Das Herz der listigen Countess

– oder –

Im Abonnement bestellen
 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Endlich frei! Seit ihr Mann auf einer Expedition verschwunden ist, genießt Emma als Countess of Dearborn ihr selbstständiges Leben. Die unbedeutende kleine Tatsache, dass er verstorben ist, kehrt sie dabei geschickt unter den Teppich. Schließlich würde sich seine gierige Verwandtschaft auf sein Vermögen stürzen, wenn sie wüssten, dass Emma eine schutzlose Witwe ist! Da kommt es ihr gar nicht recht, als Luka Olivien an ihre Tür klopft. Der Earl aus dem Königreich Weslorien sieht sich in der traurigen Pflicht, Emma vom Tod ihres Gatten zu berichten. Kurzerhand beschließt die listige Countess, ihn so sehr zu betören, dass er ihre Scharade mitspielt!


  • Erscheinungstag 12.07.2025
  • Bandnummer 417
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532099
  • Seitenanzahl 384
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Julia London

Das Herz der listigen Countess

Julia London

Julia London hat sich schon als kleines Mädchen gern Geschichten ausgedacht. Später arbeitete sie zunächst für die US-Bundesregierung, sogar im Weißen Haus, kehrte aber dann zu ihren Wurzeln zurück und schrieb sich mit mehr als zwei Dutzend historischen und zeitgenössischen Romanzen auf die Bestsellerlisten von New York Times und USA Today. Sie lebt mit ihrer Familie in Austin, Texas.

2023 jährt sich die Veröffentlichung meines ersten historischen Liebesromans, The Devil’s Love, zum fünfundzwanzigsten Mal. Das vorliegende Buch ist all meinen Lesern und Leserinnen gewidmet. Den Lesern und Leserinnen, die mir schrieben, um mir mitzuteilen, dass meine Bücher sie berührt hätten. Den Lesern und Leserinnen, die mir schrieben, um eine historischen Fakt zu korrigieren. Den Lesern und Leserinnen, die sich die Mühe machten, mir zu schreiben, was ihnen nicht gefallen hat (und bei einigen war es jede Seite). Den Lesern und Leserinnen, die Rezensionen und Kommentare in den sozialen Medien geteilt und in Buchclubs über meine Bücher gesprochen haben. Ich bin Ihnen allen dankbar. Sie alle haben es möglich gemacht, dass ich meinen Traumjob ausüben darf.

Vielen Dank für einfach alles!

Julia London

„Vor einer Stunde dachte ich noch, dass ich dich mehr liebe, als eine Frau jemals einen Mann geliebt hat, aber eine halbe Stunde später wusste ich, dass das, was ich vorher gefühlt hatte, nichts im Vergleich zu dem war, was ich dann fühlte. Wiederum zehn Minuten später verstand ich, dass meine vorherige Liebe eine Pfütze war im Vergleich zur hohen See vor einem Sturm.“

– William Goldman, The Princess Bride

1. KAPITEL

Butterhill Hall

England

1871

Emma Clark dachte ernsthaft darüber nach, sich einen Liebhaber zu nehmen. In ihr tobte ein Verlangen, das dazu führte, dass sie Männer – alle Männer, ob klein oder groß, schlank oder rundlich, alt oder jung – mit Lust ansah.

Eine sündige und wahrscheinlich unverzeihliche, aber unbestreitbare Tatsache.

Nachdem sie die Mitglieder ihres Haushaltes als potenzielle Kandidaten in Augenschein genommen hatte, hatte sie sich für Mr. John Karlsson entschieden, den neuen Stallmeister auf Butterhill Hall. Er sah aus, als wäre er etwa in ihrem Alter – zweiunddreißig Jahre –, hatte flachsblondes Haar, Arme, die so dick waren wie ihre Oberschenkel, und ein vergnügtes Lächeln, das in seinen blauen Augen funkelte.

Sie hatte es sich zur Gewohnheit gemacht, zu den Ställen zu gehen, um ihm beim Training der Pferde zuzusehen. „Das Pferd ist heute aber ganz schön bockig!“, rief sie ihm dann zum Beispiel zu.

Woraufhin er lachte. „Toby würde direkt zum Meer laufen, wenn ich ihn ließe.“

Oder sie bemerkte, wie überaus gepflegt das Erscheinungsbild der Tiere war. „Sie glänzen so schön“, sagte sie anerkennend, und er erwiderte stolz: „Ja, Mylady, ich habe einen neuen Burschen, der versteht es, mit der Bürste umzugehen.“

Manchmal, wenn einer der Stallburschen ein Pferd auf dem Paddock herumscheuchte, um dessen Gänge zu prüfen, stand Mr. Karlsson im Paddock mit dem Rücken zum Zaun, die Ellbogen auf das Geländer gestützt, und schaute zu. Er nahm seinen Hut ab und fuhr sich mit den Fingern durch die Haare. Er roch nach Pferd und nach Sonne und Salz.

Emma stieg dann gern neben ihn auf die untere Verstrebung des Zauns und beugte sich zu ihm, um mit ihm Smalltalk zu machen. Sie spielte verschiedene Szenarien in ihrem Kopf durch, verschiedene Möglichkeiten, wie sie ihn fragen könnte, ob er eine Geliebte haben wollte. Das meiste verwarf sie als nicht zielführend oder peinlich. Es lag ihr nicht, einen Mann zu bezirzen, und sie war sich auch nicht im Klaren darüber, was als anstößig und was als verführerisch angesehen werden könnte. Sie hatte sogar darüber nachgedacht, ihre verheiratete Schwester in dieser Sache zu konsultieren, aber es stand zu befürchten, dass Fanny ob ihres Ansinnens mit Entsetzen reagierte und einen ganzen Nachmittag damit verbringen würde, ihr eine Standpauke zu halten, warum sie so etwas niemals tun dürfe.

Dann hatte Emma beschlossen, dass er derjenige sein sollte, der den Vorstoß wagte, und überlegte, wie sie ihn dazu bringen könnte, ihr ein unmoralisches Angebot zu machen.

Nach tagelangem Plaudern über Pferde war sie allerdings zu dem Schluss gekommen, dass es nie zu etwas führen würde, wenn sie nicht die Zügel in die Hand nähme. Ironischerweise hatte sie plötzlich eine Idee, die von allen, die ihr im Kopf herumgegangen waren, die am wenigsten ungeheuerliche zu sein schien – sie würde ihn bitten, ein Pferd für sie zu satteln. Sie war nicht die beste Reiterin, aber für ihren Zweck reichten ihre diesbezüglichen Künste vollkommen aus, und sie dachte, es könnte ihr gelingen, sich vom Pferd zu stürzen, und zwar auf eine so dramatische Weise, dass ihre Rettung erforderlich sein würde.

Sie hoffte nur, dass es nicht allzu arg wehtun würde. Oder dass sie sich weder Arm noch Bein brach. Oder noch schlimmer, das Genick.

An dem Tag, an dem sie ihren Plan ausführen wollte, machte sie sich früh auf den Weg zu den Ställen. Aber als sie dort eintraf, musste sie feststellen, dass Mr. Karlsson in Begleitung eines jungen Mädchens von vielleicht sieben oder acht Jahren war. Sie hatte dasselbe flachsblonde Haar wie er und war genauso schlank gebaut. Emma beobachtete, wie er das Mädchen hochhob und herumwirbelte, sodass ihre Zöpfe wie Luftschlangen flogen. Das lachende Mädchen war ihm wie aus dem Gesicht geschnitten. Was bedeutete, dass er mit hoher Wahrscheinlichkeit verheiratet war.

Was leider auch auf Emma zutraf.

Na ja. Sie änderte ihren Kurs und entfernte sich rasch in eine andere Richtung, wobei sie ihre enttäuschten Hoffnungen, ihn als Liebhaber zu gewinnen, hinter sich ließ. Zugegeben, es gab noch andere Hindernisse als eine Ehefrau, von denen sie nicht gewusst hätte, wie sie sie überwinden sollte. Zum Beispiel die leidige Tatsache, dass sie die Countess of Dearborn und damit Mr. Karlssons Dienstherrin war. Ethik und Moral spielten dabei wahrscheinlich eine Rolle, aber sie dachte lieber nicht eingehender darüber nach.

Frustriert marschierte sie weiter. Was sollte eine Frau in ihrem Alter tun, wenn der eigene Ehemann für Monate nach Afrika oder an einen anderen weit entfernten Ort verschwand, und es kein Anzeichen dafür gab, dass er jemals zurückkehren würde? Nicht, dass sie sich danach gesehnt hätte, dass dieser unerträgliche Mensch zurückkehrte. Aber das bedeutete nicht, dass sie ihre persönlichen Wünsche aufgegeben hatte.

