Das unvergessliche Verlangen des Kriegers

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Wer ist sie? Wo ist sie? Und wer ist der fremde Krieger, der sie so zärtlich und ritterlich umsorgt? Isabel erwacht in einer einsamen Hütte im Wald – schwer verletzt und ohne Erinnerung. Das Einzige, was sie weiß: Ihr geheimnisvoller Retter mit den silbergrauen Augen weckt Verlangen in ihr, so verzehrend wie verboten! Was, wenn sie längst die Frau eines anderen ist? Vergeblich versucht sie, Royce zu widerstehen. Als ein Sturm aufkommt und er sie schützend in seine Arme zieht, ist sie machtlos gegenüber ihren Gefühlen; längst hat sie ihr Herz an ihn verloren und gibt sich ihm hin. Noch ahnt sie nicht, was er vor ihr verbirgt …


  • Erscheinungstag 27.07.2021
  • Bandnummer 370
  • ISBN / Artikelnummer 9783751500500
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Silloth-on-Solway, England

Anno Domini 1198

Wird sie überleben?“, flüsterte er.

Er merkte, dass es ihm wichtig war, auch wenn er nicht wusste, warum es so war.

„Vielleicht“, erwiderte die alte Wenda, die Heilerin des Dorfes. „Vielleicht auch nicht. Das liegt nicht mehr in meiner Hand.“

William de Severin, den man jetzt Royce nannte, stand neben dem knisternden Herdfeuer seiner kleinen Hütte. Schweigend sah er zu, wie Wenda die Wunde im Gesicht der bewusstlosen Frau vernähte. Sein Magen zog sich zusammen, als wäre er ein unerfahrener Bursche und nicht der turnier- und kampferprobte Krieger, der er war. Warum berührte der Anblick der blutigen Wunde ihn so sehr? Er kam einfach nicht darauf, und das beunruhigte ihn. Er brachte seinen winselnden Hund zum Schweigen und trat näher, um die Verletzungen der Frau zu begutachten.

Merde.

Kein Wunder, dass die alte Frau ihm keine eindeutige Antwort geben konnte. William hatte gehofft, dass Wenda das Blut abwischen und erklären würde, die Verletzte werde sich rasch wieder erholen. Aber das war ausgeschlossen. Als er die übrigen Verletzungen sah, musste er schlucken – ein gebrochenes Bein, Stichwunden an Armen und Händen. Vermutlich hatte sie sich gegen den Angreifer zur Wehr gesetzt, und manche der Wunden waren recht tief. Die Frau hatte Probleme zu atmen. Vermutlich hatte sie ein paar Rippen gebrochen oder zumindest geprellt. William schüttelte den Kopf und stieß ein stummes Stoßgebet aus, denn die Frau war dem Tode näher, als er anfangs gedacht hatte.

„Sollen wir sie zur Burg oder in Eure Hütte bringen?“, fragte er. Die Zweifel der Heilerin verunsicherten ihn. Wenn Wenda nicht daran glaubte, dass die Frau überleben würde, welche Hoffnung blieb ihm dann noch?

„Nay, Royce. Ich fürchte, sie würde nicht einmal den Transport dorthin überleben. Möglicherweise in ein paar Tagen …“ Wenda beendete den Satz nicht, aber William wusste auch so, was sie sagen wollte – falls sie überlebt.

Als Wenda sich erhob und den Rücken durchstreckte, fiel ihr langer grauer Zopf ihr über die Schulter. Stundenlang hatte sie auf dem Boden gehockt, um die Wunden zu versorgen und die gebrochenen Knochen zu richten. William hatte sie aus dem Schlaf gerissen, doch sie war ihm gefolgt, ohne Fragen zu stellen. Falls sie es merkwürdig fand, dass er, der Eigenbrötler und Außenseiter, lange nach Mondaufgang bei ihr an der Tür klopfte, hatte sie sich nichts anmerken lassen. Sie hatte einfach nur ihre Sachen gepackt und war ihm in die Nacht gefolgt.

William stand in der Nähe, dicht genug, um ihr zu helfen, aber weit genug entfernt, um ihr bei der Arbeit nicht im Weg zu sein. Jetzt sammelte sie die verschmutzten Kleider in einen Korb und stand auf.

„Sie wird Fieber bekommen“, sagte Wenda, ohne ihn anzublicken. Sie schaute noch einmal die Frau an und schüttelte den Kopf. „Wer das getan hat, war erfüllt von fürchterlichem Zorn.“

Es war offensichtlich, dass jemand versucht hatte, sie zu töten. Fürs Erste war die bewusstlose Frau dem Tod entronnen, aber William befürchtete, dass es noch lange dauern könnte, bis sie endgültig den Sieg davontragen würde.

Wenda gab ihm ein paar Anweisungen, wie er die Frau zu versorgen hatte, und lehnte sein Angebot ab, sie zu ihrer Hütte zurückzubringen. Als sie aufbrach, versprach sie jedoch, am nächsten Tag wiederzukommen. William setzte sich neben die Bettstatt und lehnte sich an die Wand, um es sich für den Rest der Nacht so bequem wie möglich zu machen. Das einzige Geräusch waren die knackenden Holzscheite im Feuer. Während er döste, lauschte er mit halbem Ohr auf die flachen, keuchenden Atemzüge der Fremden. Obwohl die Sonne in wenigen Stunden aufgehen würde, versprach es eine lange Nacht zu werden.

1. KAPITEL

Eine nasse raue Zunge, die ihm übers Kinn leckte, riss ihn aus dem Schlaf. Als er die Augen geschlossen hatte, war er nicht davon ausgegangen, dass er tatsächlich einschlafen würde. William schob die Hundeschnauze beiseite und schaute hinüber zu seinem Gast. Die Frau bewegte sich nicht und gab auch keine Geräusche von sich. Hatte sie etwa die Schlacht, die sie seit vierzehn Tagen tapfer ausfocht, verloren? Von seinem Platz neben der Tür aus konnte er nicht erkennen, ob sie atmete oder nicht.

Er stand auf und war mit wenigen Schritten an ihrer Seite. Er legte den Handrücken an die Wange, die weniger abbekommen hatte. Ihre kühle Haut ließ ihn lächeln. Das furchtbare, lebensbedrohliche Fieber war gesunken. Ein leises Seufzen bestätigte, dass sie über den Berg war. William beobachtete die Bewegung der Decke, unter der sich ihre Brust hob und senkte, und wusste, dass sie noch viele schmerzensreiche Tage und Wochen vor sich hatte, bis sie endgültig geheilt war. Aber jetzt, da das Fieber gesunken war, standen die Chancen gut, dass sie vollkommen genesen würde.

In der Nacht hatte sie sich heftig hin und her geworfen, und William hatte Sorge, dass einige Wunden aufgerissen sein könnten. Also untersuchte er die Frau behutsam, ob sie irgendwo blutete. Doch alle genähten Wunden schienen unversehrt zu sein, und er dankte dem Himmel. Er zog die Decke höher über ihre Schultern und verließ das Haus, um seinen morgendlichen Bedürfnissen nachzugehen und frisches Wasser vom nahen Fluss zu holen. Der Hund folgte ihm ein kurzes Stück und ging dann seiner Wege.

