Der süße Preis der Rache

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Sebastian Rey-Defoe heiratet! Als die junge Lehrerin Mari von der bevorstehenden Societyhochzeit des Jahres erfährt, stockt ihr der Atem. Das ist die Gelegenheit, sich dafür zu rächen, dass der arrogante Tycoon ihr einst den Glauben an die Liebe nahm. Jetzt lässt sie seinen großen Tag platzen! Doch mit den Folgen hat Mari in ihren kühnsten Träumen nicht gerechnet: Kaum steht sie Sebastian persönlich gegenüber, herrscht trotz allem sofort wieder eine magische Anziehungskraft zwischen ihnen. Und ehe Mari sich versieht, muss plötzlich sie vor den Altar treten … mit Sebastian!


  • Erscheinungstag 24.05.2016
  • Bandnummer 2233
  • ISBN / Artikelnummer 9783733706753
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

Blaisdon Gazette, 17. November 1990

Ein Mitarbeiter des Krankenhauses bestätigte heute Morgen, dass sich die beiden Babys, die gestern auf den Stufen der St. Benedict’s Kirche ausgesetzt worden sind, in einem ernsten, aber stabilen gesundheitlichen Zustand befinden. Es handelt sich um Zwillinge. Die Polizei fahndet mit Hochdruck nach der Kindsmutter, weil diese vermutlich auch selbst medizinische Hilfe benötigt.

London Reporter, 17. November 1990

Der Grundstein des neuen Krankenhausflügels wurde vom Enkel des verstorbenen Sebastian Rey gelegt, der nach seinem wohltätigen Großvater benannt wurde. Er springt für seinen Vater ein, der wegen seiner Pflichten als Kapitän des argentinischen Poloteams leider nicht an der feierlichen Zeremonie teilnehmen konnte. Der siebenjährige Sebastian Rey-Defoe ist der Sohn der bekannten Lady Sylvia Defoe. Sebastian wird nun die Rey-Milliarden und das pompöse Anwesen Mandeville Hall in England erben. Zum Glück hat er bei dem tragischen Unfall, der seinen Großvater das Leben gekostet hat, selbst nur leichte Verletzungen davongetragen.

14. Februar 2008

„Es gibt hoffentlich einen guten Grund, weshalb ich an einem Ort untergebracht werde, der ‚Zum pinkfarbenen Einhorn‘ heißt?“ Bei diesem Namen musste man unweigerlich an eine fürchterlich geschmacklose Einrichtung denken, und Seb verzog angewidert das Gesicht.

„Entschuldige, aber es ging nicht anders.“ Seine gut gelaunte Assistentin tat, als hätte sie den Sarkasmus in Sebs Stimme nicht bemerkt. „Außerdem ist Valentinstag, und jedes andere Hotel im Umfeld von Fleurs Schule ist ausgebucht. Der Lake District wird gemeinhin als sehr romantisch empfunden. Aber keine Sorge, es ist nicht ansteckend“, scherzte sie weiter. „Außerdem hat das Hotel ganze fünf Sterne und obendrein ausgezeichnete Referenzen. Im Netz überschlagen sich die positiven Kritiken, vor allem wegen der vielen besonderen Details. Dein Zimmer wird beispielsweise als …“ Sie dachte kurz nach. „Es wird auf der Website als ‚schnuckelig‘ bezeichnet.“

„Oh, mein Gott!“, stöhnte er. Ein ganzer Kerl wie er, hochgewachsen und muskulös, in einem „schnuckeligen“ Zimmer? Wollte ihm seine Assistentin damit etwa eins auswischen?

„Jetzt guck doch nicht so trübsinnig!“, beschwerte sie sich. „Du kannst dich glücklich schätzen, dass im ‚Einhorn‘ in letzter Sekunde eine Reservierung abgesagt wurde.“

„Ich habe Leute schon für weniger gefeuert“, brummte er. „Schon vergessen, dass ich absolut skrupellos bin?“ Das war zumindest die einhellige Meinung der Presse. „Und welcher Idiot nennt sein Hotel überhaupt ‚Zum pinkfarbenen Einhorn‘?“

Die Realität übertraf Sebs schlimmste Befürchtungen. Vor dem Gebäude fror sich ein als Torero verkleideter Gitarrist die Hände ab – das Thermometer zeigte an diesem Februarabend höchstens null Grad – und spielte für die zahlreichen verliebten Paare auf der Terrasse schnulzige Melodien.