Emma hatte Albert nicht immer unerträglich gefunden. Vor Jahren, als er um sie warb, war er der perfekte Gentleman gewesen. Er und seine Mutter kamen zum Dinner, und er bezauberte sie und ihre Familie, indem er nach dem Essen ein Sonett las oder mit Fanny ein Lied sang. Er begleitete sie zur Kirche und zurück und pflückte unterwegs Wildblumen für sie, die er in ihre Haube oder ihr ins Haar steckte. Er besuchte sie und Fanny, und sie spielten Karten und lachten.

Es war alles so aufregend gewesen und genau so, wie Emmas Mutter ihr versprochen hatte, dass die Liebe sein würde.

Ihre Eltern waren begeistert, als Albert Clark, der Earl of Dearborn, um ihre Hand anhielt, und hatten sie glücklich in den heiligen Stand der Ehe entlassen, mit einer bescheidenen Summe Erspartes für den Fall, dass sie jemals eigenes Geld brauchen würde. Emma war sich ihrer und Alberts gegenseitiger Zuneigung so sicher gewesen, dass sie glaubte, sie würde es nie brauchen. Die Summe war beiseitegelegt worden und hatte still und leise einen kleinen Zins eingebracht.

Sie hatte sich vorgestellt, mit Albert wahres Eheglück zu erleben. Sie hatte sich Abende vorgestellt, die sie gemeinsam verbrachten, während er Sonette las und sie lauschend Handarbeiten verrichtete. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie gelegentlich Gäste einladen würden, sich aber gegenseitig in dem überfüllten Raum ansehen und feststellen würden, dass sie ihre traute Zweisamkeit der Gesellschaft anderer vorzogen. Sie hatte sich vorgestellt, dass sie ausgiebige Spaziergänge um den See machen und nach London reisen würden und lange Winternächte im Bett verbringen und sich lieben würden.

Das Problem mit Erwartungen, so hatte sie feststellen müssen, war, dass sie der Realität selten gerecht wurden.

Merkwürdigerweise schien Albert von Anfang an gleichgültig gegenüber einer intimen Beziehung zu sein. Das war genau das Gegenteil von dem, was Fanny ihr in Aussicht gestellt hatte. Fanny sagte, sie habe die ersten Monate ihrer Ehe damit verbracht, ihren Mann mehrmals am Tag abzuwehren. Nicht so Emma. Manchmal schien Albert regelrecht gereizt zu sein, wenn es daran ging, sich gemeinsam zu Bett zu begeben. Und wenn er seiner ehelichen Pflicht nachkam, war er nicht der Typ, der sich Zeit ließ – er wollte es so schnell wie möglich hinter sich bringen. Emma hatte alles versucht, was ihr einfiel, um es für ihn angenehmer zu gestalten, was in Wahrheit nicht viel gewesen war. Und wenn sie versuchte, etwas anderes auszuprobieren, sagte er, dass sie es nur verschlimmere.

Und doch war Albert davon besessen, den obligatorischen Erben zu zeugen. Leider verlangte die menschliche Biologie dafür, über ein funktionierendes Geschlechtsorgan zu verfügen, und das war bei ihm immer seltener der Fall. Jedes Mal, wenn er versagte, wurde er wütend und beleidigend. Jedes Mal, wenn Emma nicht schwanger geworden war, gab er ihr die Schuld dafür. Jeden Monat versuchten sie es aufs Neue, aber der Akt lief rau und ohne Zuneigung ab. Sie hatte begonnen, sich wie ein beliebiges Gefäß zu fühlen, missbraucht und nicht gewürdigt.

Bald begann er, ihr nicht nur die Schuld dafür zu geben, was innerhalb des Ehebettes alles schieflief, sondern auch für das, was außerhalb davon geschah. Er machte sie schlecht und putzte sie vor Familie und Freunden herunter. Alles, was sie sagte, wurde der Lächerlichkeit preisgegeben. Er mied ihre Gegenwart und erzählte anderen, dass ihre Gesellschaft ihn reizbar machte.

Emma glaubte aufrichtig, dass sie sich so sehr bemüht hatte, wie es nur menschenmöglich war, aber irgendwann fing sie an, ihren Ehemann zu verabscheuen. An dem Tag, an dem er verkündete, dass er auf Expedition nach Afrika gehen würde, hätte sie nicht glücklicher sein können. Er sagte, er müsse gehen und „einen klaren Kopf bekommen“ und wisse nicht, wie lange er weg sein würde.

Emma freute sich insgeheim und malte sich aus, wie sie als Witwe ihr Leben gestalten würde, falls er von einem Nashorn aufgespießt würde. Seine Familie hingegen war verzweifelt. Was war mit dem Anwesen? Wer würde sich um seine Frau kümmern? Wie konnte er sie mit Emma allein lassen?

Seine ältere Schwester Adele war eine alte Jungfer, die sich um seinen vierzehnjährigen Bruder Andrew kümmerte. Der Junge brauche Albert, sagte Adele. Und war es nicht Alberts Pflicht, in England zu bleiben, bis er einen Erben gezeugt hatte? „Deine Frau hat ihr dreißigstes Lebensjahr überschritten, Albert“, erklärte sie. „Du hast nicht mehr lange, bis sie dir nicht mehr von Nutzen ist.“

„Sie nützt mir jetzt schon nichts mehr“, erwiderte er scharf.

„Ich sitze genau hier“, hatte Emma die Geschwister erinnert. „Du weißt doch, dass ich eine Person bin und nicht nur eine Gebärmutter, oder?“

Daraufhin erhielt sie eine Moralpredigt, weil sie ihre angeblich unfruchtbare Gebärmutter erwähnt hatte.

Schließlich stellte sich Albert taub gegenüber den Bitten seiner Schwester und machte sich zum Aufbruch bereit. Insgeheim war Emma vor Glück wie benommen. Sie sagte, sie hoffe, der Wind blase ihm immer in den Rücken, und insgeheim hoffte sie, der Wind bliese ihn bis nach China und er würde nie zurückkehren.

Und tatsächlich waren es zehn wunderschöne Monate gewesen, seit Albert fort war. Emma hatte wieder begonnen, sich selbst zu spüren, frei zu sein, sie selbst zu sein, ohne Angst vor Herabsetzung. Sie vermisste ihn nicht im Geringsten. Was sie wollte, war Liebe – körperliche, emotionale, alles verzehrende Liebe –, und das würde sie von ihm nie bekommen.

Sie begann zu befürchten, dass sie niemals die Liebe erleben würde, nach der sie sich nahezu verzweifelt sehnte. Sie genoss die Zeit ohne ihn, lebte ihr Leben, spielte die Rolle der Countess und, in Abwesenheit ihres Mannes, die der Gutsherrin. Sie aß allein, schlief allein, verbrachte Nächte allein vor dem Kamin. Und obwohl das unendlich viel erstrebenswerter war, als diese Zeit mit Albert zu verbringen, sorgte dieser Zustand für Einsamkeit.

Sie betrat die Halle in einer etwas mürrischen Stimmung und warf ihren Hut achtlos auf ein Beistelltischchen. Feeney, der Butler, kam herbeigeeilt, um sich ihres Hutes anzunehmen. „Sie haben einen Besucher, Mylady“, sagte er. „Mr. Victor Duffy.“

Sie hatte so selten Besucher. „Wer ist das?“

„Das hat er nicht gesagt. Er sagte, er hätte Neuigkeiten für Sie.“

Neuigkeiten für sie? Wie seltsam. Es hatte wahrscheinlich etwas mit dem Stadthaus in London zu tun. Eine Steuer oder so etwas in der Art. „Danke, Feeney. Was auch immer es ist, ich werde es schnell klären und ihn wieder seiner Wege schicken, also bleiben Sie in der Nähe.“

„Sehr wohl, Mylady“, sagte Feeney.

Der Mann, der im Empfangsraum stand, trug einen ausgeblichenen Mantel, dessen Ärmel und Saum ausgefranst waren. Um seinen Kragen hatte sich ein Schmutzring gebildet. Seine Weste spannte über seinem Bauch, und er hatte sein schütteres Haar so weit wie geschickt über den Kopf gekämmt. Er hustete, als sie eintrat, und versuchte rasch, den Husten zu unterdrücken, aber wie es beim Husten nun einmal so ist, bahnte er sich seinen Weg. „Lady Dearborn“, sagte er und hustete erneut.