Nachdem er den Kopf in das eiskalte Wasser getaucht hatte, fühlte William sich wieder klarer und war bereit, den Tag in Angriff zu nehmen. Die Nacht war anstrengend gewesen. Sein geheimnisvoller Gast war fast gewalttätig geworden, hatte um sich geschlagen und laut geschrien – zum ersten Mal, seit er sie gefunden hatte. War das ein gutes Zeichen? Er würde Wenda davon erzählen, wenn sie zu ihrem täglichen Besuch kam.

William wrang das Wasser aus seinen dunklen Haaren, warf sie zurück und band sie mit einer Lederkordel zusammen. Selbst nach fünf Jahren hatte er sich immer noch nicht ganz an die langen Haare gewöhnt. Doch es war besser so, da er dadurch schwerer zu erkennen war. Der dichte Bart, den er sich hatte wachsen lassen, verbarg die tiefe Schnittwunde an seinem Hals. Um keine unerwünschte Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen, versuchte er, möglichst nicht durch markante Äußerlichkeiten aufzufallen.

Er wusch sich, füllte einen Eimer mit dem klaren Wasser und kehrte zu seiner Hütte zurück. Seine Tunika würde er wechseln, sobald er seinem Gast etwas von Wendas Brühe eingeflößt hatte. Wenn sie wieder bei Kräften war, könnte es eine schmutzige Sache werden.

Seinen Akzent hatte William de Severin sich fast gänzlich abgewöhnt, aber die Pingeligkeit in Sachen Körperpflege, die am Hofe von Eleonore von Aquitanien üblich war, konnte er nicht ganz ablegen. Dort am königlichen Hofe war er zum Mann herangewachsen. An den Grenzen des Königreichs reichten die französischen Wurzeln der heutigen Adligen bereits mehrere Generationen zurück, doch er selbst hatte erst vor wenigen Jahren die Menschen und Orte seiner Jugend hinter sich gelassen. Es würde wohl noch eine Weile dauern, bis er sich seiner alten Gewohnheiten entledigt hatte.

Nein, er würde nicht zulassen, dass seine Gedanken diese Richtung weiter verfolgten. Das brachte nichts – außer Bedauern und Schuldgefühlen. Nichts konnte seine Vergangenheit ändern. Gar nichts.

William schüttelte den Kopf und schnippte mit den Fingern, um den Hund zu sich zu rufen. Er trug das Wasser in die kleine Hütte und bereitete etwas Brühe für die bewusstlose Frau zu. Seit er sie verlassen hatte, schien sie sich nicht gerührt zu haben. Er erwärmte die klare Suppe und trat zu ihr. Er stützte ihren zerschlagenen Körper mit seinem und lehnte ihren Kopf an seine Schulter.

Es dauerte eine Weile, ihr die warme Flüssigkeit einzuflößen, ohne den Großteil davon über sie beide zu verteilen. Wenn er es richtig einschätzte, schluckte sie dieses Mal mehr als gestern Abend. Das musste doch ein gutes Zeichen sein, oder? Auch danach würde er Wenda fragen, wenn sie kam. Zum Teufel! Wenn er sie versorgte, fühlte er sich noch genauso unbehaglich wie vor fast zwei Wochen, als er sie blutend und dem Tode nah ganz in der Nähe gefunden hatte. Zum Glück hatte Wenda eines der Mädchen aus dem Dorf gebeten, tagsüber bei der Fremden zu bleiben und sie zu versorgen. Obwohl er niemals über seine Unsicherheit reden würde, nahm er bei dieser Aufgabe jede Hilfe an, die er bekommen konnte.

Männer sollten so etwas nicht tun. Er fühlte sich wohler, wenn er gegen ein Dutzend schwer bewaffnete Krieger kämpfen sollte, als am Bett dieser verwundeten Frau zu sitzen und sich um sie zu kümmern. Hoffentlich wachte sie bald wieder auf, damit sie auf die Burg oder zu Wenda umziehen konnte und er nicht länger das Kindermädchen spielen musste. Doch im gleichen Moment wusste er, dass er sich etwas vormachte.

Irgendetwas hatte ihn veranlasst, den selten benutzten Pfad einzuschlagen, auf dem sie sterbend in ihrem eigenen Blut lag. Etwas hatte seine Seele berührt, als sie sich in jener Nacht an seine Hand geschmiegt und er ihre brennende Stirn berührt hatte. Etwas hatte ihr die Kraft verliehen, sich vom Tod wieder ins Leben zu kämpfen, und daneben fühlte er sich vollkommen machtlos.

William de Severin, der Mann, der vor fünf Jahren auf dem Feld der Ehre gestorben war, war Teil ihres Kampfes um das Leben. Nichts, was er tat oder dachte, würde daran etwas ändern.

Dieser Schmerz!

Tief und sengend wie Flammen zehrte er an ihren Kräften, bis sie nicht mehr kämpfen konnte.

Zuerst versuchte sie, sich gegen den Schmerz zu wehren und einen Weg aus der Dunkelheit heraus zu finden, die sie umgab. Hin zum Licht, das sie am Rande ihrer Existenz wahrnahm. Dann begriff sie, dass sie in der Dunkelheit nichts spürte. Welche Erleichterung nach den immer wiederkehrenden Wellen der Qual und Angst, die kein Ende zu nehmen schienen! Und so genoss sie den Trost, den die Dunkelheit ihr bot.

Dann durchschnitt eine Stimme die Dunkelheit. Eine tröstende, warme Stimme, die nach ihr rief, die sie ermutigte, zu kämpfen und sich nicht der Dunkelheit zu ergeben. Manchmal war die Stimme leise, manchmal lauter, aber sie konnte sie niemals ignorieren. In der seligen Dunkelheit gab es keinen Schmerz, doch die Stimme lockte sie daraus hervor. Als sie genügend Kraft gesammelt hatte, folgte sie der Stimme.

Wie lange war sie in der Dunkelheit gewesen? Wie lange schon dauerte ihre Reise durch den Schmerz? Sie wusste es nicht. Sie hörte einfach nur auf diese Stimme, die sie leitete, die ihr Mut machte und sie unterstützte, wenn Angst ihre Entschlossenheit angriff.

Sie wurde von dem Wunsch überwältigt, zu erfahren, wem die Stimme gehörte, und zwang sich, die Augen zu öffnen. Mehr Schmerz erfüllte ihren Körper, und sie stöhnte auf, so intensiv war die Pein. Sie entschied, dass sie weder die Kraft noch den Mut hatte, den sie jetzt bräuchte. Sie glitt zurück in die Dunkelheit und wartete.

Hatte sie einen Laut von sich gegeben? William beugte sich dichter über sie und zog die Decke ein wenig höher. Es war kalt geworden, was nicht unüblich war für diese Jahreszeit, und er dachte an Wendas Anweisung, die Frau warm zu halten. Als er die Lampe näher zu ihr brachte, sah er kein Anzeichen dafür, dass sie aufwachen würde. Falls ihre Atmung sich verändert hatte, dann war sie jetzt wieder so gleichmäßig wie zuvor.

