Der Millionär und die Ballerina

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Als Primaballerina Anya überraschend ihre Jugendliebe Roman wiedersieht, begehrt sie ihn heiß. Aber wenn sie sich nicht erneut das Herz brechen lassen will, darf sie ihm nicht zu nahekommen! Nur wie? Die dunkle Anziehungskraft des Selfmade-Millionärs ist überwältigender denn je!


  • Erscheinungstag 15.08.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733727215
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

Jedes Mal, wenn sie tanzte, dann nur für ihn.

Es war die Londoner Abschlussvorstellung des spektakulären Balletts Feuervogel.

In der letzten Londoner Saison war Anya von der Rolle einer der Prinzessinnen zur Titelrolle aufgerückt und hatte das Publikum so begeistert, dass das Ensemble diese Spielzeit wegen der starken Nachfrage mit dem Ballett zurückgekehrt war.

Das Publikum kam ausschließlich wegen Tatania – Anyas Rolle. In dem komplett ausverkauften Theater saß heute sogar eine Herzogin, und doch tanzte Anya nur für ihn.

Roman Zverev.

Ihre erste und einzige Liebe.

Abgesehen vom Ballett.

Hartes Training, Selbstdisziplin, sorgfältige Vorbereitung auf jede Aufführung und ständiges Streben nach Perfektion waren für Anya selbstverständlich. Sie machte das aus Liebe zum Ballett und für ihre Karriere.

Doch tanzen tat sie ausschließlich für ihn.

Als Star der Produktion hatte sie ihre eigene Garderobe. Wie viele Künstler war Anya abergläubisch, sodass ihr Schminktisch mit den unzähligen im Laufe der Jahre zusammengetragenen Talismanen und dem sorgfältig aufgereihten Make-up einem Altar ähnelte.

Sie war aufgewärmt, ihre Füße waren bandagiert, die Spitzenschuhe eingetanzt – und für den Notfall hatte sie noch weitere Paare in Reserve. Sie hatte sich das glatte braune Haar zu einem strengen Knoten hochgesteckt und das Gesicht weiß geschminkt. Sorgfältig und präzise trug sie das schwarz-goldene Make-up auf, das ihre hellgrünen Augen betonte.

Wie immer hielt sie sich strikt an ihre Routine.

Noch eine halbe Stunde bis zum Auftritt. Sie trank einen Schluck Kokosnusswasser und kaute langsam eine halbe Banane. Die andere Hälfte wickelte sie sorgfältig ein. Sie würde sie in der Pause essen, zusammen mit etwas Schokolade.

Anya liebte Schokolade.

Der Geschmack erinnerte sie immer an Roman.

Nachdem sie aufgegessen hatte, tupfte sie sich den Mund ab und setzte ihren Kopfschmuck aus roten und goldenen Federn auf. Sie fixierte ihn sorgfältig und überprüfte den Sitz mehrfach. Anschließend schminkte sie sich die Lippen rot und rief die Ankleiderin zu sich. Dann streifte sie ihren seidenen Morgenmantel ab und stieg in ihr Kostüm. Das eng sitzende, tiefrote Oberteil war orangefarben und golden bestickt, der zehnlagige Tutu mit Seidenfedern verziert.

Anya hob die Arme, als die Ankleiderin den verdeckten Reißverschluss zuzog. Das Kostüm saß perfekt und betonte Anyas lange Beine.

In der Außenwelt erregte sie mit ihrer Figur oft Aufmerksamkeit, weil sie so dünn war. Dabei bestand ihr Körper nur aus Muskeln, und sie war unglaublich fit – das Ergebnis harter Arbeit und strenger Disziplin.

Unermüdlichem Training und ihrer eisernen Selbstbeherrschung war es zu verdanken, dass Anyas Körper Dinge vollbrachte, von denen andere nur träumen konnten. Trotzdem zitterte sie vor Nervosität, als die Assistentin den Beginn der Aufführung in zehn Minuten ankündigte und die Ankleiderin ein letztes Mal den Sitz des Kostüms überprüfte.