Emma trat unwillkürlich einen Schritt zurück. „Guten Tag, Sir. Wie kann ich Ihnen helfen?“

Er hustete abermals heftig und holte ein zerknittertes Taschentuch aus seiner Tasche, um sich den Mund abzutupfen. „Ich bitte um Verzeihung. Mir geht es bestens, aber ich glaube, ich habe etwas im Hals. Irgendetwas von draußen.“ Er tupfte sich die Stirn ab, die, wie Emma bemerkte, mit Schweißperlen übersät war. „Ich komme aus Ägypten.“ Er hustete erneut. „Mit Neuigkeiten von Ihrem Mann“, krächzte er.

„Albert?“ Oh nein. „Wie geht es ihm?“

Mr. Duffy griff in seinen Mantel, holte einen Umschlag heraus und hielt ihn ihr hin.

Von ihrem Standpunkt aus konnte sie die charakteristische Handschrift ihres Mannes erkennen. Sie machte keine Anstalten, ihn anzunehmen. „Der ist von Albert?“

Er nickte.

„Sie kommen den ganzen Weg aus Ägypten, um mir einen Brief zu überbringen?“

Er nickte wieder.

Emma seufzte. „Er hätte ihn vielleicht per Post schicken und Ihnen die Mühe ersparen können, Mr. Duffy.“ Vorsichtig zog sie ihm den Brief aus der Hand.

Mr. Duffy hustete erneut kurz. „Leider, Madam, habe ich traurige Nachrichten für Sie. Sie möchten sich vielleicht setzen.“

Nun hatte er ihre ganze Aufmerksamkeit. Was könnte schlimmer sein als die Nachricht, dass Albert nach Hause kommen würde? „Ich bin kräftiger, als ich aussehe. Was gibt es Neues?“

Er hustete. Was auch sonst? Langsam sah er ein wenig grau aus. „Möchten Sie einen Schluck Wasser, Mr. Duffy?“

„Nein, nein. Bitte machen Sie sich keine Umstände. Ich bitte um Entschuldigung. Wie ich bereits sagte, ist es meine feierliche und schmerzliche Pflicht, Ihnen mitzuteilen, dass Ihr Ehemann … gestorben ist.“

Emma erstarrte. Sie war davon überzeugt, dass sie sich verhört hatte.

„Gestorben?“

„Gestorben. Gelbfieber.“

Sie war fassungslos. So fassungslos, dass sie ihm nicht glaubte. „Was?“ Konnte das wahr sein? Konnte Albert wirklich tot sein? „Sind Sie sicher?“

„Durchaus.“ Er griff wieder in seine Tasche und holte einen kleinen Lederbeutel heraus. Er öffnete ihn, und Alberts Siegelring fiel heraus. „Er wurde sofort beerdigt, wie es dort in Ägypten üblich ist.“

„Beerdigt?“ Sie starrte den Mann mit offenem Mund an, während ihre Gedanken rasten. Albert war tot? Vor Verwirrung, Trauer und Freude zugleich drohte sich ihr, der Magen umzudrehen. „Waren Sie schon bei seiner Schwester?“

„Nein, Mylady. Ich bin zuerst zu Ihnen gekommen.“ Er versuchte, einen weiteren Hustenanfall zu unterdrücken.

„Oh je“, sagte sie und wandte sich von ihm ab, um sich zu beruhigen.

Mr. Duffy hustete und sagte heiser: „Soll ich Ihren Butler rufen? Jemanden, der Ihnen hilft?“

„Nein, nein. Ich … ich komme zurecht.“ Sie presste sich eine Hand gegen die Stirn. Würde sie zurechtkommen? Sie starrte nachdenklich die Wand an. Was bedeutete das Ganze für sie? Wie würde seine Familie reagieren? Was würde mit ihr geschehen? Hatte er ein Testament hinterlassen? Wie nachlässig von ihr, nie danach gefragt zu haben.

Ein plötzlicher, gewaltiger Aufprall schreckte sie auf, und sie wirbelte herum. Mr. Duffy lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Teppich. „Mr. Duffy!“, rief sie und eilte zu ihm. Sie brauchte all ihre Kraft, um ihn auf den Rücken zu drehen. Seine Augen traten hervor, und sein Gesicht färbte sich blau. Emma schob den Brief in ihre Tasche, rannte zur Tür und rief nach Feeney.

Der Butler kam angerannt, gefolgt von zwei Lakaien. Einer der Lakaien versuchte, den Knoten in Mr. Duffys Halstuch zu lösen, aber es war zwecklos. Mr. Duffy war tot.

Sie trugen den Mann in ein Schlafzimmer und legten ihn dort aufs Bett, um in Ruhe zu entscheiden, was mit ihm geschehen sollte. In dem Chaos und den Tagen, die auf den überraschenden Tod des fremden Besuchers folgten, fragte niemand, warum Mr. Duffy überhaupt gekommen war. Emma war dankbar dafür, denn so hatte sie eine Chance zum Durchatmen, und währenddessen wurde ihr klar, dass, wenn Mr. Duffy zuerst zu Adele gegangen wäre, bevor er Emma aufgesucht hatte, Alberts kleiner Bruder jetzt der Earl gewesen wäre.

Und sie wäre … was? Aufgeschmissen, das wäre sie, mit nichts als ihren Ersparnissen als Rückhalt. Sie machte sich keine Illusionen darüber, wie Adele zu ihr stand und wozu sie Andrew zwingen würde.

Und dann kam ihr ein Gedanke: Sie war die einzige Person, die wusste, dass Albert tot war. Es würden keine sterblichen Überreste ihres Mannes plötzlich auftauchen, und anscheinend hatte sich sein einziger persönlicher Gegenstand in dem Lederbeutel befunden, den Mr. Duffy ihr mitgebracht hatte.

Wenn alle davon ausgingen, dass Albert noch am Leben war, konnte Emma so weitermachen wie in den letzten zehn Monaten und ihr Leben nach ihren eigenen Vorstellungen leben.

Den Brief, den Mr. Duffy überbracht hatte, musste Albert geschrieben haben, bevor er krank geworden war, so zumindest vermutete sie. Er teilte ihr darin kurz mit, dass er zu Weihnachten nach Hause kommen werde.

Emma versteckte den Siegelring an einem Ort, an dem ihn niemand finden konnte. Sie verbrannte Alberts Brief in dem Kamin in ihrem Zimmer. Sie sagte niemandem etwas. Nicht einmal Carlotta, ihrer Zofe und Freundin.

Emma war sehr gut darin, Geheimnisse für sich zu behalten.

2. KAPITEL

Kairo, Ägypten

Zwei Monate später

Der Souk, der Markt von Kairo, war so überfüllt, dass Luka Olivien geradezu überwältigt war von der schieren Masse an Menschen. Es erinnerte ihn an seine Kindheit, als seine Gouvernante ihn zum Weihnachtsmarkt in St. Edys, Weslorien, mitgenommen hatte. Er hatte sich an ihre Hand geklammert, aus Angst, in das Meer von Menschen hineingezogen und wer weiß wohin verschleppt zu werden. Das hier war ähnlich, nur noch größer und noch voller.

Er war erschöpft und vollkommen verdreckt von der Reise. Er hatte monatelang mit einem nomadischen Beduinenstamm in der Wüste gelebt. Er hatte unter der Anleitung eines englischen Gelehrten, eines Ägyptologen und Anthropologen, gearbeitet, den er vor einigen Jahren kennengelernt hatte. Er hatte Professor Henley geschrieben und sein Interesse an Ägypten bekundet, und Henley hatte ihn ermutigt, eine Forschungsreise zu unternehmen, und sogar gesagt, er werde bei der Gestaltung des Buches helfen, das Luka zu schreiben gedachte. Also war Luka nach Ägypten gereist, um Handel und Wanderungsbewegungen der Beduinen zu forschen, um die Wüstenwirtschaft innerhalb der Infrastruktur von Wadis, Oasen und alten Routen besser zu verstehen. Er war Anthropologe, hatte in Eton studiert und war obendrein zusätzlich von einem der besten Anthropologen in St. Edys ausgebildet worden.

Sein privilegierter Stand machte es ihm möglich, als Wissenschaftler zu arbeiten und zu Forschungszwecken zu reisen. Mit anderen Worten: Wenn er sich nicht mit Anthropologie beschäftigte, war er der weslorische Comte ve Marlaine, der Sohn des Duke of Astasia.