Er durchmaß den kleinen Raum mit wenigen Schritten. Vor drei Tagen war das Fieber gesunken, und Wenda hatte ihm gesagt, dass jeder Tag, den sie weiterhin in diesem Schwebezustand verharrte, ein Zeichen dafür war, dass sie sich nicht wieder erholen würde. Eine tiefe Traurigkeit erfüllte ihn, wenn er sich vorstellte, dass sie einfach so im Schlaf sterben könnte, ohne dass er ihren Namen oder ihre Geschichte erfahren hatte.

In Momenten wie diesen musste er häufig an seine Schwester Catherine denken. Im Kloster von Lincoln hatte es Tage und Nächte gegeben, in denen er geglaubt hatte, sie würde ihr Leben einfach aufgeben. Die guten Schwestern, die sie versorgt hatten, hatten ihn gedrängt, mit ihr zu sprechen, auch wenn sie nur regungslos auf ihrem Stuhl gesessen und auf niemanden reagiert hatte. Er hatte ihr von ganz alltäglichen und tröstlichen Dingen erzählt. Von den glücklicheren, sorgenfreien Zeiten, als sie noch ein Kind gewesen war und von ihrer Familie geliebt wurde. Er hatte ihr von ihren Träumen erzählt und sie gedrängt, zu kämpfen. Das war jetzt einige Jahre her, und die Briefe, die er regelmäßig aus dem Kloster erhielt, bestätigten, dass es ihr wieder besser ging.

William stellte fest, dass er jetzt jeden Abend mit derselben Stimme und denselben Worten mit der Frau sprach, ehe er sich selbst zur Ruhe legte. Er redete mit dieser Frau, forderte sie auf, zu kämpfen und zu überleben. Und zum ersten Mal seit seinem Verschwinden vom Hofe der Plantagenets vor fünf Jahren war es ihm nicht egal, was in seinem Leben passierte.

2. KAPITEL

Ihre Augen waren grün.

Ihm war gar nicht klar gewesen, dass er neugierig gewesen war, bis er zu ihr hinunterblickte, weil sie den Atem anhielt, und die smaragdgrünen Augen sah.

Sie blickte ihn an.

Sie war wach.

Ein Stöhnen kam ihr über die Lippen, als er ihren Kopf an seiner Schulter ein Stückchen höher schob, um ihr etwas Brühe einzuflößen. Er konnte sich die Schmerzen nur vorstellen, die ihre zahlreichen Wunden ihr immer noch bereiten mussten. Flüsternd sprach mit ihr, während er den Löffel an ihre Lippen führte, und drängte sie sanft, sich seinen Anweisungen zu fügen. Nach kurzem Zögern schluckte sie brav die Suppe herunter.

Während er den Wunsch unterdrückte, ihr all die Fragen zu stellen, die ihn seit Wochen beschäftigten, ahnte er, dass sie mindestens genauso viele Fragen an ihn haben musste. Behutsam, aber unerbittlich flößte William ihr die Suppe ein und ließ ihnen beiden Zeit, sich an ihr Wachsein zu gewöhnen. Er gab ihr den letzten Löffel, dann hielt er einen Moment inne. Er plante seine nächste Bewegung, damit er ihr so wenig Schmerzen wie möglich bereitete, aber ihm war klar, dass sie so oder so würde leiden müssen.

„Ich werde Euch jetzt hinlegen“, flüsterte er. „Versucht nicht, Euch selbst zu bewegen.“

Langsam glitt William hinter ihr hervor, wobei er ihren Kopf die ganze Zeit stützte. Er schob ein paar Kissen an die Stelle seines Körpers und achtete auf jede seiner Bewegungen, damit sie nicht durch zu viel Hektik erschrak und sich womöglich widersetzen wollte. Schon bald saß sie fast aufrecht auf der Pritsche, abgestützt durch Kissen und zusammengerollte Decken. William entfernte sich ein paar Schritte und nahm neben der Bettstatt auf dem Boden Platz.

„Willkommen zurück unter den Lebenden“, sagte er mit einem zaghaften Lächeln. Ob sie wusste, was sie in den letzten Wochen durchgemacht hatte? Wie nah sie dem Tode gewesen war? „Braucht Ihr irgendetwas?“

Sie blinzelte ein paarmal, dann schaute sie sich langsam in der Kammer um. Der Raum war nicht besonders groß, sodass es nicht lange dauerte. Schon bald richtete sie den Blick wieder auf ihn. Fragen spiegelten sich in diesen smaragdgrünen Augen – und Schmerz.

„Möchtet Ihr etwas Wasser haben? War die Brühe vielleicht zu salzig?“ Er stand auf und schenkte Wasser aus einem Krug in einen Becher. Sie versuchte, den Kopf zu heben und sich zum Becher vorzubeugen, doch ihr Stöhnen verriet William, wie schmerzhaft diese Bewegung für sie sein musste.

„Lehnt Euch zurück und macht Euch keine Sorgen. Ich glaube, ich dränge Euch zu sehr zur Eile.“ Er zog einen Schemel an ihre Seite und setzte sich.

Sie schloss die Augen. War sie noch wach? Oder hatte sie erneut das Bewusstsein verloren? Doch kurz darauf sah sie ihn wieder an. Jetzt, da sie wach war, ging ihr Atem unregelmäßig. Die Erleichterung, die der Schlaf der Bewusstlosigkeit ihr beschert hatte, war verschwunden. Unter größter Mühe brachte sie ein Wort heraus.

„Wer …?“, krächzte sie.

„Ich“, sagte er und nickte, „heiße … Royce.“

Würde er jemals aufhören, über den Namen zu stolpern, den er benutzte? Es war sein zweiter Vorname, und früher war er ihm sehr vertraut gewesen. Doch das Verlangen, seinen richtigen Namen zu nennen, war in den letzten fünf Jahren nicht weniger geworden.

Erneut fielen ihr die Augen zu. Dieses Mal wartete er. Er ahnte, dass sie versuchte, mit dem Schmerz zurechtzukommen. Als sie ihre Augen wieder aufschlug, sah er ihre Verwirrung und die Angst darin.

„Ihr seid in meiner Hütte in der Nähe des Dorfes Silloth-on-Solway.“ Ehe sie fragen konnte, beantwortete er ihre vermutlich nächste Frage. „Ihr seid seit drei Wochen hier. Ich habe Euch gefunden, oder besser, mein Hund hat Euch gefunden, in einiger Entfernung im Wald.“

Ihr Blick verschwamm, und er wartete erneut. Er konnte sich ausmalen, wie viel Kraft es sie kostete, wach zu bleiben. Er war im Kampf und bei Turnieren selbst verwundet worden und hatte sich an diese Art Schmerz gewöhnt, aber diese Frau hatte so etwas vermutlich nie zuvor erlebt.

„Möchtet Ihr Euch ausruhen?“, fragte er, bereit, seine Neugier hintanzustellen, bis sie kräftiger war.

