein Vater war enttäuscht.

Obwohl Vittorio für Paolas Unfall nicht verantwortlich war, fühlte er sich noch schuldiger als zuvor.

1. KAPITEL

Acht Monate später

Es war inzwischen fast Ende Mai, und Ginger Lawrence hatte ihre Arbeit in Italien beendet. Ihr Laptop quoll über vor Dateien. Die eine Hälfte enthielt Geschichten über Kinder auf der ganzen Welt, die andere ihre Forschungsergebnisse über Lord Byron. Der britische Poet und Schriftsteller aus dem neunzehnten Jahrhundert war der Grund für ihre Reise nach Europa.

Gestern war sie aus Genua zurückgekommen, wo Lord Byron sich ebenfalls aufgehalten hatte. Heute wollte sie sich mit ein paar Forscherkollegen in Ravenna treffen, darunter auch Dr. Welch und Dr. Manukyan und die Internationale Lord Byron Vereinigung.

Sie hatten Ginger gefragt, ob sie mit ihnen an Bord der Sirena zu Abend essen würde, einem der Passagierschiffe, die in der Adria bei Ravenna vor Anker lagen. Ginger hatte sich sehr über die Einladung gefreut.

Den größten Teil des Tages hatte ihre Gruppe Informationen über Lord Byron ausgetauscht, der in dieser Region gereist war und gelebt hatte. Genau hier hatte er auch The Two Foscari und Cain geschrieben, eines ihrer Lieblingsdramen und seine Interpretation des biblischen Kain.

Abends würden sie sich mit einem Direktoriumsmitglied treffen, das Material für die Byron-Klausur im Juli vorstellen würde. Dann wären Ginger und ihre Freundinnen, die ebenfalls an dem Projekt arbeiteten, allerdings leider schon wieder in Kalifornien, um sich auf das Herbstsemester vorzubereiten.

Ginger gestand der Gruppe, dass sie sich darüber ärgerte, nicht genug Zeit zu haben, um in Venedig noch umfangreich weiterzuforschen. Sie bräuchte noch einen zusätzlichen Monat, doch das war unmöglich. Der eine Tag in Venedig musste genügen.

Dr. Manukyan, Professor aus Armenien und ihr Gastgeber, lächelte sie an. „Denken Sie daran, dass Byron 1817 seine wichtigste Zeit in Venedig im armenischen Kloster verbracht hat.“

Ginger nickte. „Ich habe vor, den ganzen Tag dort zu verbringen.“

„Wie Sie wahrscheinlich wissen, ist die Insel San Lazzaro nach dem Heiligen Lazarus benannt, dem Schutzpatron der Kranken“, fuhr ihr Gastgeber fort. „Die vierhundert Jahre alte Leprakolonie existierte vom zwölften bis zum sechzehnten Jahrhundert. Danach ist Mechitar, ein armenischer Mönch, den Türken entflohen und kam nach Venedig, wo man ihm die Insel für seine Dominikaner gab. Heute leben dort mehr als ein Dutzend Mönche, außerdem armenische Studenten, die Italienisch lernen und die Obhut für das kostbare Museum und die Bibliothek tragen. Während seiner Europareisen hat Byron sich entschlossen, Armenisch zu lernen.“

„Genau darüber möchte ich mehr erfahren“, rief Ginger. „Ich weiß, dass er an einem englisch-armenischen Grammatikbuch gearbeitet hat. Es fasziniert mich, wie Byron gedacht und was ihn motiviert hat.“

Dr. Manukyan nickte. „Byron hat auch den venezianischen Dialekt studiert. Tatsächlich hatte er eine seiner produktivsten Perioden in Venedig. Neben seiner Arbeit im Kloster schrieb er dort auch die erste Hälfte des Don Juan.“

Ginger konnte gar nicht genug über Lord Byron erfahren, während sie ein köstliches Fischgericht aß, gefolgt von Dessert und Kaffee. Dr. Manukyan informierte sie, dass noch weitere Klausurtagungen über Lord Byron stattfinden würden. Er bedauerte, dass sie dann bereits wieder in Kalifornien wäre und nicht an ihnen teilnehmen konnte.

Ginger war schon seit Januar in Italien, um nach neuen Informationen über das Leben des Dichters zu suchen. Im Jahr davor hatte der Rektor der Vanguard University in Costa Mesa, an der sie unterrichtete, sie gefragt, ob sie in Los Angeles an einem Workshop für ein neues Projekt über Lord Byron teilnehmen wolle. Die berühmte Hollywood-Regisseurin Magda Collier würde ihn abhalten. Seine geschätzte Freundin wollte einen Film über Byron drehen und brauchte noch zusätzliche Informationen für die Drehbuchschreiber.

