Das Mädchen und der Prinz

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Seine Augen haben die Farbe von schokoladenbrauner Seide, und der Blick ist so verführerisch wie eine Liebkosung: In Evie erwacht ein nie gekanntes Verlangen, als sie Dimitri das erste Mal begegnet. Doch für einen waschechten Prinzen ist ein einfaches Mädchen wie sie ganz bestimmt keine angemessene Gattin …


  • Erscheinungstag 25.03.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783733716028
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

10. August 1821

Diesem Mann hätte Evie Milham sehr gern die Kleider vom Leib gerissen. Nach dem ausgesprochen großen Andrang von Frauen zu urteilen, die sich an diesem warmen Augustabend in den kleinen Versammlungssaal in Little Westbury gezwängt hatten, war sie jedoch offenbar nicht die Einzige mit diesem Wunsch. Allerdings bezweifelte Evie sehr, dass der Rest der weiblichen Anwesenden denselben Grund hatte wie sie.

Ganz abgesehen davon, hatte es wohl in der ganzen Geschichte von West Sussex noch nie eine so gut besuchte archäologische Vorlesung gegeben – vielleicht sogar in der Geschichte von ganz England. Nicht einmal die Parthenon-Marmorskulpturen, die Lord Elgin aus Athen mitgebracht hatte, waren so enthusiastisch begrüßt worden. Allerdings sahen die Skulpturen auch nicht aus wie er, Dimitri Petrovich, der Prinz von Kuban. Er war hochgewachsen mit glattem schwarzem Haar, das ihm bis zu den Schultern reichte, und seine markanten Züge wiesen unzweifelhaft auf exotische Vorfahren hin. Viele Frauen reisten meilenweit, nur um diese hohen Wangenknochen bewundern zu können. Und seine Kleidung, lieber Himmel, seine Kleidung! Er sah darin aus wie ein Gott. Evie spürte, wie es ihr in den Fingern juckte. Wie gern würde sie seine Hose in die Hände bekommen! Wenn sie sie nur einige Augenblicke lang untersuchen dürfte! Wer immer sein Schneider sein mochte, er war ein wahres Genie.

Evie reckte den Hals, um besser sehen zu können. Wenn sie gewusst hätte, dass er so auserlesen gekleidet sein würde, hätte sie sich weiter nach vorn gesetzt. Allerdings hatte sie nicht seinetwegen weiter hinten Platz genommen, sondern vielmehr wegen eines anderen Mannes. Andrew Adair saß lediglich zwei Reihen vor ihr, sodass sie den Blick immer wieder auf seinem goldblonden Schopf ruhen lassen konnte. Nur glitt ihr Blick öfter, als sie erwartet hätte, zu Prinz Dimitri Petrovich hinüber. Es war auch nur zu verständlich. Wenn sie nicht seine bemerkenswerte Hose bewunderte, starrte sie fasziniert seine Hände an. Er gestikulierte nicht wie ein Engländer. Seine Bewegungen besaßen eine Geschmeidigkeit, die ihn nur noch fremdartiger erscheinen ließ. Warum sollte sie auch nicht hinschauen? Schließlich war es Andrew herzlich gleichgültig, was sie tat, wenn er sich ihrer Anwesenheit überhaupt bewusst war.

Der heutige Abend sollte das eigentlich ändern. Er sollte ihr die Gelegenheit geben, nach sechs Jahren endlich Andrews Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Dabei waren sie Nachbarn, seit Evie denken konnte. Drei Jahre war er allerdings auf seiner Grand Tour in Europa gewesen, während sie in London debütiert hatte. Dieses Jahr musste alles anders werden. Sie war in die Gesellschaft eingeführt worden, und er war wieder daheim. Darüber hinaus hatte er kurz vor Ende dieser Saison verkündet, dass er auf der Suche nach einer Frau war. Evie holte tief Luft. Sie würde ihn dazu bringen, sie zu bemerken.

Wieder ließ sie den Blick von Andrews blondem Kopf zur Bühne schweifen. Dort machte der Prinz – es mussten die Bundfalten sein, die seiner Hose erlaubten, sich so makellos an seine schmalen Hüften zu schmiegen – eine seiner fesselnden Gesten, mit der er den Lakaien, die den Gästen Champagner reichten, ein Zeichen gab. Entschlossen zwang Evie sich, wieder zu Andrew hinüberzusehen. Wenn sie in der vergangenen Saison etwas gelernt hatte, dann, dass sich nichts änderte, wenn man sich nicht vorher selbst änderte. Sie durfte nicht einfach darauf warten, dass Andrew sie beachtete. Hatte nicht die Tatsache, dass ihre Freundin Claire vor nur wenigen Wochen mit dem Diplomaten Jonathon Lashley eine stürmische Liebesheirat eingegangen war, bewiesen, wie klug dieser Leitspruch war? Claire war es gelungen, dass Jonathon sein Augenmerk auf sie gerichtet hatte. Und nun brauchte sie, Evie, lediglich dasselbe mit Andrew zu tun, und ihrem Glück würde nichts mehr im Wege stehen. Schließlich konnte man Andrew keinen Vorwurf daraus machen, dass sie ihm noch nicht aufgefallen war, wenn sie nichts tat, um ihm ein wenig dabei zu helfen.