Mit offensichtlicher Anstrengung schüttelte sie leicht den Kopf und formte mit den Lippen das Wort nein. Sie schluckte und probierte ein weiteres Wort.

„Ich … verletzt.“

Ihre Stimme klang gepresst und heiser. Weil sie so lange nicht benutzt worden war, und vermutlich auch aufgrund der Verletzungen. Er merkte, dass sie die Decke mit der linken Hand umklammerte, als sie versuchte zu sprechen.

William dachte an ihre Prellungen und Wunden. Sie brauchte nicht alles sofort zu erfahren, entschied er. Er wollte sie nicht ängstigen, indem er ihr erzählte, wie schwer sie verletzt war. Womöglich würde sie dann erneut in Ohnmacht fallen.

„Ihr habt eine Kopfwunde, und ein paar Rippen sind gebrochen. Am schlimmsten hat es Euer Bein getroffen, aber Wenda sagt, dass es gut heilt und ganz gerade zusammenwachsen wird.“

Ihr Gesicht verlor noch mehr von der ohnehin schon blassen Farbe, sodass er innehielt und ihr nicht weiter in allen Einzelheiten beschrieb, was ihr zugestoßen war. „Ich ermüde Euch. Ihr müsst Euch ausruhen. Wir können später weiterreden. Ich bin sicher, dass Ihr viele Fragen habt. Ich habe auch einige an Euch.“

Er beugte sich vor, um die Decke zurechtzuziehen. Die Berührung ihrer Hand überraschte ihn – ihr Griff war kräftiger als erwartet. William entzog sich ihr nicht, sondern wartete. Ihr Mund bewegte sich ein paarmal, als könnte sie sich nicht entscheiden, welche Worte sie wählen sollte. Dann fragte sie:

„Wer … bin … ich?“

Die Dunkelheit drohte erneut Besitz von ihr zu ergreifen, aber sie musste diese Frage stellen. Je klarer ihr Verstand wurde, desto größer wurde auch die Panik, die jeden zusammenhängenden Gedanken verdrängte. Nur die Stimme dieses Mannes konnte ihren Geist und ihre Seele beruhigen. Sie allein klang vertraut, tröstlich und sicher. Nichts von dem, was sie sonst noch sah oder hörte, konnte das vollbringen.

Nachdem er sie zu Ende gefüttert hatte und hinter ihr vorgerutscht war, war sie seinen Anweisungen gefolgt. Der Schmerz war so heftig, dass sie auch gar keine andere Wahl gehabt hätte, doch seine sanften Worte machten es ihr leicht, sich ganz und gar seiner Obhut zu überlassen. Erst als er sie anstarrte, begriff sie, dass sie nicht wusste, wer sie war.

Sie suchte im dichten Nebel nach Erinnerungen, aber da war nichts als Leere. Sie sah keine Gesichter, hörte keine Stimmen, roch keine Gerüche. Dort, wo ihr Leben sein sollte, war nur eine schwarze Leere.

Sie musste die Wahrheit wissen. Wer war sie? Wo war sie? Und wer war der Mann, der sie hielt und der für sie sorgte? War er ihr Ehemann? Ihr Bruder? Es war seine Stimme gewesen, die in der höllischen Dunkelheit zu ihr gesprochen hatte; seine Stimme hatte sie geleitet und ihr Hoffnung gegeben. Warum?

Das erste Wort, das sie herausgebracht hatte, sollte ihr helfen, herauszufinden, wer sie war. Doch der Mann hatte sie missverstanden und ihr seinen Namen genannt.

Royce.

Ein königlicher Name für diesen raubeinigen Krieger vor ihr. Eine weitere Woge der Dunkelheit erfasste sie, als sie begriff, was es bedeutete, dass er ihr seinen Namen nannte. Wenn er sich ihr vorstellen musste, dann kannte sie ihn nicht. Kannte er sie?

Jeder Atemzug tat weh. Allein den Mund zu bewegen, um zu sprechen, erforderte alle Kraft, die sie aufbringen konnte. Aber sie musste Bescheid wissen … über so viele Dinge. Und sie musste es jetzt wissen, ehe die nackte Angst, die sie von allen Seiten bestürmte, die Kontrolle übernahm und sie den Verstand verlor.

Sie nutzte den Schmerz, um sich auf ihre Gedanken und ihr Ziel zu konzentrieren. Der Schmerz rollte in Wellen über sie hinweg, manche dieser Wogen waren stärker als andere, aber wie die Brandung an der erbarmungslosen See hörte es niemals auf. Die Worte, die sie herauspresste, waren eher eine Feststellung als eine Frage.

„Ich … verletzt.“

Er wollte ihr nicht die Wahrheit sagen. Sie erkannte die Lügen in seinen silbergrauen Augen, ehe er die Worte aussprach. Voller Angst über das, was sie erfahren würde, lauschte sie dem Klang seiner Stimme und achtete nicht auf den Inhalt seiner Worte. Ihre Verletzungen waren schwer, das wusste sie auch so. Seine Bestätigung würde den Schmerz nur noch furchterregender machen, als er ohnehin schon war.

Eine Frage beschäftigte sie, und sie begriff, dass es die letzte war, die sie würde stellen können. Die Kraft, die es sie kostete, aus der Dunkelheit aufzutauchen, schwand rasch. Der Mann stand auf, kam näher und umsorgte sie. Er ging fort. Er würde gehen, und sie würde immer noch nicht wissen, wer sie war. Ihre Hand bewegte sich wie von allein und hielt ihn fest.

„Wer … bin … ich?“

Die Worte, die sie am meisten fürchtete, waren heraus. Er würde ihr sagen, wer sie war, und das Chaos in ihr würde sich legen, weil sie sich wieder erinnern würde. Sie würde sich an ihr Leben und ihre Familie und ihren Namen erinnern. Sie wartete.

Die Verwirrung, die sie empfand, traf auf sein Schweigen. Jetzt war er derjenige, der nach Worten suchte. Als ihr klar wurde, was das bedeutete, drohte die Dunkelheit sie erneut zu verschlingen. Sie ließ sich hineingleiten und hörte kaum, was er ihr flüsternd auf ihre Frage antwortete.

„Ich weiß es nicht.“

Sie war wahrhaft verloren.

Es war nicht das erste Mal in seinem Leben, dass er sich hilflos fühlte, aber er betete zum Allmächtigen, dass es das letzte Mal sein möge. Als er sah, wie sie die Augen schloss, zog sich ihm der Magen zusammen. War sie tot? Ihr Körper sackte zusammen, als sie den Kampf aufgab und nicht noch einmal zu sprechen versuchte.

William beugte sich vor und entfernte die Kissen hinter ihrem Rücken, bis sie flach auf der Pritsche lag. Seine Kehle war wie zugeschnürt, als er nach Anzeichen dafür suchte, dass ihre Brust sich regelmäßig hob und senkte. Er brauchte eine Weile, doch dann sah er es. Er stieß die Luft aus und stellte fest, dass sie immer ruhiger wurde, je tiefer sie in die Bewusstlosigkeit sank.