Anya wurde zu Tatania.

„Merde!“, wünschte ihr die Ankleiderin – in der Welt des Balletts ein Äquivalent für „Hals- und Beinbruch“. Tania nickte nur stumm. Sie brachte kein Wort hervor, so sehr klapperten ihr die Zähne, während sie sich einen schweren Seidenschal, den sie für ihre Mutter gekauft hatte, um die nackten Arme und Schultern schlang.

Katya, die Anya allein großgezogen hatte, war kürzlich gestorben, hatte aber noch den kometenhaften Aufstieg ihrer Tochter erlebt, wofür Anya sehr dankbar war.

Als kleines Mädchen hatte Anya immer in der Küche des Waisenhauses getanzt, in der Katya als Köchin gearbeitet hatte. Auch später war Anya nach der Schule zum Waisenhaus anstatt in ihre kalte winzige Wohnung gegangen und hatte dort getanzt – meistens hungrig, obwohl ihre Mutter gekocht hatte.

Manchmal hatte sie heimlich von den Eintöpfen ihrer Mutter genascht, sich dafür jedoch oft Ohrfeigen eingefangen. „Willst du etwa so fett werden wie ich?“

Nie hatten sie sich so oft gestritten wie während Anyas Pubertät.

„Jungs sind tabu“, hatte Katya sie gewarnt, wenn Anyas Blicke Richtung Roman geschweift waren. „Und Roman Zverev sowieso. Der macht nichts als Ärger.“

„Nein“, hatte Anya widersprochen. „Er vermisst nur seinen Zwillingsbruder.“

„Er hat ihn zusammengeschlagen und verstümmelt!“

„Nur weil Daniil nicht ohne ihn adoptiert werden wollte! Roman konnte ihn nur so dazu bringen.“

„Widersprich mir nicht immer!“ Katya hatte Anya zurück in die Küche geschickt, doch zu Hause hatte sie deutlichere Worte gefunden. „Jungs sind für dich tabu. Wenn du eine erfolgreiche Balletttänzerin werden willst, kannst du keine Ablenkung gebrauchen.“

Und Anya hatte gehorcht – sie war keine Beziehungen eingegangen.

Doch ein paar Jahre nach der Zeit im Waisenhaus war sie Roman wiederbegegnet.

Und er war ein Mann geworden.

Anya berührte ihre Talismane. Sie klappte eine kleine Schatulle auf und betrachtete das Silberpapier darin. Sie würde es erst in der Pause berühren. Stattdessen ließ sie die Finger sanft über ein verblasstes Etikett gleiten. Sie hatte es von Romans Decke abgerissen, nachdem sie sich zum ersten Mal geliebt hatten. Daneben lag ein kleiner goldener Ohrring.

Sie berührte ihn, küsste das Etikett, legte es zurück in die Schatulle und klappte den Deckel wieder zu.

Die Assistentin klopfte an ihre Tür und teilte ihr mit, dass es Zeit für ihren Auftritt wurde. Anya durchquerte das Labyrinth von Korridoren in dem alten Londoner Theater. Immer wieder schallte ihr „Merde“ entgegen, doch sie antwortete nicht.

Sie schloss nicht leicht Freundschaften. Sie hatte immer nur ein Ziel vor Augen gehabt: es an die Spitze zu schaffen. Viele hielten sie deshalb für gefühlskalt.

Und das war sie auch.

Anya war die Eiskönigin.

Es sei denn, sie tanzte.

Mika war bereits hinter der Bühne. Er trug ein rotes Kostüm und eine kleine Kappe, in der bald die Feder stecken würde, die der Feuervogel ihm geben würde. Sie nickten einander kurz zu, jeder bereits in Gedanken beim Auftritt.

