Der Mann aus dem Dschungel

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"Hilf mir!" - hat er das wirklich gesagt, oder hat Libby es sich nur eingebildet? Sie beschließt, den gefesselten Mann, den seine Entdecker für eine Art Tarzan halten, zu befreien. Gemeinsam fliehen sie in den Dschungel, und hier entdeckt Libby etwas Erstaunliches: Dieser raue Typ kann ungeheuer zärtlich und leidenschaftlich sein …


  • Erscheinungstag 03.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754853
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

Verdammt unangenehm, nur ein Lakai zu sein, dachte Alf Droggan mürrisch. Und weit entfernt von dem, was er sich in den heruntergekommenen Straßen seines Londoner Armenviertels je erträumt hatte. Buchmacher hätte er werden sollen. Wie der gute alte Da. Oder Kneipenbesitzer oder vielleicht sogar Richter, wenn er beim Lateinunterricht in der Saint Mary’s School besser aufgepasst hätte.

Dort war er Mick Brown begegnet. Die zwei passten gut zusammen. Mick war schmal, drahtig und sehr schnell. Die Leute hielten ihn stets für den Klügeren von beiden.

Alf dagegen war groß. Er bewegte sich bedächtig, sprach sehr langsam und schien von schlichtem Gemüt. In Wirklichkeit war er mindestens doppelt so schlau wie Mick und war hinterlistig wie eine Schlange, während Mick die Dinge nahm, wie sie kamen.

Sie hatten sich in der Schule kennen gelernt und waren nun schon mehr als dreißig Jahre lang befreundet. Niemand, weder ihren Chefs noch der Polizei oder irgendeiner ihrer Ehefrauen oder Freundinnen war es jemals gelungen, einen Keil zwischen sie zu treiben.

Und dieses Mal saßen sie wie die Maden im Speck. Als Sicherheitsberater für den berühmten Edward J. Hunnicutt. Ed Hunnicutt, der siebtreichste Mann der Welt, der hart daran arbeitete, die Nummer eins zu werden. Sicherheitsberater, obwohl es genügend Sicherheitsfirmen gab, die Hunnicutt voll und ganz zur Verfügung standen. Also war es im Grunde nur ein anderes Wort für – Lakai.

Aber immerhin ein gut bezahlter Lakai, dachte Alf, als er sich in seinem Ledersessel zurücklehnte und in seiner Tasche nach den Glimmstängeln suchte. Natürlich fand er keine. Der alte Ed war ein Gesundheitsfanatiker und duldete es nicht, dass in seiner Nähe geraucht wurde. Aber ohne Zigarette wäre ich ein schlechter Lakai, dachte Alf grimmig.

Mick saß vor der verspiegelten Scheibe und presste seine Nase gegen das Glas. Er war vollkommen fasziniert von dem Blick, der sich ihm bot.

„Alf“, rief Mick aufgeregt. „Er bewegt sich wieder. Kann ich ihm wieder was von dem Zeug in die Venen drücken?“

„Noch nicht, Mick“, erwiderte Alf. „Das letzte Mal haben wir ihm zu viel verabreicht. Er hat ganz wild gezuckt. Was glaubst du, was der alte Ed wohl tun würde, wenn wir den Kerl aus Versehen umbringen?“

„Okay, aber wenn wir zu lange warten, dann wacht er vielleicht auf und schlägt um sich. Er sieht ziemlich groß aus, finde ich.“

„Wir werden vorgehen wie beim letzten Mal. Einer nimmt die Spritze, der andere bedroht ihn mit dem Betäubungsgewehr. Er wird mir nicht noch einmal die Knochen brechen. Wenn er es wieder versucht, breche ich ihm das Genick“, stieß Alf entschlossen hervor. Immerhin, nur der rechte Arm war gebrochen. Alf war Linkshänder. Schließlich war es ihm gelungen, den Angreifer in Schach zu halten und ihm die Spritze mit aller Kraft in den Arm zu rammen, so dass die Nadel abgebrochen war. Und als er zu Boden sackte, hatte Alf ihm wütend ins Gesicht getreten.