Verächtlich schnitt Seb eine Grimasse. Wenn so Romantik aussah, konnte sie ihm gestohlen bleiben!

Dies war das nervtötende Ende eines langen, frustrierenden Tages, der eigentlich ganz vielversprechend begonnen hatte. Seine dreizehnjährige Halbschwester hatte den Jugend-Wissenschaftspreis ihrer Schule gewonnen, und entgegen aller Erwartungen war sogar ihre gemeinsame Mutter, Lady Sylvia Defoe, aufgetaucht, um den Feierlichkeiten beizuwohnen.

Von da an wurde es allerdings hässlich. Sylvia hatte ihre Tochter schon während der Begrüßung körperlich auf Abstand gehalten und lautstark bemerkt, das Mädchen solle sich doch bitte gründlicher um ihre Hautunreinheiten kümmern. Anschließend blamierte sie ihre Kinder, indem sie mit jedem der anwesenden Männer hemmungslos flirtete. Sebastian wurde Zeuge, wie seine Schwester vor Scham fast im Boden versank, und war immer wütender auf seine egozentrische Mutter geworden.

Irgendwann erwischte er sie auch noch auf dem Flur bei einer höchst intimen Umarmung mit dem frisch verheirateten Biologielehrer. Ein bewusstes Manöver, denn Sylvia liebte nichts mehr, als eine öffentliche Szene zu verursachen.

Seb hatte dem peinlich berührten Mann ein Taschentuch gereicht, um sich den Lippenstift aus dem Gesicht zu wischen, und ihm in eiskaltem Ton geraten, sich wieder zu seiner Ehefrau zu gesellen. Dann hatte er seine Mutter zur Rede gestellt.

„Ich habe keinen Schimmer, worüber du dich jetzt aufregst, Sebastian.“ Sie war richtig beleidigt gewesen. „Wieso darf ich keinen Spaß haben? Dein Vater hatte auch eine Affäre mit dieser grauenhaften …“

Ihre falschen Tränen hatten Seb aber völlig kaltgelassen.

„Diese Leier habe ich schon hundertmal gehört, Mutter, also erwarte kein Mitleid von mir! Lass dich scheiden, zieh um die Häuser, heirate jemand anderen … aber falls du Fleur jemals wieder in Verlegenheit bringst, sind wir beide fertig miteinander!“

Die Tränen waren schnell versiegt, und Sylvia hatte tatsächlich eingeschüchtert gewirkt. „Das meinst du nicht ernst, Seb.“

Obwohl ihm in diesem Moment ehrlich leidtat, dass er ihr Angst machte, blieb er hart. Seine Schwester hatte es verdient, beschützt zu werden. „Jedes Wort. Denkst du jemals an die Menschen, die du verletzt, während du eisern deinen Willen durchsetzt?“ Ehe sie antworten konnte, hatte er traurig den Kopf geschüttelt. „Vergiss es, war eine dumme Frage von mir!“

Mit finsterer Miene schritt Seb jetzt auf den Eingang des Hotels zu, der mit rosa Blumen und Girlanden verziert war. Überall lagen getrocknete Blütenblätter auf dem Boden und wurden von weichen weißen Schneeflöckchen umhüllt.

Ungeduldig stieß er die Tür auf und ließ seinen zynischen Blick über die Menschen in der Empfangshalle schweifen. Plötzlich stutzte er, traute seinen Augen kaum, und ein heißes Gefühl breitete sich in seiner Magengegend aus. Es strömte durch seine Adern, durch seinen ganzen Körper und machte ihn schwindelig.