Ginger würde die Universität für ein Semester verlassen und nach Europa reisen müssen. Da ihr Mann Bruce vor etwas mehr als zwei Jahren an Krebs gestorben war, hatte sie die Gelegenheit, in Italien zu arbeiten, dankbar ergriffen. Sie hoffte, dort über ihren Schmerz hinwegzukommen.

Kein Mann könnte Bruce je ersetzen. Und es schmerzte sie noch mehr, dass er gestorben war, bevor sie Kinder bekommen hatten. Denn mehr als alles andere hatte Ginger sich Kinder gewünscht. Ihr Therapeut hatte ihr vorgeschlagen, eine Geschichte für Kinder zu schreiben, irgendetwas, das ihren eigenen Kindern gefallen hätte.

Nach all dem Leid und der Trauer hatte Ginger erkannt, dass sie sich auf etwas anderes konzentrieren musste und war dem Rat ihres Therapeuten gefolgt.

Außerdem hatte sie sich bei dem Workshop für das europäische Forschungsprojekt beworben und dabei Zoe Perkins und Abby Grant kennengelernt, die ebenfalls ausgewählt worden waren. Alle drei hatten einen Abschluss in Literaturwissenschaft, mit Schwerpunkt auf der Romantik.

Abby war in die Schweiz geschickt worden und Zoe nach Griechenland. Doch sie waren via Skype oder Handy in Verbindung geblieben. Ihre eigenen Reisen und die ihrer beiden neuen Freundinnen hatten Gingers Fantasie beflügelt und sie auf die Idee gebracht, in ihrer freien Zeit über Kinder aus aller Welt zu schreiben.

Ginger hatte den anderen am Tisch erklärt, dass sie am nächsten Tag den Zug nach Venedig nehmen und den Nachmittag im Kloster verbringen wollte. Abends würde sie dann Zoe am Flughafen abholen und gemeinsam mit ihr im Nachtzug nach Montreux in der Schweiz fahren. Dort wollten sie sich einen Mietwagen nehmen und sich mit Abby in Saint-Saphorin am Genfer See treffen, um ihre Ferien zu beginnen.

Ihre Auftraggeberin Magda hatte ihnen als Belohnung für ihre Arbeit einen einmonatigen Aufenthalt auf einem Weingut spendiert. Sie könnten dort wohnen und tun und lassen, was sie wollten.

Ginger wandte sich an Dr. Manukyan, um ihm noch ein paar Fragen zu stellen, doch plötzlich stand er auf und sagte: „Entschuldigen Sie mich bitte einen Moment.“

Überrascht beobachtete sie, wie er zu einem Mann mit rabenschwarzen Haaren ging. Er war um die dreißig und hatte eben den Speiseraum betreten. Alles an ihm, einschließlich des eleganten dunkelblauen Anzugs und der Krawatte, sprach von Kultiviertheit und Autorität, der er sich vielleicht nicht einmal bewusst war.

Er war groß und der attraktivste Italiener, den sie je gesehen hatte. Sie war augenblicklich fasziniert von ihm.

Ihr Herz klopfte, als die beiden Männer zu ihrem Tisch kamen. „Ich möchte Ihnen allen Signor Della Scalla vorstellen“, begann Dr. Manukyan. „Ihm verdanken wir nicht nur unser Mahl, sondern auch, dass wir heute Abend auf diesem Schiff essen durften.“

„Ich hoffe, es hat Ihnen geschmeckt.“ Ihr Gönner sprach perfekt Englisch mit einem verführerischen italienischen Akzent.

Della Scalla. Der Name stand für eine der bekanntesten Schifffahrtsgesellschaften Italiens, wenn nicht gar Europas. Doch es gab vermutlich hunderte Italiener mit diesem Nachnamen.

Ginger hörte zu, während ihr Gastgeber die fünf anderen Mitglieder ihrer Gesellschaft vorstellte. Dann war sie an der Reihe.

Der Fremde musterte sie eingehend, fast so, als wollte er ihr Wesen erfassen. Zum ersten Mal seit Bruces Tod schaffte es ein Mann, ihr den Atem zu rauben. Wer war er?

„Es ist mir ein Vergnügen, Sie kennenzulernen“, sagte er in die Runde, sah aber weiterhin nur sie an.

„Möchten Sie sich nicht einen Augenblick zu uns setzen?“, fragte Dr. Manukyan.