Er erhaschte einen Blick auf sich selbst in einer Fensterscheibe und schrak innerlich zusammen. Seit Monaten trug er die traditionelle Beduinenkleidung Thawb und Kufiya. Der rote Staub der Wüste hatte sich irgendwie in seine Haut eingegraben. Ein dunkler Schweißrand verunzierte seinen Hut. Seine Lederstiefel hatten Risse bekommen. Sein Bart juckte ihn wie verrückt, und er konnte es kaum erwarten, ihn loszuwerden – aber er hatte sein Rasiermesser bei einem Halt an einem Wadi zerbrochen. Sein Hemd war mit getrocknetem Blut von einer Schlägerei befleckt, in die er in einer Oasenstadt hineingezogen worden war. Manchmal gefiel Männern in diesem Teil der Welt das Aussehen von Männern aus seinem Teil der Welt nicht. Wer könnte es ihnen verübeln? Es schien, als würden die Europäer in Scharen kommen, um die Lebensweise der Menschen in der Wüste infrage zu stellen und einer Kultur ihren Stempel aufzudrücken, die sehr lange Zeit ohne sie gut zurechtgekommen war.

Die Menschenmenge auf dem Souk war erdrückend, aber Luka kämpfte sich durch und blieb bei verschiedenen Ständen stehen, um Geschenke für zu Hause zu besorgen. Er kaufte ein goldenes Armband für seine jüngere Schwester Dagna. Einen Elfenbeinkamm für seine ältere Schwester Ester. Er kaufte Sattelöl, um seine rissigen Lederstiefel damit zu behandeln. Für die Gunkopfs, seine Freunde und großzügigen Gastgeber in Kairo, erstand er auch eine Kleinigkeit: für Heda Seide und am nächsten Stand Zigarren für ihren Ehemann Boris.

Er und Boris, ein Deutscher, hatten sich vor mehr als einem Jahrzehnt in Eton kennengelernt, wohin viele europäische Adelsfamilien und wohlhabende Familien ihre jungen Söhne zur Ausbildung schickten. Boris und Luka waren schnell Freunde geworden und es all die Jahre geblieben. Boris war jetzt Bankier. Er lebte seit vielen Jahren in Kairo und verlieh Geld an ägyptische Geschäftsleute. Offenbar war dies recht lukrativ – er lebte hier recht gut.

Luka tätigte noch einen weiteren Kauf, ein Schmuckstück, das der sternförmigen blauen Lotusblume ähnelte. Es bestand aus Diamanten und Saphiren, mit einem Bernstein in der Mitte. Für die alten Ägypter war der blaue Lotus ein Symbol für Wiedergeburt und Unsterblichkeit. Luka hatte niemanden Bestimmtes im Sinn für das Stück. Aber er mochte die Symbolik und kaufte es als Souvenir für sich selbst.

Nachdem er seine Einkäufe erledigt hatte, ging Luka weiter, vorbei an Bettlern, denen er ein paar Münzen zuwarf, und an schreienden Eseln, denen Körbe auf den Rücken geschnallt waren. Ein paar Kamele lagen im Schatten und ruhten sich aus. Junge Männer schlossen illegale Wetten in dunklen Hauseingängen ab. Er bog in eine Seitenstraße ein und von dort in eine ruhigere Straße, in der die Häuser größer und die Geräusche des Marktes nur noch entfernt zu hören waren. Dies war Shabah Ziqaq oder die Geistergasse, die ihren Namen zu Recht trug. Die Atmosphäre war so seltsam, dass Luka unwillkürlich seine Schritte beschleunigte.

Am Ende der Gasse befand sich ein dreistöckiges, rechteckiges Haus mit bemalten Gesimsen über den Fenstern. Durch das Tor konnte er eine kunstvoll geschnitzte Eingangstür aus Holz sehen. Das Haus hatte vier kleine Türme an jeder Ecke, und auf den Türmen befanden sich Falkenskulpturen. Zwischen den Falken spannte sich ein farbenfroher Stoffbaldachin über eine Dachterrasse.

Er betrat das Anwesen durch das Eisentor und überquerte den Hof. Mehrere tropische Pflanzen, die er sonst nirgendwo in Ägypten gesehen hatte, standen um zwei Springbrunnen herum. Er ging über den Granitweg zur Tür und klopfte an.

Ein dunkelhäutiger Mann mit Turban, dessen Gesicht von der Sonne gezeichnet war, öffnete. Es war Mustafa, der Hausdiener.

Luka verbeugte sich. „Masa alkhair“, sagte er. „Guten Abend. Ist Mr. Gunkopf da?“

Mustafa sagte nichts – nach Lukas Wissen sprach er selten –, sondern winkte ihn herein. Er wandte sich in Richtung Hauptsalon, als Boris plötzlich grinsend auftauchte. Er trug die traditionelle ägyptische Galabya, ein langes, weißes Gewand mit großzügigem Schnitt. Boris’ blondes Haar war unbedeckt. „Luka!“, rief er und breitete die Arme aus, als wollte er ihn umarmen. „Was für eine wunderbare Überraschung. Wir haben dich erst in einem Monat erwartet.“

„Ich hoffe, ich falle euch nicht zur Last …“

„Unsinn! Natürlich nicht, mein Freund. Komm, komm“, sagte er und bedeutete Luka, ihm in den Salon zu folgen.

„Luka ist hier?“ Boris’ Frau Heda erschien ebenfalls in der gefliesten Halle. Im Gegensatz zu ihrem Mann trug sie ein Kleid im Stil der europäischen Mode. In mancher Hinsicht waren sie ein sehr seltsames Paar. „Wir freuen uns so, dass du gekommen bist!“, trällerte sie, kam auf ihn zu, packte ihn an den Schultern und zog ihn zu sich heran.

„Heda, ich bin ganz schmutzig …“

„Das ist mir egal“, sagte sie und küsste ihn auf beide Wangen. „Wir haben so viel Post für dich!“

Die Gunkopfs waren die freundlichsten Menschen, die er je kennengelernt hatte. Boris hatte darauf bestanden, dass Luka sein Gepäck bei ihnen aufbewahrte und seine Post hierher schicken ließ. „Lass dies deine Basis sein“, hatte er gesagt.

„Ich hole die Briefe“, sagte Heda. „Einer davon scheint sehr wichtig zu sein!“

„Du musst hungrig sein“, meinte Boris. „Mustafa! Unser Gast hat Hunger. Und so wie es aussieht, möchte er ein Bad nehmen. Du möchtest ein Bad nehmen, oder?“

Luka wollte unbedingt ein Bad nehmen, aber bevor er antworten konnte, war Mustafa schon weg, um Boris’ Anweisungen zu befolgen. „Ich bin komplett verdreckt, Boris. Ich kann mich in der Gasse waschen. Bitte mach dir keine Umstände …“

„Unsinn“, sagte Boris erneut und zerrte ihn in den Salon.

Der Raum war im ägyptischen Stil eingerichtet, mit niedrigen Diwanen, bunten Teppichen und Kissen. Der einzige Hinweis auf Boris’ und Hedas Heimatland war eine Kuckucksuhr, die ein deutsches Kinderlied spielte.

Boris trat an einen kleinen Messingwagen. „Wein aus Italien“, sagte er, während er einschenkte. „Ein köstlicher Tropfen.“

„Oh, das wird mir guttun.“ Luka nahm das Glas und verspürte überraschend große Dankbarkeit. Er nippte und seufzte zufrieden. „Nach Wochen in der Wüste vergisst man, wie gut Wein schmeckt. Ich entschuldige mich dafür, dass ich …“

„Nach Stinktier rieche?“ Boris lachte.

„So schlimm?“

„Schlimmer, mein Freund. Aber das ist nicht wichtig. Du bist hier immer willkommen. Wie lange wirst du in Kairo bleiben?“ Das war die Frage. Luka überlegte, während er einen weiteren Schluck trank. Plötzlich dachte er, der Wein würde perfekt zu einem herzhaften Rindereintopf passen. Der Gedanke ließ ihm den Magen knurren.

„Wie lange ist es her, dass du etwas gegessen hast?“, fragte Boris und musterte ihn prüfend.

