Der Liliengarten

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Lillys Großvater war der Held ihrer Kindheit. Sein Tod trifft sie schwer, doch er hat ihr sein Gutshaus in Ostholstein hinterlassen. Es ist ein Haus voller Erinnerungen, und Lilly beginnt zu stöbern. Dabei stößt sie auf das Tagebuch ihrer Großmutter voller Gedichte und niedergeschriebener Gedanken. Zwischen den leicht vergilbten Seiten steckt ein Foto. Glücklich lächelnd steht ihre Großmutter darauf vor dem Gutshaus - in einem blühenden Garten, den Lilly noch nie gesehen hat. Sie beschließt, sich auf eine Reise in die Vergangenheit zu begeben und herauszufinden, warum Lillys Großmutter ihr wunderschönes Lächeln für immer verlor.


  • Erscheinungstag 18.02.2020
  • ISBN / Artikelnummer 9783745750591
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Die Rose spricht alle Sprachen der Welt.

Ralph Waldo Emerson

PROLOG

Iris
1965

Der Weg in ein magisches Reich wird stets durch ein Hindernis versperrt. Wer Einlass begehrt, muss ein Rätsel lösen oder ein Opfer bringen. So viel war dem kleinen Mädchen bereits klar. Aber sie vermutete, dass ihre Mutter diese schwierige Aufgabe für sie übernommen hatte, bevor sie diesen zauberhaften Ort betreten konnten. Jedes Mal, wenn sich die eisernen Pforten unter lautem Quietschen öffneten, hatte sie das Gefühl, ihr würde eine große Gunst zuteil. Hätte sie an diesem Tag gewusst, dass sie den Garten zum letzten Mal betrat, hätte sie sich womöglich dagegen gewehrt. Vielleicht hätte die Kleine sich zu Boden geworfen, um ihre Finger in der Erde zu vergraben, bis sie so starke Wurzeln schlug, dass selbst der böse König sie nicht so leicht hätte lösen können. Aber sie ahnte nichts und streifte mit einem versonnenen Lächeln auf den Lippen an den Sträuchern und Blumen vorbei. Dabei fühlte sie nichts als Wärme. Die kräftige Junisonne schien auf ihr Gesicht und die Hand der Mutter barg die ihre. Das Mädchen bemühte sich, die Finger ihrer Mutter nicht mit einem zu festen Griff zu umschließen, weil sie befürchtete, diese würde ihr dann wie ein flirrendes Feenwesen davonflattern. Dabei wirkte die Frau an ihrer Seite im Garten irdischer als anderswo. Ihr Gang wurde aufrechter, der Teint strahlte und die Lippen öffneten sich zu einem gelösten Lächeln. Im Haus konnte man ihre ewige Sanftheit leicht mit Gleichgültigkeit verwechseln, doch unter freiem Himmel verwandelte sie sich in etwas Zärtliches. Die Mutter kniete sich hin, um ihrem Kind ein kunstvoll gemasertes Blatt oder eine Blüte mit ungewöhnlichem Farbverlauf zu zeigen. Die Kleine entschied, dass sie es wagen konnte, sich für den Moment eng an ihre Mutter zu schmiegen, ohne sich darum zu sorgen, sie wie sonst oft zu wecken und möglicherweise zu verscheuchen.

Sie spürte den warmen Atem ihrer Mutter auf ihrem Haupt, bevor diese liebevoll ihren Scheitel küsste. »Mein kleiner Schatz«, wisperte sie.

»Erzählst du es mir noch mal?«, fragte das Mädchen fröhlich. Sie deutete auf die weißen Schwertlilien, die noch einen anderen Namen trugen, Iris – der Name des Mädchens. Die kleine Iris wusste bereits, dass die Farbe dieser Blüten etwas ungewöhnlich war. Sie hatten einen warmen Cremeton statt der üblicheren blauen Farbe, und es schmeichelte Iris, nach einer so hübschen Blume benannt worden zu sein. »Erzählst du mir noch mal, warum du mich so genannt hast?«

Ihre Mutter Isabelle schaute sie beinahe wehmütig an. »Sie ist ausdauernd und ehrlich. Und ich habe mir gewünscht, meine Tochter wäre auch so.«

Überrascht blickte Iris auf. Dies war nicht die Geschichte, nach der sie gefragt hatte. Später würde sie daran denken, dass ihre Mutter an diesem Tag selbst im Garten ihre Melancholie nicht ganz abgelegt hatte, und sich fragen, ob sie eine Vorahnung gehabt hatte.

»Es ist wirklich eine wunderbare Blume«, fuhr ihre Mutter fort. »Schau nur! Man kann dieser Blüte tief ins Herz blicken. Sie hat nichts zu verbergen.«

Ihre Mutter klang so eindringlich und ernst, dass sich Iris beunruhigt gefragt hätte, ob es eine Botschaft zu entschlüsseln galt, wenn sie nicht gerade etwas ganz anderes beschäftigt hätte. Ausdauernd und ehrlich also? Dies waren keine Eigenschaften einer Märchenheldin, dachte Iris. Es klang nach Dingen, die Erwachsenen wichtig erschienen – wie Pünktlichkeit, Geld oder gute Tischmanieren. Iris spürte, wie ihre Mutter sie musterte, und als diese seufzte, hatte sie das merkwürdige Gefühl, eine Prüfung nicht bestanden zu haben. Sie senkte den Kopf, bis ihre Mutter sie unter dem Kinn kitzelte. »Und wir wollen nicht die Göttin mit dem gleichen Namen vergessen. Sie ist die Verkörperung des Regenbogens. Ein bunter und seltener Strahl der Hoffnung.«

Iris kicherte erleichtert. Diese Geschichte hatte sie hören wollen. Auch die Miene ihrer Mutter schien sich aufzuhellen, als sie noch einen Moment über die schillernde Göttin sprach.

»Hast du mich deshalb so genannt?«, fragte Iris.

Sie hatte die Frage schon oft gestellt, erlebte nun aber zum ersten Mal, dass ihre Mutter mit einer Antwort zögerte.

»Ja«, erwiderte Isabelle schließlich und stupste mit dem Zeigefinger sanft gegen die Nase ihrer Tochter. »Und hatte ich nicht recht? Wie ein Regenbogen.«

Sie hob den Saum des kunterbunten Kleides ein Stück an, das Iris an diesem Morgen ausgewählt hatte. »Ist es nicht ein bisschen grell? Sie sollte nicht nach Aufmerksamkeit heischen«, hatte ihr Vater zu seiner Frau gesagt, als stünde seine Tochter nicht direkt neben ihr. Iris hatte sich gewundert, dass ihm überhaupt aufgefallen war, was sie trug. Für einen Moment verdarb sein Kommentar Iris die Freude an ihrem Kleid. Allerdings schien ihm nur selten etwas zu gefallen, was Iris sagte oder tat, sodass sie es auch aufgeben konnte, um seine Gunst zu buhlen.

»Mir scheint es perfekt für ein kleines Mädchen. Aber wenn es dich stört, wenn sie die Blicke auf sich zieht, trägt sie es nur zu Hause«, hatte Isabelle erwidert.

Als ihre Mutter Anstalten machte, den Garten wieder zu verlassen, umklammerte Iris einen Augenblick lang die Hand ihrer Mutter fester, als könne sie so verhindern, dass sie den steinernen Torbogen durchschritten und die Pforten sich wieder hinter ihnen schlossen. Sie wusste genau, was geschehen würde, wenn Isabelle ihr Reich verließ – sie würde sich sofort in die trübe Schlafwandlerin zurückverwandeln, die sie im Alltag stets war. Aber wie alle sechsjährigen Mädchen war auch Iris leicht abzulenken. Es genügte eine Versammlung bunter Schmetterlinge auf dem Fliederbusch. Sie ließ die Hand ihrer Mutter los und näherte sich ihrer Entdeckung, indem sie wie eine Seiltänzerin vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzte, um die Falter nicht zu erschrecken. Schließlich saß ein Pfauenauge in Reichweite von Iris’ kurzen Armen. Noch nie war es ihr gelungen, eines zu fangen, doch diesmal umfassten Daumen und Zeigefinger ein Paar zugeklappter Flügel wie eine Klammer.

»Schau mal, Mama.« Sie hielt ihre Trophäe empor, die sich nun, beim genaueren Hinsehen, als Enttäuschung entpuppte. »Oh, er ist ja plötzlich ganz grau«, entfuhr es ihr, als sie nur noch die unscheinbaren Unterseiten der Flügel sah.