„Danke, aber leider fehlt mir die Zeit. Soll ich jemanden mit zurück nach Ravenna nehmen? Es liegt auf meinem Weg. Sie können gern in meiner Limousine mitfahren.“

Dr. Manukyan sah erfreut aus. „Wir wohnen im Palazzo Bezzi Hotel und wollten uns ein Taxi rufen. Aber wir fahren gern mit, wenn es für Sie kein zu großer Umweg ist.“

„Überhaupt nicht.“

„Wir wissen Ihre Freundlichkeit sehr zu schätzen.“

Ginger konnte kaum glauben, dass sie mit ihm in die Stadt zurückfahren würden. Sie stand auf und folgte den anderen.

Am Dock stand eine glänzende, schwarze Limousine. Ginger wartete, bis die anderen eingestiegen waren. Dieser Mann musste eine wichtige Persönlichkeit sein, aber sie konnte Dr. Manukyan nicht fragen, weil sie nicht allein waren.

Als Signor Della Scalla ihr beim Einsteigen half, berührte er zufällig ihren Arm. Ein Schauer lief ihr über den Rücken.

Er saß vorn neben dem Chauffeur, und es dauerte nicht lange, bis sie die Altstadt erreichten. Alle bedankten sich bei ihm und verabschiedeten sich. Zuletzt war sie an der Reihe.

„Signora? Wie lange werden Sie in Ravenna bleiben?“, fragte er, bevor sie ausstieg.

Gingers Herz schlug noch schneller, als sie bemerkte, dass er, genau wie sie, keinen Ring trug. Sie verstand nicht, warum sie sich so zu ihm hingezogen fühlte.

„Ich reise morgen früh ab“, erwiderte sie.

Er legte beide Hände auf den Türrahmen und versperrte ihr so den Weg. „Wo fahren Sie als Nächstes hin?“

„Nach Venedig.“

„Bleiben Sie länger?“

„Nein, auch wenn ich es gern täte. Aber mir bleibt nur noch ein Tag, bevor ich weiterfahre, um Ferien zu machen.“

„Nur ein Tag? Kann ich Sie nicht überreden, noch ein paar Tage länger zu bleiben? Wir könnten uns bei Ihrem Hotel treffen, und ich führe Sie herum.“

Ginger fühlte sich geschmeichelt, weil er sich für sie interessierte. Auch andere Männer hatten in Italien mit ihr geflirtet, doch sie war nie in Versuchung geraten. Bis jetzt.

„Ich werde nicht so lange in Venedig sein, um mir ein Hotelzimmer zu nehmen.“ Gingers Herz klopfte bis zum Hals. „Den größten Teil des Tages werde ich in dem Kloster sein, wo Lord Byron viele Stunden verbracht hat. Er ist der Grund, warum ich überhaupt hier bin.“

Seine Augen leuchteten bei ihrer Bemerkung auf. „Dann fragen Sie unbedingt nach Pater Giovanni. Ich kenne ihn gut. Er ist der Experte dort.“

Dr. Manukyan hatte den Namen des Mönchs nicht erwähnt. „Danke für die Information. Ich werde daran denken.“

„Wohin reisen Sie danach?“

Wollte er das wirklich wissen? „Meine Freundin Zoe kommt mit dem Flugzeug aus Griechenland, dann nehmen wir den Nachtzug in die Schweiz. Dort treffen wir uns mit einer anderen Freundin auf einem Weingut am Genfer See.“

Oh Gott! Ginger merkte, dass sie wie ein Schulmädchen plapperte und wechselte schnell das Thema. „Danke, dass Sie uns mitgenommen haben. Leben Sie in Ravenna?“ Sie wollte mehr über ihn wissen.

„Nein. Ich bin Venezianer. Leider muss ich noch heute Abend zurück nach Venedig. Aber vielleicht laufen wir uns wieder einmal über den Weg.“

Er trat zur Seite, um ihr aus dem Wagen zu helfen. Wieder spürte sie seine Berührung am Arm.

„Alla prossima.“

Bis zum nächsten Mal? Es würde kein nächstes Mal geben. In zwei Tagen wäre sie mit ihren Freundinnen in der Schweiz. Trotzdem schlug Gingers Puls schneller bei dem Gedanken, ihn wiederzusehen. Im Grunde wollte sie ihm nicht Lebewohl sagen.