Wie lange war es her? „Ich weiß es nicht“, antwortete Luka. Der Wein war ihm direkt zu Kopf gestiegen. „Ich bin auf dem Weg nach England, um meine Arbeit mit Professor Henley zu besprechen.“

„Du und deine Studien. Aber du kannst nicht gleich wieder abhauen“, sagte Boris. „Du musst eine Weile bleiben. Wir brauchen dringend ein wenig Ablenkung.“

Luka schnaubte. „Ich fühle mich gerade nicht sonderlich gesellschaftsfähig, mein Freund. Und ich möchte deine Gastfreundschaft nicht ausnutzen.“

„Im Gegenteil, du bist eine ganz hervorragende Gesellschaft“, beharrte Boris. „Deine Geschichten aus der Wüste sind überaus unterhaltsam.“

„Da bin ich wieder!“ Heda kam mit einem überraschend dicken Stapel Briefe in den Salon zurück. Er war doch gar nicht so lange weg gewesen, oder? „So viele!“, sagte Heda und reichte ihm den Stapel.

Er warf einen Blick auf die gestochen scharfe Schriftschrift, in der sein Name auf dem obersten Brief geschrieben stand und drehte ihn dann um. Er war vom Duke of Astasia, seinem Vater, versiegelt worden. Normalerweise schrieb seine Mutter. Sein Vater war zu sehr in die Politik verstrickt, um sich mit seinem Sohn zu beschäftigen.

„Na los“, sagte Heda. „Du musst sie doch lesen wollen.“

Ja und nein. Luka lächelte zurückhaltend. „Wahrscheinlich sollte ich das.“

Mustafa kam mit einem Tablett mit ungesäuertem Brot, Hummus, Datteln und Oliven herein. Er verbeugte sich. Doch bevor er es abstellen konnte, hielt Boris ihn auf. „Bring die Mahlzeit bitte in sein Zimmer, Mustafa. Er kann nach dem Bad essen.“ Er sah Luka an. „Ich glaube nicht, dass ich den Gestank noch einen Moment länger ertragen kann.“

„Ich entschuldige mich vielmals“, sagte Luka.

„Wir werden alle Neuigkeiten, die du uns mitgebracht hast, beim Abendessen erfahren“, sagte Boris hinzu und forderte ihn augenzwinkernd mit einer Geste auf, den Raum zu verlassen.

Heda lächelte Luka an. „Wir essen um neun.“

Luka folgte Mustafa verlegen aus dem Salon und in den hinteren Teil des Hauses. Im Gästezimmer stand ein riesiger Kleiderschrank, in dem seine Kleidung aufbewahrt wurde. Er wartete, bis zwei kleine Jungen dampfende Wassereimer in die bereit stehende Wanne geschüttet hatten, zog dann dankbar seine Kleidung aus und ließ sich ins Wasser sinken. Nachdem er gebadet und sich gründlich rasiert hatte, setzte er sich ans Feuer, um seine Post zu lesen.

Der erste Brief, den er las, war der von seinem Vater. Nach der Begrüßung schrieb sein Vater, dass es der Familie gut gehe und dass Lukas Schwester Dagna ein weiteres Kind erwarte. Er fügte hinzu: „Das ist recht bedauerlich, denn dieses Land hat das verloren, was uns aus dem dunklen Mittelalter herausgeführt hat, und jetzt ist die Situation für unsere Kinder und die Jugend hoffnungslos. Ich weiß, dass du mir darin zustimmen wirst, dass die Dinge sich ändern müssen, denn andernfalls werden unsere Kinder keine Chance haben, zu gedeihen.“

„Verdammt noch mal“, murmelte Luka. Sein Vater – er seufzte und blickte lange an die Decke. Der alte Mann hatte sich in den letzten Jahren sehr verändert.

Es gab eine Zeit, als Luka noch ein Kind gewesen war, in der sein Vater und König Maksim Freunde gewesen waren. Aber als König Maksim vor einigen Jahren schwer erkrankte, dankte er ab und setzte seine Tochter Justine auf den Thron.

Königin Justine war eine Kindheitsfreundin von Luka, und auch heute mochten die beiden sich noch. Sie waren etwa gleich alt und hatten als Kinder oft dieselben Veranstaltungen besucht, beaufsichtigt von Kindermädchen und Gouvernanten, während ihre Eltern speisten. Aber nachdem Justine den Thron bestiegen hatte, hatte sein Vater begonnen, sich zu verändern. Bei jeder Gelegenheit hatte er etwas an ihr und ihren Beratern auszusetzen. Luka stellte fest, dass einige Männer nicht damit klarkamen, eine weibliche Regentin zu haben – und schon gar nicht eine junge. Fantastische Geschichten, die von den Feinden der Königin verbreitet wurden, besagten, sie wäre eine Hexe. Oder dass sie die Staatskasse geplündert hätte. Oder dass sie ein Todesurteil für einen Mann gebilligt hätte, mit dem sie eine Affäre gehabt hätte und mit dem sie nun fertig wäre. Sein Vater glaubte all das.

„Die Gerichte entscheiden unabhängig von der Königin“, betonte Luka. „Daher gebietet die Logik es, dass es nicht wahr sein kann.“ Oder: „Die Zeitungen berichten, dass unsere Wirtschaft stabil ist. Wovon redest du?“ Aber es war egal, was er sagte. Sein Vater glaubte alles, was er über die Königin und ihre Berater hörte, und dass sein eigener Sohn sich weigerte, die Wahrheit zu erkennen, machte ihn wütend. Er hatte eine Gruppe gleichgesinnter Männer um sich geschart, die sich in einer örtlichen Taverne trafen, Bier tranken und darüber sprachen, wie das Land auseinanderfiel.

Irgendwann hatte er angefangen, völligen Unsinn zu reden. „Wir müssen Weslorien von seinem liberalem Weg zurückholen“, beschwerte er sich.

„Welchen liberalen Weg?“, fragte Luka. „Und Weslorien zurückholen? Wie denn das, Papa?“

„Ich habe da ein paar Ideen“, sagte sein Vater und machte ein finsteres Gesicht. Luka hielt es für das Gerede unzufriedener alter Männer. Dennoch erwartete sein Vater von ihm, dass er sich seiner Meinung anschloss. Er beschuldigte Luka, ein Pazifist und Feigling zu sein. Luka hatte seinen Vater angefleht, Vernunft walten zu lassen und die Fakten zu prüfen. Der wiederum warf ihm vor, verrückt zu sein. Sie hatten einen Punkt erreicht, an dem es keine Diskussion mehr zwischen ihnen gab, nur noch Geschrei. Zu diesem Zeitpunkt begann Luka, eine ausgedehnte Reise zu weit entfernten Orten zu planen, um Daten für sein Buch zu sammeln.

Kurz vor seiner Abreise hatte er Königin Justine gesehen, die nach Marlaine gekommen war, um einen neuen Pavillon zu eröffnen. Sie war in Begleitung ihres Ehemanns William gewesen, einem kräftigen Schotten, der sie wie ein Adler bewachte. Unter vier Augen erzählte Justine Luka, dass die Handlungen und öffentlichen Äußerungen seines Vaters sie verletzt hätten. „Ich dachte, er wäre unser Freund.“

„Ich auch“, gab Luka zerknirscht zurück. „Sein Verhalten beschämt mich, und ich finde es auch sehr seltsam.“

Sie zuckte zusammen und fragte vorsichtig: „Glaubst du, er wird langsam senil?“

Luka dachte darüber nach, schüttelte aber schließlich den Kopf. Er glaubte, das Problem seines Vaters wäre, dass er Angst vor Veränderungen hatte. Die Königin und ihr Premierminister hatten einige Gesetzesreformen und soziale Veränderungen eingeleitet, wie zum Beispiel die Abschaffung der verlotterten Armenhäuser zugunsten von Programmen, in denen sozial schwach gestellte Menschen eine Ausbildung erhielten. Sie hatte sich für ein Gesetz stark gemacht, in dem ein existenzsichernder Lohn für alle, die einer Beschäftigung nachgingen, festgelegt worden war. Sie hatte sich dafür eingesetzt, dass Frauen, wenn sie dies wünschten, eine sinnvolle Arbeit finden konnten, um nicht für den Rest ihres Lebens von einem Ehemann abhängig zu sein.

Lukas Vater sah in diesen Handlungen eine Bedrohung für die weslorische Lebensweise, für seinen eigenen Titel, sein Vermächtnis und seinen Besitz. Veränderung bedeutete für ihn, dass die wenigen Privilegierten genauso unprivilegiert sein würden wie die große Mehrheit der Weslorianer. Das wurde jedenfalls hinter vorgehaltener Hand erzählt – die Königin würde Titel und Vermächtnisse abschaffen und das Land unter den Armen aufteilen.