»Iris, was machst du denn da?«, rief ihre Mutter erschrocken.

Ohne zu wissen, was sie falsch gemacht hatte, zuckte Iris vor dem Vorwurf im Gesicht ihrer Mutter zurück.

»Er kann nun nicht mehr sehen, richtig?«, flüsterte sie dann aufgeregt. »Ich habe seine Augen geschlossen, daran habe ich nicht gedacht.«

»Lass ihn los«, ermahnte ihre Mutter sie streng.

Rasch folgte Iris der Aufforderung und sah dem Tier dabei zu, wie es über die Gartenmauer davonflatterte. Tränen stiegen ihr in die Augen.

Isabelle hockte sich wieder neben ihre Tochter und nahm sie in den Arm. »Entschuldigung, ich wollte dich nicht erschrecken. Die blauen Kreise sind nicht seine richtigen Augen, nur ein Muster. Aber siehst du den Staub an deinem Zeigefinger?«

Sie hielt Iris’ kleinen Finger hoch.

»Ja. Wo kommt der her?«, fragte Iris neugierig.

»Das sind die winzigen bunten Schuppen des Schmetterlings. Wenn man ihn berührt, bleiben sie an der Hand haften. Verliert er zu viele, kann er nicht mehr fliegen. Weißt du, was das bedeutet?«

Iris schüttelte den Kopf.

»Er stirbt«, erklärt ihre Mutter.

»Oh«, sagte das Mädchen bedrückt. Sie hoffte, dass ihrem Schmetterling nichts allzu Schlimmes passiert war. Unsicher sah sie in die Richtung, in die er davongeflogen war. Iris hörte, wie ihre Mutter einen seltsamen Laut ausstieß, hielt nach ihr Ausschau und sah, wie sie kurz vor dem Torbogen niederkniete. Neugierig näherte sich Iris, um herauszufinden, was Isabelles Aufmerksamkeit erregt hatte, und entdeckte eine Blume, deren Muster ihre Mutter fast liebevoll mit dem Finger nachmalte. Die Blütenblätter formten einen Kelch, dessen Farbe von Gelb über Orange bis Rot verlief. Die grünen Blätter waren von helleren Sprenkeln übersät. Iris erinnerte sich nicht daran, diese Pflanze schon einmal gesehen zu haben. Sie war wohl in den vergangenen Tagen aufgeblüht, während sie bei Anna, der Tante ihrer Mutter, gewesen waren.

»Was ist los?«, fragte Iris erschrocken, als sie Isabelles Augen feucht werden sah.

»Gar nichts.« Schnell wischte sich Isabelle eine Träne aus dem Augenwinkel.

Iris sah zu Boden. »Mami, es tut mir leid. Bist du wegen des Schmetterlings traurig?«

Ihre Mutter sah ganz verwirrt aus, dann streckte sie ihrem Kind lächelnd die Arme entgegen, in die Iris sich sofort hineinwarf. »Unsinn, meine Kleine, das habe ich dir doch schon gesagt. Du machst mich nie traurig, mein Schatz. Ich war nur für einen Moment sentimental.«

»Sentimental.«

»Ein Gefühl, dass Erwachsene manchmal haben, wenn sie an das denken, was schon gewesen ist. Bei uns Älteren gibt es ja viel, was schon gewesen ist. Aber von all dem bist du das Beste, was mir passiert ist.«

»Ach so«, erwiderte Iris erleichtert. »Das ist eine schöne Blume. Wie heißt sie denn, Mama?«

»Manche nennen sie Calla-Lilie, aber …« Ihre Mutter blickte zu Boden. »Ich glaube, sentimental ist man, wenn man glücklich und traurig zugleich ist.«

Ihre Mutter schien ohne Zusammenhang zu reden und ein wenig durcheinander zu sein. Der Gedanke, sie könnte traurig sein, beunruhigte Iris. Wie tröstete man einen Erwachsenen, wenn er nur wegen eines Gedankens traurig war? Wo sollte man pusten oder ein Pflaster aufkleben?

Iris weinte vor allem, wenn sie gestürzt war. Allerdings war auch sie manchmal wegen Dingen traurig, die sie nicht genau benennen konnte. Es hatte etwas damit zu tun, wie wenig sie sich auf ihre Eltern verlassen konnte. Sicher, auch wenn sie den Garten verlassen hätte, würde Isabelle lächeln und gelegentlich auch ihre Tochter in die Arme schließen und streicheln, aber Iris spürte die Anstrengung, die es Isabelle bisweilen zu kosten schien, aus ihrer Verschlossenheit aufzutauchen. Was ihren Vater anging, so war es ihr inzwischen lieber, wenn er durch sie hindurchsah. Das war besser, als wenn sein Blick sich auf diese eindringliche Art in sie bohrte, dass sie zurückschrak. Wenn ihr alles zu verwirrend wurde, leistete sie Waltraud und Lena bei ihren Arbeiten im Haus Gesellschaft. Die Frauen waren geradeheraus und bodenständig und schienen sich nie an Iris’ Gesellschaft zu stören. Ganz besonders Lena streichelte ihr oft das Haar oder steckte ihr ein Bonbon zu, wenn keiner hinsah.

»Man kann nicht sagen, dass sie verwöhnt wird, oder?«, hatte sie einmal finster erwidert, als Waltraud sie ertappt und missbilligend geschaut hatte. »Geld ist wohl nicht alles.«

»Leider muss ich dir recht geben«, hatte Waltraud nach kurzem Nachdenken seufzend erwidert. Iris hing sehr an den beiden Angestellten. Ohne Waltrauds Schimpfen und Lenas Lachen wäre Iris das große Haus viel zu still und leer erschienen. Die Frauen kochten, putzten und kauften ein. Einmal in der Woche stieß ein Gärtner zu ihnen, um Hecken und Rasenflächen zu stutzen. Den Garten selbst durfte er aber nicht anrühren. Nur die Herrin des Hauses legte hier Hand an.

Weil die immer noch mit ihrer Calla beschäftigt war, widmete sich Iris derweil einer Schnecke mit gelbem Haus und braunen Umrandungen. Unendlich langsam zog sie eine hauchdünne Bahn aus durchsichtigem Schleim über die Erde. Iris mochte Schnecken, aber nur solche mit Häusern auf dem Rücken. Vielleicht sollte sie anfangen, welche zu züchten. Die perfekte Geometrie des spiralförmigen Häuschens faszinierte sie. Ihre Eltern erlaubten ihr leider kein Haustier, aber ein paar Schnecken in einem Marmeladenglas würden sie kaum bemerken.

Sie würde Löcher in den Deckel pieken und mindestens zwei hineinsetzen, damit ihnen nicht langweilig wurde. Mit Glück würden sie kleine Schneckenkinder bekommen. Ob die auch schon ein kleines Haus auf dem Rücken hätten? Iris wusste bereits, dass man ein Männchen und ein Weibchen brauchte, damit Kinder kamen, bloß hatte sie keine Ahnung, wie man bei Schnecken beide auseinanderhielt. Vielleicht wusste Lena Bescheid. Das Hausmädchen schien sehr viel zu wissen. Als »neunmalklug« hatte Waltraud sie mal bezeichnet. Und eine Neun war nicht wenig. Doch bevor Iris Lena um Rat fragen konnte, gab es den Garten nicht mehr. Schon am folgenden Tag war er verschwunden. Und mit ihm kam Iris auch die Mutter abhanden, die keinen Grund mehr zu sehen schien, aus ihrem ganz eigenen Schneckenhaus aufzutauchen.

55 Jahre später

Lilly

Ich bin nicht wütend. Wütend sind Menschen, die es nicht schaffen, über den Dingen zu stehen. Ich aber stehe den Widrigkeiten des Lebens mit »todesverachtender Lässigkeit« gegenüber. Im vergangenen Jahr noch haben mich die Journalisten für diese Eigenschaft gerühmt, auch wenn sie seit der Sache in der Tiefgarage natürlich ganz andere Dinge über mich sagen. Sollen sie doch! Das rüttelt nicht an der Tatsache, dass ich mich nicht so leicht aus der Ruhe bringen lasse, sonst wäre ich jetzt schon ausgeflippt.