Seit Bruces Tod hatte Ginger Männern keine Beachtung mehr geschenkt und sie auch nicht ermutigt. Die Vorstellung, sich wieder zu verlieben und wieder einen Menschen auf so schreckliche Weise zu verlieren, machte ihr zu viel Angst. Sie konnte sich überhaupt nicht vorstellen, dass es einen Mann gab, der ihr über den schmerzlichen Verlust hinweghelfen konnte. Nur ein Wunder könnte das vollbringen.

Und sie glaubte nicht an solche Wunder. Doch irgendetwas war passiert, dass dieser Fremde ihre Gefühle derart beherrschte.

Gingers Beine zitterten, als Signor Della Scalla sie ins Foyer des Hotels begleitete.

Buona notte, Signora“, flüsterte er.

Buona notte, Signor.“ Sie spürte seinen Blick, bis sie um die Ecke zu den Aufzügen verschwunden war.

Als sie endlich ins Bett ging, merkte Ginger bestürzt, dass ihre Gedanken immer noch um den unglaublich attraktiven Italiener kreisten. Sie würde ihn nie wiedersehen, doch das bedeutete nicht, dass sein Bild aus ihrem Kopf verschwinden würde.

Am nächsten Morgen um neun verließ Vittorio in einem schwarzen Anzug den jahrhundertealten Palazzo der Della Scalla am Canal Grande. Gestern Abend war er im Helikopter zurück nach Venedig geflogen, mit dem festen Vorsatz, Signora Lawrence am nächsten Tag im Kloster zu treffen.

Doch dann hatte man ihn mit der schrecklichen Nachricht geweckt, dass sein Vater in den frühen Morgenstunden gestorben war.

Nachdem er seine trauernde Familie mit dem Arzt alleingelassen hatte, fuhr er mit dem Schnellboot zur Insel San Lazzaro, die zwei Kilometer entfernt lag.

Viele Boote fuhren durch den Kanal. Vittorio überholte ein Fährboot, dessen Passagiere ebenfalls das armenische Kloster besichtigen wollten, die einzige Besonderheit auf der Insel. Nachdem er sein Boot am Pier festgemacht hatte, stieg er aus und eilte zum Hauptgebäude, an dem eine Gedenktafel für den berühmten englischen Dichter und Schriftsteller Lord Byron hing, bekannt als treuer Freund Armeniens.

Er betrat den Kreuzgang, der einen Garten einschloss. Dahinter lag die von Weihrauch erfüllte Kapelle. Vittorio hoffte, seinen Bruder Gaspare zu finden, der unter den Mönchen als Pater Giovanni bekannt war. Doch es waren nur wenige Mönche in der Kapelle. Also war er vermutlich in dem berühmten Museum, in dem es viele Schätze gab, einschließlich einer Mumie und einer Büste von Napoleons Sohn.

Aber auch hier konnte er seinen vierunddreißigjährigen Bruder nirgends finden. Vielleicht hielt er sich in dem Zimmer auf, das als Studierzimmer von Lord Byron bezeichnet wurde. Denn Gaspare liebte Byrons Werke.

Vittorio betrat das Studierzimmer, über dessen Tür die Reproduktion eines Gemäldes von Lord Byron hing.

Zu Beginn des 19. Jahrhunderts hatte der Poet hier während seines zweijährigen Aufenthalts in Venedig die armenische Sprache studiert. Wertvolle Bücher und Manuskripte dieser Bibliothek zogen das ganze Jahr über viele Touristen und Gelehrte an.

Endlich entdeckte er seinen Bruder in dem braunen Habit am anderen Ende des Raumes. Er unterhielt sich gerade mit einigen Besuchern. Sie kehrten ihm den Rücken zu, während sie über ein Manuskript sprachen, das unter Glas lag.

Mit schwerem Herzen trat Vittorio näher, denn er wusste, dass der Tod ihres Vaters einen schweren Schlag für seinen Bruder bedeuten würde.

„Gaspare?“

Überrascht drehte sein Bruder sich um. „Vittorio …“

Nach einem kurzen Moment wandte er sich an einen der Besucher. „Ich muss Sie um Entschuldigung bitten“, sagte er auf Englisch. „Ich schicke Ihnen Pater Luca, er wird Ihnen helfen.“ Anschließend gesellte er sich zu Vittorio, und sie entfernten sich ein Stück, um nicht gehört zu werden.

Seit Gaspare Mönch war, bestand Vittorios einziger Trost darin, ihn hier gelegentlich besuchen und sich ihm anvertrauen zu können. Die beiden trennten nur drei Jahre. Sie liebten einander und hatten sich schon immer sehr nahegestanden.

„Es ist etwas Schreckliches passiert, das sehe ich an deiner Miene“, begann Gaspare das Gespräch.