Für die Medien waren sie ein Paar. Mika kam unglaublich gut bei Frauen an, und auf der Bühne sprühten zwischen ihm und Anya dermaßen die Funken, dass man ihnen einfach eine Liebesbeziehung unterstellte.

Dabei hatten sie sich in Wirklichkeit kaum etwas zu sagen.

Anya stand keinem Menschen besonders nahe.

Früher war das anders gewesen. Bevor Roman sie verlassen hatte, war sie ein fröhlicher und offener Mensch gewesen, aber das war inzwischen vorbei.

Als das Publikum zu applaudieren begann, streifte Anya ihren Schal ab und machte ein paar letzte Dehnübungen.

„Merde“, wünschte sie Mika, als er zu Pfeil und Bogen griff – seinen Requisiten für den ersten Akt. Vor ihren Augen verwandelte er sich in Ivan, den Prinzen, und betrat den Garten des Zauberers.

Anya atmete ein paar Mal tief durch. Ihre Zähne klapperten immer noch, und sie kämpfte gegen einen Anflug von Übelkeit an. Auch nach all den Jahren noch litt sie unter schrecklichem Lampenfieber. Je erfolgreicher sie wurde, desto schlimmer wurde es.

Die Rolle des Feuervogels war unglaublich anspruchsvoll, und der Druck war enorm.

Sie ging ein paar Schritte zurück und stellte sich in Positur, bevor sie die Augen schloss und auf ihren Einsatz wartete.

Als es soweit war, flog sie förmlich auf die Bühne – nicht länger Anya und noch nicht mal Tatania.

Sie war der Feuervogel.

Das Publikum keuchte beim Anblick des goldenen Blitzes vor Ehrfurcht auf. Auch Ivan, der Prinz, war fasziniert. Er versteckte sich hinter einem Baum, während sich der Feuervogel von der anderen Seite aus hinter der Bühne darauf vorbereitete, das Publikum erneut zu beeindrucken.

Es gelang ihm mühelos.

Der Prinz legte sich im Garten auf die Lauer, um den Feuervogel zu beobachten und einzufangen. Nach einer weiteren Pause kehrte der Feuervogel zurück und nahm sich eine goldene Frucht.

Der Feuervogel ist so schön, dachte Anya, als sie tanzte. So schlank, zerbrechlich und anmutig. Nur wenige wussten, wie viel eiserne Disziplin und Entsagung hinter dieser Schönheit steckten. Heute, bei der Abschlussvorstellung in dieser Saison, tanzte sie brillanter und anmutiger denn je für ihn.

Für Roman.

Den Mann, den sie zu sehr geliebt hatte.

Nur zwei kurze Wochen waren sie zusammen gewesen, bevor er sie einfach so verlassen hatte. Eine Zeit lang hatte sie sogar befürchtet, er sei tot.

Aber er war nicht tot.

Und er hatte nie gesagt, dass er sie liebte.

Hat er mich überhaupt geliebt? Werde ich ihn je wiedersehen?

Diese Fragen stelle Anya sich wieder und wieder, als der Prinz sie in die Arme nahm und sie den Pas de deux tanzten.

Aber vielleicht würde es bald ein Wiedersehen geben, denn ihr Ballettensemble reiste weiter nach Paris, wo Roman lebte.

Wird er in Paris ins Theater kommen? fragte Anya sich, als der Prinz sie hoch in die Luft hob. Bei ihrem Solo legte sie ihr ganzes Herz in ihren Tanz.

Jede Bewegung, jede Figur saß perfekt. Sie tanzte atemberaubend schön.

Als die Pause kam, ignorierte sie ihre plaudernden Kollegen und schloss sich in ihrer Garderobe ein. Die ersten zehn Minuten verbrachte sie damit, wieder zu Atem zu kommen. Danach aß sie die zweite Hälfte ihrer Banane und einen kleinen Schokoriegel und schloss die Augen, um die Vergangenheit aufsteigen zu lassen.