Der alte Ed zeigte sich gar nicht erfreut, als er das Durcheinander bemerkte, das sie mit seinem kostbaren Besitz angerichtet hatten. Wütend hatte er Rechenschaft gefordert, und Alf musste sich entschuldigen. Lakai oder nicht, Alf wusste genau, dass Ed Hunnicutt reicher war als die Königin von England. Und er zahlte gut. Für brutale Behandlung und für Diskretion. Dinge, auf die Alf und Mick spezialisiert waren.

Alf war mit der Kreatur hinter der dicken, verspiegelten Scheibe noch lange nicht fertig. Aber im Moment wagte er nicht, ihn anzurühren. Erst musste der alte Ed sein Interesse verlieren. Seine Zeit würde kommen. Niemand legte sich mit Alf Droggan an und kam mit einem blauen Auge davon. Er würde bekommen, was er verdiente.

„Er wacht auf“, rief Mick mit aufgeregter Stimme. „Komm schon, Alf. Lass uns die Spritze holen. Ich verpasse ihm nur eine kleine Dosis, versprochen.“

„In Ordnung, Mick“, erwiderte Alf freundlich. „Mach schon. Die Lady wird bald ankommen, und ich will nicht, dass sie schreiend davonläuft, wenn sie ihn sieht. Obwohl das Geld vom alten Ed schon über manchen Skrupel hinweggeholfen hat.“

„Aber mit Geld kann man nicht alles kaufen, Alf“, wandte Mick ein und eilte zum Medizinschrank.

„Das kann ich von mir nicht behaupten. Oder von sonst irgendjemandem, den ich kenne“, gab Alf zurück. „Alle haben ihren Preis. Auch Frau Doktor wird springen, wenn der alte Ed mit dem Finger schnippt. Genau wie wir.“ Noch ein Lakai, dachte er. Genau das, was Edward J. Hunnicutt dringend brauchte.

1. KAPITEL

Noch niemals in ihrem Leben war Dr. Elizabeth Holden so müde gewesen. Es war paradox – sie hatte die vergangenen achtzehn Stunden im bequemen Sitz der ersten Klasse eines Flugzeugs verbracht, mit allen Annehmlichkeiten, die sie sich nur wünschen konnte. Ganz gesundheitsbewusst hatte sie sich jede Stunde die Beine vertreten, um ihre Muskulatur zu lockern, und sie hatte tief und fest geschlafen. Seit sie die Armbanduhr freiwillig abgelegt hatte, fühlte sie sich durch die Zeitverschiebung nicht länger gestört.

Das winzig kleine Flugzeug versetzte ihr einen heftigen Stoß. Sie hasste diese kleinen Maschinen mit wahrer Leidenschaft. Nicht, dass sie von den großen wirklich begeistert war, aber in ihnen fühlte sie sich doch wesentlich sicherer. Beinahe hatte sie sich geweigert, in das kleine Flugzeug zu steigen, das darauf wartete, sie nach Ghost Island zu bringen. Am Ende hatte sie den Schritt nur gewagt, um nicht völlig die Selbstachtung zu verlieren.

Wider Erwarten hatte sie den Flug überlebt. Und jetzt war sie bereit für die Aufgabe, die auf sie wartete.

Sie hasste es, keine Uhr am Handgelenk zu tragen. Wirklich, sie hasste es. Sie brauchte Ordnung und Regelmäßigkeit in ihrem Leben. Ohne Uhr fühlte sie sich angreifbar und verletzlich. Eigentlich keine große Sache, aber sie hasste es.

Entspannt lehnte sie sich im Ledersitz der Limousine zurück. Sie fragte sich, ob sie in ihrer Aktentasche nach ihrer Uhr suchen sollte, jetzt, wo die Reise fast zu Ende war. Aber dann würde sie den riesigen einsilbigen Fahrer nach der genauen Uhrzeit in dieser Zeitzone fragen müssen. Plötzlich war sie sich gar nicht mehr so sicher, dass sie sie wirklich wissen wollte.