Das konnte ja heiter werden, wie Connor der Schotte sagen würde. Der stämmige Krieger aus dem Norden hatte für jede Lage einen passenden Spruch parat.

War William mit seiner Antwort schuld an ihrer Ohnmacht? Er glaubte es nicht. Er legte eine weitere Decke über sie, setzte sich wieder und grübelte über dieses Rätsel nach.

Er hatte damit gerechnet, dass sie, sobald sie aus ihrem dreiwöchigen Schlaf erwachte, ihm sagen würde, wer sie war. Dann hätte er sie zu ihrer Familie bringen können. Nun, das stimmte nicht ganz. Jemand hatte versucht, sie zu töten, und möglicherweise war es zu gefährlich, sie zu ihren Leuten zurückzubringen. Derjenige, der ihren Tod gewollt und sie so zugerichtet hatte, würde es vermutlich erneut versuchen. Als Krieger war William sich dessen sicher.

Wer sollte eine Frau töten wollen? Und dann noch mit solch einer Brutalität?

Sie hatte weiche glatte Hände, also konnte er davon ausgehen, dass sie eine Edeldame war. Aber welche Frau von adligem Blut konnte einfach verschwinden, ohne dass jemand davon erfuhr? Wenn sie hochgeboren war, dann würde jemand nach ihr suchen. Lord Orrick würde davon wissen, vor allem wenn man auf seinem Land nach ihr suchte.

Nein, er musste sich irren. Kopfschüttelnd ging er um die Hütte herum und bereitete alles für die Nacht vor. Sie konnte nicht von hoher Geburt sein. Aber wer war sie dann? Und noch wichtiger, warum hatte man versucht, sie zu töten?

Bevor er sich hier im Dienste Lord Orricks niedergelassen hatte, war William viel gereist. Überall in England hatte er diese bedauernswerten Weiber gesehen – Frauen, die man wegen eines Fehlers verstoßen, verlassen oder gar gebrandmarkt hatte. Scheidung war unmöglich, sodass Männer eine untreue oder ungewollte Frau einfach aus dem Haus jagen und ihr alles nehmen konnten, bis ihr nur noch die Kleidung blieb, die sie am Leibe trug.

Und manchmal ließen sie ihr nicht einmal das. Wenn eine Frau als Hure verschrien war, fand sie nirgendwo mehr Unterschlupf und war gezwungen, jeden Broterwerb anzunehmen, der sich ihr bot. Solche Grausamkeit war selten, aber es gab sie. Orrick duldete so etwas nicht auf seinem Land, aber andere, weniger gewissenhafte Herren sehr wohl.

William setzte sich neben den Deckenstapel, auf dem er schlief, und betrachtete die Frau im Dämmerlicht, das der Rest des Herdfeuers spendete. Wahrscheinlich machte er sich wegen nichts Sorgen. Dieses erste Erwachen, nachdem sie so viele Tage geschlafen hatte, musste sie zutiefst verwirrt haben. Sobald sie wieder zu Kräften kam und nicht mehr mit jedem Atemzug gegen den Schmerz zu kämpfen hatte, würde ihr Verstand wieder klarer werden, und ihr würde wieder einfallen, wer sie war.

Wenda und die junge Avryl würden gleich nach der Morgendämmerung kommen, dann würde er ihnen von der kurzen Begebenheit erzählen. Wenda würde mit Sicherheit wissen, was man gegen die Verwirrung tun konnte, die diese Frau plagte. Die Heilerin kannte Mittel gegen alle Leiden.

Aye, Wenda würde wissen, was zu tun war.

„Royce.“

Das gepresste Flüstern, mit dem sie seinen Namen rief, klang in der Stille der Nacht wie ein Schrei. Sofort war er wach und an ihrer Seite, ehe sie noch einmal seinen Namen sagen konnte. Er musste sie nicht ansehen, um zu wissen, dass sie wach war. Er hörte ihren unregelmäßigen Atem und ihre unruhigen Bewegungen.

Er legte sich neben sie und sprach flüsternd auf sie ein. Darauf bedacht, sich nicht gegen sie zu lehnen und ihr noch mehr Schmerzen zu bereiten, streichelte er ihre Stirn und sprach ihr gut zu, sich zu beruhigen. Die Worte kamen ihm ganz leicht über die Lippen, denn er hatte sie schon unzählige Male in der Dunkelheit und der Heimlichkeit der Nacht gesagt. Leise wiederholte er seine tröstenden Worte immer wieder. Schließlich spürte er, wie sie sich entspannte, und nahm an, sie war wieder eingeschlafen.

Doch als er sich zurückziehen wollte, durchschnitt ihre Stimme die Nacht erneut.

„Bleibt.“ Es war nicht mehr als ein Hauchen. Eine Bitte, kein Befehl.

William legte sich neben sie auf die Seite und rührte sich nicht. Als der Morgen anbrach, lag er immer noch dort.

3. KAPITEL

Es ist also ein gutes Zeichen?“

William hatte sich von den Männern entfernt, mit denen er am Tisch gesessen hatte, um sich Wendas Rat einzuholen. Lord Orrick hatte ihn gebeten, ihm von der Fremden in seiner Obhut zu berichten, und William wollte ihn nicht hinhalten.

„Dass sie aufgewacht ist? Ja, das ist gut.“ Wenda nickte. „Aber dass sie verwirrt ist, ist nicht gut.“

„Wird es wieder weggehen? Ihr Gedächtnis wird doch sicherlich zurückkehren, oder?“

„Vielleicht ja, vielleicht nein.“ Schulterzuckend sah die alte Frau ihn an. „Ich habe so etwas nur einmal zuvor erlebt, und da handelte es sich um einen Mann, der im Kampf am Kopf verletzt wurde. Nach ein paar Tagen konnte er sich wieder an alles erinnern.“

„Das wird bei ihr doch gewiss genauso sein, oder?“ Die Worte der Heilerin beunruhigten William eher, als dass sie ihn zufriedenstellten.

„Ich habe Geschichten gehört, in denen so mancher seine Erinnerung nie wieder vollständig zurückerhalten hat.“

„Nay!“

Sein Ausruf klang stürmischer als beabsichtigt, und er wandte sich von Wenda ab, um seine Gedanken zu ordnen. Er wollte nicht glauben, dass die Fremde für den Rest ihres Lebens in einem Zustand der Verwirrtheit und ohne Identität leben musste. Gestern Abend war sie zum ersten Mal nach drei Wochen aufgewacht – war es da nicht verständlich, dass ihre Erinnerung im Nebel lag? Gewiss war das ein natürlicher Teil des Heilungsprozesses. Aber wenn es so war – warum wusste eine so erfahrene Heilerin wie Wenda dann nichts davon?