Der süße Geschmack brachte die Erinnerung an ihre erste Tafel Schokolade zurück.

Als Kind hatte Anya immer in der Küche getanzt, aber als sie Teenager geworden war, hatte ihre Mutter ihr das verboten, weil es die Jungs aufstachelte. Also hatte sie sich stattdessen eine Schürze umgebunden und den Jungs das Essen serviert.

Obwohl es einen gegeben hatte, den sie nur zu gern aufgestachelt hätte.

Roman.

Er und sein Zwillingsbruder waren begabte Boxer gewesen. Sergio, der Hausmeister, hatte sie trainiert und war fest davon überzeugt gewesen, dass sie eines Tages groß rauskommen würden.

Als kleines Mädchen hatte Anya die beiden immer damit aufgezogen, viel fitter als sie zu sein.

Mit Recht.

Nachdem sie an einer renommierten Ballettschule in St. Petersburg aufgenommen worden war, war sie nur noch in den Ferien ins Waisenhaus zurückgekehrt.

Sie musste an das Vierergespann damals denken – Roman, Daniil, Nikolai und Sev. Für das Personal im Waisenhaus waren sie nichts als Unruhestifter gewesen.

Anya hatte das anders gesehen.

Am Vorabend von Daniils Adoption durch eine reiche, englische Familie hatten Roman und Daniil sich geprügelt, und Roman hatte gewonnen. Anya wusste noch, wie Daniil in der Küche gesessen und ihre Mutter ihr Bestes getan hatte, die klaffende Wunde in seiner Wange zu versorgen.

„Die reiche Familie will bestimmt keinen hässlichen Jungen“, hatte sie gesagt, während Anya den Verbandkasten geholt hatte. Anya hatte Daniil angemerkt, dass er nicht verstehen konnte, warum sein Bruder ihm so etwas angetan hatte. Sie hätte ihm gern erklärt, dass Roman nur sein Bestes wollte und nicht wirklich wütend auf ihn gewesen war, aber im Beisein ihrer Mutter hatte sie sich nicht getraut.

Nach Daniils Abreise nach England hatte die Vierergruppe sich schnell aufgelöst. Sev hatte ein Stipendium an einem guten Internat bekommen, während Nikolai weggelaufen war. Bis vor Kurzem hatten alle gedacht, er hätte sich im Fluss ertränkt, aber wie sie inzwischen wussten, stimmte das nicht.

Roman war der Einzige gewesen, der im Waisenhaus geblieben war. Zu den Mahlzeiten war er immer erst zur zweiten Schicht erschienen – der für die älteren Jungs.

Und die Gestörten.

Er war so schön gewesen, mit seinem schwarzem Haar, der hellen Haut und den grauen Augen. Manchmal hatte er Anyas Blick erwidert. Sie hatte immer auf ihn gewartet, und sogar an den kältesten Wintermorgen war ihr in seiner Nähe immer ganz heiß geworden. Abends, beim Servieren des Eintopfs, hatte er unter dem Teller manchmal wie zufällig ihre Hand berührt.

Anya lebte für diese Augenblicke, fieberte förmlich darauf hin. Sie wollte so gern mal mit ihm allein sein, aber er war im Hochsicherheitstrakt untergebracht, sodass das ein Traum blieb. Manchmal fragte sie sich schon, ob sie sich Romans Interesse an ihr nur einbildete – bis er ihr eines Tages unter dem Teller ein schmales Päckchen in die Hand schob.

Aus Angst vor ihrer Mutter steckte sie es rasch in ihre Schürzentasche und holte es erst im Schrank heraus, wohin ihre Mutter sie immer zum Essen schickte, damit niemand sie dabei sah.

Es war Schokolade. Belgische Schokolade. Und zwar eine ganze Tafel!

Wie war sie Roman nur in die Hände gefallen?

Und warum hatte er sie ihr geschenkt, anstatt sie selbst zu essen?