„Ich möchte, dass du schnellstmöglich nach Hause kommst“, fuhr sein Vater fort. „Deine Mutter vermisst dich, und du bist lange genug mit Wilden durch die Welt gezogen. Du solltest als Comte ve Marlaine hier sein, wenn es weitergeht.“

Was würde der alte Mann sich wohl als Nächstes ausdenken? Luka legte den Brief beiseite. Als Nächstes öffnete er den Brief seiner Schwester Ester, die ihn ebenfalls darüber informierte, dass Dagna in freudiger Erwartung war, jedoch ohne die Klage, dass das Kind niemals gedeihen würde. Des Weiteren hatte er drei Briefe von seinem Gutsverwalter in Marlaine, zwei Briefe von Pächtern und einen Brief von Professor Henley erhalten, in dem dieser Luka vorschlug, nach England zu kommen, um die bisher von ihm eingesandten Forschungsergebnisse gemeinsam durchzuarbeiten.

Der letzte Gegenstand auf seinem Stapel war ein kleines Paket von einem gewissen M. Lapont. Lapont war gebürtiger Franzose, Engländer vom Herzen und hatte sich Ägypten als Heimat ausgesucht. Er besaß einen Gentlemen’s Club für Expatriates in Kairo.

In dem Päckchen befand sich eine mit Diamanten besetzte Taschenuhr. Luka drehte sie um. Auf der Rückseite war eine Inschrift eingraviert: Mögest du stets Rückenwind haben. Emma. Er las den Brief, der der Uhr beilag.

„Mylord, ich grüße Sie freundlich. Ich glaube, Sie sind mit Mr. Victor Duffy bekannt. Er hatte die unangenehme Aufgabe, die Habe des verstorbenen Lord Dearborn zu dessen Witwe nach England zu bringen. Unglücklicherweise fand ich nach seiner Abreise diese Taschenuhr in meinem Besitz, die ebenfalls Lord Dearborn gehörte. Sie scheint einen sentimentalen Wert zu haben, und ich bedaure sehr, dass ich sie übersehen habe. Mr. Duffy teilte mir mit, dass er beabsichtige, nach Kairo zurückzukehren und sich mit Ihnen zu treffen, um seine Hilfe beim Schreiben Ihres Buches anzubieten. Zum Zeitpunkt dieses Schreibens ist er überfällig. Ich werde bald nach Istanbul abreisen und möchte Sie daher bitten, diese Uhr Mr. Duffy bei Ihrem Wiedersehen zu übergeben.“

Mit besten Grüßen, M. Lapont

Mr. Duffy hatte sich als eine Art Diener für jeden Gentleman angeboten, der einen brauchte. Er war ein Mann mit vielen Talenten und war mit praktisch allem, was man von ihm verlangte, einverstanden, wenn es sich lohnte. Er und Luka hatten sich eines Abends miteinander unterhalten, bevor Luka seine monatelange Reise mit dem Beduinenstamm angetreten hatte, und Mr. Duffy hatte ihm angeboten, ihm bei der Zusammenstellung seines Buches zu helfen. Da Mr. Duffys Arabisch ausgezeichnet war, war Luka an einer möglichen Zusammenarbeit durchaus interessiert gewesen.

Was Lord Dearborn anging? Luka kannte ihn kaum. Er war ihm ein- oder zweimal über den Weg gelaufen und hatte feststellen müssen, dass er ihn nicht besonders mochte. Der Mann hatte ein Gebaren an den Tag gelegt, wie es manche Männer taten, wenn sie verzweifelt versuchten, den Eindruck zu erwecken, von besonderer Bedeutung zu sein. Er wusste bereits, dass Lord Dearborn an Gelbfieber gestorben war. Er hatte gehört, dass Dearborn zu dieser Zeit in Alexandria gewesen war und nichts Gutes im Schilde geführt hatte, wie man so schön sagt.

Er betrachtete die Uhr. Sie wirkte teuer, und die Inschrift war rührend. Jede Ehefrau würde sie wiederhaben wollen, dachte er. Leider würde er nicht in der Lage sein, auf Duffys Rückkehr von wo auch immer der Mann sich jetzt aufhielt, zu warten.

Luka schrieb seinem Vater und teilte ihm mit, dass er nach einem kurzen Besuch in England nach Hause kommen werde, spätestens bis Ende des Jahres. Es stand außer Frage, dass er nach Hause zurückkehren würde – seine Rückkehr war zwangsläufig und von Geburt an unvermeidlich, und er konnte das Unvermeidliche nicht ewig aufschieben. Aber es machte ihm nichts aus, es so lange wie möglich hinauszuzögern. Er freute sich nicht darauf, die Spannungen mit seinem Vater wieder aufleben zu lassen.

Luka fühlte sich sauber und wie neugeboren, als er sich zu Boris und Heda gesellte, und sie gemeinsam einen vergnüglichen Abend voller spannender Geschichten – mal mehr, mal weniger wahr – miteinander verlebten.

Ein paar Tage später machte er sich mit dem Zug auf den Weg nach Alexandria, um eine Passage auf einem Schiff in Richtung Westen zu buchen.

3. KAPITEL

Butterhill Hall

Drei Monate später …

… wurde Adele unruhig.

Emma konnte es an der Art und Weise erkennen, wie ihre Schwägerin in ihren praktischen Stiefeln über den Hügel und die Wiese stapfte und ihren Spazierstock wie ein Schwert schwang, bereit zu kämpfen, so gut eine Lady es vermochte, sofern man sich als Lady betrachtete.

Emma hatte vorgehabt, nach draußen zu gehen und den Aufbau der kleinen Bühne für die Musiker zu überwachen, die anlässlich ihrer Party an diesem Wochenende auf der Westwiese spielen sollten, aber der Anblick von Adeles unbeugsamer Gestalt veranlasste sie zu einem Stöhnen und dann, sich auf die Suche nach Feeney, dem Butler, zu machen, um ihn zu bitten, ihr lauwarmen Tee im Wintergarten zu servieren. Adele mochte ihren Tee nicht zu heiß.

Adele und Andrew lebten in dem Haus, das sich gleich hinter Butterhill Hall auf der anderen Seite des Hügels befand. Es war für Adeles Urgroßmutter gebaut worden, und Adele schwor, dass der Geruch all der Tinkturen und Salben, die im Laufe der Jahre großzügig auf die verschiedenen alten Menschen aufgetragen worden waren, immer noch in der Luft lag. Sie beschwerte sich ständig, dass es zugig sei, dass es nach Norden ausgerichtet sei und sich nie erwärme, dass es nachts knarze und dass es feucht sei. Für Emma war das Witwenhaus ein schönes Gebäude, größer als ihr Elternhaus und in besserem Zustand. Andrew schien es dort zu gefallen. Adele aber wollte nichts lieber, als wieder in Butterhill Hall zu wohnen, so wie sie es ihr ganzes Leben lang getan hatte. In Wahrheit war Butterhill Hall sehr groß – auf jeden Fall groß genug, um die gesamte Familie Clark und noch ein paar mehr unterzubringen. Aber Albert hatte nie eine Einladung ausgesprochen. Er hatte seine Schwester und seinen Bruder kurz nach seiner Hochzeit mit Emma gebeten umzuziehen. Adele war alles andere als begeistert gewesen. Sie hatte argumentiert und versucht, ihn davon zu überzeugen, sie in Butterhill Hall wohnen zu lassen. Aber Albert hatte darauf bestanden, dass das Haus nun, da er eine Frau hatte, für seine Familie bestimmt sei.

Emma und Adele waren vor der Hochzeit befreundet gewesen, aber danach begann Adele, sich von ihr zu distanzieren. Emma spürte, dass ihre Schwägerin ihr irgendwie die Schuld für den Umzug gab. Als Albert zu seiner Reise aufbrach, hatte Emma Adele vorgeschlagen, dass sie und Andrew während seiner Abwesenheit im Haupthaus wohnen könnten, aber Adele hatte nichts davon hören wollen. „Albert hat entschieden, dass ich dort nicht mehr erwünscht bin“, hatte sie lediglich gesagt und die Nase gerümpft.

Andrew begleitete seine Schwester heute nicht. Emma vermutete, dass es ihm nicht sonderlich gefiel, wie ein Soldat durch die Landschaft zu marschieren. Er mochte zwar jung und kränklich sein, aber er war schlau.

Als Adele endlich die Burg erstürmt hatte, saß sie in einem der Liegestühle im Wintergarten. Die Tasse mit lauwarmem Tee hatte sie mit beiden Händen umfasst, als wollte sie sich die Finger wärmen. Es war Frühsommer, der Tag sonnig und der Himmel blau. Adele trug ein schlichtes braunes Kleid, ihr braunes Haar war streng zu einem Dutt hochgesteckt. Sie war blass und hatte dunkle Ringe unter den Augen. Wenn man sie ansah, hätte man meinen können, es herrschte tiefster Winter. Sie trug ihre Verbitterung wie einen kratzigen Mantel.