Meine Hände sind so fest zu Fäusten geballt, dass die Fingerknöchel weiß hervortreten, und ich muss mehrmals schlucken, um den sprichwörtlichen Kloß in meinem Hals loszuwerden. Während ich auf das Telefon zugehe, öffne ich die Fäuste. Meine Handflächen sind schwitzig und fühlen sich heiß an. Auch meine Wangen glühen. Doch ich weiß: Ich muss nur atmen, um mich wieder in den Griff zu bekommen. Das tue ich und bin sofort viel ruhiger. Als Schauspielerin kann ich meine Gefühle lenken wie andere ihr Auto. Oft gelingt mir das sogar bei den Empfindungen anderer. Vielleicht ist das ja meine Superkraft. Noch ein tiefer Atemzug und ich bin bereit, um mit ihr zu telefonieren. Entschlossen wähle ich die Nummer.

»Blumenhandel Jensen, guten Tag.« Die Stimme meiner Mutter in der Leitung klingt ruhig und besonnen, wie immer. Es ist Donnerstag. Die Ruhe vor dem Sturm. Die meisten Blumen werden freitags und sonnabends gekauft. Ich darf gar nicht daran denken, wie viel Sprechtraining es mich im Gegensatz zu ihr gekostet hat, meine Stimme nicht mehr so gehetzt und gepresst klingen zu lassen, als würde man mir die Zeit, mich mitzuteilen, rationieren.

»Warum hast du es mir nicht gesagt?« Nun klingt meine Stimme wie ihre.

»Mach jetzt bitte kein Theater«, antwortet meine Mutter sofort. Eine leichte Schärfe hat sich in ihren Tonfall geschlichen.

Sie fragt mich nicht, was ich meine. Das sollte mich beruhigen, weil ich sonst am Ende doch noch meine Beherrschung verloren hätte, aber vor allem verärgert es mich. Sie hat gewusst, dass es mich verletzen wird. Es kann für sie auch wirklich nicht allzu schwer gewesen sein, sich meine Reaktion darauf vorzustellen, dass mein Großvater bereits vor zwei Tagen gestorben war – ohne, dass sie es mir gesagt hätte. Wie kann sie mir jetzt unterstellen, etwas zu dramatisieren, wo ich gerade das genaue Gegenteil versuche? Das eigentliche Schauspiel ist ja wohl der Teil, in dem ich ruhig bleibe. Abgesehen davon finde ich, dass ich in dieser Situation ein Recht auf ein wenig von dem hätte, was sie als Theater abtut.

Natürlich weiß ich, dass in ihren Augen schon die dezenteste Darstellung der eigenen Gefühle eine Übertreibung ist, weswegen sie ihre meist ganz für sich behält. Außerdem kann ich ihre Sorge vor einem Ausbruch meinerseits fast ein wenig verstehen. Während der Pubertät hätte ich es durchaus verdient, als theatralisch bezeichnet zu werden. Vielleicht ist die Erinnerung daran für sie noch zu frisch, als dass sie auf meine heutige Beherrschung vertrauen kann.

Wir waren in einem Teufelskreis gefangen, in dem meine Mutter sich desto unnachgiebiger zeigte, je hysterischer ich agierte. Ihre Reaktionen wiederum stachelten mich stets noch mehr an. Es war wie ein Reflex, der mich nicht mehr logisch denken ließ, was mich unter anderem davor schützte zugeben zu müssen, dass mich ihre Kühle zugleich verletzte. Ich bin mir nicht sicher, ob wir diesem Teufelskreis jemals wieder entkommen sind.

Letztendlich muss es auch für sie eine Erleichterung gewesen sein, als ich der Theatergruppe der Schule beitrat. Sie hatte es erst nicht gewollt. Zu groß war ihre Befürchtung, dass ich vollends den Bezug zum wahren Leben verlieren würde. Eine, wie ich damals der Meinung war, dreiste Unterstellung. Zu meinem Glück gab sie schließlich trotzdem nach. Ich fand meine Berufung und lernte, mein Publikum nur das sehen zu lassen, was mir gefiel.

Ich mochte es, wenn die Aufmerksamkeit auf mich gerichtet war, und wollte, dass man mich sah – als eine Lilly, die immer etwas glamouröser schien als das Mädchen, das mir morgens im Spiegel entgegenblickte. So fühlte ich mich lebendiger. Ich genoss den Moment, in dem uns auf der kleinen Bühne der Aula noch ein schwerer schwarzer Vorhang von den Zuschauern trennte. Das Herzrasen im Dunkeln verbunden mit der Sorge zu versagen, sobald die Lichter angingen. Die Befriedigung, wenn man dann doch in die Rolle fand und darin aufging. Die Stille im Saal, die verriet, dass man die Menschen in seinen Bann gezogen hatte, und schließlich das Klatschen und die Blicke, die einem folgten, wenn man sich im Anschluss an die Aufführung durch das Foyer bewegte, und unter denen man sich fühlte, als stünde man immer noch im Scheinwerferlicht.

Ehrlich gesagt, hatte ich nicht einmal etwas dagegen einzuwenden, wenn mir ein charmanter Vater nach dem Auftritt ein unangemessenes Kompliment machte, weil er mir die Verführerin abgenommen hatte. Bis heute, wo ich diese Begeisterung zum Beruf gemacht habe, haben sich diese Gefühle nicht verändert, doch mit meiner Mutter habe ich nie darüber gesprochen. Sie würde es ohnehin nie begreifen.

So sehr sie meine Berufswahl auch irritierte, hat sie dennoch nie die Spur eines Triumphes darüber gezeigt, dass meine Karriere letztendlich so misslich verlaufen ist, wie sie es mir vorhergesagt hatte.

Schuld war der Vorfall in der Tiefgarage. Ein Fotograf hatte festgehalten, wie Lilly Hoffmann im Zwielicht eines Parkdecks ihren wehrlosen und sehr verheirateten Co-Star Maximilian Brönner leidenschaftlich geküsst hatte – eingeklemmt zwischen Lenkrad und Fahrer auf dem Fahrersitz. Endlich einmal ein sexueller Übergriff einer Frau! Das Auge der Kamera kann schließlich nicht lügen, oder? Seltsamerweise scheinen die Frauen noch erpichter darauf, mich zu verurteilen, als die Männer.

Ich hatte Maximilian und Sarah Brönner, das Traumpaar des deutschen Films, herausgefordert und ihren Fans damit beinahe die Illusion der heilen Welt geraubt. Zur Beruhigung aller gläubigen Romantiker sei gesagt, dass die Verbindung der beiden nach dem Zwischenfall keineswegs an Glanz verloren hat. Ganz im Gegenteil. Sie haben bewiesen, dass die Trutzburg ihrer gegenseitigen Hingabe uneinnehmbar ist. So stark und erhaben, dass ich an den Klippen unter ihr zerschellte.

Kurz darauf wurde diese wahre Liebe von ihrem dritten Kind gekrönt. Als der Fotograf die Kamera auf das Autofenster hielt, war das Baby gerade unterwegs, was alles noch verwerflicher zu machen schien.

Seitdem bin ich mit meinen gerade einmal 26 Jahren beruflich und gesellschaftlich bereits so kolossal gescheitert, dass ich keinen Weg vor mir sehen kann, den ich gehen möchte.

Ich weiß nicht, ob ich meiner Mutter ihr Schweigen hoch anrechnen kann, oder ob es nicht einfach den vielen Dingen zugeordnet werden muss, über die wir nicht sprechen.

Wir haben Routine darin entwickelt, nicht über Dinge zu sprechen.

Aber es gibt Dinge, die man nicht verschweigen darf. Und der Tod meines Großvaters zählt eindeutig zu ihnen. Unter diesen Umständen halte ich mich mehr als wacker, finde ich.

»Ich mache kein Theater«, entgegne ich schließlich, ihren kühlen Ton nachahmend. »Aber du hättest es mir sagen müssen. Du weißt doch, wie wichtig er mir war.«

Das ist eine Untertreibung. Mein Großvater hat in meinem Leben eine so bedeutende Rolle gespielt, dass ich es eigentlich hätte spüren müssen, als er starb. Seit heute Morgen suche ich nun in meinen Erinnerungen nach irgendetwas, das sich als Zeichen deuten lässt. Ich finde keines. Es war alles wie zuvor – bis ich die Nachricht in der Zeitung gelesen habe.

Ich will damit nicht sagen, dass die letzten Tage unbeschwert gewesen sind. Seit einer Weile fließt die Zeit in meinem Leben so zäh, dass ich am Ende des Tages kaum sagen kann, wie ich sie verbracht habe. Aber der scharfe Schmerz, den ich beim Lesen jener Überschrift gespürt habe, hat die dichten Nebelschwaden zerschnitten, die mich seit der Geschichte in der Tiefgarage von meiner Umgebung abschotten, und hat dieses Ereignis in den Hintergrund gerückt.