Leider wurde Anya von ihrer Mutter dabei erwischt, sich Schokolade in den Mund zu stopfen. Katya schimpfte und ohrfeigte sie, doch Anya war es das wert. Sie war glücklich, weil sie Roman doch etwas zu bedeuten schien. Sonst hätte er ihr nicht dieses Geschenk gemacht.

Sie hatte das Silberpapier all die Jahre aufbewahrt. Als sie es berührte, musste sie lächeln.

Es wurde Zeit, auf die Bühne zurückzukehren.

Eingehüllt in den Schal ihrer Mutter schminkte sie sich die Lippen nach und durchquerte das Korridor-Labyrinth.

Diesmal flog der Feuervogel sogar noch höher.

Anya besiegte die Monster und dachte dabei an ihren Geliebten, der sie verlassen hatte. Er war ohne ein Wort des Abschieds gegangen und hatte ihr das Herz gebrochen.

Von da an hatte sie all ihre Emotionen in den Tanz gesteckt, der ihre zweite große Liebe war – all ihre Trauer, ihre Wut und ihre Sehnsucht. Und es hatte sich bezahlt gemacht, denn sie hatte es geschafft. Sie war jetzt Primaballerina, und das Publikum fraß ihr aus der Hand.

Wie der Feuervogel sich über die Monster auf der Bühne lustig machte und sie unermüdlich in die Erschöpfung tanzte! Wie immer stellte sie sich vor, dass Roman sie beobachtete, als der Prinz sie in den Armen hielt und sie herumwirbelte. Und falls ja – bereute Roman, sie verlassen zu haben?

Als das Riesenei aufplatzte, verdrängte sie ihre Trauer und erinnerte sich stattdessen an Romans erstes Lächeln.

Als das Waisenhaus von einer Grippewelle erfasst worden war, hatten die Kinder in ihren Schlafsälen bleiben müssen. Anya war diejenige gewesen, die Roman sein Abendessen gebracht hatte. Damals waren sie zum ersten Mal in ihrem Leben allein gewesen. Sie hatte sich schrecklich danach gesehnt, ihn zu küssen.

„Wie bis du an die Schokolade gekommen?“, hatte sie ihn gefragt.

Roman hatte nur gelächelt, und sein Lächeln hatte sie komplett verzaubert.

Schon die bloße Erinnerung daran versetzte sie in Flammen.

Da der Feuervogel in der letzten Szene des Balletts nicht auftauchte, setzte Anya sich hinter die Bühne und schnappte nach Luft. Sie war völlig erschöpft. Erst als sie die Jubelrufe und den Applaus des Publikums hörte, raffte sie sich wieder auf und lief anmutig auf die Bühne zurück, um den Applaus entgegenzunehmen.

Das Publikum sprang bei ihrem Anblick jubelnd auf. Tief knicksend sammelte Anya die Rosen ein, die auf die Bühne geworfen wurden. Sie hatte jedes Bravo und jeden Pfiff verdient.

Die stehenden Ovationen dauerten zehn Minuten. Wieder und wieder wurde sie auf die Bühne gerufen, aber erst als der Applaus nachließ, hörte sie es. „Brava krasavitsa!“

Bravo, Schönheit.

Für einen Moment erstarrte Tatania und hob das Gesicht zum Publikum in den Logen, doch sie konnte niemanden ausmachen.

Roman war hier.

Es saßen viele Russen im Publikum, sodass sie diese Worte öfter hörte. Doch sie hatte seine tiefe Stimme sofort erkannt. Für den Bruchteil einer Sekunde war sie wieder Anya Ilyushin.

Die Tochter der Köchin.

Die Waisen hatten sie für überheblich gehalten, weil sie eine Mutter hatte und später auf eine renommierte Tanzschule kam, wo sie nicht zur tanzen lernte, sondern auch, Konversation zu machen und wie eine Dame zu essen und zu gehen. Sie hatten nie begriffen, dass auch sie bitterarm gewesen war.