Sie trug ein enges, blaues Kleid, und er konnte nur noch daran denken, wie gern er sie einmal unbekleidet sehen würde! Ihre Figur war sensationell – aufregende Kurven gepaart mit endlos langen Beinen.

Die Lust, die Seb packte, ließ seine Männlichkeit und seinen Jagdinstinkt erwachen. Wie gebannt starrte er die fremde Frau an und fühlte sich, als würde er sie – irgendwie wiedererkennen. Dabei war er bisher keiner so außergewöhnlichen Schönheit wie ihr begegnet!

Ihr Gesicht hatte eine perfekte ovale Form, aber es war nicht die Symmetrie ihrer Züge, die ihre Attraktivität ausmachte. Es war ihre ganze Ausstrahlung, ihr sympathisches Lachen und die Art, wie sie den Kopf in den Nacken warf und ihren schwanenhaften Hals präsentierte.

Die Lippen waren voll und einladend, die Augen glänzten im Licht eines riesigen Kronleuchters, und das feuerrote Haar hing in wilden Locken bis fast zu ihrer schmalen Taille hinab.

Hinter ihm betrat ein weiterer Gast das Hotel, und Seb wurde von dem kalten Luftzug auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Er schüttelte den Bann ab, der ihn sekundenlang gelähmt hatte, und atmete aus.

Seine heftige Reaktion auf eine Fremde überraschte ihn. Andererseits war es für ihn bisher sowieso ein katastrophaler Tag gewesen, und er hatte auch viel zu lange schon keinen … Spaß mehr im Bett gehabt!

Spontan nahm er sich vor, das kommende Wochenende endlich zu nutzen, um es in weiblicher Gesellschaft zu verbringen. Da drang plötzlich das vergnügte Lachen der Rothaarigen an sein Ohr, und er blickte neugierig in ihre Richtung. Es klang heiser, verführerisch und ging ihm direkt unter die Haut.

Eigentlich war er kein eifersüchtiger Mensch, doch in diesem Augenblick starrte er den Mann, der diese aufregende Schönheit so sehr amüsierte, feindselig an. War er ihr Freund … oder nur ihr Liebhaber?

Seb erkannte den vermeintlichen Rivalen sofort: Es war der Ehemann der örtlichen Allgemeinmedizinerin Alice Drummond. Einer Frau, die ihre Karriere, ihre beiden Kinder und ihren Mann souverän unter einen Hut brachte – wohingegen Mr. Drummond im Alter von zwanzig Jahren, eher zufällig, ein einziges erfolgreiches Buch geschrieben hatte, von dessen Verkäufen er bis heute profitierte.

Mehr hatte dieser Kerl im Leben nicht erreicht … außer diesem romantischen Rendezvous mit einer rothaarigen Traumfrau!

Im Grunde ging es Seb ja gar nichts an, ob Mr. Drummond seine Frau betrog und sich mit einer dahergelaufenen …

Dann lachte sie wieder laut, und um Sebs Beherrschung war es geschehen. Zuerst seine eigene Mutter und jetzt … dieses Luder, der egal ist, welchen Schaden sie einer Familie zufügt! Solche Frauen ließen skrupellos gebrochene Herzen und verzweifelte Menschen zurück, bloß um Selbstbestätigung zu bekommen!

Wutentbrannt steuerte Seb auf sie zu.

„Adrian? Alice hatte heute Abend wohl keine Zeit?“

Beinahe wäre Mari gestürzt, so heftig stieß Adrian sie von sich, als hinter ihm eine tiefe, gereizte Stimme ertönte. Adrian bemerkte ihren erschrockenen, fragenden Blick nicht, weil er sich von ihr abwandte.

Sie reckte den Hals, um zu sehen, wer sich ihnen da genähert hatte.

Der Mann war überdurchschnittlich groß und hatte eine sportliche, muskulöse Figur, die in dem teuren Maßanzug hervorragend zur Geltung kam. Sein Gesicht drückte männliche Arroganz aus, und Mari war sofort beeindruckt von seinem Charisma.