Vittorio starrte in die Augen seines Bruders, die das gleiche Blau hatten wie seine. Sie hatten beide schwarze Haare und waren größer als ihr Vater. Wieder schnürte sich ihm vor Schmerz die Kehle zu.

Papà ist heute Morgen gestorben“, sagte er leise und erinnerte sich daran, was am frühen Morgen im Palazzo passiert war.

Dr. Farini, der schon lange der Arzt der Familie war, hatte ihren Vater untersucht, bevor er ein Laken über sein Gesicht gelegt hatte. Conte Mario Goretti Della Scalla, geliebter Ehemann, Vater, Bruder, Freund und CEO der Della Scalla Schifffahrtsgesellschaft war offiziell für tot erklärt worden.

Der Arzt hatte Vittorio eindringlich angesehen. „Du bist jetzt Conte Della Scalla, Vittorio. Dein Vater war gesegnet, dass er einen Sohn wie dich hat, der fähig und bereit ist, in seine Fußstapfen zu treten.“

Es gab noch einen Sohn, der Vittorios Meinung nach den Platz übernehmen könnte, doch das war unmöglich. Bald würde die Neuigkeit überall die Runde machen, und in ganz Venedig würden die Glocken läuten.

„Wie ist er gestorben, Vittorio?“

„Dr. Farini sagt, es war ein Herzinfarkt. Das einzig Tröstliche ist, dass es schnell ging.“

Gaspares Augen schimmerten. „Er war zu jung.“

„Niemand hat damit gerechnet“, stimmte Vittorio ihm zu.

„Wie geht es mamma und Maria?“

„Das kannst du dir sicher vorstellen.“

Der Mönch senkte den Kopf. „Sie haben ihn angebetet.“

„Das haben wir alle“, flüsterte Vittorio. „Ich habe bei Onkel Bertoldos Dienstmädchen eine Nachricht hinterlassen. Er und Tante Miah sollten noch heute aus Rom zurück sein. Dr. Farini bleibt bei der Familie, bis wir beide kommen. Du wirst uns allen eine große Hilfe sein, um damit fertig zu werden.“

Reglos stand sein Bruder da. Vittorio sah die Trauer in seinem Gesicht.

„Warte hier auf mich. Ich muss mit dem Abt sprechen und ein paar Sachen einpacken. In ein paar Minuten bin ich zurück.“

Während Vittorio wartete, ging Gaspare zu den Besuchern, sagte ein paar Worte zu ihnen und verschwand durch eine Seitentür. In diesem Moment fiel Vittorio ein, dass Ginger Lawrence bald ins Kloster kommen würde, um seinen Bruder aufzusuchen. Ihr Bild hatte er immer noch in seinem Kopf.

Er war geblendet von ihrer Schönheit gewesen und hatte den Blick nicht von ihren zarten Zügen abwenden können.

Ihre kurzen, glänzend schwarzen Locken hatten ihm den Atem geraubt, genau wie ihre Figur. Aus leuchtend grauen Augen hatte sie seinen Blick erwidert.

Vittorio hatte gemerkt, dass sie ihn mit aufrichtigem Interesse angesehen hatte, bevor sie vom Tisch aufgestanden war. Seiner Meinung nach sah dieses wundervolle Wesen zu jung aus, um schon Dozentin zu sein, obwohl sie mit einer Gruppe von Lord-Byron-Experten da gewesen war, für die er das Dinner an Bord eines der Della Scalla Passagierschiffe arrangiert hatte.

Vittorio hatte den Kapitän der Sirena angewiesen, einen Extrastopp in Ravenna einzulegen. Als besonderen Gefallen und vorzeitiges Geschenk für Gaspare, der in ein paar Tagen Geburtstag hatte. Sein Bruder war seit Langem mit Dr. Manukyan befreundet, der an der Yerevan Universität in Armenien lehrte und zu Besuch in Ravenna war.

Als Vittorio all das arrangiert hatte, hatte er noch nicht gewusst, dass eine Frau wie Ginger Lawrence bei der Gruppe sein würde. Hätte er es gewusst, wäre er früher hingeflogen, um mit ihnen zu Abend zu essen und sie besser kennenzulernen.

Autor

Rebecca Winters

Rebecca Winters und ihre Familie leben in Salt Lake City, Utah. Mit 17 kam Rebecca auf ein Schweizer Internat, wo sie französisch lernte und viele nette Mädchen traf. Ihre Liebe zu Sprachen behielt sie bei und studierte an der Universität in Utah Französisch, Spanisch und Geschichte und später sogar Arabisch.

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