„Champagner, Miss?“ Ein Diener hielt ihr ein Tablett voller Champagnergläser hin. Und nicht nur Champagner, sondern kühlen Champagner. Eiskalter Champagner auf dem Lande, noch dazu mitten im August, war wirklich ein bemerkenswerter Luxus. Evie nahm sich ein Glas, und der Diener ging weiter. Vorne war der Prinz im Begriff, einen Toast auszusprechen, und das Publikum stand auf. Plötzlich kam Evie ein Einfall. Wenn sie sich nun einfach ein, zwei Reihen weiter nach vorn bewegen würde? In der Menge würde es niemandem auffallen, wenn sie sich plötzlich an Andrews Seite gesellte, oder? Ein perfekter Plan. Daraufhin würde Andrew sich zu ihr umdrehen und sie wahrnehmen. Er würde mit ihr anstoßen müssen und ihr dabei in die Augen sehen …

Beweg dich schon, sagte sie sich ungeduldig. Man würde den Toast gesprochen haben, und sie würde noch immer von dem Moment träumen, während er schon längst vorbei war! Evie kratzte all ihren Mut zusammen und huschte entschlossen zu Andrew hinüber. Ihr Herz klopfte schneller. Noch nie hatte sie es gewagt, sich Andrew so zielgerichtet zu nähern. Der Prinz sprach, aber sie war zu sehr mit ihren eigenen Gedanken beschäftig, um mehr als nur gelegentliche Wortfetzen aufzuschnappen. „Ich freue mich, Ihnen mitteilen zu können, dass ich mir für den Zweck der Ausgrabung hier in Little Westbury … bin stolz darauf, bei diesem Vorhaben von so begeisterten Geschichtsliebhabern begleitet zu werden, wie …“ Sie hörte die Namen nicht, bis er den letzten erwähnte. „Und vor allem wird mir ein Freund und Reisegefährte zur Seite stehen, Mr. Andrew Adair, ohne den dieses Unterfangen gar nicht möglich wäre.“

Das weckte allerdings schon ihr Interesse. Andrew und der Prinz waren Freunde? Andrew interessierte sich für Geschichte? All diese Jahre hatte sie sozusagen Tür an Tür mit ihm gelebt und hatte keine Ahnung gehabt. Sie war gerade bei Andrew angekommen, als die Anwesenden miteinander anzustoßen begannen. Im ganzen Saal klang es, als würden Kristallglocken läuten. Andrew stieß mit dem Herrn zu seiner Rechten an, dann mit den Leuten in der Reihe vor ihm, und schließlich wandte er sich nach links. Er zog erstaunt die hellen Augenbrauen zusammen und brauchte sichtlich einen Moment, um Evies Anwesenheit zu verarbeiten. „Oh, du bist es, Evie. Was tust du denn hier?“ Er stieß mit ihr an, und sie suchte angestrengt nach einer Antwort.

„Ich wollte den Vortrag des Prinzen hören.“ Was in gewisser Weise auch stimmte. „Ich gratuliere dir übrigens zu dem gelungenen Abend.“

„Oh. Ja“, antwortete er vage. Schon glitt sein Blick wieder zur Bühne. Seine ganze Aufmerksamkeit galt wieder dem Prinzen statt ihr, wie Evie geplant hatte.

Sie räusperte sich vernehmlich, und er wandte sich ihr wieder zu. „Ich wusste nicht, dass du so sehr …“, begann sie, doch er unterbrach sie, indem er mit der Hand wedelte, um sie zum Schweigen zu bringen.

„Wenn du mich einen Moment entschuldigen möchtest, Evie.“ Und damit ging er einfach an ihr vorbei und blieb im Gang stehen. Wenn sie ihn nicht besser gekannt hätte, hätte sie sein Benehmen als rüpelhaft bezeichnet. Unter anderen Umständen hätte seine abrupte Art sie vielleicht gekränkt, aber sie verstand den Grund dafür. Als enger Freund des Prinzen musste Andrew natürlich seinerseits einen Toast ausbringen. Sie hätte damit rechnen müssen. Er war nicht unhöflich, er tat nur seine Pflicht.

Sobald der Lärm sich gelegt hatte, erhob er sein Glas, und die Bewegung zog alle Blicke auf ihn. Und damit auch auf Evie. Zu spät erkannte sie, dass die Blicke aller Anwesenden auch auf ihr ruhten.

Andrew begann jetzt, souverän und mit fester Stimme zu der versammelten Menge zu sprechen. „Auf den Prinzen!“ Im Nu war er auf der Bühne, wo er sich zu dem Prinzen gesellte. Und Evie blieb zurück. Wieder einmal. Das war es also. Ihr Versuch, Andrew auf sich aufmerksam zu machen, war fehlgeschlagen.

Nein. Geh ihm nach! Das klang genau wie Claires Stimme in ihrem Kopf. Claire wäre niemals wie eine willenlose Puppe hier stehen geblieben. Plötzlich entschlossen, zwängte Evie sich durch die Menge und wurde gleich darauf von anderen Gästen, die begierig waren, den Prinzen kennenzulernen, und zur Bühne drängten, mit nach vorn geschoben. Als die Drängelei aufhörte, stand sie wieder neben Andrew und beobachtete voller Erstaunen, wie der Prinz von Kuban ihn in eine brüderliche Umarmung zog. „Mein Freund! Wie schön, dich zu sehen. Hat dir der Vortrag gefallen?“

Andrew erwiderte die Umarmung, wenn auch ein wenig unbeholfen, als wäre ihm der ungewohnte Kontakt mit einem Mann nicht sehr angenehm. „Sehr. Was du über die große Bedeutung der Geschichte gesagt hast, war wirklich sehr treffend ausgedrückt“, antwortete er und lächelte charmant. „West Sussex bekommt dir, alter Junge. Du siehst ausgesprochen gut aus.“