Allerdings stockte ihr vor Schreck der Atem, als der Fremde sie aus pechschwarzen Augen finster anstarrte. Neben ihm stand Adrian – in den sie verknallt war, seit er ihr mit seiner sanften Stimme so wunderbare Gedichte vorgelesen hatte.

Wieso stellte Adrian sie eigentlich nicht vor? Als seine … Freundin? Auf dem College mussten sie zwar diskret sein, aber hier? Beziehungen zwischen Dozenten und Studenten waren verpönt, obwohl sie sehr häufig vorkamen – zumindest behauptete Adrian das.

Stumm musterte Seb die junge Frau, die aus der Nähe betrachtet noch viel schöner war. Ihre riesigen violetten Augen zogen ihn in ihren Bann, genauso wie ihr einladender Schmollmund. Und ihre helle Haut sah aus, als wäre sie samtweich … zart und mit süßen Sommersprossen übersät. Es ließ sie fast unschuldig wirken …

„Also, Seb … Das ist nicht das, wonach es aussieht!“ Der ertappte Betrüger wich noch einen Schritt vor seiner Begleiterin zurück.

Die Musik, mit der die Eingangshalle erfüllt gewesen war, hörte plötzlich auf, und die umherstehenden Gäste schienen zu merken, dass sich hier ein Skandal anbahnte. Jeder schaute gespannt zu und wartete auf das, was noch kommen würde.

Die Rothaarige schien irritiert zu sein und ging auf ihren Liebhaber zu, der abwehrend beide Hände hob. Wie erstarrt blieb sie stehen, und ihre Augen zeigten einen Ausdruck von Schmerz und Scham.

Seb dachte an die hart arbeitende Alice. Er dachte an alle Frauen, die sich in einer ähnlichen Situation befanden, deshalb erstickte er auch sein Mitleid für dieses verstörte Mädchen im Keim.

„Und Alice? Du weißt schon, deine Ehefrau! Muss sie arbeiten, oder kümmert sie sich gerade um euren Nachwuchs? Wie schafft diese wunderbare Frau das alles bloß?“ Voller Bewunderung schüttelte er den Kopf. „Eine ausgezeichnet laufende Arztpraxis, zwei bezaubernde Kinder und dann noch einen Ehemann, der sie belügt und betrügt?“

Nervös wartete Mari darauf, dass Adrian etwas sagte. Er sollte diesem schrecklichen Kerl die Meinung geigen und dieses furchtbare Missverständnis aufklären. Und nachher im Bett, wenn sie sich eine Flasche Champagner teilten, würden Adrian und sie herzlich über die ganze Sache lachen.

Aber das einzige Geräusch, das sie hörte, war das geschockte Gemurmel der neugierigen Zuschauer. Mari spürte die verächtlichen, missgünstigen Blicke im Rücken, und ihr wurde heiß.

„Ich konnte nicht anders. Sie war so … Aber ich liebe meine Frau, nur … Sieh sie dir doch mal an!“

Der letzte Funken Hoffnung in Mari verschwand. Demnach traf jedes Wort dieses fremden Mannes ins Schwarze?

Sie war die andere Frau? Natürlich ohne es zu wissen, doch das änderte nichts an Maris Verzweiflung und Schande! Noch nie in ihrem Leben hatte sie sich so sehr geschämt wie in diesem Moment. Und sie fühlte sich von der Außenwelt isoliert – einsam und ausgestoßen.

Ihr wurde schlagartig übel, und sie presste sich eine Hand auf den Bauch, während sie gleichzeitig versuchte, ihre hektische Atmung zu beruhigen. Wann hatte Adrian ihr das alles erzählen wollen? Dumme Frage, hinterher natürlich!

Seb hatte dagegen mit ganz anderen Problemen zu kämpfen. So sehr er Frauen wie diesen Rotschopf auch verabscheute, konnte er nicht leugnen, dass er dieses spezielle Wesen gleichzeitig glühend begehrte. Sein Körper verlangte nach ihr, und das machte Seb schwach. Andererseits war seine Devise: Man musste seine Schwächen kennen, um sie zu kontrollieren. Und Kontrolle ging ihm über alles!