„Royce“, sagte Wenda. „Wir müssen einfach abwarten, ob ihre Genesung voranschreitet oder ob es nur eine kurze Pause in ihrem Niedergang ist. Mit jedem Tag, der vergeht, werden wir mehr wissen.“

„Und das soll ich Lord Orrick sagen?“

„Das ist alles, was wir ihm im Moment mitteilen können.“

William stieß den Atem aus und blickte zur Hohen Tafel, wo der Lord, dem er diente, seine Mahlzeit einnahm. Orrick war ein gerechter Mann, und er würde einer Fremden nicht die nötige Fürsorge verweigern. Nicht nach so einem Angriff, wie sie ihn überlebt hatte. Sobald sie zu Kräften gekommen war, würde sich ihre Verwirrtheit gewiss legen. Sie würde wieder wissen, wer sie war. Sobald sie etwas kräftiger war, würde sie in die Burg umziehen, damit sich die Frauen dort um sie kümmern konnten. Sobald sie zu Kräften gekommen war, würde er sie verlieren.

William schüttelte den Kopf über seine närrischen Gedanken. Er dankte Wenda und ging zu Orrick. Die Genesung der Frau würde lange dauern und mit viel Schmerz und Leid einhergehen. Es wäre das Beste, wenn man sie so schnell wie möglich auf die Burg brachte, da seine unzähligen Pflichten für Orrick ihn regelmäßig aus dem Dorf fortführten. Es wäre einfacher für sie alle, wenn sie nicht länger in seiner Hütte untergebracht wäre. Davon war er so überzeugt, dass niemand überraschter war als er selbst, als er Orrick bat, die Frau dort zu belassen, wo sie war.

Der Rest des Tages verging viel zu langsam für ihn. Wie mochte es ihr wohl gehen, wenn er heute nach Hause zurückkehrte? Avryl kam weiterhin jeden Tag, um für die Fremde zu sorgen, während er seinen Pflichten nachging, und Wenda würde so oft es ging vorbeischauen. Orrick hatte erlaubt, dass sie es weiterhin so hielten, bis die Frau sich entweder genügend erholt hatte, um zu sagen, wer sie war, oder bis sie ihren Verletzungen erlag.

Endlich war Williams Dienst für diesen Tag beendet. Er nahm seine Waffen und lief durch das Dorf hinunter zum Fluss. Er folgte ihm eine Weile, bis er vor der Tür seiner kleinen Hütte stand. Drinnen war es still. Avryl rührte in einem Topf auf der Feuerstelle, und sein Gast schlief. Er unterdrückte ein Lächeln, als er sah, dass ihre Hand auf dem Kopf seines ebenfalls schlafenden Hundes ruhte. Sie hatte also noch einen Beschützer gefunden.

William ließ sein Bündel neben der Tür fallen. Das Mädchen am Feuer blickte zu ihm auf. Avryl war eigentlich gar kein Mädchen mehr. Sie zählte fast siebzehn Winter, wenn er sich nicht täuschte. Er beobachtete ihre anmutigen Bewegungen, als sie den heißen Topf mit dem Saum ihres Rockes anfasste und etwas von dem Eintopf in eine Schale füllte.

Sie sah ihm nicht in die Augen, als er ihr für das Essen dankte. William fiel der leichte rote Schimmer auf, der von ihrem Hals über ihr Gesicht verlief. Er dachte daran, dass Avryls Mutter nach seinem ersten Jahr in Silloth versucht hatte, sie beide zu verkuppeln. Ein neuer Junggeselle in dieser kleinen Gemeinschaft – und dazu einer, den Lord Orrick außerordentlich schätzte – war Freiwild für jede unverheiratete Frau. In der ersten Zeit musste er allerlei Winkelzüge machen, um denen zu entkommen, die ihn zu einer Heirat bewegen wollten.

Solcherlei Verstrickungen durfte er sich nicht erlauben. Nichts, was seine Anonymität in Gefahr bringen oder seine Vergangenheit enthüllen könnte. Inzwischen hatte er Erfahrung damit, die Kuppelversuche abzuschmettern.

Er wartete, bis Avryl das Essen und Trinken auf den Tisch gestellt hatte, ehe er seine Aufmerksamkeit wieder auf die Frau auf der Pritsche richtete.

„Sie war heute ein paar Stunden wach“, beantwortete Avryl seine Frage, bevor er sie stellen konnte.

„Weiß sie, wer sie ist?“ William ging neben der Frau in die Hocke und untersuchte sie nach Hinweisen, dass ihr Zustand sich verschlechtert hatte.

„Nay. Aber sie hat ein paarmal mit Wenda und mir gesprochen.“

„Hat sie gegessen?“ William schaute auf die Schale mit dem dampfenden Essen. Der Eintopf war vermutlich zu deftig für sie.

„Aye, erst vor Kurzem. Wenda hat ihr etwas gegen die Schmerzen gegeben. Sie sagte, dass sie vielleicht die Nacht durchschläft.“

William nickte und stand auf. „Ich danke dir, dass du dich um sie kümmerst.“

„Soll ich noch länger bleiben …?“ Ihr leises Zögern verriet die wahre Bedeutung ihrer Frage.

„Es war ein langer Tag für uns beide.“ William stieß die Tür auf und stellte sich daneben. „Soll ich dich ins Dorf zurück begleiten? Es ist schon dunkel.“

Avryl schnürte ihr Bündel, dann schüttelte sie den Kopf. „Ich kann allein zurückgehen.“ Doch er hörte auch ihre unausgesprochenen Worte.

Als er die junge Frau ansah, die ihm ein stummes Angebot machte, fühlte William sich wesentlich älter, als er war. In einem anderen Leben hätte er Kontakt zu jungen Frauen gesucht, hätte um eine passende Liebhaberin geworben, sie ins Bett gelockt und schließlich eine von ihnen geheiratet. In seinem früheren Leben hätte er gut um Avryl werben und mit ihr schlafen können, aber eine Ehe mit ihr wäre niemals infrage gekommen. Jetzt wäre sie für jemanden wie ihn durchaus eine gute Partie gewesen.

Er seufzte. Jetzt war er derjenige, der keine angemessene Partie mehr war. Also befriedigte er seine Bedürfnisse auf diskrete Weise, wann immer ihm danach war. Niemals mit einer Frau oder einem anderen Mann. Und er ermutigte niemals irgendeine der Frauen des Dorfes oder aus dem Einflussbereich von Lord Orrick, mehr von ihm zu erwarten.

William wollte nicht, dass Avryl das Gefühl hatte, er würde ihre Arbeit nicht wertschätzen, also begleitete er sie bis zum Fluss und wartete, bis sie ein ganzes Stück zurückgelegt hatte, ehe er zur Hütte zurückkehrte.

Als er sich in seinem Zuhause umsah, stellte er fest, dass Avryl fleißig gewesen war. Offensichtlich hatte sie sich nicht nur um die schlafende Frau gekümmert. Seine Vorräte an Hafer und anderen Lebensmitteln, die er in Töpfen aufbewahrte, waren ordentlich aufgereiht, und die Bretter, auf denen sie standen, waren sauber. Der Boden war frisch gewischt, und auf dem Tisch lag ein Stapel säuberlich zusammengelegter Kleider. In der Tat, sie war sehr fleißig gewesen.