Emma sprach das schöne Wetter an. Adele stellte ihre Tasse beiseite. „Genug davon“, sagte sie, als hätte Emma über den herrlichen Sommertag gequengelt. „Ich bin gekommen, um mich zu erkundigen, wie ich es immer tue, ob du etwas von Albert gehört hast?“

Alles in Emma spannte sich an; sie hatte die schreckliche Befürchtung, dass ihre Schwägerin etwas wusste. Es war unmöglich, aber dennoch. „Nicht in letzter Zeit, nein“, sagte sie und lächelte so gelassen wie möglich.

„Warum schreibt er nicht?“, fragte Adele und musterte Emma misstrauisch. „Das sieht ihm gar nicht ähnlich, nicht zu schreiben.“

Da sich Albert, soweit Emma wusste, vor seiner Reise nie sehr weit von Butterhill Hall entfernt hatte, bis er sich so ungestüm auf den Weg gemacht hatte, konnte Adele unmöglich eine solche Aussage treffen. „Nun … er schreibt schon“, sagte sie vorsichtig, „an mich.“

„An dich vielleicht, aber ich habe seit mehreren Monaten keinen Brief mehr von ihm erhalten.“

„Wirklich?“ Emma versuchte, überrascht zu wirken. „Das wusste ich nicht. Vor ein paar Tagen habe ich einen bekommen …“

„Darf ich ihn lesen?“, fragte Adele sofort.

„Oh.“ Verdammt. Emma versuchte zu erröten, aber ohne Erfolg. „Ich denke nicht, Liebes. Er ist ziemlich persönlich … ehelicher Natur.“ Sie lächelte schüchtern.

Adele furchte die Stirn. „Warum schreibt man solche Briefe? Wozu? Und warum schreibt er mir nie? Wir stehen uns sehr nahe, wir beide. Er hat mich immer auf dem Laufenden gehalten.“

Emma setzte vorsichtig ihre Teetasse ab. „Ich denke, weil er mit seinen Erkundungen beschäftigt ist. Und ich kann mir vorstellen, dass es nicht einfach ist, Briefe aus diesem Teil der Welt zu verschicken. Er geht davon aus, dass ich seine Nachrichten weitergebe. Was ich auch tue“, beeilte sie sich zu versichern. „Ich gebe allerdings nur Nachrichten weiter, die man auch weitergeben kann.“

Adele presste die Lippen zu einem schmalen Strich zusammen, was ihre Skepsis deutlich zum Ausdruck brachte. „Dann verrate mir bitte, Emma … was sind seine Neuigkeiten?“

Emma konnte Geheimnisse gut für sich behalten, aber sie konnte nicht besonders gut lügen. „Es ist ziemlich langweilig! Die Neuigkeiten sind, dass er es liebt, die Welt zu erkunden.“

Adele starrte sie an.

„Und dass er Kamele mag. Siehst du? Langweilig.“

Adele faltete die Hände im Schoß, so wie Emma sich vorstellte, dass eine Katze die Pfoten kreuzte, während sie überlegte, wie sie jemanden umbringen könnte. „Kamele, ja? Also, wo genau erkundet er gerade etwas?“

„Wie bitte?“

„Wo ist er?“, sagte Adele ungehalten.

„Das habe ich dir doch gesagt, Schatz. Er ist in Ägypten. Ich kann dir leider nichts Genaues sagen und mich wirklich nicht an den Namen der Stadt erinnern, da er sehr schwer zu lesen war. Wadi … irgendwas. In der Nähe soll es einige Ruinen geben.“

„Ruinen von was?“, fragte Adele mit zusammengekniffenen Augen.

„Von … einem Tempel.“ Das schien sicheres Terrain zu sein. Hatten nicht alle alten Reiche Tempel, die zumindest teilweise noch standen? Sie ergriff ihre Teetasse wieder, aber ihre vage Angst drückte sich in einem leichten Zittern aus, sodass sie ein wenig Tee auf ihren Rock verschüttete. „Ich bin sicher, dass wir alles darüber erfahren werden, wenn es so weit ist.“ Sie spürte einen leichten Stich direkt über ihrem rechten Auge. Sie hatte noch nicht ganz herausgefunden, wie sie sich aus der misslichen Lage befreien sollte, in die sie sich manövriert hatte. Aber sie hatte auch nicht vorgehabt, sich heute zu befreien.

„Und wann wird das sein?“, fragte Adele.

Die Situation war furchtbar unangenehm. Emma lächelte tapfer weiter und warf einen Blick hinaus in die Gärten. „Ich hoffe, bis zum Ende des Jahres.“ Na gut. Am Ende des Jahres würde sie die tückische Brücke überqueren, die sie sich selbst gebaut hatte.

Adele trank ihren Tee in einem Zug aus. Dann knallte sie die Tasse auf den Unterteller. „Ich hoffe nur, dass du uns bis dahin nicht vollkommen arm gemacht hast.“

Emma lachte überrascht. „Wie bitte?“

„Du planst offensichtlich schon wieder eine Party. Ich habe gesehen, wie eine Bühne aufgebaut wurde, als ich kam.“

„Das ist keine Bühne, sondern ein kleines Podest.“

„Das ist dasselbe. Wofür ist sie gedacht? Für einen Gottesdienst?“

Emma lachte schallend. „Nein, Adele. Ich gebe eine Party. Du und Andrew seid natürlich eingeladen.“ Sie waren immer eingeladen, immer willkommen.

„Weiß Albert von deinen Extravaganzen?“

Sie hatte dieses Gespräch schon mehr als einmal mit ihrer Schwägerin geführt – Adele dachte, dass Emma sich unpassend benahm, weil sie in Abwesenheit ihres Mannes Dinnerpartys und Soireen veranstaltete. Emma wies dann stets darauf hin, dass es seine Entscheidung gewesen sei, sie zu verlassen. „Extravaganzen“, wiederholte Emma.

„Ja, Emma, deine Extravaganzen. Diese … Abende werden uns noch ruinieren. Beim letzten Mal hast du einen Mann angeheuert, der auf dem Rücken eines Ponys Zirkustricks vorführte!“

„Er war sehr unterhaltsam, nicht wahr? Würdest du dir zutrauen, einen Handstand auf einem trabenden Pony zu machen? Was für ein Talent das erfordert!“

„Was man allerdings nicht von dem Hochseilläufer behaupten kann, der gestürzt ist und sich den Knöchel gebrochen hat.“

„Mir war versichert worden, dass er den Hochseilakt schon hunderte Male gemacht hat“, protestierte Emma.

„Du verstehst mich absichtlich falsch. Du leerst die Familienkasse mit deinen Sperenzien, und es wird nichts mehr für Andrew übrig bleiben.“

Es ärgerte Emma, wie selbstverständlich Adele davon auszugehen schien, dass Andrew ein Erbe erhalten würde. Andrew hatte sein eigenes Erbe. Adele schien nie an Alberts zukünftige Erben zu denken. Nicht, dass es jetzt noch welche geben würde, aber Adele konnte das ja nicht wissen. Emma fragte sich, was Albert seiner Schwester über ihre Unfähigkeit, ein Kind zu bekommen, erzählt hatte, konnte sich aber nie dazu durchringen, sich danach zu erkundigen.

Allerdings hatte Emma ihre Schwägerin kurz nach ihrer ersten Party, als Adele schockiert die von Emma gekauften Eisskulpturen angestarrt und über die Verschwendung geweint hatte, eingeladen, sich die Geschäftsbücher anzusehen, damit sie sicher sein konnte, dass noch genug Geld vorhanden war. Sie hatte es noch nicht getan.

Und eigentlich ging es nicht nur ums Geld. Was Adele wirklich zu verärgern schien, war Emmas Anwesenheit in Butterhill Hall ohne Albert. Adele hatte die Entscheidung ihres Bruders, die Welt zu sehen, nie gut geheißen, nicht ohne vorher einen Erben gezeugt zu haben, und ließ ihren Unmut über die Abwesenheit ihres Bruders an seiner Frau aus.