Ein Teil von ihm wollte sie sogar vor dem demütigenden Schauspiel schützen, das hier gerade stattfand. Andererseits war sie selbst schuld, schließlich konnte sie jeden haben und hatte sich trotzdem für einen verheirateten Verlierer entschieden. Dabei hätte sie genauso gut mit …

Hastig verwarf er den Gedanken daran, wie reizvoll er selbst sie fand. „Macht es Ihnen gar nichts aus, dass er zu Hause Frau und Kinder hat?“, fuhr er sie so laut an, dass alle Anwesenden ihre Unterhaltung hören konnten.

Mari zuckte zusammen, ihr schlechtes Gewissen verschlug ihr buchstäblich die Sprache.

Als sie stumm blieb, fuhr Seb noch wütender fort. „Geht es dabei bloß um ein bisschen Spaß?“ Hasserfüllt zeigte er mit dem Finger auf sie. „Oder wollen Sie sich etwas Bestimmtes beweisen?“

Sie wankte leicht, und Adrian gab unablässig Entschuldigungen von sich, die ganz danach klangen, als wäre er hier das Opfer.

„Du wirst doch Alice nichts sagen, oder?“, bat er Seb, der genervt die Augen verdrehte. „Es würde ihr unnötig wehtun, und es wird ja auch nie wieder vorkommen.“

Seb wandte sich wieder an das Mädchen. „Und Sie? Haben Sie geglaubt, hier würde es um die ganz große Liebe gehen? Und dass er Sie heiratet?“, spottete er. „Ist das Ihre Rechtfertigung für das alles?“

„Es tut mir leid.“

Ihr zaghaftes Flüstern provozierte ihn noch mehr. „Ach, es tut Ihnen leid? Soll das die Menschen, deren Leben Sie zerstören, etwa wieder glücklich machen? Was Sie getan haben, meine Süße, macht Sie zu einem nichtsnutzigen Flittchen! Oh, und nur fürs Protokoll: Männer gehen zwar mit Flittchen ins Bett, doch – nach meiner Erfahrung – heiraten sie diese zweifelhaften Damen nicht. Niemals!“

Natürlich hatte der Mann recht mit dem, was er sagte. Mari wünschte, der Boden würde sich unter ihr auftun und sie verschlingen. In ihrem Inneren starb etwas. Für immer.

Ein letztes Mal blickte sie in diese düsteren, anklagenden Augen, dann lief sie schluchzend davon, ohne sich noch einmal umzusehen.

Und für einen Sekundenbruchteil hatte Seb in ihrem Blick erkannt, dass sie genau seiner Meinung war.

1. KAPITEL

Mari hatte nicht erwartet, dass es so einfach werden würde. Doch bis jetzt stellte niemand ihre Anwesenheit in diesem abgesperrten Teil der Straße infrage. Sie fügte sich perfekt in die Menge der anderen Frauen ein, die sich bemühten, auf ihren hohen Absätzen nicht über das Kopfsteinpflaster zu stolpern. Denn jeder Fehltritt könnte von den zahlreichen Fotografen festgehalten werden, die sich hinter der gegenüberliegenden Absperrung befanden.

Sie selbst musste sich um wichtigere Dinge sorgen als bloß um ihre High Heels.

Entspann dich, Mari! ermahnte sie sich. Ein hauchzartes Lächeln umspielte ihre Lippen. Immerhin befolgte sie hier im Grunde die Anweisungen des Arztes, der sie aus dem Krankenzimmer ihres Bruders verbannt hatte.