Der Prinz lächelte breit. „Das stimmt in der Tat!“ Er breitete die Arme aus, als wollte er die ganze Welt umarmen. „Was für ein wunderschönes Fleckchen Erde du dein Zuhause nennst. Du bist ein sehr glücklicher Mann.“ Und er meinte es ernst, erkannte Evie. Der Prinz strahlte eine so ungezwungene Aufrichtigkeit aus, dass er eher menschlich als königlich wirkte. Doch dann drehte der unverhofft menschliche Prinz den Kopf, und der Blick seiner dunklen Augen heftete sich auf sie. Evie erstarrte. Sie war nicht mehr der Beobachter einer Unterhaltung, sondern ein Teilnehmer. Seine Augen hatten die Farbe von schokoladenbrauner Seide, und sein Blick war genauso innig wie seine Umarmung. Evie war, als würde er bis in ihr Innerstes sehen und alles erkennen können – Evie, die Näherin, Evie, die Schneiderin, Evie, die ihrem Vater bei dessen historischer Forschung half. Außerdem hatte sie das Gefühl, er würde sie nicht bedauernswert finden oder gar gesellschaftlich peinlich. „Andrew, wir sind sehr nachlässig. Wer ist diese bezaubernde junge Dame?“

Sein Ton klang leicht vorwurfsvoll. Wie es aussah, benahm Andrew sich heute schon zum zweiten Mal ihr gegenüber nicht so, wie es sich für einen Gentleman gehört hätte. Eine Dame durfte nie in die Verlegenheit geraten, sich selbst vorstellen zu müssen. Andrew zögerte kaum merklich, während er sich von seiner Überraschung erholte, sie schon wieder an seiner Seite zu entdecken. Insgeheim wünschte Evie, er würde aufhören, ihre Anwesenheit als so rätselhaft zu empfinden.

Er lächelte. „Das ist Evie Milham, meine Nachbarin.“ Fast wäre Evie zusammengezuckt. Er hatte sie „Evie“ genannt, noch dazu vor dem Prinzen! Vor einem Prinzen wäre doch gewiss etwas mehr Förmlichkeit angebracht gewesen. Auch der Prinz schien ihrer Meinung zu sein. Fragend ließ er eine dunkle Augenbraue in die Höhe schnellen.

Evie blieb nichts anderes übrig, als stolz das Kinn zu recken. So wenig Andrew es wahrscheinlich beabsichtigt hatte, so hatte er sie doch geringschätzig behandelt. Sie knickste vor dem Prinzen und nahm die Vorstellung selbst in die Hand. „Ich bin Miss Milham.“ Sie wusste, dass man ihr Respekt schuldete, und falls nötig, würde sie den Mut aufbringen müssen, diesen einzufordern. Wenn sie sich nicht selbst wertschätzte, würde es auch sonst niemand tun.

Evie straffte die Schultern und versuchte, sich in der Gegenwart dieses Mannes nicht unscheinbar und schüchtern zu fühlen. Entschlossen bot sie dem Prinzen die Hand und hoffte inständig, er ahnte nicht, wie viel Überwindung diese schlichte Geste sie kostete. Es wäre so viel einfacher gewesen, wieder in der Menge zu verschwinden. Doch ihre Bemühung wurde belohnt. Er beugte sich über ihre Hand und küsste sie leicht, während er Evie weiterhin mit seinen schokoladenbraunen Augen ansah. Eine seltsame Hitze breitete sich in ihr aus. Er verlieh ihr das Gefühl, die einzige Frau im gesamten Saal zu sein. Vielleicht war das der Unterschied zwischen einem Prinzen und anderen Männern.

„Evie?“ Er sprach ihren Namen mit seinem fremden Akzent aus. „Ist das die Abkürzung für etwas?“ Er gab ihr die Gelegenheit, sich von Andrews Kränkung zu erholen. Und das auf sehr elegante Weise.

„Evaine.“

Er lächelte anerkennend, und Evie spürte, wie ihr das Blut in die Wangen schoss. „Ah, Sir Lancelots Tante in Ihren Camelot-Legenden.“

Evie schmolz regelrecht dahin. Kein Wunder, dass englische Mütter ihre Töchter vor dem Einfluss ausländischer Männer warnten. Dieser Mann wäre in der Lage, das Herz jeder Frau zu erobern, ohne sich besonders anstrengen zu müssen. Auch sie selbst war völlig hingerissen von ihm, dabei hatte er nicht einmal die Absicht gehabt, sie zu bezaubern. Evie wusste natürlich, dass der Handkuss und der freundliche Blick nichts als reine Höflichkeit ausdrückten. Der Himmel mochte der Frau beistehen, bei der er größere Glut an den Tag legte. Evie verdrängte hastig die Frage, wie eine solche Glut sich wohl zeigen mochte.

„Sie kennen sich gut mit unserer Literatur aus.“ Selten war ihr ein Gentleman begegnet, der belesen genug gewesen wäre, um um den Ursprung ihres Namens zu wissen. Die Herren in dieser Gegend zeichneten sich meist durch einen bemerkenswerten Mangel an Bildung aus, wenn es nicht gerade um Pferde oder Hunde ging. Evie warf Andrew einen verstohlenen Blick zu. Noch immer hatte sie sich nicht völlig von der Erkenntnis erholt, dass Andrew sich für Archäologie und Geschichte interessierte. Bisher hatte sie auch ihn eher in die Klasse der Hunde- und Pferdeliebhaber eingeordnet.

„Ich finde die Artuslegende faszinierend“, erklärte der Prinz. Er war sehr geduldig, als würde nicht ein ganzer Saal sehr viel attraktiverer Frauen darauf warten, mit ihm ein Wort zu wechseln. Andrew allerdings war offenbar alles andere als geduldig, sondern vielmehr unruhig und begierig darauf, das Gespräch zu beenden und sich anderen Leuten zuzuwenden.

„Dann solltest du die Milhams irgendwann besuchen“, sagte er knapp. „Evies Vater ist der hiesige Historiker.“ Er sprach das Wort „hiesig“ in einem leicht verächtlichen Ton aus, als würde es erklären, warum man ihren Vater nicht in die Liste der Investoren für die Ausgrabungsstätte aufgenommen hatte. Stattdessen bestand sie ausnahmslos aus Männern aus London, deren historische Interessen breiter gefächert waren.