Sie starrte aus dem Fenster in den tropischen Urwald. Es war früher Abend, vermutete sie, aber es konnte genauso gut kurz nach Sonnenaufgang sein. Dunkle Schatten lauerten am Rand des dichten Urwaldes, der die enge Straße begrenzte. Sie fragte sich, welche Wildnis dort drinnen wohl versteckt lag.

Hoffentlich keine Schlangen. Libby hasste Schlangen ebenso leidenschaftlich wie Flugzeuge. Aber dies war eine Insel, eine große, private Insel irgendwo in der Mitte vom Nichts. Waren Inseln nicht frei von Schlangen? In Irland gab es keine, wenn der Heilige Patrick seine Arbeit ordentlich erledigt hatte. Und auf Hawaii auch nicht. Es blieb ihr nichts anderes übrig als darauf zu vertrauen, dass diese Insel, weit entfernt von jeder Zivilisation, halbwegs schlangenfrei war.

Sie seufzte und fuhr sich mit der Hand durch ihr kurz geschnittenes, lockiges Haar. Es muss angenehm sein, der siebtreichste Mann auf der ganzen Welt zu sein, dachte sie im Stillen. Edward J. Hunnicutt bekam absolut alles, was er sich wünschte. Gleichgültig, ob es sich um eine große Privatinsel in der Nähe von Australien handelte oder ob eine ganze Universität seine Befehle erwartete. Ganz und gar gleichgültig, ob eine Anthropologin, die Schlangen hasste und die Zivilisation nur ungern verließ, sich auf der Stelle aufmachte und für ihn alles stehen und liegen ließ.

Wenn Edward J. Hunnicutt mit dem Finger schnippte, dann sprang der Präsident der Universität Stansfield, und mit ihm der gesamte Fachbereich. Es war Hunnicutt, der die gesamte Forschung finanzierte. Hunnicutt finanzierte auch Libbys wissenschaftliche Arbeit und ihre Stelle. Hunnicutt wünschte, dass Libby auf der Stelle die Universität verließ, ins Flugzeug stieg und um die halbe Welt flog, um die Forschungsarbeit zu seinem neusten Fund zu leiten.

Und Libby tat, was er von ihr verlangte. Hunnicutt war ein Milliardär, der sich nicht damit zufrieden gab, ein Vermögen anzuhäufen, das Libbys Vorstellungskraft bei weitem überstieg. Er wollte außerdem für bedeutende wissenschaftliche Entdeckungen verantwortlich sein. Dafür zahlte er jeden Preis.

Und offensichtlich ließ Libby Holden sich kaufen. Der Gedanke sollte sie eigentlich bedrücken, aber im Moment war sie dankbar, dass überhaupt irgendjemand sie haben wollte.

Denk nicht darüber nach, befahl sie sich. Richard hat sich eben dafür entschieden, mit jungen Studentinnen ins Bett zu gehen anstatt dich zu heiraten. Schluss, aus, vorbei. Sex wurde überhaupt viel zu sehr überschätzt. Richard war ein ausgesprochener Langweiler, und außerdem sollte sie sich besser auf ihre Karriere konzentrieren als auf eine gescheiterte Beziehung, die schon länger als ein Jahr beendet war.

Eigentlich hatte man erwartet, dass Richard der Liebling von Hunnicutt wurde. Richard ärgerte sich maßlos, dass Libby an seiner Stelle auserwählt worden war. Lautstark machte er klar, dass er sich für weitaus höher qualifiziert hielt. Libby kannte ihn genau. Sie wusste, dass er die angebliche Ungerechtigkeit immer noch nicht verkraftet hatte. Wahrscheinlich tobte er heute noch.

Und sie konnte es ihm noch nicht einmal verübeln. Sie hatte keinen blassen Schimmer, warum Edward J. Hunnicutt ausgerechnet sie für die Betreuung seines neusten Forschungsprojekts gerufen hatte. Das Projekt unterlag strengster Geheimhaltung. Wenn sie diesem verdammten Kerl jemals begegnen würde, würde sie ihn geradeheraus fragen, warum sie die Auserwählte war.