Ich sehe meinen Freund Simon und mich vor mir: Wie immer liest Simon beim Frühstück die Zeitung. Allerdings hat er es sich seit einiger Zeit abgewöhnt, mir witzige Kommentare zu den aktuellen Ereignissen aus Politik und Gesellschaft zuzuwerfen. Zu häufig bin ich selbst Thema in den Schlagzeilen. Deshalb ist mein Blick die meiste Zeit ins Leere gerichtet. Vielleicht auch, weil ich mir einrede, dass mich keiner mehr sieht, wenn ich keinen mehr sehe.

Darum bemerke ich auch nicht gleich, wie mich Simon über den Rand des Blattes hinweg immer wieder anschaut.

»Geht es dir gut?«, fragt er schließlich.

Genussvoll lecke ich meinen Löffel ab, als hätte ich Spaß am Essen, und ziehe spöttisch die Augenbrauen hoch. »Und dir?« Er weiß genau, wie es mir geht, also warum sagt er nicht einfach, was er will?

Er gibt keinen Ton von sich.

»Spuck es schon aus!«, fordere ich ihn auf. Es sollte gar nicht wie ein Fauchen klingen, aber so viel Zimperlichkeit bin ich von ihm nicht gewohnt und sie macht mich nervös. »Es ist doch wohl nichts, das ich noch nie gehört habe.«

Er räuspert sich. »Ich fürchte, das ist es doch.«

In diesem Moment ist von seiner üblichen Redegewandtheit nicht viel zu spüren. Dabei gelingt es ihm als Regisseur mühelos, Visionen in die Köpfe anderer Menschen zu pflanzen.

Wortlos schiebt er mir die Zeitung über den Tisch. Ich wappne mich, lege den Panzer aber gleich wieder ab, als ich dort bloß ein Bild meines Großvaters entdecke. Sein Anblick stimmt mich weich und offen – ein grober Fehler, wie mir im nächsten Moment die Schlagzeile verrät, die mich nun kalt erwischt. In den Klammern hinter seinem Namen stehen zwei Jahreszahlen. Zwei! Ich sauge scharf die Luft ein. Mein Körper versteht schon vor meinem Hirn, dass hier etwas nicht in Ordnung ist. Dann sickert es vollends durch: »Ernst Hoffmann (1927–2020) – ein Leben für den magischen Realismus.« Ein Bindestrich verbindet sein Geburts- und das Sterbejahr.

Ja, mein Großvater war wirklich so berühmt, dass man seinen Tod in der Zeitung verkündet. Ungläubig starre ich wieder auf sein Halbprofil, nehme sein vertrautes halbseitiges Lächeln zur Kenntnis, das die Welt, den Betrachter und Ernst Hoffmann selbst zu verspotten scheint.

Auf dem bestimmt 20 Jahre alten Bild sind seine Haare noch strohblond und die Augen ungetrübt stahlgrau. »Ihr macht mir nichts vor«, sagt dieser Blick. Es ist die Abbildung von ihm, auf der er am meisten dem Mann ähnelt, den ich in ihm sehe. Sofort denke ich an die vielen Fotos, die von mir kursieren. Zum ersten Mal frage ich mich, ob er selbst sich auf solchen Bildern ebenso fremd vorkam, wie ich es beim Anblick der Aufnahmen von mir oft tue. Durch meinen Kopf rattert alles Mögliche, das nichts mit seinem Tod zu tun hat. In keinem Moment ziehe ich in Erwägung, dass diese Nachricht der Wahrheit entsprechen könnte. Schließlich lache ich erleichtert auf.

»Simon! Das ist bestimmt ein Fehldruck. Erinnerst du dich daran, wie sie Morgan Freeman für tot erklärt haben? Oder Paul McCartney? Ich wüsste es doch wohl, wenn er tot wäre, oder nicht?«

Von dieser Eingebung ermutigt wage ich es, die ersten Absätze des Artikels unter dem Bild zu überfliegen. »Vor allem, wenn er bereits vor zwei Tagen in irgendeinem Krankenhaus gestorben wäre. Ich wette, sie haben für alle älteren Prominenten einen Nachruf in der Schublade, und dieser ist halt irgendwie in die Zeitung gerutscht.«

Simon betrachtet mich nervös. »Das waren typische Internet-Enten. Ich glaube nicht, dass man in einer Zeitungsredaktion so nachlässig wäre.«

»Stopp!«, rufe ich mit erhobenem Zeigefinger und schnappe mir mein Handy.

»Rufst du deine Mutter an?«, fragt Simon.

»Nein, ich schaue bei Wikipedia nach.«

Normalerweise würde Simon an dieser Stelle darüber spotten, dass diese Internet-Plattform für meine Generation zu einem Gradmesser der Wirklichkeit geworden ist. Ich würde ihn daraufhin normalerweise wegen seines Alters aufziehen, ihm aber klammheimlich zustimmen, wie lächerlich das ist. Doch eine Welt ohne meinen Großvater ist alles andere als normal.

Dort steht es wieder: »Ernst Hoffmann starb am 5. März im Neustädter Krankenhaus.« Die schwarzen Ziffern flimmern vor meinen Augen, in meinem Kopf wummert es und plötzlich ist mir übel. Nun ist es nicht mehr nur ein einzelner Zeitungsartikel. Dann muss es stimmen. Aber wieso hat mich niemand gewarnt? Es wäre die Aufgabe meiner Mutter gewesen, es mir mitzuteilen – und zwar bereits vor zwei Tagen.

Inzwischen ist es Nachmittag. So lange habe ich gebraucht, um mich bereit zu fühlen, sie anzurufen.

»Mama, weißt du eigentlich, wie es für mich gewesen ist, es aus der Zeitung zu erfahren?«

Sie schweigt weiter. Kurz befürchte ich, dass sie es ebenso wenig gewusst hat wie ich, aber instinktiv ist mir klar, dass dem nicht so ist.

»Mama, sagst du jetzt bitte mal etwas?«, beharre ich deshalb.

Vielleicht würde ich sie schonen, wenn ich glauben würde, dass sie nur ansatzweise das Gleiche empfindet wie ich. Ich habe das Gefühl, dass mein Leben ohne den Fixstern, der mein Großvater für mich war, endgültig aus der Bahn geraten ist und ich nun in einem haltlosen Wirbel durch eine dunkle Galaxie direkt auf ein schwarzes Loch zurase. Dass es meiner Mutter genauso geht, kann ich ausschließen, denn dann hätte sie nicht schon meine erste harmlose Frage als theatralisch herabgewürdigt. Damit hat sie mich wirklich getroffen. Sie muss wissen, wie sehr ich an meinem Großvater gehangen habe, selbst wenn sie nie wirklich begriffen hat, was uns verbindet.

Ihr Schweigen in der Leitung wird von gedämpftem Stimmengewirr untermalt. Ich hätte sie für dieses Gespräch nicht in ihrem Laden anrufen dürfen, aber länger konnte ich die Konfrontation nicht aufschieben. Der Kunden wegen senkt sie die Stimme zu einem fast unhörbaren Flüstern. »Tut mir leid. Ich wusste wohl einfach nicht, was ich sagen sollte.«

Ich spüre, wie ihr Ärger darüber, dass ich sie nicht in Ruhe lasse, verglimmt, und mit einem Mal klingt sie furchtbar müde. Wie gerne wollte ich ihr alles Mögliche unterstellen und meine Wut – nun ist es heraus, ich bin doch stocksauer – noch eine Weile nutzen, um die unvermeidliche Trauer aufzuschieben. Aber in Wahrheit hat meine Mutter die Worte bloß nicht über die Lippen gebracht.

Es gibt keinen Grund, ihre Erklärung anzuzweifeln, weil sie nie Ausreden erfindet. Dabei erscheint es seltsam, dass sie eine Tatsache wie »Er ist tot« nicht aussprechen konnte, wo sie sonst nie Probleme hat, eine Sache auf den Punkt zu bringen. Sie redet nicht viel, aber wenn es etwas zu sagen gibt, tut sie das knapp, präzise und treffend. Worte waren für sie nie schmückendes Beiwerk, sondern Mittel zum Zweck. Wenn sie es nicht aussprechen kann, muss das Geschehen, das sich hinter den drei Worten verbirgt, auch für sie unfassbar sein – trotz ihrer Ablehnung ihrem Vater gegenüber. Irgendwie beschwichtigt mich diese Erkenntnis.

Nachdem meine Wut in sich zusammengesackt ist, weiß allerdings auch ich nichts mehr zu sagen. Die Sprachlosigkeit meiner Mutter hatte schon immer die Macht, auf mich abzufärben.