Der Prinz sah Evie aufmunternd an, als würde er gern mehr über ihren Vater hören. „Ja“, sagte sie schließlich. „Wir besitzen einen Wandteppich, der recht beachtenswert ist.“

„Später, Evie. Wenn du ihm jetzt davon erzählst, gibt es nichts mehr für ihn zu entdecken, wenn er sich das gute Stück selbst ansieht.“ Andrew legte dem Prinzen die Hand auf den Arm, wieder ein Lächeln um die Lippen, dieses Mal allerdings ein sehr viel einschmeichelnderes. „Außerdem muss ich dir noch so viele Leute vorstellen, Dimitri.“ Die Botschaft hätte nicht deutlicher sein können.

Der Prinz wich jedoch nicht von der Stelle, bevor er sich formvollendet verabschiedet hatte. „Ich freue mich schon auf den Wandteppich, Miss Milham.“ Sie hatte das Gefühl, dass er sich für die abrupte Unterbrechung ihres Gesprächs entschuldigen wollte. Andererseits entging ihr auch nicht, dass es Andrew weiterzog. Wieder einmal hatte sie die Situation nicht richtig eingeschätzt. Sie hätte sich klarmachen sollen, dass Andrew an diesem Abend keine Zeit haben würde.

„Ich mich auch.“ Evie knickste und sah ihnen nach, bis sie sich unter die vielen anderen Gäste gemischt hatten, die sie begierig mit ihren Fragen bestürmten. Nach einem so kurzen Moment in Andrews Nähe war Evie wieder allein. In gewisser Weise fühlte sie sich noch niedergeschlagener, jetzt, da sie erfahren hatte, wie es war, neben ihm zu stehen.

Doch sie musste mit dem Selbstmitleid aufhören! Was hatte sie schließlich erwartet? Dass Andrew sie bei seinem Rundgang an diesem Abend mitgenommen hätte? Selbstverständlich waren der Prinz und Andrew sehr populär. Schließlich waren sie beide sehr attraktiv – der Prinz mit seinem dunklen Haar und den freundlichen Augen, und Andrew mit seinem goldblonden Haar. Außerdem hatten sie auch eine gewisse Pflicht gegenüber ihren Gästen.

Evie musste lächeln, da sie Andrews Benehmen bereits zu rechtfertigen begann. Es war für ihn ein sehr wichtiger Abend, und er musste den Überblick bewahren und den Prinzen so vielen Leuten vorstellen. Wie selbstsüchtig von ihr, ihn ganz für sich allein haben zu wollen. Sie würde sich damit zufriedengeben, dass sie immerhin einen ersten Schritt getan hatte. Und sie war wirklich zufrieden. Claire, Beatrice und May wären stolz auf sie gewesen. Sie hatte sich nicht gleich bei der ersten Gelegenheit geschlagen gegeben, sondern war zur Bühne gegangen und hatte sich bemerkbar gemacht. Das war schon für sich genommen ein großer Schritt – einer von vielen, die sie würde wagen müssen, wenn sie Andrews Zuneigung gewinnen wollte. Wie ihr Vater immer gern sagte: Rom wurde nicht an einem Tag erbaut. Evie begab sich an den Rand des Saales, nun da sie das Ziel für den heutigen Abend erreicht hatte. Sie musste ihre Siege feiern und nicht wegen ihrer Niederlagen in Selbstmitleid zerfließen.

2. KAPITEL

Der Abend war ein Erfolg gewesen! Dimitri Petrovich, Prinz von Kuban, erlaubte sich den seltenen Luxus, es sich lässig in einem von Andrews fadenscheinigen, behaglich gepolsterten Sesseln gemütlich zu machen. Es war ihm gelungen, die Menschen für sein Projekt zu begeistern. Er machte sich allerdings nichts vor. Ihm war klar, dass die Menschen sich nur für sein Projekt interessierten, weil er in ihren Augen ein Exot war. Prinz zu sein, hatte seine Vorteile, selbst wenn er dafür eine ganze Menge kriecherischer Schmeicheleien hinnehmen musste. Doch der Zweck war all das wert.

Er löste sein Krawattentuch und stieß einen zufriedenen Seufzer aus. „Ah, das fühlt sich schon besser an.“ Alles deutete darauf hin, dass er die Gelder bekommen würde, auf die er gehofft hatte. Bisher war er es allein gewesen, der für das Projekt die Mittel hatte aufbringen müssen, doch am Ende würde er es den Menschen von Little Westbury übergeben, und die würden es schließlich allein tragen müssen. Er musste sich zwar um die nächsten Schritte kümmern und Arbeiter einstellen, doch das konnte bis morgen warten. Der heutige Abend war ein vielversprechender Anfang gewesen.

Nicht das Ende. Dimitri verdrängte den Gedanken sofort. Er wollte nicht daran erinnert werden, was ihn erwartete, wenn er seine Arbeit erst einmal erledigt hatte. Es war das letzte Projekt, sein letzter Ausflug ins Ausland, bevor er nach Kuban zurückkehren und seinen Platz bei Hof einnehmen musste, so wie es alle männlichen Mitglieder des Königshauses taten, sobald sie dreißig wurden. Er hatte immer gewusst, dass dieser Tag kommen würde, aber je näher er rückte, desto mehr fürchtete Dimitri ihn. Die Welt der Forschung aufgeben zu müssen, obwohl es noch so viel zu entdecken gab, erschien ihm wie eine Tragödie. Doch noch war es nicht so weit. Es blieben ihm noch einige wenige Monate. Noch war Zeit, und er würde auf keinen Fall zulassen, dass die Zukunft ihm die Gegenwart vergällte.

Er wandte sich an Andrew, der ihnen beiden an der Anrichte einen Brandy einschenkte. „Du, mein Freund, warst heute Abend unhöflich.“ Er hoffte, sich ein wenig von seinen düsteren Gedanken ablenken zu können.