Es war fast dunkel, als die Limousine anhielt. Libby blinzelte angestrengt und fragte sich, ob der Jetlag für ihre Schläfrigkeit verantwortlich war. Sie stolperte vom Rücksitz des Wagens hinaus in die heiße, stickige Tropenluft. Ehrfurchtsvoll richtete sie ihren Blick auf das Gebäude, das sich vor ihr erhob.

Es war beeindruckend. Das Bauwerk wirkte wie eine Festung, glänzend und noch so neu, dass der Geruch von Bauholz und frischer Farbe den eindringlich feuchten Geruch des Dschungels hinter ihr mühelos überdeckte. Die Festung breitete sich bis zum Gipfel des Hanges aus. Endlich bemerkte sie, dass sie höher und höher gestiegen waren. Es war zu dunkel, um es mit Sicherheit sagen zu können, aber sie vermutete, dass sie auf dem höchsten Punkt der Insel angekommen waren. Wenn es Fenster an der Vorderfront des Gebäudes gab, würde sie die gesamte Gegend überschauen können. Es gab keine Fenster.

„Was ist das hier?“, fragte sie den Fahrer, der geschäftig ihre Koffer hinaufgeschleppt hatte. Er achtete nicht auf sie und stieg die ersten Stufen der Vordertreppe hoch. Ihr blieb keine Wahl. Sie musste ihm folgen. An der linken Seite konnte sie einige separate Gebäude erkennen, die fast vollständig vom Dschungel verdeckt wurden. Sie sahen genauso neu aus wie das Bauwerk, vor dem sie sich jetzt befand. Hier hatte jemand weder Kosten noch Mühe gescheut. Aber weder Kosten noch Mühe hatten für Edward J. Hunnicutt irgendeine Bedeutung.

Es gab keine Klinke an der Eingangstür, kein Fenster und keine Türklingel. Als der Chauffeur sich mit dem Gepäck in den Händen der Tür näherte, öffnete diese sich lautlos. Libby presste ihren Laptop fest gegen die Brust und ging hinein.

Die Tür schloss sich lautlos hinter ihr. Sie stand allein in einer weißen leeren Halle. Der Chauffeur war verschwunden und hatte sie in der klimatisierten Stille zurückgelassen. Sie machte einen vorsichtigen Schritt vorwärts. Das Licht ging an. Sie trat zurück und es ging aus. Sie versuchte es noch einmal, mit zwei Schritten. Weitere Lichter erleuchteten die Halle. Wirklich gruselig, dachte sie und fragte sich, ob sie ihren schweigsamen Fahrer wohl davon überzeugen konnte, sie zurückzubringen.

Aber ihr Fahrer blieb spurlos verschwunden. „Ist da jemand?“, rief sie laut und deutlich. Sie hoffte, dass ihre Stimme forsch und professionell klingen würde, aber sie vernahm ein verräterisches Schwanken in ihren Worten. Unzufrieden räusperte sie sich.

„Hier hinten, meine Liebe.“ Edward J. Hunnicutt erschien durch eine versteckte Tür, die sie bislang noch gar nicht bemerkt hatte. Auf seinem Gesicht lag ein leicht amüsierter Ausdruck. „Haben Sie geglaubt, wir hätten Sie im Stich gelassen?“

„Ich bin ein bisschen durcheinander. Der lange Flug“, erklärte sie. Ihre Stimme versagte fast. „Ich wusste nicht, was ich glauben sollte.“

Sie wusste es immer noch nicht. Sie hatte den berüchtigten Edward J. Hunnicutt noch niemals leibhaftig gesehen – er lebte sehr zurückgezogen. Irgendwie hatte sie sich ihn anders vorgestellt.