„Wir werden uns umgehend bei Ihnen melden, sobald es Neuigkeiten gibt. Gehen Sie nach Hause!“, hatte der Mann sie ermutigt. „Essen Sie etwas, und ruhen Sie sich aus. Sie brauchen dringend einen Tapetenwechsel, irgendetwas, das Sie für eine Weile ablenkt. Mir ist klar, wie schwer das ist. Aber Sie müssen langfristig die Nerven bewahren, denn Sie tun Ihrem Bruder keinen Gefallen, wenn Sie vor Erschöpfung zusammenbrechen. Glauben Sie mir! Ich habe das schon oft miterlebt.“

Beinahe hätte sie über die Vorstellung gelacht, irgendetwas könnte sie von dem Zustand ihres Bruders ablenken, aber selbst dafür fehlte ihr momentan die Kraft. Doch ihr gesunder Menschenverstand sagte ihr, dass der Arzt vollkommen recht hatte. Daher war sie einverstanden gewesen, als man ihr ein Taxi rief.

Nach einer heißen Dusche hatte sie es sich mit einem Sandwich vor dem Fernseher bequem gemacht, aber plötzlich zu kauen aufgehört, als der Bericht über die angebliche ‚Hochzeit des Jahres‘ begann.

Meine Güte, war das etwa heute?

Wie erstarrt hatte Mari dagesessen und wäre fast an ihren Gefühlen erstickt! Die Moderatorin hatte im Hintergrund weitergeplappert, während Bilder der modisch aufgetakelten Braut und des noch wesentlich attraktiveren Bräutigams über den Bildschirm flackerten. Und beide hatten einen unerträglich überheblichen Ausdruck auf ihren Gesichtern gehabt.

Mari wusste alles über Sebastian Rey-Defoe und seine Zukünftige, und ihrer Meinung nach verdienten sie einander! Als sie von der bevorstehenden Eheschließung erfuhr, hatte Mari sogar schallend gelacht – voller Hohn und Verachtung.

Seine Verlobte, Elise Hall-Prentice, war eine schrecklich vornehme Schönheit, deren Prominenz neben ihrer extravaganten Garderobe und ihrem sozialen Status daher rührte, dass sie Star einer unmöglichen Reality-Show gewesen war. Sie hatte öffentlich vorgegeben, all ihr Geld verloren zu haben, um die Fernsehzuschauer vor die spannende Frage zu stellen: Würde sie nun auch all ihre Freunde verlieren?

Als ob das jemanden interessiert hätte! Diese Frau besaß die Anziehungskraft einer Schaufensterpuppe und die Ausstrahlung eines Reptils – und das Ganze noch ohne jeglichen Charme!

Heute war ihr Tag, Elises und Sebastians, während der arme Mark in einem Krankenhausbett lag und litt.

Und dank dieses verabscheuungswürdigen Kerls war Mari noch … Jungfrau. Aber die beiden Verlobten zelebrierten ihre Traumhochzeit, so als ob nie etwas geschehen wäre. Und bei ihnen würde mit Sicherheit auch nichts schiefgehen – nie im Leben!

Das war alles himmelschreiend unfair!

Andererseits ist das ganze Leben unfair, hatte Mari missmutig überlegt. Dann war ihr eine glorreiche Idee gekommen: Was wäre, wenn doch etwas oder jemand diesen perfekten Tag ruinieren würde?

Ihr Lachen klang zuerst ängstlich, dann begeistert und hysterisch zugleich. Aber warum eigentlich nicht? Wieso sollte Sebastian Rey-Defoe denn immer seinen Willen bekommen? Zeit seines Lebens stolzierte er umher, geschützt durch seinen sozialen Einfluss und sein Geld, und nahm keinerlei Rücksicht auf die Widrigkeiten, mit denen Normalsterbliche sich herumschlagen mussten!

Maris und Marks Leben war von diesem Mann stark beeinflusst worden … leider auf eine ziemlich zerstörerische Weise. Er hingegen hatte wahrscheinlich längst vergessen, dass es die Geschwister überhaupt gab. Vielleicht war es an der Zeit, Sebastian an ihre Existenz zu erinnern?

Schlagartig war die Müdigkeit verflogen, und Mari sprühte vor Energie. Eilig war sie zum Kleiderschrank gelaufen, um das blaue Cocktailkleid herauszusuchen, das sie auch an jenem schicksalhaften Abend getragen hatte. Sie hatte es vor ihren Körper gehalten und sich kritisch im Spiegel betrachtet.