„Unhöflich?“ Andrew lachte und reichte ihm sein Brandyglas, bevor er sich ihm gegenüber in einen Sessel sinken ließ. Eine angenehme Brise wehte von der offenen Terrassentür in das Arbeitszimmer herein. Es war ein wundervoller Spätsommerabend. „Zu wem? Ich war doch zu jedem äußert freundlich, der für das Projekt von Bedeutung ist.“

Dimitri hob eine Augenbraue. „Das hübsche Mädchen ist für dich nicht von Bedeutung? Das sieht dir nicht ähnlich, Andrew. Ich dachte, hübsche Mädchen sind deine Spezialität.“ Hübsche, reiche Mädchen. Doch Dimitri war ein zu guter Freund, um die Worte laut auszusprechen.

„Es waren viele hübsche Mädchen da heute Abend.“ Andrew lächelte breit und nahm einen Schluck von seinem Brandy. „Welche meinst du?“

„Die Erste. Evaine.“

„Evaine? Oh, Evie.“ Andrew zuckte achtlos mit den Schultern. „Sie ist immer in der Nähe. Ganz nett, nehme ich an. Ziemlich schüchtern. Du findest sie hübsch? Wir sind zusammen aufgewachsen, und irgendwie habe ich nie darüber nachgedacht, ob sie hübsch ist oder nicht.“

„Nun, sie hat jedenfalls über dich nachgedacht“, entgegnete Dimitri. Das Mädchen war so sehr auf Andrews Aufmerksamkeit erpicht gewesen und hatte ihn angehimmelt, wann immer er sie angesehen hatte – was nicht oft der Fall gewesen war. Andrew hatte sie kaum wahrgenommen. Nun, sein Freund mochte Evaine Milham ja nicht bemerkt haben, aber er selbst schon. Dimitri hatte die Angewohnheit, die Eigenschaften der Menschen sozusagen „auszugraben“, genauso wie die Fundstücke an seinen Ausgrabungsstätten. Es gefiel ihm, hinter die Fassade zu blicken und ihre wahre Natur zu entdecken. Dadurch war er mit der Zeit zu einem sehr viel besseren Menschenkenner geworden. Und er hatte eine ganz andere Frau gesehen als das Mädchen, das Andrew so leichthin abtat.

Außer der schlichten Frisur und ihrer ruhigen Art war Evaine Milham eine Frau mit schönen Gesichtszügen und vollen Lippen, deren Lächeln gewiss ihr ganzes Gesicht aufstrahlen lassen konnte – wenn auch nicht heute Abend. Heute hatte sie sich unbehaglich gefühlt. Ihr Haar war vielleicht nicht aufregend frisiert gewesen, doch von einem tiefen, schimmernden Kastanienbraun, das ihn an einen Herbstnachmittag erinnerte. Auch ihr Kleid war eher von einem schlichten Schnitt gewesen, hatte aber am Saum, wo es niemandem auffallen würde, kunstvolle Stickerei aufgewiesen. Noch ein Beweis dafür, dass sie keine Frau war, die darum buhlte, im Mittelpunkt zu stehen. Und doch ging eine gewisse stille Stärke von ihr aus. Als sie dazu gezwungen worden war, hatte sie sich verteidigt und den Respekt verlangt, der ihr gebührte.

Insgesamt konnte er sagen, dass mehr in Evie Milham steckte, als man auf den ersten Blick erkennen konnte. Wie schade, dass die meisten Menschen sich nicht die Mühe machten, genauer hinzuschauen. „Ich denke, sie könnte sehr hübsch sein, wenn sie etwas mehr aus ihrem Haar machen würde.“ Dimitri beschloss, das Thema ein wenig zu vertiefen. „Vielleicht solltest du einen zweiten Blick auf sie riskieren. Es ist ein großes Glück, die Zuneigung einer Frau zu besitzen.“ Kein Mann konnte etwas Wertvolleres gewinnen als die Treue einer Frau. Die Ehe seiner Eltern hatte ihn gelehrt, dass ein solches Gottesgeschenk beschützt und nicht mit der Gleichgültigkeit behandelt werden sollte, die Andrew seiner Miss Milham entgegenbrachte.

Andrew zuckte abermals mit den Schultern, als wollte er sagen, dass es nichts Neues für ihn sei, da die Frauen von ganz West Sussex ihm für gewöhnlich zu Füßen lagen. Und wahrscheinlich stimmte es sogar. Auf ihren gemeinsamen Reisen hatte es Andrew nie an weiblicher Bewunderung gemangelt.

„Evie ist nicht mein Typ“, erklärte Andrew schließlich.

Miss Evie Milham wäre sicher sehr enttäuscht, das zu hören, dachte Dimitri. Auf ihn hatte sie den Eindruck gemacht, als wäre Andrew ganz bestimmt ihr Typ.

Andrew nahm einen tiefen Schluck von seinem Brandy und fuhr fort: „Das war sie noch nie und wird es auch nie sein. Dafür ist sie nicht reich genug. Umso besser, dass mir ihr Aussehen nicht aufgefallen ist. Was würde Schönheit schon nützen, wenn sie über kein Vermögen verfügt? Und das tut sie nun einmal nicht. Zumindest nicht genug für mich. Ihr Vater ist lediglich ein Baronet und nicht gerade eine Goldmine.“

Dimitri nickte unverbindlich, behielt seine Gedanken jedoch für sich. Normalerweise war Andrew nicht so schroff, wenn es um Frauen ging. Heute klang er regelrecht kaltschnäuzig. Und zum ersten Mal verriet er, dass er auf der Suche nach einer ganz bestimmten Art von Frau war. Natürlich war es Dimitri nicht entgangen – Andrews Wunsch, sich nur mit reichen Frauen abzugeben, der schäbige Zustand der Möbel in seinem Haus. Dennoch konnte man nicht sagen, dass Andrew ein Bettler war. Er lebte gut, trank den besten Brandy. In Paris hatte er sehr viel Geld für eine Loge in der Oper und die dazugehörenden Opernsängerinnen ausgegeben. Es gefiel ihm lediglich nicht, sparen zu müssen. Und offenbar war Evaine Milham nicht das, was Andrew unter Luxus verstand.