Jeden Morgen hatten Katya und sie schon vor fünf Uhr in ihrer eiskalten Wohnung aufstehen müssen und waren ins Waisenhaus gegangen, wo es zumindest warm gewesen war. In der Küche hatte Katya von früh bis spät geschuftet. Erst nachdem sie den Hafer für den nächsten Morgen eingeweicht hatte, war sie mit Anya in ihre dunkle, kalte Wohnung zurückgekehrt, bevor am nächsten Tag alles wieder von vorne losgegangen war.

Anya hatte es nie erwarten können, Roman wiederzusehen.

So wie jetzt.

Sie spähte ins Publikum und lauschte, aber sie konnte seine Stimme nicht mehr hören. Hatte sie sich geirrt? Oder werde ich schon verrückt? fragte sie sich, als sie in ihre Garderobe zurückkehrte.

Sie war völlig erledigt, und ihr Körper schmerzte von Kopf bis Fuß.

Sie setzte sich an ihren Schminktisch. Es fiel ihr schwer, sich zu konzentrieren, als man die Herzogin ankündigte.

Die Herzogin war nicht die Einzige, die Anya sehen wollte. Anya ballte vor Ungeduld die Hände zu Fäusten, als die Assistentin die Liste mit Namen vorlas.

Als sie vor einem Jahr zum ersten Mal den Feuervogel getanzt hatte, war Daniil, Romans Zwillingsbruder, anschließend in ihre Garderobe gekommen, weil er ihr Gesicht im Programm wiedererkannt hatte. Bei seinem Anblick war sie sofort aufgesprungen und überglücklich auf ihn zugelaufen, bis sie seine Narbe gesehen und erkannt hatte, dass er nicht Roman war.

Machte sie sich heute vielleicht schon wieder falsche Hoffnungen?

Aber vorerst musste sie ein paar Worte mit der Herzogin wechseln. Und natürlich mit einem der Sponsoren des Ballettensembles, der mit seiner halbwüchsigen Tochter gekommen war, die auch Balletttänzerin werden wollte.

„Wer noch?“, fragte sie die Assistentin scharf.

„Da ist noch ein Gentleman, der sagt, er sei Daniil Sverevs Zwillingsbruder.“

Anya blinzelte erschrocken. Dann war Roman also tatsächlich hier.

„Er beglückwünscht Sie zur Vorstellung heute Abend und lässt dir ausrichten, dass er immer an dich geglaubt hat. Ich soll dir das hier geben.“

Anya senkte den Blick zu dem kleinen goldenen Ohrring auf der Handfläche der Assistentin. Anya hatte ihn in Romans Zimmer verloren, als sie sich zum ersten Mal geliebt hatten.

Sie wusste noch, wie ihre Mutter sie nach ihrer viel zu späten Rückkehr gefragt hatte, wo sie gesteckt hatte. Als Katya der fehlende Ohrring und Anyas erhitztes Gesicht und ihr von Romans wilden Küssen zerkratzter Mund aufgefallen waren, hatte sie Anya heftig geohrfeigt.

Auf beide Wangen.

Anya errötete bei der Erinnerung an ihr wundervolles erstes Mal. Und jetzt brachte Roman ihr den fehlenden Ohrring zurück.

„Sagen Sie Daniils Zwillingsbruder, er soll ihn mir persönlich überreichen. Lassen Sie ihn in meine Garderobe, nachdem ich die anderen empfangen habe.“

Sie hätte den Ohrring am liebsten nicht wieder hergegeben. Ihre Mutter hatte ihr das Paar geschenkt, als Anya an der Ballettschule angenommen worden war, aber sie konnte ihn unmöglich von jemand anderem als Roman entgegennehmen.

Während sie mit der Herzogin und den anderen Besuchern Small Talk machte, zitterte sie vor Aufregung. Gleich würde sie Roman wiedersehen!