„Sie mag Euch.“

Bei diesen Worten drehte er sich um und stellte fest, dass sein Gast ihn ansah. Wie lange war sie schon wach? Er trat näher, um ihr zu helfen, sich aufzusetzen, doch sie schüttelte vorsichtig den Kopf.

„Esst etwas.“

„Braucht Ihr etwas? Wasser? Brühe?“

„Esst Ihr erst.“ Sie schaute zum Tisch und der Schüssel mit dem heißen Eintopf.

William nickte und ließ sich auf der Bank vor dem Tisch nieder. So saß er mit dem Rücken zu der Frau, aber er stellte die Bank nicht um. Er konzentrierte sich auf das Essen und vertilgte den nahrhaften Eintopf, das Brot und den Becher Ale in kürzester Zeit. Dann säuberte er die Holzschale und den Becher und stellte beides auf das Regal in der Ecke. Er nahm den Topf vom Feuer und stellte ihn auf den Boden, damit er abkühlen konnte. Er bedeckte ihn mit einem zerbeulten Deckel und wusste, dass er noch mindestens zwei Mal davon essen konnte.

Als ihm nichts mehr zu tun übrig blieb, hielt er kurz inne, ehe er sich wieder zu der Fremden umwandte. Nervosität erfasste ihn, doch er kannte den Grund dafür nicht. Dieses Gefühl hatte er normalerweise, wenn er sich einer neuen Herausforderung stellte oder in den Kampf zog, aber nichts dergleichen stand bevor. Er musste nur diese unbekannte Frau ansehen, die in seiner Obhut war. In seinem Haus.

Aye, das muss es sein. Seit er aus der Burg hierher gezogen war, hatte keine andere Frau je eine Nacht hier verbracht. Und er hatte schon sehr lange nicht mehr neben einer Frau gelegen. Schon gar nicht, um nur zu schlafen. Letzte Nacht hatte er es getan, und jetzt war er durcheinander wegen der Gefühle, die sich deswegen in ihm regten.

Schließlich drehte er sich ganz zu seinem Gast um und stellte fest, dass sie jede seiner Bewegungen beobachtete. Er zog die Bank vom Tisch heran, stellte sie neben die Pritsche und setzte sich. Wie sollte man ein Gespräch anfangen, wenn jemand all seine Erinnerungen verloren hatte?

„Catherine?“ Er schwieg, um zu sehen, ob sie auf den Namen reagierte. Nichts. „Alyce? Emalie? Mary? Eleanor? Margaret?“ Keiner dieser Namen entlockte ihr mehr Reaktion als ein Stirnrunzeln und einen leeren Blick.

„Ich erinnere mich nicht“, flüsterte sie. „Keiner davon klingt wie mein eigener Name.“

„An was erinnert Ihr Euch? Irgendwelche Gesichter? An andere Namen?“ Wie konnte man jemandem helfen, seine Erinnerung wiederzufinden?

„Würdet Ihr mir zur Hand gehen? Ich möchte mich eine Weile aufsetzen.“

Ihre Stimme war weich und gebildet. Erneut befiel ihn der Verdacht, dass sie von hoher Geburt sein musste. Als William sich vorbeugte, um sie zu stützen, erhob sich sein Hund und sprang von der Pritsche. William hielt ihren Kopf und die Schultern, bis sie aufrecht saß. Nachdem er ihr ein paar Kissen in den Rücken gestopft hatte, um sie abzustützen, trat er zurück, damit sie es sich bequem machen konnte.

Sie kämpfte offensichtlich gegen die Schmerzen, denn sie hielt die Luft an und biss sich auf die Unterlippe. Er sah, wie sie immer wieder die Decke packte und wieder losließ. Da er nichts für sie tun konnte, wartete er geduldig, bis sie sich wieder im Griff hatte. Eine Weile blieb es still in der kleinen Hütte, während sie etwas Erleichterung darin fand, sich nicht zu bewegen.

„Stimmen?“ Er versuchte erneut, ihr zu helfen, sich zu konzentrieren.

„Ich kenne nur Euch und die, die heute hier waren“, sagte sie.

Einen Moment lang drohte ihm das Herz stehen zu bleiben. Sie kannte ihn?

„Mich?“ Er musste Bescheid wissen. Ein kalter Schauder erfasste ihn, als er auf ihre Antwort wartete. Waren sie einander zuvor schon einmal begegnet?

„Royce. Gestern Abend habt Ihr gesagt, das sei Euer Name.“ Sie runzelte die Stirn, und er begriff, dass alles in Ordnung war. Hatte sie seine Panik bemerkt? Er strich sich die Haare aus der Stirn und nickte. Er musste weitermachen und die Aufmerksamkeit wieder auf sie lenken.

„Sollen wir noch weitere Namen ausprobieren? Vielleicht weckt einer bestimmte Erinnerungen bei Euch.“

„Das glaube ich nicht. Avryl hat das auch schon versucht, jedes Mal, wenn ich wach war.“

„Wirklich?“ Sie nickte vorsichtig. Ihre Miene verriet, dass es ihr wehtat. „Möchtet Ihr Euch vielleicht einfach einen Namen aussuchen, mit dem wir Euch rufen können, bis wir herausgefunden haben, wer Ihr seid?“

„Isabel klang nett, als Avryl ihn gesagt hat.“

„Gut, dann also Isabel.“ Er lächelte. „Isabelle.“ Er wiederholte den Namen mit der Betonung, mit der er früher den Namen seiner Mutter ausgesprochen hatte.

„Ihr sprecht Französisch?“

Er räusperte sich und nickte. Es hatte keinen Zweck zu leugnen, dass er die Sprache des Hofes sprach. Viele taten das, nicht nur Edelleute. Er ging kein Risiko ein, wenn er diese Wahrheit eingestand. Doch dann erschreckte sie ihn, indem sie in dieser Sprache mit ihm redete.

„Habt Ihr schon immer hier gelebt?“, fragte sie in fließendem Französisch. Dann blinzelte sie ein paarmal, überrascht von ihren eigenen Worten. „Ich spreche Französisch?“, fragte sie, wieder auf Englisch.

„Offensichtlich. Erinnert Ihr Euch, einmal nach Frankreich gereist zu sein? Oder wo Ihr es gesprochen habt?“

Sie … Isabel … schloss die Augen und rührte sich nicht. Unzählige Gefühle spiegelten sich in ihrem Gesicht. Sie schüttelte den Kopf. „Nein.“

William war enttäuscht. Gewiss würden ihre Erinnerungen zurückkehren, wenn ihre Verletzungen verheilt waren. Ganz bestimmt.

„Denkt nicht weiter darüber nach. Ruht Euch einfach aus und kommt wieder zu Kräften.“ Er stand auf und bereitete die Hütte für die Nacht vor. Isabel sagte nichts, als er von hier nach da lief, sein Schwert und den Wetzstein neben seiner Schlafstatt auf den Boden legte und ein Seil um den Türknauf schlang.

„Möchtet Ihr sitzen bleiben oder soll ich Euch beim Hinlegen helfen?“

„Ich möchte noch eine Weile aufbleiben. Oder stört es Euch?“, fragte sie.