»Schon gut, Mama. Du hast Kunden. Kannst du mich heute Abend noch mal anrufen? Ich möchte nur gerne wissen, wie es weitergeht«, erkläre ich matt.

Sie atmet hörbar aus. Wenn ich nicht so bedrückt wäre, könnte mir dieser sprichwörtliche Seufzer der Erleichterung glatt ein boshaftes Lächeln entlocken.

»Ich rufe dich an, wenn ich aus dem Laden raus bin. Bleibst du heute Abend zu Hause?«, will sie wissen.

»Ich habe nichts vor. Steht denn schon fest, wann er beerdigt wird?«

»Vermutlich am nächsten Mittwoch«, entgegnet sie. »Ich berichte dir heute Abend alles.«

Lilly

Nun, da die schützende Schicht des Zorns weggefallen ist, schlägt die Verzweiflung mit ungedämpfter Kraft zu und ich sehne mich danach, dass Simon nach Hause kommt und mich von meinen eigenen Gedanken befreit.

Früher als erwartet höre ich seinen Schlüssel in der Wohnungstür und begrüße ihn überschwänglich mit einem Kuss. »Und, wie war es?«, frage ich.

»Anstrengend.« Dass er mich nicht ansieht, zeigt mir, dass er sich in seiner Begeisterung zurückhält, um mich damit nicht vor den Kopf zu stoßen. Als ob ich mir jemals anmerken lassen würde, wenn es so wäre!

»Erzähl schon«, fordere ich ihn auf. »Es interessiert mich wirklich.«

Ich lächle so beharrlich, dass er schließlich nachgibt. »Also gut. Es war wirklich anstrengend, aber auf eine gute Art. Der Produzent scheint viele meiner Ansichten zu teilen und hat mir so viel Freiraum wie möglich versprochen. Und um den Rest werde ich mit ihm konstruktiv streiten.« Hinter seinem siegesgewissen Grinsen steckt keine Selbstüberschätzung. Er ist deshalb so ein guter Regisseur, weil er andere Menschen mitreißen und überzeugen kann.

»Das glaube ich dir sofort.« Klinge ich zu munter?

Auch Simons letzte Regie-Arbeit ist ein Riesenerfolg gewesen. Der Schwung, mit dem er für seine Überzeugungen eintritt, ist unwiderstehlich. Er war es auch, der mich schon bei unserem ersten Gespräch vor ein paar Jahren voll gieriger Sehnsucht zu ihm hinzog. Nie zuvor hatte ich einen Mann wie ihn getroffen, der mit Worten – und ausschweifenden Gesten – mitreißende Filme in meinen Kopf projizieren konnte. Diese Leidenschaft wollte ich nur einmal auf mich gerichtet erleben und es dauerte nicht lange, bis ich mich ernsthaft in ihn verliebt hatte.

Ich war gerade 22 Jahre alt geworden und hatte soeben die Schauspielschule verlassen. Wie die meisten in diesem Alter plagten auch mich Selbstzweifel. Doch in seiner Gegenwart zeigte ich mich nie anders als selbstbewusst und erwachsen. Er verhalf mir als Regisseur meines ersten großen Films zu einem Durchbruch über Nacht.

Ich fand ihn von Anfang an anziehend, vielleicht auch wegen der Anstrengungen, die ich unternehmen musste, um in ihm ein tieferes Interesse an mir zu wecken als das eines Künstlers an seinen Werkzeugen. Später redete ich mir ein, dass ich seine Augen schon zum Glimmen gebracht hatte, bevor ihm aufging, dass ich Ernst Hoffmanns Enkelin war. Dennoch war ich mir erst sicher, ihn für mich gewonnen zu haben, nachdem zum ersten Mal der Name meines Großvaters gefallen war.

Ich saß mit Simon bei einem gemeinsamen Abendessen, zu dem ich eines dieser eng anliegenden schwarzen Kleider trug, die jede Frau erwachsen und sexy wirken lassen. Aufgeregt erzählte er mir, dass er einst von seinem ersten richtigen Gehalt die Schreibmaschine ersteigert hatte, auf der mein Großvater seinen bekanntesten Roman verfasst hatte. Mit aufreizendem Blick sah ich ihn über den Tisch hinweg an und fragte: »Interesse, auch noch etwas von seinem Genmaterial zu erwerben? Du kannst in Naturalien bezahlen.«

Simon lachte laut auf und in diesem Moment wusste ich, dass ich es geschafft hatte. Trotzdem blieb die leise Angst, dass nicht meine Schlagfertigkeit, sondern meine Herkunft ihn überzeugt hatte.

Anfangs hat er mich gerne »seine Eliza« genannt.

»Sie ist meine erste Liebe gewesen«, gestand er mir einmal. »Damals war ich schon 16 Jahre alt, ein echter Spätzünder also.«

Wir hatten schon eine ganze Weile berauschenden Sex, als ich ihm endlich verbot mich weiter Eliza zu nennen. Es stellte sich heraus, dass er meinen echten Namen ebenso gern zu wiederholen schien. Ich empfand es als ungeheuer sinnlich, wie seine Zungenspitze bei jedem der drei »L« sanft gegen seinen Gaumen schlug. Es erinnerte mich an den Anfang von Nabokovs Lolita, wodurch die Momente fast etwas Anrüchiges bekamen, das mich erregte.

Frisch verliebt drehten wir einen zweiten Film. Wir waren ein fabelhaftes Paar: die aufstrebende Jungschauspielerin, die den begnadeten Regisseur inspirierte.

Ich weiß nicht, ob Simon jetzt das Gefühl hat, mit mir abgestürzt zu sein. Er behauptet, die unsägliche Geschichte hätte nichts an seinen Gefühlen für mich geändert, aber seit Kurzem ist unser Umgang miteinander mit einer gewissen Gereiztheit aufgeladen. Ich rechne ihm hoch an, dass sie ihm weniger anzumerken ist als mir, obwohl er aus seiner Sicht viel mehr Grund dazu hätte.

Wir haben nie richtig über die Sache mit Maximilian geredet. Simon hat von Anfang an behauptet, das hätten wir nicht nötig, weil er mir vertrauen würde. Am Anfang hat mich das noch geärgert. Ich wollte ihm alles erzählen, doch irgendwann dachte ich, dass es vielleicht auch für mich so besser war.

Ein einziges Mal habe ich Simon gegenüber angedeutet, dass nichts so gewesen sei, wie er glaubte.

Mir war sein kummervoller Ausdruck aufgefallen, als er beim Durchblättern eines Magazins wieder einmal auf die Fotos stieß. Dabei hatten wir uns zu dem Zeitpunkt schon stillschweigend darauf geeinigt, Gras über die Sache wachsen zu lassen. Ich bin nicht ausführlicher geworden und er hat schnell abgewunken.

»Soll ich nicht doch mit ihnen reden?«, fragt er jetzt.

Ich weiß, worauf er anspielt, es geht um eine Rolle in seinem neuen Serienprojekt – düstere Abendunterhaltung, die den Schwung der erfolgreichen Finster-Welle nutzen will. Simon als ein Meister der düsteren Leinwand-Poesie, als schräger Typ mit einem Hang zum Exzentrischen ist genau der Richtige dafür.

Aber ich schüttele den Kopf. Verfluchter Stolz!

»Danke. Aber alle würden denken, dass ich nur deinetwegen dabei sein darf.«

»Aber wir beide würden doch wissen, dass es nichts damit zu tun hat, sondern ich dich gerne als hervorragende Schauspielerin an Bord hätte.« Es muss wohl an meinen derzeitigen Befindlichkeiten liegen, dass mich seine Worte weniger überzeugen als früher.

»Vielen Dank. Aber nein«, beharre ich.

Zum Glück für mich scheinen für Männer mit seinem Ruf andere Regeln zu gelten als für Normalsterbliche. Er kann es sich erlauben, zu einer Frau wie mir zu stehen, ohne dabei das Gesicht zu verlieren. Er ist halt genial, aber speziell.

»Ich habe heute aber auch ein anderes, sehr interessantes Angebot bekommen«, säusele ich mit übertrieben drolligem Augenaufschlag.

»So schlimm?«, fragt Simon interessiert.

»Nicht wirklich – objektiv betrachtet«, gebe ich zu. »Ich dürfte einen braven Ehemann verführen. Unter anderem in der Tiefgarage. Anschließend verfällt er in schrecklichen Selbsthass, weil er mir nicht widerstehen kann. Natürlich lässt er es an mir aus – mit noch heftigerem Sex.« Ich verdrehe mit rausgestreckter Zunge die Augen, als handele es sich für mich bloß um einen schlechten Scherz.