Nachdenklich schwenkte Dimitri den Brandy in seinem Glas. Er musste vorsichtig sein. Was gab ihm schließlich das Recht, über seinen Freund zu richten? Er war ein Prinz und sein Vermögen kannte keine Grenzen – wenn er rechtzeitig nach Kuban zurückkehrte. Er würde nie gezwungen sein, über Geld auch nur nachdenken zu müssen. Und doch besaß Andrew etwas, das Dimitri niemals haben würde. Freiheit. Die Freiheit, hinzugehen, wohin es ihm beliebte, alles zu tun und alles zu sein, was er nur wollte. Es gab Nächte, in denen Dimitri den Reichtum von ganz Kuban sofort gegen diese Freiheit und einen fadenscheinigen Sessel eintauschen würde. Er lehnte sich zurück und seufzte wieder. „Es war eine gute Idee herzukommen, Andrew. Ich danke dir für diese Gelegenheit.“

Es gab Abende, an denen Andrew alles, was er hatte und was er war, sofort eintauschen würde für die Möglichkeit, Dimitri Petrovich, der Prinz von Kuban, zu sein – reich, charismatisch und mit der Welt zu seinen Füßen. Heute war einer dieser Abende. Er hatte gesehen, wie die Menschen sich Dimitri voller Ehrfurcht genähert hatten, die Männer beeindruckt von seinem Titel und seinen Kenntnissen, die Frauen einfach nur von seiner Erscheinung. Andrew sehnte sich danach, einen ganzen Raum auf diese Weise zu beherrschen. Auch er selbst hatte ein gewisses Charisma, gewiss, aber er wusste, dass er es nicht mit Dimitris Anziehungskraft aufnehmen konnte. Andererseits hatte wohl auch sein Reichtum einiges damit zu tun. Geld hatte immer etwas mit allem zu tun.

Es handelte sich auch um einen jener Abende, an denen er Dimitris Edelmut ausgesprochen anstrengend fand. Schließlich war es leicht, ohne Sünde zu sein, wenn man so reich war, dass die eigene Moral sowieso keine Rolle spielte. Andrew erhob sich und schenkte sich ein zweites Glas ein.

„Es wird auch für Little Westbury gut sein. Die Ausgrabung wird vielen Menschen Arbeit verschaffen“, sagte Dimitri – nicht zum ersten Mal.

Andrew hörte einfach nicht mehr hin. Wie oft war ihm schon gesagt worden, dass die Erforschung der Geschichte in kleinen Gemeinden wie dieser eine Art lokalen Stolz erweckte, dass sie der Wirtschaft half und nicht nur den Arbeitern vor Ort, sondern auch den Geschäftsleuten, Bauern, Bäckern und Metzgern, die sie mit Lebensmitteln versorgten. Außerdem würde die Ausgrabungsstätte Touristen anziehen, die die hiesigen Wirtschaftshäuser und Tavernen mit ihrer Kundschaft erfreuen würden. Der Prinz hatte wirklich das Talent, den Menschen eine Vision von der Zukunft zu geben und sie mit seiner Begeisterung anzustecken. Das musste Andrew ihm lassen.

Hatte der Prinz nicht auch ihm eine ganz neue Aussicht auf die Zukunft geschenkt? Die Aussicht, dass verstaubte, zerbrochene alte Kunstwerke sich leicht in schimmerndes Gold verwandeln ließen? Nachdem Andrew die Möglichkeiten erkannt hatte, sah er die Geschichte seiner Heimat nun in einem ganz anderen Licht. Die Ausgrabung der Villa würde sich als seine ganz persönliche Goldmine entpuppen. Er würde endlich über die Mittel verfügen, die er brauchte, um so zu leben, wie er es sich schon immer gewünscht hatte. Dann würde es keine fadenscheinigen Sessel mehr geben, keine zerschlissenen Vorhänge, kein sorgfältiges Bearbeiten der Bücher der schrumpfenden Güter seines Großvaters. Andrew war es gleichgültig, welche Vorteile die Ausgrabung für Little Westbury bedeuteten. Ihn interessierte einzig, was sie für ihn bedeuteten. Und ihm würde sie Freiheit schenken.

3. KAPITEL

Und? Wie war es gestern Abend?“ Zwei ihrer besten Freundinnen feuerten die Frage im selben Moment auf Evie ab, als sie aus der offenen Kutsche stiegen. Der halbe Vormittag lag bereits hinter ihnen. Die Sonne würde schon bald den Zenit erklommen haben und es würde heiß und stickig werden, doch jetzt war es noch angenehm warm, und Evie gestattete Beatrice und May, sich bei ihr einzuhaken. Gemeinsam machten sie sich auf den Weg, im Dorf Einkäufe zu erledigen.

Evie wusste, der Hauptzweck dieses Ausflugs bestand für ihre Freundinnen vor allem darin, vom aufregenden gestrigen Abend zu erfahren. Keine von ihnen dachte an den anderen Plan, der sie zusammenbrachte. Sie konnten es sich nicht erlauben. Es war ihr Geheimnis. Und die Zeit wurde knapp. Vielleicht würden sie nicht mehr sehr viel länger zusammen sein. Die Vierte im Bunde, Claire, befand sich bereits in ihren Flitterwochen im fernen Wien, wo sie mit ihrem frisch angetrauten Ehemann leben würde. Beatrice war die Nächste, die gehen musste, und das wahrscheinlich schon in wenigen Wochen.