Sie knickste, lächelte und nahm die Glückwünsche anmutig entgegen. Sie plauderte auch mit der Tochter des Sponsors und schenkte ihr sogar ein Paar Spitzenschuhe.

Wieder in ihrer Garderobe setzte sie sich an ihren Schminktisch und sagte der Assistentin, dass sie jetzt bereit für ihren letzten Besucher war.

Als sie sich im Spiegel betrachtete, fiel ihr auf, dass die Federn ihres Kopfschmucks vor Nervosität zitterten und ihre Augen schreckgeweitet waren. Sie hatte sich immer noch nicht von ihrem Schock erholt.

Nach all den Jahren würde Roman ihr also endlich wieder gegenübertreten.

Das letzte Mal hatte sie ihn vor zwei Jahren gesehen, wenn auch nur aus der Ferne – eine Begegnung, die sie so gut es ging verdrängte.

Als es an ihre Tür klopfte, blieb Anya mit dem Rücken zur Tür sitzen. Nur mühsam stieß sie ein „Herein“ hervor.

Sie drehte sich auch nicht um, als die Tür aufging und wieder geschlossen wurde.

Sie zitterte von Kopf bis Fuß.

2. KAPITEL

Roman tauchte im Spiegelbild auf. Zuerst sah Anya nur seinen dunklen Anzug und sein weißes Hemd, aber das reichte, um zu wissen, dass er immer noch athletisch gebaut war. Er war sogar noch muskulöser und durchtrainierter als früher. Als er sich hinter sie stellte, zwang sie sich, seinen Blick im Spiegel zu erwidern.

Er war noch schöner als in ihrer Erinnerung.

Sein Haar war kürzer als damals, aber immer noch schwarz und glänzend. Als sie ihm in die eisgrauen Augen sah, wurde ihr bewusst, dass er auch nach all den Jahren noch die Macht hätte, sie zu verletzen. Sie könnte es nicht ertragen, ihn ein zweites Mal zu verlieren … oder vielmehr ein drittes Mal, aber daran wollte sie gerade nicht denken.

Ihm war die Trennung anscheinend gut bekommen. Der Mann, dessen Blick sie erwiderte, war gepflegt und kultiviert und duftete nach einem teuren Eau de Toilette.

Er schlug sie sofort wieder in den Bann, so wie er es immer getan hatte, ganz egal, ob er eine billige Jeans oder einen Designeranzug trug. Seine Wirkung auf sie war genauso stark wie früher.

Als er ihr eine warme Hand mit manikürten Nägeln auf eine Schulter legte, musste sie sich beherrschen, nicht die Wange an seiner Hand zu reiben. Sie spürte mit allen Sinnen – so schwindelerregend intensiv, dass sie die Augen schließen musste.

„Brava“, wiederholte er.

„Roman …“ Mehr brachte sie nicht zustande.

Es wühlte ihn auf, seinen Namen aus ihrem Mund zu hören. Ihre vertraute, etwas heisere Stimme weckte längst verdrängte Erinnerungen.

Es war ein Schock für ihn gewesen zu erfahren, dass sein Bruder geheiratet und ein Baby bekommen hatte.

Ihm fiel wieder ein, wie er vor ihrem verhängnisvollen Boxkampf ins Büro des Waisenhauses gerufen worden war.

„Daniil will nicht nach England, wenn du nicht auch adoptiert wirst“, hatte der Direktor ihn informiert. „Aber dich wollen sie nicht haben.“

Roman hatte nur schweigend dagesessen.

Autor

Carol Marinelli
<p>Carol Marinelli wurde in England geboren. Gemeinsam mit ihren schottischen Eltern und den beiden Schwestern verbrachte sie viele glückliche Sommermonate in den Highlands. Nach der Schule besuchte Carol einen Sekretärinnenkurs und lernte dabei vor allem eines: Dass sie nie im Leben Sekretärin werden wollte! Also machte sie eine Ausbildung zur...
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