Sie war nicht besonders groß, aber er war nicht viel größer als sie. Durch ihre Forschungsarbeit war ihr bekannt, dass er sogar noch jünger war als sie. Sein erstaunliches Vermögen hatte er durch die Entwicklung von Computertechnik angehäuft, aber davon abgesehen interessierte sie sich nicht für ihn. Finanzielle Angelegenheiten langweilten sie. Sie interessierte sich nur für ihre wissenschaftlichen Daten. Hunnicutt war weder besonders hübsch noch auffallend hässlich. Im Grunde sah er auf alarmierende Weise durchschnittlich aus. Seine Gesichtszüge waren glatt und gleichmäßig. Das braune Haar kämmte er sich direkt in die hohe Stirn, und sein durchtrainierter Körper war mit einem leichten Tropenanzug bekleidet. Er wirkte weder wie ein Computerfreak noch wie ein Finanzgenie oder ein Multimilliardär.

„Es war sehr freundlich von Ihnen, in Stansfield alles stehen und liegen zu lassen und sofort hierher zu kommen“, meinte er und ließ außer Acht, dass sie keine Wahl gehabt hatte. „Ich bin sicher, Sie würden sich jetzt gern erfrischen und sich ein wenig ausruhen, aber ich befürchte, dass mein Terminkalender das nicht zulässt. Wir müssen jetzt miteinander reden. In zehn Minuten reise ich ab.“

Entsetzt starrte sie ihn an. „Zehn Minuten?“ Nimm mich mit, bettelte sie innerlich. Aber wollte sie zurück? Zurück zu Richard, der sie süffisant angrinsen würde, weil sie versagte, noch bevor die Arbeit begann? Zurück in das winzige Flugzeug? „Wunderbar“, gab sie entschieden zurück. „Wo können wir reden?“

Er wies mit der Hand in einen Raum. Sie ging voran. Das strahlende Weiß der Wände ließ keinen Zweifel daran, dass das Gebäude ganz neu war. Der Raum besaß keine Fenster und war spartanisch eingerichtet – mit nur zwei Stühlen und einem kleinen Tisch. Hunnicutt setzte sich und deutete auf den zweiten Stuhl.

Sie saß überraschend bequem. „Was habe ich hier zu tun?“, fragte sie. „Was bedeutet diese mysteriöse wissenschaftliche Entdeckung, die ich beobachten soll, und warum diese strenge Geheimhaltung? Und warum ich?“

„In welcher Reihenfolge darf ich Ihre Fragen beantworten, meine Liebe?“ Er klang wie ein amüsierter, etwas ältlicher Onkel. Gereizt erinnerte sie sich daran, dass er drei Jahre jünger war als sie. Und mindestens drei Milliarden Mal reicher. „Ich habe Sie wegen Ihrer herausragenden Qualifikation ausgewählt. Sie haben in Anthropologie und in Linguistik promoviert, Sie sind intelligent, nicht gefühlsbetont, unabhängig und maßvoll ehrgeizig. Ich beobachte Sie schon seit geraumer Zeit, und ich muss sagen, ich bin sehr beeindruckt. Vielleicht haben Sie es nicht bemerkt, aber ich stecke hinter all den Stipendien, die Ihnen bisher Ihre Arbeit ermöglicht haben. Ich wusste, dass Sie früher oder später genau die Person sein werden, die ich brauche. Diese Zeit ist jetzt gekommen.“

Wenn er ihr damit schmeicheln wollte, dann war er jämmerlich gescheitert. Sicher war sie intelligent, ganz sicher unabhängig. Und was die Gefühlsbetonung und den Ehrgeiz anging, so wollte sie ihn nicht unbedingt korrigieren. „Warum bin ich hier?“, entgegnete sie stattdessen.

„Um meine Entdeckung zu beobachten und zu dokumentieren. Ich befürchte, dass Dr. McDonough gerade erst begonnen hatte, als dieser schreckliche Unfall geschah.“

„Dr. McDonough? William McDonough hat an Ihrem Projekt gearbeitet, bevor er starb?“ Sie war erstaunt. Dr. William McDonoughs Tod vor zwei Monaten hatte die wissenschaftliche Welt zutiefst erschüttert. Man hatte ihn nicht besonders gemocht, aber als Wissenschaftler war er ausgesprochen brillant. Kurz vor seinem Tod gab es Gerüchte von einer sensationellen Entdeckung. Diese Entdeckung war ihr offensichtlich gerade in den Schoß gefallen.