Simon unterdrückt ein Lachen. »Könntest du den Film und dein Leben nicht trennen? Dafür bist du doch Schauspielerin geworden.«

Sanft legt er einen Finger unter mein Kinn und bringt mich dazu, ihm in die Augen zu sehen, als sei er Humphrey Bogart in Casablanca.

»Wo ist denn bloß dein Selbstvertrauen hin, Kleines?«

»Vermutlich hängt es noch in einer Tiefgarage fest«, raune ich ironisch, bereue aber sofort meinen dämlichen Impuls, gerade dieses Thema anzuschneiden.

»Schade«, entgegnet er so ernsthaft, dass sich etwas in mir zusammenkrampft. »Es stand dir so gut.«

Für eine Millisekunde gefällt mir die Idee, der Öffentlichkeit den Stinkefinger zu zeigen und das Biest in der Tiefgarage zu spielen. Doch sofort wird mir klar, dass ich mit diesem Schritt keineswegs die Kontrolle an mich reißen würde. Ich würde mich nur noch tiefer verheddern. Es ist ein seltsames Gefühl, dass nicht mehr ich die Rollen spiele, sondern die Rollen mich.

»Vermutlich könnte ich die Figur sogar spielen und von der Realität trennen«, behaupte ich. »Aber kein anderer wird es können. Es wäre eine Form von Harakiri. Wenn ich diese Rolle annehme, werde ich für immer die Schlampe sein.«

Nachdenklich betrachtet Simon mich. Dann nickt er. »Mag sein, dass du recht hast. Warten wir also, bis jemand eine Nonne in petto hat.«

Ich will schon gereizt auf seine ironische Antwort reagieren, kann aber nur ein liebevolles Schmunzeln auf seinen Gesichtszügen entdecken.

»Die junge Mutter Teresa wäre auch nicht schlecht«, ergänze ich deshalb mit müdem Lächeln.

»Tut mir wirklich leid, Lilly«, sagt Simon sanft. »Aber vielleicht bekommt dir eine kleine Auszeit ja gerade jetzt sehr gut. Nimm dir Zeit, zu trauern und wieder neue Pläne zu schmieden. Es ist nicht notwendig, dass du gleich wieder arbeitest. Wie geht es dir denn jetzt?«

Zielstrebig marschiert er in unsere viel zu selten genutzte offene Küche. »Hast du schon mit deiner Mutter gesprochen?« Er nimmt eine Flasche Weißwein aus dem Kühlschrank und entkorkt sie mit wenigen geübten Handgriffen.

»Ja«, erwidere ich knapp.

Er stellt zwei gut gefüllte Gläser Wein auf den kleinen rustikalen Holztisch neben dem lindgrünen Sofa, das zwar in seiner Form sehr schlicht aussieht, seinen hohen Preis aber dadurch wettmacht, dass es dennoch wahnsinnig bequem ist.

Ich setze mich neben Simon und er greift nach meiner Hand und führt meine Finger sanft an seine Lippen. Die Haut seines Handrückens ist so weiß, dass seine Adern wie ein Flussdelta aquamarinblau hervortreten. Früher konnte ich die schmalen Finger kaum ansehen, ohne zu erröten, obwohl mir das selten passiert. Mit der anderen Hand greift er fest in meinen Nacken und zieht mich zu sich.

Ich kenne ihn gut genug, um zu wissen, dass seine Annäherung kein Mangel an Einfühlungsvermögen ist. Er versucht bloß, mir den Trost zu geben, den er selbst sich bei einem Todesfall wünschen würde – einen sexuellen Beweis dafür, dass man noch am Leben ist. Nervös entziehe ich mich der Umarmung, wie ich es seit Maximilian immer tue. Dass wir nicht darüber sprechen nimmt mir die Gelegenheit, Simon zu erklären, warum. Simon zieht seine Augenbrauen zusammen, als ich wegrücke, aber er schweigt.

Trotz meiner Abfuhr verfliegt die seltsame Befangenheit zwischen uns nach dem zweiten Glas Wein. Ich bin froh, dass mir der Alkohol den Job abnimmt, die Situation zu lockern.

Ich sitze an seine Brust gelehnt und er hat einen Arm um mich gelegt. Schweigend nippen wir an unseren Weingläsern.

»Was passiert eigentlich mit dem Haus?«, fragt Simon.

»Mit welchem Haus?«

»Das von deinem Großvater.«

Vor Schreck verschlucke ich mich. »Wie bitte? Wie kommst du denn jetzt darauf? Ich habe heute Morgen per Zufall erfahren, dass er tot ist. Glaubst du, ich habe schon über sein Haus nachgedacht? Sollte meine Mutter es verkaufen, sage ich dir aber gerne Bescheid. Dann kannst du es genauso ersteigern wie die Schreibmaschine«, fauche ich.

Das war es also mit meiner Coolness und dem beinahe entspannten Beisammensein. Kein Wunder, dass Simon, genervt von meiner plötzlichen Zickigkeit, die Lippen fest aufeinanderpresst.

»Entschuldigung«, lenke ich ein. »Ich glaube, ich stehe unter Schock.«

»Natürlich«, murmelt er versöhnlich. »Mir kam nur plötzlich dieser Ort in den Sinn und wie sehr du an ihm hängst. Ich dachte, wie schade es wäre, wenn er sich verändert. Unter den Nagel reißen wollte ich ihn mir sicher nicht. Es läuft gerade sehr gut, aber so reich bin ich deswegen auch wieder nicht.«

»Warum sollte der Ort sich verändern?«, frage ich überrascht.

»Ich hätte das Thema gar nicht aufbringen sollen«, sagt Simon ruhig.

»Zu spät«, erkläre ich, wobei ich versuche, meinen forschen Tonfall mit einem Zwinkern abzumildern.

»Okay.« Er räuspert sich. »Wir beide wissen, wie wenig deiner Mutter das Haus gefällt. Da wird sie es kaum behalten, oder? Außerdem wird sie sich vermutlich nicht leisten können, es zu unterhalten.«

»Keine Ahnung«, erwidere ich leichthin. Dabei macht mich die Erkenntnis, dass er recht hat, ganz beklommen und mir wird auch klar, dass mein Lieblingsort schon seit zwei Tagen ein vollkommen anderer ist. Denn der Mensch, der ihn ausgemacht hat, ist nun nicht mehr dort.

Für einen Moment schließe ich die Augen und lasse meinen Großvater unter der dunklen Leinwand meiner Lider wieder auferstehen. Ich sehe ihn vor mir, wie er schmunzelnd eine seiner unglaublichen Geschichten beendet.

»Hat sie dir gefallen?«, fragt er sanft.

Ich antworte wie immer: »Und wie!«

Leider gelingt es mir nicht, den Augenblick lange festzuhalten, und ich muss mich wieder der Gegenwart stellen.

Simon nippt noch einmal an seinem Wein und setzt sich dann auf. »Stört es dich, wenn ich noch ein wenig arbeite?«

»Jetzt noch?«, frage ich, eher überrascht als getroffen.

»Ich bleibe auch gerne hier und leiste dir Gesellschaft, wenn du möchtest«, sagt er schnell. »Aber irgendwie habe ich das Gefühl, du wärst lieber alleine.«

Irgendwie habe ich das Gefühl, dass du meine Gegenwart gerade nicht erträgst, denke ich, antworte aber stattdessen: »Schon gut, ich muss jetzt ohnehin noch einmal meine Mutter anrufen.«

Lilly

Nachdem Simon das Haus meines Großvaters erwähnt hat, habe ich während des zähen Telefonats mit meiner Mutter beschlossen, dass ich schon heute nach Lensahn fahre, um darin noch etwas Zeit für mich alleine zu haben.

Inzwischen weiß ich, dass am Montag in kleinem Kreis die Einäscherung stattfinden soll und am Mittwoch die Beisetzung, zu der dann alle eingeladen sein werden. Weil mich mein Zug ohnehin über Hamburg führt, habe ich einen Zwischenstopp zum Mittagessen bei meinen Eltern eingeplant. Meine Mutter hat mir Gulasch mit Kartoffelhaube versprochen – das war früher mein Lieblingsgericht. Ich nehme den Umweg allerdings nicht deswegen in Kauf, sondern weil es der Tonfall meiner Mutter mir unmöglich machte, ihre Bitte abzuschlagen. Sie klang beinahe verloren, was mich bei ihr so überrascht hat, dass ich weitere Vorwürfe wegen ihres Schweigens hinuntergeschluckt habe.