Verstohlen warf Evie einen Blick auf Beatrices Taille, die unter dem lockeren Baumwollstoff ihres Sommerkleides bereits etwas fülliger zu werden begann – der Beweis, dass ihr Aufbruch bevorstand. Beatrice erwartete ein Kind. Und war unvermählt. Sie würde rechtzeitig nach Schottland reisen müssen, wo sie ihr Baby im Haus einer entfernten Verwandten zur Welt bringen konnte. So würde es ihrer Familie leichterfallen, die Schande zu vergessen. Beatrice hatte in Little Westbury nur eine kurze, zweiwöchige Zwischenstation eingelegt, um sich auf ihre größere Reise vorzubereiten.

„Na?“, drängte May und zwinkerte Evie verschwörerisch zu. „Ist gestern Abend irgendetwas geschehen? Wie ich hörte, herrschte ein ziemliches Gedränge im Gemeinschaftshaus.“

Evie lächelte ihre beiden Freundinnen nacheinander an, während sie ihre Geschichte erzählte. Wie sie sich hinter Andrew gesetzt und einen Weg gefunden hatte, sich beim Toast neben ihn zu stellen. Dass sie nicht aufgegeben hatte, und ihm sogar bis zur Bühne gefolgt war. Andrews Missachtung ließ sie allerdings aus.

„Gut gemacht!“, lobte May. „Lasst uns kurz ins Warenhaus gehen. Ich brauche Papier und Stifte.“

Mastersons Warenhaus war der gesellschaftliche Mittelpunkt von Little Westbury, ein Geschäft, das ein großes Angebot hatte, angefangen von Blumensamen bis zu Handschuhen direkt aus London. Die Kunden schlenderten herum und besahen sich im kühlen Inneren des Geschäfts in aller Ruhe die ausgelegten Waren. Einige Kinder beäugten sehnsüchtig eine Reihe von mit Süßigkeiten gefüllten, hohen Gläsern.

„Wie hat Andrew auf deine Anwesenheit reagiert?“ Beatrice nahm eine Seife nach der anderen aus einem Korb und schnupperte daran, während sie beide auf May warteten.

„Er war erstaunt“, antwortete Evie wahrheitsgemäß. „Er schien nicht damit gerechnet zu haben, mich dort zu sehen, und es verwirrte ihn ein wenig.“ Sie wollte sich nicht eingestehen, dass er vergessen hatte, sie vorzustellen. Beatrice mochte ihn sowieso nicht besonders und war der Meinung, dass er nicht gut genug für Evie war. Wenn Bea von seinem Verhalten erfuhr, würde es sie nur in ihrer schlechten Meinung von ihm bestätigen. „Ich habe den Prinzen kennengelernt“, fuhr sie stattdessen also fort.

„Wie ist er? Arrogant?“ Bea schnupperte an einer nach Zitrone duftenden Seife, bevor sie sie naserümpfend wieder in den Korb zurücklegte.

„Nein, ganz und gar nicht. Warum fragst du so?“

„Er ist ein Prinz. Die neigen zu einer gewissen Überheblichkeit.“

Evie lachte. „Sei nicht so, Bea. Er war im Gegenteil sogar sehr herzlich.“ Mehr als nur herzlich. Sie konnte sich jedenfalls nicht erinnern, wann ein Mann jemals so herzlich zu ihr gewesen wäre. Ihr gingen seine Augen nicht aus dem Sinn, ebenso wenig wie das Gefühl seiner Lippen auf ihrem Handrücken. In der vergangenen Nacht hatte sie nicht schlafen können, weil sie mit einer unerklärlichen Sehnsucht an ihn hatte denken müssen.

Bea lächelte. „Du bist einfach zu freundlich, Evie. Immer suchst du nach dem Besten in uns allen.“

In diesem Moment kam May zurück, ein in braunes Packpapier eingewickeltes Päckchen unter dem Arm. „Ich bin so weit. Wohin gehen wir als Nächstes?“

„Zum Stoffladen. Ich habe da eine Idee für ein neues Herbstkleid.“ Evie hatte sich dafür einen wunderschönen rostroten Seidenstoff bestellt, als sie in London gewesen war. „Ihr habt meine Neuigkeiten gehört, jetzt erzählt mir von euren.“ Die Freundinnen hatten sich seit Claires Abschiedsball in London nicht mehr gesehen. Sofort danach war Evie mit ihrer Familie heimgereist. Seitdem war eine Woche vergangen. May und Bea waren aufgrund einer plötzlichen Verzögerung erst gestern angekommen.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen“, meinte Beatrice zögernd. Etwas zu zögernd. Evie spürte, dass irgendetwas nicht stimmte, doch ihr blieb keine Zeit, nachzufragen.

May drückte Evie den Arm und flüsterte aufgeregt: „Wer ist denn das? Er überquert die Straße und kommt direkt auf uns zu!“

Verwundert folgte Evie dem Blick ihrer Freundin und sah einen hochgewachsenen Mann in Schaftstiefeln und sommerlicher Reithose ohne Bundfalten über die Straße schreiten, lässig einen Gehstock schwingend. Sie erkannte ihn sofort, mit oder ohne Bundfalten. „Das ist Dimitri Petrovich, der Prinz von Kuban, höchstpersönlich.“ In all seiner Pracht. Mit dem geübten Blick einer Schneiderin bemerkte sie die vorzügliche Eleganz seiner Garderobe. Heute war er passend für einen englischen Sommer gekleidet, mit einem einreihigen beigen Gehrock, einer Weste aus hellem, feinem Leinen und einem dunkelgrünen Krawattentuch. Doch so englisch seine Kleidung auch sein mochte, niemand hätte ihn irrtümlich für einen Engländer halten können. Er hatte das lange Haar hinten zu einem glatten Pferdeschwanz zusammengebunden, was die hohen Wangenknochen und die exotisch dunklen Augen betonte.