„Ein unglücklicher Autounfall.“ Hunnicutt zuckte die Schultern. „Natürlich nicht in einer meiner Limousinen oder mit einem meiner Fahrer. Seit dem Unfall sorge ich dafür, dass die Angehörigen gut versorgt sind. Ein unersetzlicher Verlust für die Wissenschaft, wenn nicht für die Menschheit.“

Nein, nicht für die Menschheit, wenn nur die Hälfte der Geschichten stimmte, die man sich von ihm erzählte. „Und woran hat er gearbeitet?“

Hunnicutt lächelte verzückt. „An etwas Außerordentlichem.“

Achtzehn Stunden im Flugzeug trugen nicht dazu bei, dass Libby ihre Geduld zügeln konnte. „Müssen Sie nicht in zehn Minuten abreisen?“

Hunnicutt blinzelte irritiert. Offensichtlich war er es nicht gewohnt, dass man ihn drängte. Sein Lächeln wurde strenger. „In einem Ihrer Zimmer befindet sich ein Ordner mit Dr. McDonoughs Aufzeichnungen. Damit können Sie erst mal anfangen. Ich möchte, dass jede Kleinigkeit genau beobachtet und dokumentiert wird. Brown und Droggan, zwei meiner Männer, werden Ihnen assistieren. Im Notfall wissen sie, wie sie mich erreichen können. Aber vorerst ist strikteste Geheimhaltung das oberste Gebot. Ihnen ist bekannt, wie es in der Wissenschaft zugeht. Wenn irgendjemand von meiner Entdeckung Wind bekommt, laufen plötzlich eine Menge überflüssiger Leute auf meiner Insel herum.“

„Ich dachte, sie gehört Ihnen.“

„Genau. Aber das wird sie nicht hindern. Wenn die Zeit gekommen ist, werden wir unsere Entdeckung der Öffentlichkeit vorstellen. Nicht eine Minute früher. Und die Zeit wird erst gekommen sein, wenn Sie Ihre Arbeit beendet haben.“

„Meine Arbeit woran?“, fragte sie frustriert. „Was haben Sie entdeckt? Dinosauriereier? Einen verlorenen Stamm? Aliens?“

„Fast“, sagte er. „Ich habe das fehlende Verbindungsglied entdeckt.“

Ungläubig starrte sie ihn an. „Verbindungsglied? Zwischen was? Erzählen Sie mir nicht, Sie haben den Yeti oder irgendeinen Eskimo gefunden.“

„Nicht ganz. Tarzan trifft es besser.“

„Tarzan“, wiederholte sie entsetzt und fragte sich, ob Hunnicutt den Verstand verloren hatte.

„Wir haben ein wildes Kind gefunden, Dr. Holden. Eine Kreatur, die im Dschungel vollkommen ohne äußere Einflüsse aufgewachsen ist. Denken Sie nur an die unendlichen Forschungsmöglichkeiten. Sie liegen alle in Ihren Händen.“

Sie besah ihre Hände, die immer noch ihren Laptop umklammerten. Schmale, starke Hände. Ohne Ring. „Ich möchte ihn sehen.“

„Natürlich“, erwiderte Hunnicutt feierlich. „Und Sie werden ihn sofort sehen, wenn Sie die einleitenden Aufzeichnungen durchgelesen haben. Davon abgesehen brauchen Sie Ruhe, um sich an die Zeitverschiebung und an das Klima zu gewöhnen. Es ist das Gegenteil von Chicago im Januar, nicht wahr? Die Kreatur läuft uns nicht weg. Wir haben sie sediert und halten sie in gesicherter Umgebung. Auf ein paar Tage mehr oder weniger kommt es nicht an.“

„Die Kreatur?“, wiederholte sie mit leichtem Entsetzen.

