Die gefährliche Kreuzfahrt

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Er ist nicht ihr Mann, sondern nur zu ihrem Schutz auf dieser weihnachtlichen Kreuzfahrt engagiert. Aber trotz allem, was sie trennt, fühlt Shelley sich immer mehr zu dem starken Lucas Jordon hingezogen - bis die Gefahr, vor der sie geflohen ist, sie erneut einholt …


  • Erscheinungstag 30.08.2019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733737993
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

PROLOG

31. Oktober

Die Angehörigen der Polizei von San Francisco waren in Uniform auf dem alten Friedhof oben auf dem grasbedeckten Hügel angetreten. Lucas Jordon, ein höherer Beamter, stand mit finsterer Miene hinter seinen Kollegen am frisch ausgehobenen Grab und starrte aus dunklen Augen in den bleiernen Himmel.

Der schwere Verband und die Armschlinge um den linken Arm und die Schulter blieben halb unter dem dunklen Mantel verborgen. Eigentlich hatte Lucas seine Uniform tragen wollen, aber es war ihm unmöglich gewesen, sie anzulegen. Dass er nur über eine gesunde Hand verfügte, hinderte ihn an weitaus mehr als an der Ausführung seines Dienstes.

Es war nicht Lucas’ Art zu hassen. Vor langer Zeit hatte er erfahren, dass dieses Gefühl einem nichts einbrachte. Aber in dem Moment, als das erste Salut über die Gräber hallte, wusste er, dass er fähig war, den Menschen zu hassen, der Monroe dazu verholfen hatte, sich wieder frei in der Stadt zu bewegen. Die Person, die dafür verantwortlich war, machte als staatlicher Pflichtverteidiger Karriere, indem sie die Schuldigen mithilfe des Gesetzes freibekam.

Captain Richard Bentley hielt die Trauerrede. Er nannte Larry Hall einen guten Polizisten, der nicht von der Hand eines Verbrechers hätte sterben dürfen bei einer Drogenrazzia in einer miesen Pension unten bei den Docks.

Nach fünfzehn Dienstjahren kannte Lucas Jordon die Ironie des Schicksals im Leben eines Polizisten. Ja, er war selbst ein wandelndes Beispiel dafür. Erst zwei Wochen vor Larry Halls Tod hatte er sich eine Kugel eingefangen, die ihm die Knochen zerschlagen, seine Schulter zerrissen und viele Nerven zerstört hatte. Wäre sie nur vier Zentimeter weiter rechts in seinen Körper eingedrungen, hätte sie Herz und Lunge getroffen.

Und der bitterste Hohn war: Auch der Mann, der auf Lucas geschossen hatte, hätte nicht mehr frei herumlaufen dürfen, genauso wenig wie Freddy Monroe, der Larry Hall getötet hatte.

Außer dass Lucas seine linke Hand nicht einmal mehr zur Faust ballen konnte, wurde er von ständigen Schmerzen gequält. Sie strahlten von seinem linken Arm zum Hals und Rücken aus, und als er die Zähne fest zusammenbiss, brach ihm der kalte Schweiß aus. Die Wirkung des Schmerzmittels ließ nach.

Er ließ den Blick langsam über die Trauernden schweifen, musterte die von Kummer gezeichneten Gesichter, bis er eine Frau entdeckte, die fernab von den Anwesenden unter den ausladenden Zweigen einer Platane stand.

Sie war blass. Ihr silberblondes Haar trug sie streng aus dem aparten Gesicht mit den hohen Wangenknochen. Ein dunkler Mantel unterstrich noch die Blässe ihrer Haut. Aber die Frau war reizvoll auf eine delikate Weise. Lucas blickte schnell weg, als ihn die Frage zu quälen begann, ob er wohl jemals wieder fähig sein würde, eine Frau in seinen Armen zu halten.

Mit jeder folgenden Gewehrsalve der Ehrengarde zuckte Shelley Kingston zusammen. Sie hasste Waffen. Sie hasste Gewalt. Und sie wusste nicht, warum sie überhaupt hergekommen war. Sie hielt sich abseits von den Trauergästen, weil sie wirklich nicht hierhergehörte.

Fröstelnd zog sie den Mantel fester um sich. Als sie gehört hatte, dass ein Polizist bei einer Drogenrazzia erschossen worden war, war ihr abscheulich zumute gewesen. Aber als sie dann noch den Namen des Täters erfuhr, der gleich nach seiner Tat ebenfalls erschossen worden war, war ihr körperlich übel geworden.