„Nay. Bleibt sitzen, solange Ihr mögt. Ich muss noch an meinem Schwert arbeiten, sodass ich ohnehin noch nicht schlafen werde.“

Er setzte sich und zog seine Werkzeuge näher zu sich. Er wickelte das ölgetränkte Tuch um die Schwertklinge und wischte sie sauber. Dann nahm er den Wetzstein und begann, die Scharten zu glätten, die darin zu sehen waren. Immer wieder glitt der Stein mit gleichmäßigen Bewegungen über den Stahl, bis die Klinge der Waffe glatt und scharf war.

Die gleichmäßigen Bewegungen seiner Hände beruhigten sie. Das Schwert wurde vom schwachen Licht des Herdfeuers angeleuchtet, und sie ließ ihren Gedanken freien Lauf. Ihr brannten noch weitere Fragen auf den Lippen, die sie ihm stellen wollte, aber sie wollte ihn nicht bei der Arbeit stören. Er hatte schon so viel für sie getan, und sie wollte ihn auf gar keinen Fall verstimmen.

„Ich bin nicht müde“, flüsterte sie. Ihr schwarzes Haar fiel ihr über die Schultern, als sie vorsichtig den Kopf schüttelte.

Royce sah zu ihr und nickte, ohne ins Stocken zu geraten. „Ihr habt in den letzten Wochen viel geschlafen. Ich bin sicher, dass ein wenig Ruhelosigkeit während der Genesung dazugehört.“

Ruhelosigkeit? War es das, was sie empfand? Obwohl sie wusste, dass dieser Mann ihr nichts antun würde, erfasste sie für einen Moment eine tiefe Panik. Wie konnte es sein, dass sie ihren eigenen Namen nicht kannte? Konnte jemand in diesem Zustand überleben und nie wieder ganz zu sich kommen? Ein tiefer Angstschauder erfasste sie und bedrohte ihre schwer erkämpfte Selbstkontrolle.

„Ist Euch kalt?“, fragte er, legte seine Waffe beiseite und machte Anstalten, sich zu erheben. „Ich lege noch etwas Holz aufs Feuer.“

Sie hob die Hand, um ihn aufzuhalten. Die Geste kostete sie all ihre Kraft, aber sie freute sich, dass sie langsam wieder die Gewalt über ihren Körper zurückgewann.

„Mir ist nicht kalt. Und ich möchte Euch nicht bei Eurer Arbeit stören.“ Das Heben der Hand blieb nicht ohne Folgen, eine erneute Schmerzwelle rollte durch sie hindurch. Sie wartete und holte tief Luft. „Mir geht es gut.“

„Euch geht es ‚gut‘? ‚Mir ist nicht kalt‘ trifft es wohl eher“, sagte Royce und setzte sich auf seine Bettstatt. „Ich fürchte, es wird Euch noch eine ganze Weile nicht gut gehen.“

Er untersuchte die Klinge und überprüfte die Schärfe mit dem Daumen. Er zog den Wetzstein erneut über beide Seiten und ertastete das Ergebnis. Das Schweigen in dem kleinen Raum war nicht unangenehm, und Isabel beobachtete, wie Royces Muskeln bei jeder Bewegung unter seinem Hemd arbeiteten.

„Könnt Ihr mir etwas über diesen Ort erzählen?“ Sie, Isabel, wie sie sich jetzt nannte, hatte viele Fragen.

„Dieses Land gehört Lord Orrick. Seine Familie lebt hier seit Jahrzehnten und stammt von den normannischen Invasoren ab, die dieses Land vor vielen Jahren erobert haben.“

„Sind wir in der Nähe der Küste?“

„Silloth ist ein kleines Dorf am südlichen Ufer des Firth of Solway. Woher wusstet Ihr das?“ Seine Hände arbeiteten pausenlos, während er sprach.

„Ich wusste es nicht“, antwortete sie. „Es ist eher das Gefühl, dass die Luft um mich herum anders ist.“

„Ihr kommt also nicht von der Küste, sondern aus dem Landesinneren?“

„Ich … weiß … es … nicht.“ Das Entsetzen stieg aus tiefster Tiefe in ihr auf. Es wurde immer stärker, und bald würde sie es nicht mehr bändigen können. Nicht zu wissen, wer sie war, sich nicht zu erinnern, woher sie kam – niemand zu sein. Das war zu viel.

Schon war er an ihrer Seite. Royce setzte sich vorsichtig neben sie und strich ihr die Haare aus dem Gesicht. Ihre Panik war zwar groß, aber vor ihm hatte sie keine Angst. Er hielt ihr einen Becher an die Lippen, und sie nippte daran. Es war Ale.

„Schhh … fürchtet Euch nicht, Isabelle. Niemand kann Euch jetzt etwas antun.“ Er flüsterte die Worte, aber sie spürte das Versprechen darin mit ihrem ganzen Sein. Tränen sammelten sich in ihren Augen, und sie fühlte sich schwach. Zu schwach und zu erschöpft. Doch die Fragen, die sie am meisten quälten, waren immer noch unbeantwortet. Sie würde noch eine Frage stellen, bevor sie sich der Erschöpfung ergab.

„Warum? Warum tut Ihr das für eine Fremde?“

Er sah sie an und wischte ihr mit dem Zipfel der Decke die Tränen fort. Ein trauriges Lächeln huschte über sein Gesicht, und sie wollte noch mehr weinen.

„Ihr erinnert mich an jemanden, der die Hilfe von Fremden gebraucht und sie bekommen hat.“ Seine Worte waren schwer vor Rührung. Der gequälte Unterton in seiner Stimme versetzte ihr einen Stich.

„Euer Auftauchen hier hat mich daran erinnert, dass wir dem, was der Allmächtige uns auferlegt, nicht immer ausweichen können.“

Er wandte sich von ihr ab. Als er ins Feuer starrte, konnte sie sein Profil sehen. Selbst von der Seite konnte sie erkennen, dass ihn etwas bedrückte. Er stand auf und ging zurück zu seinem Schwert. Schweigend setzte er sich und fuhr fort, die Waffe zu schärfen. Der Wetzstein glitt über das Metall, und Isabel glaubte schon, er würde nichts mehr sagen. Ein knackendes Stück Torf fesselte für einen Moment ihre Aufmerksamkeit, und genau in diesem Moment redete er weiter.

„Euer Überleben erinnert mich daran, dass wir uns manchmal zum Leben zwingen müssen, auch wenn wir am liebsten sterben würden. Deshalb habe ich Euch aufgenommen.“

Autor

Terri Brisbin
Das geschriebene Wort begleitet Terri Brisbin schon ihr ganzes Leben lang. So verfasste sie zunächst Gedichte und Kurzgeschichten, bis sie 1994 anfing Romane zu schreiben. Seit 1998 hat sie mehr als 18 historische und übersinnliche Romane veröffentlicht. Wenn sie nicht gerade ihr Leben als Liebesromanautorin in New Jersey genießt, verbringt...
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