Hunnicutt zuckte die Schultern. „McDonough nannte ihn Tarzan. Ich weiß nicht, wie Brown und Droggan ihn nennen. Ich würde Verlorener Mann bevorzugen, allerdings auf Latein oder Griechisch. Nennen Sie ihn, wie Sie wollen. Obwohl – ein Deckname wäre sicher von Vorteil. Ich denke darüber nach und lasse es Sie wissen.“

Er stand auf. Ihr Gespräch war zu Ende. Libby starrte ihn verärgert an. „Sie haben nicht einmal die Hälfte meiner Fragen beantwortet …“

„Dr. McDonoughs Forschungen werden Ihnen weiterhelfen. Ich muss mich nun wirklich verabschieden. Droggan!“

Er musste sich ganz in der Nähe aufgehalten haben. „Ja, Sir?“ Ein großer Mann, der überraschenderweise vollkommen normal aussah, trat ein. Ein Arm lag in einer Gipsschiene. Der Mann hatte ein unschuldiges, rundes Gesicht.

„Das ist Dr. Holden. Ich erwarte, dass Sie und Brown während meiner Abwesenheit gut auf sie Acht geben. Unterstützen Sie sie in jeder Hinsicht. Ich habe sie mit unserem kleinen Projekt beauftragt, und gemeinsam sind Sie für die Sicherheit verantwortlich. Ich bin sicher, Sie werden Dr. Holden ebenso zuvorkommend behandeln wie mich.“

„Wir werden unser Bestes tun, Sir.“ Libby bemerkte den Cockney-Akzent.

„Ich bin nicht sicher, wann ich zurück sein werde. Es wird nicht sehr lange dauern. Sie wissen, wie Sie mich erreichen können, aber ich denke, das wird nicht nötig sein. Alles klar, Droggan?“

„Kristallklar, Mr. Hunnicutt. Gute Reise.“

Libby saß immer noch auf ihrem Stuhl. Stumm und bestürzt beobachtete sie die beiden.

„Machen Sie sich keine Sorgen, Dr. Holden. Ein paar Stunden Schlaf, gutes Essen, und alles ist wieder in Butter. Mr. Brown, der Kollege von Mr. Droggan, ist ein ausgezeichneter Koch. Die beiden werden Sie in jeder Hinsicht unterstützen.“

Die Bestürzung verwandelte sich in pures Entsetzen. „Sind wir hier etwa die Einzigen?“

„Je kleiner die Operation Tarzan, umso besser, finden Sie nicht? Ich möchte verhindern, dass die Presse von der Sache Wind bekommt.“

„Kommen Sie, Dr. Holden“, sagte Droggan freundlich. „Wir haben alles für Sie vorbereitet.“

Sie folgte ihm in die leere Halle. Dann drehte sie sich um, um Hunnicutt eine letzte Frage zu stellen. Aber der Mann war ohne das leiseste Geräusch spurlos verschwunden.

Libby verlor für einen Augenblick fast die Nerven. Sie starrte in die leere Halle. Dann schob sie ihre Schultern entschlossen zurück. „Ich muss in die Staaten telefonieren und Bescheid sagen, dass ich angekommen bin“, sagte sie forsch.

„Mr. Hunnicutt wird sich darum kümmern“, erwiderte Droggan ruhig und lief durch die Halle. Die Lichter leuchteten automatisch auf.

„Ich möchte mit meinen Kollegen sprechen …“

„Ich befürchte, Sie können nicht nach außerhalb telefonieren. Mr. Hunnicutt würde es nicht gestatten. Es gibt hier kein Telefon, kein Modem, nichts.“

Sie fühlte sich, als ob sie in die Falle getappt wäre. „Aber es gibt Leute, die ich anrufen muss …“

„Mr. Hunnicutt hat Sie ausgewählt, weil Sie keine Familie haben, Miss. Alle anderen qualifizierten Kandidaten sind eingebunden und tragen familiäre Verantwortung.“

„Sie meinen, dass die anderen ihr Leben leben“, gab sie verbittert zurück.