Dieser Mann hatte sie in aller Öffentlichkeit aufs Übelste gedemütigt.

Mal sehen, wie es ihm gefällt, wenn der Spieß umgedreht wird! war ihr durch den Kopf gegangen, und sie hatte entschlossen genickt.

„Ich muss Sie das einfach fragen.“

Mari zuckte heftig zusammen, als eine junge Frau ihren Arm berührte, und machte einen Schritt rückwärts, damit eine Gruppe extravagant gekleideter, lachender Leute an ihr vorbeiflanieren konnte.

Sie hielt entsetzt den Atem an und war sicher, dass ihr das schlechte Gewissen ins Gesicht geschrieben stand. Jede Sekunde konnte ihre Tarnung auffliegen.

Aber nur, wenn du nicht endlich anfängst, an dich selbst zu glauben! ermahnte sie eine innere Stimme.

„Sie müssen mir unbedingt verraten, wen Sie da tragen!“

Bei dieser Bemerkung hellte sich Maris verschlossene Miene etwas auf, und dann zauberte sie sogar ein Lächeln auf ihre vollen Lippen.

„Ich bin mir nicht sicher“, erwiderte sie.

Ihre Antwort war ehrlich, und Ehrlichkeit währte bekanntermaßen am längsten. Hastig verdrängte sie die Tatsache, dass ihre Aufrichtigkeit heute ansonsten sehr zu wünschen übrig ließ! Jede Regel hat schließlich ihre Ausnahmen. Gewisse Gelegenheiten, bei denen man mit guten Vorsätzen brechen musste.

Die andere Frau riss vor Überraschung die Augen weit auf, und Mari musste wieder lächeln. Vermutlich stellte sich die Reporterin vor, wie Mari ein Schrankzimmer voller Designerroben betrat, um sich ein Outfit auszusuchen, ohne sich dabei um den Markennamen zu kümmern. Dabei hätte das nicht weiter von der Realität entfernt sein können. Neben diesem Secondhand-Kleid, dessen Label jemand herausgeschnitten hatte, besaß Mari nur noch ein weiteres, das sich für Anlässe dieser Art eignete.

Ihr gefielen der schlichte, figurbetonte Schnitt und der Effekt, den die schimmernde Seide auf ihre blauen Augen hatte, denn sie wirkten in Kombination mit diesem Kleid fast violett. In diesem Outfit war sie schon öfter von Leuten angesprochen und gefragt worden, ob sie spezielle Kontaktlinsen tragen würde, die ihr einen dramatischen Look verliehen – was natürlich Quatsch war.

„Ich würde alles dafür tun, Ihre tollen Haare zu haben“, seufzte die Frau und zeigte auf ihren kurzen, blonden Pagenschnitt. Dann drehte sie sich zu einem unfreundlich dreinblickenden, jungen Mann um, der nach ihr gerufen hatte. Doch als er Mari bemerkte, wirkte er mit einem Mal nicht mehr gereizt, sondern streckte die Schultern durch und richtete seine Krawatte.

Mari nahm die männliche Bewunderung kaum zur Kenntnis und wollte den Moment lieber nutzen, um zu verschwinden, doch ihre neue Bekannte versperrte ihr den Weg.

„Darf ich ein Bild von Ihnen machen? Für meinen Blog?“

Ehe Mari antworten konnte, wurde sie schon mit der Handykamera fotografiert.

„Wer war das?“, erkundigte sich der Fremde.

„Ich glaube, sie ist dieses Model … oder die Schauspielerin, die in dem Film mit …“

Unter normalen Umständen hätten Mari Gespräche wie diese amüsiert, aber heute war absolut nichts normal! Sie hetzte weiter und wollte sich von ihrem Vorhaben nicht ablenken lassen. Was diese beiden wohl dazu sagen würden, wenn sie wüssten, dass Mari weder Schauspielerin noch Model war … nicht einmal ein geladener Gast dieser Hochzeitsfeier?