Zuerst hatte Emma versucht, die pflichtbewusste Ehefrau zu spielen, die zurückgelassen worden war, um sich um Haus und Hof zu kümmern. Sie hatte es so lange getan, wie sie es ertragen konnte. Aber ein paar Wochen nach Mr. Duffys unglücklichem Ableben, einer ungewöhnlich regnerischen Periode und endlosen Abenden allein in ihrem großen Haus, an denen sie Romane las und so lange stickte, bis ihr die Finger wehtaten, hatte Emma beschlossen, dass sie eine angemessene Ablenkung brauchte. Etwas, das Spaß machte. Sie war gelangweilt und sehnte sich verzweifelt nach prickelnder Gesellschaft.

Was ihr vorschwebte, war eine verschwenderische Abendgesellschaft. Eine, über die in den Zeitungen berichtet würde und über die die Leute noch Wochen später redeten. Sie hatte auch das Geld dafür, denn in den langen, einsamen Nächten des letzten Winters hatte sie die Geschäftsbücher studiert. Sie war erstaunt, was für ein riesiges Vermögen die Familie Clark besaß. Das Geldgeschenk, das ihre Eltern ihr zur Hochzeit gemacht hatten, war im Vergleich dazu lächerlich – damit hätte sie vielleicht ein Jahr allein überleben können. Aber mit dem Clark-Vermögen … nun ja, damit würde sie ihr Leben lang ganz gut auskommen. Das Anwesen erwirtschaftete einen respektablen Gewinn, obwohl Emma sofort ein paar Ideen gehabt hatte, wie es noch mehr abwerfen könnte. Es war nicht einfach, Anwesen dieser Größe gewinnbringend zu verwalten, das wusste sie, nachdem sie Alberts nicht enden wollenden Beschwerden zugehört hatte. Sie hatte den Eindruck, als könnte Butterhill Hall eine Modernisierung vertragen. Aber es brachte genug ein, dass Albert um die Welt reisen konnte, ohne sich um die Finanzen sorgen zu müssen. Genug, um ein oder zwei Partys zu schmeißen. Oder drei. Oder mehr. Wenn sie wollte.

Als es endlich aufhörte zu regnen, war Emma bereit, eine Dinnerparty zu geben. Feeney zögerte, aber er half ihr schließlich dabei, eine Liste mit Leuten zu erstellen, die sie einladen wollte, hauptsächlich aus der Gegend und vor allem Leute, die ihren Mann kannten. Sie glaubte nicht, dass jemand kommen würde, nicht wirklich, aber wenn auch nur ein Paar käme, wäre sie begeistert.

Sie plante ein Essen mit Wild und Pasteten. Sie engagierte einige Musiker aus der nahe gelegenen Stadt Rexford. Natürlich lud sie auch Adele und Andrew ein, obwohl sie verzweifelt gehofft hatte, dass sie nicht kommen würden. Niemand konnte einem so die Stimmung verderben wie Lady Adele Clark.

Am Abend ihrer Party trug sie ein buttergelbes Kleid mit winzigen Zuchtperlen, die auf das Mieder und die Ärmel gestickt waren. Sie hatte sich in der Küche erkundigt, ob alles nach Plan verlief. Sie überprüfte den Tisch, den Feeney gedeckt hatte. Zufrieden damit, dass alles seine Ordnung hatte, wartete sie auf die Gäste, die kommen oder eben nicht kommen würden.

Feeney hatte ihr erklärt, dass manche Leute begeistert zusagten und dann aus welchen Gründen auch immer nicht erscheinen würden. Zu ihrer großen Überraschung kamen alle, die sie eingeladen hatte. Lakaien brachten weitere Stühle aus dem Speiseraum des Personals. Der Wein floss in Strömen, es wurde gelacht und gesungen.

Emma genoss den Abend sehr. Sie lachte so ausgelassen wie schon seit Jahren nicht mehr. Sie trank zu viel, sie trällerte mit Mr. Kent und Mrs. Perkins ein Lied, sie spielte Scharade – eher schlecht als recht. Der Abend war das perfekte Gegenmittel gegen ihre monatelange Einsamkeit, die perfekte Medizin gegen Melancholie. Ein Gentlemen sagte: „Wir hatten ja keine Ahnung, dass Sie so ein Schatz sind, Lady Dearborn.“

Denn Albert hatte ihr nicht erlaubt, in irgendeiner Weise zu glänzen. Nun, sie war so ein großer Schatz, dass sie sofort einen weiteren Abend plante.

Adele hatte gesagt, dass dieser plötzliche Wunsch, sich mit Gästen zu umgeben, nicht der Countess of Dearborn angemessen sei und dass die Leute reden würden.

„Lass uns die Sorgen auf später verschieben, Adele“, hatte Emma sie spielerisch gebeten.

„Du musst etwas Anstand zeigen, Emma. Vor allem, da dein Ehemann nicht hier ist, um die Dinge zu überwachen.“

Emma brauchte keinen Ehemann, der „die Dinge überwachte“.

Als Nächstes veranstaltete sie eine weitere Abendgesellschaft, dann eine Soiree und danach zwei Dinnerpartys.

Dann plante sie eine Party in London, weit weg von Adeles gestrengem (und neugierigem) Blick. Das war eine Party – es kam zu zwei angedrohten Duellen (die bis zum Morgengrauen vergessen waren), der Ballsaal war so überfüllt, dass das Tanzen nach draußen verlegt wurde, und es gab einen großen Skandal, der dadurch entstand, dass Miss Flora Raney in einer offensichtlich kompromittierenden Position mit Mr. Daniel Woodchurch ertappt wurde. Darüber wurde noch wochenlang gesprochen.

Die Party war so skandalös, dass selbst Adele davon hörte. „Es ist obszön! Veranstaltungen, bei denen es zu Skandalen kommt, sind vollkommen unpassend für eine Countess! Und wie kannst du dir das alles leisten? Ich denke, wir wissen beide, dass Albert es nicht gutheißen würde, dass du sein Geld auf diese Weise ausgibst.“

„Wirklich?“ Emma tat so, als würde sie überrascht blinzeln. „Ich gehe davon aus, dass seine Ansichten sich völlig geändert haben müssen.“ Im Jenseits scherte es ihn wohl kaum, wie viel eine Party kostete, oder? „Er würde wollen, dass ich glücklich bin.“

Adele hatte ihre Meinung dazu lautstark kundgetan, und um fair zu sein, hatte sie nicht ganz unrecht gehabt.

Fanny, die in der Welt als Mrs. Yates bekannt war, sagte, Adele wäre nicht so gereizt, wenn das Anwesen mehr abwerfen würde. „Es geht einfach darum, dass etwas h...

Autor

Barrierefreiheit

Verlagskontakt für weitere Informationen zur Barrierefreiheit - <ProductFormFeatureDescription> enthält die E-Mail-Adresse einer Kontaktperson beim Herausgeber, an die detaillierte Fragen zur Zugänglichkeit dieses Produkts gerichtet werden können.

Navigation im Inhaltsverzeichnis - Das Inhaltsverzeichnis ermöglicht den direkten (z. B. über Hyperlinks) Zugang zu allen Ebenen der Textorganisation oberhalb einzelner Absätze (d. h. zu allen Kapiteln, Abschnitten und Unterabschnitten, die innerhalb des Textes existieren) sowie zu allen Tabellen, Abbildungen, Illustrationen usw. (nicht-textliche Elemente wie Illustrationen, Tabellen, Audio- oder Videoinhalte können direkt über das Inhaltsverzeichnis oder über ein ähnliches Abbildungsverzeichnis, Tabellenverzeichnis usw. zugänglich sein).

Zusammenfassung der Barrierefreiheit - <ProductFormFeatureDescription> enthält eine kurze erläuternde Zusammenfassung der Barrierefreiheit des Produkts oder die URL einer Webseite mit einer solchen Zusammenfassung, die mit den spezifischeren Konformitäts-, Merkmals- und Zertifizierungsangaben übereinstimmt. Die Zusammenfassung sollte sowohl die vorhandenen Zugänglichkeitsmerkmale als auch mögliche Mängel aufzeigen. Die Zusammenfassung entbindet nicht von der Forderung nach vollständig strukturierten Zugänglichkeitsdaten, sollte aber als Ausweichmöglichkeit betrachtet werden, wenn keine detaillierteren Angaben gemacht oder verwendet werden können. Weitere detaillierte Informationen können in einer externen Datei unter Verwendung der Codes 94-96 bereitgestellt werden. Nur zur Verwendung in ONIX 3.0 oder höher.

Keine bekannten Gefahren oder Warnungen - Produkt bewertet, aber keine bekannten Gefahren oder Warnhinweise. Kann sowohl auf digitale als auch auf physische Produkte angewendet werden. Nur für die Verwendung in ONIX 3.0 oder höher.