„Seien Sie glücklich, Miss. Sie können Chancen nutzen, an die die anderen noch nicht einmal im Traum zu denken wagen.“

„Ich zerspringe vor Glück.“

„Ihre Zimmer werden Ihnen gefallen, Dr. Holden. Der alte Ed hat keine Kosten gescheut.“

„Der alte Ed?“, fragte sie.

„Mick und ich nennen ihn so. Der Mann ist alt geboren, finden Sie nicht?“

„Mr. Droggan …“

„Nennen Sie mich Alf. Wir sollten Freunde werden.“

Das war wirklich das Letzte, was sie wollte. Sein Gesicht wirkte zwar unschuldig, aber etwas in seinen Augen verunsicherte sie.

„Ich bin wirklich sehr müde, Mr. Droggan …“

„Natürlich, meine Liebe“, meinte er verständnisvoll. „Da sind wir schon.“ Die Tür ohne Klinke öffnete sich. Libby trat ein.

„Sehen Sie“, sagte Alf zufrieden. „So, wie Sie es lieben. Möchten Sie zuerst essen oder lieber ein wenig schlafen?“

„Ich bin nicht hungrig“, antwortete Libby verwirrt.

„Wenn der Magen knurrt, drücken Sie einfach auf den Knopf der Sprechanlage. Mick oder ich werden Ihnen antworten, Dr. Holden. Willkommen auf Ghost Island.“

Er verschwand, bevor sie antworten konnte. Lautlos schloss sich die Tür. Libby war sprachlos.

Sie machte ein paar Schritte nach vorn, stellte den Computer ab und ließ sich in den schweren Eichensessel mit ledernen Sitzkissen fallen. Sie starrte auf die Armlehne aus Eiche. Nein, er gehörte nicht ihr – ihrer hatte eine Kerbe in der rechten Lehne, die jemand hineingebracht hatte, lange bevor sie den Sessel auf dem Flohmarkt erstanden hatte. Diese Lehne war unverletzt.

Ihr Blick fiel auf den runden Eichentisch. Ein Duplikat des Tisches in ihrem Apartment. Der Orientteppich unter ihren Füßen war neuer als ihrer, weniger benutzt, aber er passte perfekt. Die Kunstdrucke an den Wänden, die Vase mit Trockenblumen, die Stereoanlage – alles Duplikate. Und sie ahnte es schon. Nebenan würde sie ein Duplikat ihres Schlafzimmers entdecken, bis hin zur Bettwäsche von Laura Ashley.

Kalter Schweiß bedeckte ihren Körper. Jemand war in ihrem Apartment gewesen und hatte ihren sämtlichen Besitz akribisch katalogisiert. Sicher lag ein Exemplar der Großen Erwartungen auf dem Beistelltisch. Sie hatte sich an Silvester geschworen, Charles Dickens kennen und schätzen zu lernen, aber bisher hatte sie kläglich versagt.

Kein Telefon. Sie langte in ihre Aktentasche und holte ein winziges Handy hervor. Als sie es anschaltete, blinkte ein ominöses Außer Reichweite auf dem Display. Sie befand sich irgendwo tief unten in einem Bunker – aber vielleicht funktionierte das Gerät, wenn sie sich irgendwie aus ihrem klimatisierten Gefängnis befreien konnte. Alf und der unsichtbare Mick mussten nicht unbedingt wissen, dass sie ein Handy besaß.

Autor

Anne Stuart

Anne Stuart liebt Japanische Rockmusik, tragbare Kunst, ihre beiden Kinder, Clairefontaine – Papier, ihren Hund Rosie, ihren Ehemann, mit dem sie schon über 30 Jahre verheiratet ist, befreundete Autoren, ihre beiden Katzen, Geschichten zu erzählen und in Vermont zu leben. Sie ist nicht sehr politisch, mag Diäten nicht gern und...

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