Sie plante, diese ganze Veranstaltung zu sprengen – mit einem Riesenknall!

Vor einem Monat hätte sie sich etwas Derartiges nicht einmal träumen lassen. Tja, innerhalb einer Woche konnte sich vieles ändern!

Vor genau einer Woche hatte Mari nämlich von ihrem Zwillingsbruder erfahren, weshalb sein Leben in die Brüche gegangen war. Zu diesem Zeitpunkt hatte sie aber noch nicht geahnt, welche Katastrophe ihn in den darauffolgenden Stunden ereilen würde …

Zuerst bestand das Problem lediglich darin, dass er von der Frau verlassen worden war, die er liebte. Denn deren einflussreicher Bruder – adelig, steinreich und selbstherrlich – erachtete Mark Jones, der nicht einmal seine eigenen Eltern kannte, als völlig ungeeignet für seine Schwester. Eine echte Defoe durfte sich unmöglich mit solch einem Pöbel einlassen!

Mari äußerte ihr aufrichtiges Mitgefühl, obwohl sie insgeheim erleichtert war. Am liebsten hätte sie sogar triumphierend beide Arme in die Luft geworfen und gejubelt! Das bittere Gefühl in ihrer Magengegend, das sie plagte, seit sie von der neuen Freundin ihres Zwillingsbruders erfahren hatte, war von einer Sekunde zur anderen verschwunden.

Allerdings fühlte sie sich auch entsetzlich schuldig, weil Marks Elend der Anlass für ihre innerlichen Freudensprünge war. Doch sie hatte zuvor tatsächlich in einem Zustand der Panik gelebt, weil sie befürchten musste, dass die Beziehung ihres Bruders sie über kurz oder lang wieder mit dem Mann zusammenbringen könnte, der sie seit sechs Jahren in ihren Albträumen verfolgte.

Dabei hatte sie sich die ganze Zeit über gleichzeitig eine Gelegenheit gewünscht, ihm endlich ihre Meinung ins Gesicht sagen zu können. Ihm all die Dinge an den Kopf zu werfen, die ihr damals nicht in den Sinn gekommen waren. Stattdessen hatte sie an jenem Abend stumm wie ein Fisch vor ihm gestanden, sich beleidigen lassen und sich am Ende auch noch bei ihm entschuldigt!

In ihrer Fantasie hatte sie seither etwa tausend Mal an der Ansprache gefeilt, die sie ihm gern halten würde. Stets hatte sie sich nicht nur mutig für ihre eigenen Belange, sondern auch für andere Menschen eingesetzt, die nicht stark genug waren, für sich selbst zu sprechen. Und im entscheidenden Moment ihres Lebens hatte sie elendig versagt …

Sie war davongelaufen, anstatt sich ihrem Angreifer zu stellen – und das vor aller Augen!

„Er war heute in den Nachrichten. Hast du ihn gesehen?“, hatte ihr Bruder an jenem Abend gefragt und war ganz aus dem Häuschen.

„Wen?“, erwiderte sie abwesend.

„Sebastian Rey-Defoe.“

Der Klang des Namens ließ sie zusammenzucken, und ihr missfiel der ehrfürchtige Tonfall, den ihr Bruder anschlug. Am liebsten hätte sie ihn angeschrien: Was gibt es an diesem Mistkerl denn schon zu bewundern? Sebastians Geld und seine gesellschaftliche Position waren ihm in die Wiege gelegt worden, ohne jegliche Eigenleistung. Zugegeben, er war auf eindrucksvolle Weise attraktiv, aber auch seine Gene hatte er schlicht nur geerbt.

Autor

Kim Lawrence
<p>Kim Lawrence, deren Vorfahren aus England und Irland stammen, ist in Nordwales groß geworden. Nach der Hochzeit kehrten sie und ihr Mann in ihre Heimat zurück, wo sie auch ihre beiden Söhne zur Welt brachte. Auf der kleinen Insel Anlesey, lebt Kim nun mit ihren Lieben auf einer kleinen Farm,...
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