Normalerweise mag ich es nicht, wenn Reisende in überfüllten Zügen den Sitz neben sich mit Taschen und Jacken verbarrikadieren und genervt dreinblicken, wenn jemand sie bittet, Platz zu machen. Aber heute bin einmal ich selbst nicht in der Stimmung für Gesellschaft und stelle mich schlafend, damit niemand meine Grübeleien unterbricht. Natürlich hat Simon recht. Ich wünschte, man ließe mich eine neue Rolle einnehmen. Schon immer war das für mich die tauglichste Therapie. Leider bleiben die Aufträge seit dem kleinen Skandal aus. Und es stimmt, was ich Simon am Abend zuvor erklärt habe: Ich will nicht auf diese Art von meiner Beziehung zu ihm profitieren.

Die Brönners ließen sich von den Produzenten zusichern, dass Maximilian keine Szene mehr mit mir gemeinsam drehen muss. Diese Forderung ließ sich vergleichsweise unkompliziert umsetzen, obwohl wir ein Liebespaar spielten. Unser großes Finale, an dem wir uns heulend in den Armen liegen, hatten wir schon am ersten Drehtag hinter uns gebracht, ungefähr fünf Minuten nach unserem Kennenlernen am Set. Nach dem Vorfall in der Tiefgarage fehlten nur noch ein paar äußerst emotionale Dialoge, bei denen abwechselnd sein und mein Gesicht zu sehen ist. Da zwischen diesen Bildern ohnehin geschnitten werden musste, war es unnötig, sich für die Szenen in einem Raum zu befinden. Kein Zuschauer wird jemals merken, dass wir unsere Gefühle jeweils nur dem Regisseur, dem Kameramann, dem Beleuchter und dem Regie-Assistenten gestanden. Für eine Einstellung, in der wir gemeinsam ein Café verlassen, wurde ein Mädchen engagiert, das mir von hinten ähnlich sieht.

Die Brönners spielen in einer Liga, in der man es sich erlauben darf, solche Wünsche zu äußern. Außerdem verlangt eine Statistin keinen Cent dafür, dass Maximilian Brönner einmal den Arm um ihre Schultern legt. Der Produzent zögerte also keine Sekunde, dem Regisseur die entsprechenden Anweisungen zu geben.

Wie sehr der sich über die Fotos aus der Tiefgarage gefreut haben muss! Sie sichern dem Film reichlich kostenlose Werbung. Er ist gerade erst angelaufen und steht schon ganz oben in den Zuschauercharts. Auch wenn jeder mein Verhalten verdammt, möchten die meisten die schmutzige kleine Nummer doch ganz gerne quasi aus der ersten Reihe mitverfolgen.

Leider deuten die Produzenten das nicht als Hinweis auf weitere mögliche Kassenschlager mit mir. Während meines Schauspielstudiums mochte ich eine Hauptrolle nach der anderen ergattert haben, aber im wahren Leben stecke ich nun in einer undankbaren Nebenrolle fest. Ich bin die böse Intrigantin in der herzerwärmenden Brönner-Soap.

Deswegen verdient man lieber auf indirektem Weg Geld mit mir, von dem ich keinen Cent abbekomme: Die Auflagen der Hefte, die mich schon auf dem Titel beleidigen und möglichst unvorteilhafte Aufnahmen von mir präsentieren, sind in die Höhe geschossen. Flankiert werden diese Erzeugnisse von einem Shitstorm im Internet, der meiner Karriere den Rest gegeben hat. Plötzlich sind alle der Meinung, ich sei »immer schon überschätzt« worden.

Zu meinem großen Pech interessieren sich Produzenten heutzutage für das, was in den sozialen Netzwerken geschieht. Verdenken kann ich es ihnen nicht, wo jeder Follower ein potenzieller Zuschauer ist, der die Einspielquoten sichert.

Und selbst die wenigen, die immer noch an mein Talent und daran glauben, dass ich Besucher ins Kino locken könnte, bevorzugen es, auf eine potenzielle Unruhestifterin am Set zu verzichten. Filme werden unter einem viel zu großen Zeit- und Gelddruck produziert, als dass man sich mit sozialen und kollegialen Schwierigkeiten herumschlagen wollte.

Mir kommt die Galle hoch, wenn ich daran denke, dass der letzte Eindruck meines Großvaters von seiner Enkelin die Schmach von deren Scheitern gewesen sein muss. So zumindest kommt es mir vor. Er glaubte stets ganz fest an meinen Erfolg.

»Eines Tages wirst du etwas Großes vollbringen und die Leute werden dir zujubeln«, hatte er mir stolz versprochen.

Wir haben nur einmal darüber geredet und da ließ er mich nicht zu Wort kommen. Seine Meinung zu solchen Dingen war: »Im Leben fällt reichlich Schmutzwäsche an, nur sollte man sie nicht in der Öffentlichkeit waschen.« Obwohl mir dieser Satz wie eine Rüge vorkam, spüre ich auch jetzt noch, dass er mich nicht nach meiner Version der Geschehnisse fragen musste, um hinter mir zu stehen und mir die Kraft zu schenken, die ich brauchte.

Und dennoch habe ich ihn gerade in letzter Zeit zu selten besucht und kann mich nicht einmal mit einem Mangel an Zeit herausreden. Jetzt frage ich mich, ob es nicht – neben der Scham, ihn vorläufig enttäuscht zu haben, auch wenn er das so nie gesagt hat – auch die Angst war, ihn als alten und gebrechlichen Mann zu erleben.

Das zu vermeiden bestärkte meine kindliche Hoffnung, mein Großvater könnte tatsächlich der eine Mensch sein, dem es gelang, dem Tod von der Schippe zu springen und immer an meiner Seite zu bleiben.

Lächerlicherweise bin ich immer noch nicht bereit, sie ganz und gar aufzugeben, und genau deshalb mache ich mich auf den Weg zu ihm.

Ich bin froh, als wir endlich in den Hamburger Hauptbahnhof einfahren. Und sobald ich die vertraute Wandelhalle betrete, denke ich wehmütig und bang zugleich: »Zu Hause!« Am Ausgang zur Kirchenallee entdecke ich meinen Vater. Unsere Wohnung liegt kaum zehn Gehminuten vom Bahnhof entfernt. Es ist typisch für ihn, dass er seine große Kleine trotzdem abholt. Während wir uns umarmen, murmelt er: »Tut mir leid, Schatz.«

Am liebsten würde ich meinen Kopf an seinem Hals vergraben und dort heulen, bis er den Schmerz weggepustet und ein Pflaster auf die Wunde geklebt hat. Stattdessen mache ich mich gleich wieder los, ohne eine Träne vergossen zu haben, um uns nicht in Verlegenheit zu bringen. Mein Vater kennt mich gut genug, um zu wissen, dass mir in solchen Momenten eine Ablenkung die größte Hilfe ist. Er räuspert sich einmal, bevor er mich unterhakt und von der Qualität des Fleisches schwärmt, das er auf dem Wochenmarkt erstanden hat.

Als wir das Bahnhofsgebäude verlassen, fällt mir wieder einmal auf, wie bunt unser Stadtteil ist. Viele Außenstehende sehen hier auf der »falschen« Seite des Bahnhofs nur die Junkies, Prostituierten und brotlosen Künstler. Dabei gab es hier immer schon normale Familien wie uns, die zentral leben wollten und es woanders nicht hätten bezahlen können.

Mittlerweile hat sich der Stadtteil verändert. Heute bereist der Besucher vier Welten in den drei Straßenzügen, die für mich St. Georg ausmachen. In der Langen Reihe sind die Mieten heute unerschwinglich und entlang der schmalen Fußwege schießen Cafés mit Tischen und Stühlen davor wie Pilze aus dem Boden, während sich in den Garagen riesige SUVs verstecken. Reiche Kreative, Hipster oder Menschen, die ihren Reichtum verborgenen Quellen verdanken, speisen hier beim Italiener, Portugiesen, Araber oder Asiaten, um zu sehen und gesehen zu werden. An einigen Häusern wurde außerdem die Regenbogenfahne gehisst, weil sich hier viele Homosexuelle niedergelassen haben, die hier händchenhaltend durch die Straßen schlendern können, ohne dass jemand sie anstarrt wie rosa Kaninchen.

Nur zwei Straßen weiter reihen sich auf dem Steindamm die türkischen Gemüse- und Dönerläden aneinander. Und abends stehen in den traurigen Hauseingängen wie seit jeher Prostituierte, die älter, heruntergekommener, verzweifelter aussehen als die auf dem Kiez.