„Was für ein Mann“, wisperte May anerkennend. „Seht euch doch nur an, wie lässig er heranschlendert.“

Wider besseres Wissen ließ Evie den Blick zu seinen schmalen Hüften gleiten, um seinen selbstbewussten, sicheren Gang zu bewundern. Selbst der war exotisch. Lieber Himmel, sie musste wirklich ein neues Wort finden. Aber er sah wirklich sehr gut aus. Wenn sie nicht so auf Andrew fixiert gewesen wäre, hätte sie ihn vielleicht sogar noch attraktiver gefunden. Im Moment hatte sie jedoch vor allem Augen für seine Garderobe.

„Miss Milham, guten Tag.“ Der Prinz begrüßte sie mit einer knappen Verbeugung. „Was für eine Freude, Ihnen zu begegnen.“

Evie spürte, wie Beatrice und May stumm einen Blick tauschten. Sie knickste. „Hoheit, darf ich Ihnen meine Freundinnen vorstellen? Miss May Worth und Miss Beatrice Penrose.“

Er begrüßte beide, schüttelte ihnen die Hände und lächelte freundlich, ebenso herzlich und aufrichtig wie gestern Abend. Er fragte sie leutselig, ob sie das Wetter genossen, und erkundigte sich nach ihren Einkäufen. Alles ganz offensichtlich in der Absicht, ihnen die Befangenheit zu nehmen. Evie wurde klar, dass er es ständig tun musste. Wo er auch auftauchte, verstummten die Menschen wahrscheinlich voller Ehrfurcht in der Gegenwart eines Prinzen. War es ihm nicht manchmal zu anstrengend?

„Es trifft sich sehr gut, dass ich Ihnen über den Weg laufe, Miss Milham. Ich hatte gehofft, Ihr Angebot annehmen zu können, dass ich mir Ihren Wandteppich ansehen darf. Es tat mir leid, dass wir gestern Abend nicht ausführlicher darüber reden konnten.“

Evie errötete, denn sie spürte Beas und Mays eindringliche Blicke. Gewiss fragten die beiden sich, was sie ihnen außerdem noch verschwiegen hatte. „Sie sind jederzeit willkommen. Es ist immer jemand zu Hause“, brachte sie mühsam hervor. May straffte die Schultern. Das war sehr beunruhigend. Evie wusste, dass ihre Freundin beschlossen hatte zu handeln.

„Morgen“, wandte May sich lächelnd an den Prinzen. „Sie sollten sich den Wandteppich morgen ansehen. Evie ist an Dienstagnachmittagen immer daheim, und das Licht im Raum, in dem der Teppich hängt, ist gegen ein Uhr mittags am besten.“

Lieber Himmel, May hatte den Prinzen einfach frech eingeladen! Sie hatte ihn ja fast angebettelt, Evie zu besuchen. Selbst für Mays Verhältnisse war das mehr als unverschämt.

„May …“, versuchte sie, die Kühnheit ihrer Freundin abzuschwächen. Der arme Mann musste ja das Gefühl haben, in die Enge getrieben zu werden. „Der Prinz ist gewiss mit anderen Dingen beschäftigt.“

Doch der Prinz schien nicht besorgt zu sein und klang ganz und gar nicht so, als fühlte er sich in die Enge getrieben. „Also um ein Uhr. Wenn es Ihnen recht ist, Miss Milham.“

May trat Evie unter dem Schutz ihres Rocksaums entschlossen auf den Fuß, bevor sie auf den Gedanken hätte kommen können, höflich abzulehnen. „Ein Uhr ist mir sehr recht“, hörte Evie sich keuchend sagen, und der Prinz lächelte, verbeugte sich ein letztes Mal und setzte seinen Weg fort.

„Was hast du dir dabei gedacht?“, herrschte Evie ihre Freundin an, sobald der Prinz außer Hörweite war. „Du hast einen fremden Prinzen in mein Haus eingeladen! Mein Haus. Du wohnst nicht einmal dort. Seit wann bittest du Gäste in das Haus anderer Leute?“

May lachte nur selbstzufrieden, völlig ungerührt von Evies Wutausbruch. Wie immer bewunderte Evie sie um dieses Selbstbewusstsein. Nichts konnte May aus der Fassung bringen, nicht einmal die schamlose Missachtung gesellschaftlicher Regeln. „Seit du kurz davor warst, die wunderbare Gelegenheit verstreichen zu lassen, ein wenig Zeit mit einem umwerfenden Mann zu verbringen.“ May zog die Freundinnen mit sich in eine stille Seitengasse. „Er bat dich um eine Einladung, und du wolltest ihn mit vagen Versprechungen abspeisen. ‚Sie sind jederzeit willkommen‘“, äffte sie Evie spöttisch nach.

„Ich wollte ihn nicht überrumpeln“, verteidigte Evie sich und verschränkte die Arme vor der Brust.

„Ach, so ein Quatsch. Er wollte doch kommen!“ May stieß ungeduldig den Atem aus. „Evie, ein hinreißend aussehender Mann, noch dazu ein Prinz, will dich besuchen. Was glaubst du, wie oft so etwas vorkommt, ganz besonders hier in West Sussex?“

Autor

Bronwyn Scott
Bronwyn Scott ist der Künstlername von Nikki Poppen. Sie lebt an der Pazifikküste im Nordwesten der USA, wo sie Kommunikationstrainerin an einem kleinen College ist. Sie spielt gern Klavier und verbringt viel Zeit mit ihren drei Kindern. Kochen und waschen gehören absolut nicht zu ihren Leidenschaften, darum überlässt sie den...
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