In einer Seitenstraße dazwischen wohnen meine Eltern. Dort gibt es Bäume, eine Schule und einen Spielplatz: Kleinstadtidylle ganz in der Nähe des Hansaplatzes, auf dem sich all die Großstadt-Klischees auf kleinstem Raum begegnen.

Wie immer liegen am Brunnen auch jetzt Penner neben Bierdosen. Auf den Pollern hocken grimmig dreinblickende Dealer und daneben knabbern türkischstämmige Rentner friedlich ihre Sonnenblumenkerne. Es gibt immer noch eine Erotik-Videothek. Das Schockierendste daran ist allerdings, dass manche Menschen tatsächlich noch VHS-Kassetten und Videorekorder zu besitzen scheinen. Doch auf der anderen Seite des Platzes lauern bereits modisch gekleidete Menschen mit E-Zigaretten und Ray-Ban-Sonnenbrillen auf den endgültigen Untergang jeder Subkultur. Sie schlürfen ihren Hugo auf den mit weißen Fellen bezogenen Lounge-Sesseln. Bei den Preisen, die sie für schicke, neu gebaute Wohnungen in diesem Viertel gezahlt haben, bleibt ihnen gar nichts anderes übrig, als darauf zu setzen, dass sie es bald ganz übernehmen werden. Noch steht es allerdings unentschieden.

Es würde etwas fehlen, wenn sie sich durchsetzten. Ich bin mir sicher, dass mir die vielfältigen Beobachtungen, die ich als Kind auf so kleinem Raum machen konnte, in meiner Ausbildung sehr nützlich waren.

Wir hatten den meisten Stadtbewohnern etwas voraus, meine Eltern haben einen Garten. Die Blumen, die meine Mutter links und rechts der Haustür in Kübeln pflanzt, geben einen Vorgeschmack darauf – derzeit sind es Schneeglöckchen und eine rotblühende Zaubernuss, die zwischen grauem Asphalt und kahlen Straßenbäumen den Blick auf sich ziehen. Unwillkürlich muss ich lächeln, als ich sie sehe, auch wenn ich mich tags zuvor noch so sehr über meine Mutter geärgert habe.

»Wann kommt Mama nach Hause?«, frage ich meinen Vater, während ich mir auf dem Boden hockend die Schuhe ausziehe.

»Es kann nicht mehr lange dauern«, sagt er. »Hast du die Zaubernuss gesehen? Sie ist so prächtig geworden, aber sie will sie einfach nicht in den Innenhof stellen. Dabei sehe ich nicht ein, warum nur die Fremden etwas davon haben sollen. Im Garten würden wir sie vom Wohnzimmer aus sehen.

Zu der heckenumrankten Parzelle vor der Terrassentür haben nur wir Zugang. Sie zeigt zwar nach Norden, sodass die Pflanzen nicht viel Sonne abbekommen, aber meine Mutter hat die Herausforderung erfolgreich angenommen, mit Schattenblühern eine bunte Oase zu schaffen. Ich mochte die Tränenden Herzen immer am liebsten, wegen ihres poetischen Namens und weil die rosafarbenen Blüten tatsächlich wie ein Herz geformt sind, von dem eine Träne herabbaumelt. Mit dschungelartigem Farn, zartvioletten Herzlilien und pinkfarbenen Bergenien schuf sie einen perfekten Ort für gemütliche Abendessen an lauen Sommerabenden.

Wenn ich als Kind wählen durfte, gab es meist Nudeln, zu denen ich Traubensaftschorle trank und meine Eltern sich einen Rotwein gönnten, den mein Vater trotz seines günstigen Preises für fein hielt, weil er seinen Namen nicht aussprechen konnte. Am schönsten war es, wenn Papa dazu eine Adriano-Celentano-CD einlegte, deren Töne durch die geöffnete Terrassentür in den Garten schwebten. Natürlich verdrehte ich jedes Mal genervt die Augen, sang aber innerlich jede Zeile mit. Heute bin ich bei meinen Freunden dafür berüchtigt, wie schlecht und leidenschaftlich ich Italo-Schnulzen johle, sobald ich etwas getrunken habe.

Sogar die Miene meiner Mutter wurde an solchen Abenden weicher. Fast wie in dem Italienurlaub, den wir uns ein einziges Mal gönnten.

Manchmal habe ich mich gefragt, warum wir so knapp bei Kasse waren, wo mein Großvater doch in einer Art Schloss wohnte. Später wurde mir klar, dass meine Mutter nicht einen Cent von ihm angenommen hätte, auch wenn ich nie ganz verstand, warum.

Erst nachdem meine Mutter den Blumenladen übernommen, viele Jahre harter Arbeit hineingesteckt und sich einen eigenen Namen mit besonderen Sträußen und Gestecken gemacht hatte, veränderte sich die finanzielle Lage meiner Eltern.

Als meine Mutter während ihrer Mittagspause zu uns stößt, erschreckt mich ihr Anblick. Sie ist immer noch auf ihre kantige Art attraktiv, aber sie ist so dünn geworden, dass die Furchen in ihrem Gesicht deutlich zu erkennen sind. Ihre blaugrünen Augen wirken matt, genau wie die kastanienbraunen Locken, die sie im Nacken zu einem lockeren Zopf gebunden hat. Sie arbeitet zu viel, denke ich. Oder ist es am Ende doch die Trauer, die sie so verhärmt erscheinen lässt? Ich weiß, dass sie momentan verzweifelt nach einer Mitarbeiterin sucht, in der sie vielleicht langfristig eine Nachfolgerin sehen könnte. Doch sie scheint noch immer niemanden gefunden zu haben. Ihr Erfolg ist hart erarbeitet. Er liegt unter anderem in der Aufmerksamkeit, die sie jedem Kunden schenkt, ohne sich jemals anzubiedern. Ihre Freundlichkeit und ihr Interesse am Kunden wirken stets so sachlich, dass sie ihr Gegenüber auf Distanz hält, aber zugleich so ehrlich, dass man ihr vertraut. Ihre Fassung verliert sie höchstens, wenn jemand auf der falschen Blumenwahl besteht.

Ich habe schon erlebt, dass sie einen Kunden, der auf Narzissen als Geschenk für seine Frau beharrte, entsetzt anfuhr: »Narzissen? Warum lassen Sie es dann nicht gleich ganz bleiben?« Es war mir peinlich, meine Mutter so zu erleben. Doch zu meinem Erstaunen kam der Kunde wieder. Anders, als ich es erwartet hatte, stärkten diese seltenen emotionalen Ausbrüche das Vertrauen der Kunden in das überlegene Wissen meiner Mutter, was Blumen anging.

Als sie mir hinterher erläuterte, dass Narzissen die Blumen des Betrugs seien, hätte ich ihr erklären können, dass der Kunde sie sicher nur als hübsche Zierde empfunden hatte. Aber ich hielt den Mund und schmunzelte über diese vernunftwidrige Komponente im sonst stets korrekten Verhalten meiner Mutter.

Die einzige andere Irrationalität, die ich mein Leben lang bei ihr ausmachen konnte, war die offensichtliche Ablehnung ihres Vaters.

Sie ist eine starke Frau. Seit sie selbst Besitzerin des kleinen Blumenladens ist, packt sie noch härter an als zu der Zeit, in der sie nur angestellt war. »Wenn man nicht mit gutem Beispiel vorangeht, wie kann man erwarten, dass die anderen gerne arbeiten?«, predigt sie mir seit jeher.

Ich weiß, was sie leistet, und sie hat meinen vollen Respekt. Aber wir sind zu verschieden. »Taten sagen mehr als Worte«, lautet ihr Motto, meines hingegen: »Mit Worten erschafft man Welten.«

Meine Mutter ist mir, selbst nachdem ich an der Schauspielschule gelernt habe, die kleinsten Nuancen im Ausdruck anderer zu lesen und zu deuten, ein Rätsel geblieben. Obwohl sie fast immer sagt, was sie denkt, ist es unmöglich zu erahnen, was sie fühlt.

»Setz dich hin und leg die Beine hoch«, fordert mein Vater sie auf. »Ich schenke uns ein Glas Wein ein. Du musst jetzt schon fix und fertig sein.«

»Warst du heute früh etwa noch auf dem Blumengroßmarkt?«, frage ich mit einem Blick auf die Uhr.

»Ja«, antwortet sie. »Ich bin um vier Uhr aufgestanden.« Sie lässt sich auf das Sofa sinken und ich setze mich daneben.

Autor

Jana Seidel
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