Vom Verstand her wusste sie, dass man sie nicht verantwortlich machen konnte. Als staatliche Strafverteidigerin hatte sie unter Berücksichtigung der ihr zur Verfügung stehenden Gesetze nur ihren Job getan. Aber ihr war auch klar, dass das von den Trauernden niemand akzeptieren mochte.

Noch während die Salven in der kalten Luft nachklangen, wandte sie sich um und ging zu ihrem Wagen. Einen Moment hielt sie inne, als sie den Mann ihr gegenüber erblickte, der hinter der Mannschaft der Polizei stand. Ein dunkler Mann, der den dunklen Mantel sich um die Schultern gelegt hatte. Er stand reglos, mit geschlossenen Augen und fest aufeinandergepressten Lippen da.

Sie fühlte beinahe den Schmerz, den dieser Mann ausstrahlte. Rasch wandte sie sich ab. Nein, sie würde nie wieder einer solchen Beisetzung beiwohnen. Sie gehörte nicht dazu.

Einer der Trauergäste stand inmitten der Anwesenden, teilte einen Regenschirm mit einem neben ihr Stehenden und war doch isoliert. Shelley Kingston merkte nicht, dass diese Person ihr mit den Blicken folgte und ihr Fortgehen registrierte.

Dann wandte sich die Person ab und starrte auf den Sarg unter dem weißen Baldachin, der rasch aufgebaut worden war, als es zu regnen begonnen hatte. Alles verschwamm vor ihren Augen, das Rot, Weiß und Blau der Fahne. Alles schien schemenhaft und falsch. Außer dem Hass …

Hass gab einer sinnlosen Situation den Sinn. Aber es war sinnlos, Freddy Monroe, den Täter, zu hassen. Sein Tod konnte nicht als Sühne für Larrys Tod akzeptiert werden. Zu wissen, dass Monroe getötet worden war, Sekunden, nachdem er Larry erschossen hatte, war nicht genug. Das Leben eines Straßenganoven genügte nicht als Vergeltung für den Tod eines Polizisten und eines Mannes, wie Larry einer gewesen war.

Aber auf einmal hatte sich ihr bei der Beisetzung die Möglichkeit der Vergeltung gezeigt. Shelley Kingston. Sie war die Frau, die für all dies verantwortlich war. Und in diesem Moment wusste diese Person in Trauer, dass Shelley Kingston für Larrys Leben bezahlen musste … auf die eine oder andere Weise.

1. KAPITEL

20. Dezember

Als Shelley schließlich zu Hause anlangte, war es fast sieben Uhr abends, und eine kühle Brise wehte von der entfernten San Francisco Bucht in die Stadt. Shelley und ihre Tochter Emily eilten die Treppe zur vorderen Veranda ihres Bungalows hinauf, den sie im Süden der Stadt gemietet hatten. Sie hatte kaum den Schlüssel ins Messingschloss der Eingangstür gesteckt, als das Telefon zu läuten begann.

Emily huschte an ihr vorbei ins dunkle Haus und rief über die Schulter: „Ich geh ran.“

„Ich bin beschäftigt“, rief Shelley ihr hinterher. Sie wollte jetzt nicht mit Ryan Sullivan, ihrem Vorgesetzten in der Kanzlei, sprechen. „Sag, ich rufe später zurück.“

Shelley warf die Tür zu, während Emily das Licht in der Küche einschaltete. Der helle Schein drang bis ins Wohnzimmer und beleuchtete einen polierten Holzfußboden, handgeknöpfte Teppiche und Korbmöbel.

„Sie hat zu tun. Kann ich etwas ausrichten?“, hörte Shelley ihre Tochter höflich sagen.

Shelley schlüpfte aus den schwarzen Pumps, die sie zu dem schlichten dunkelblauen Kostüm getragen hatte, und ging in ihre altmodische Küche, wobei sie sich fragte, ob sie Pizza bestellen oder im Kühlschrank nachsehen solle, was sich dort für das Abendessen finden ließ.

Gedankenverloren blickte sie zu Emily hinüber, die auf einem niedrigen Holzschemel stand, um an das Wandtelefon nahe des Waschraums heranzukommen.

In dem grünen Jumper, der weißen Bluse, den weizenblonden Zöpfen und dem fein geschnittenen Gesicht wirkte Emily unglaublich zart für ihre sieben Jahre. Für gewöhnlich war sie eine Plaudertasche, diesmal hörte sie jedoch aufmerksam zu, was ihr vom anderen Ende der Leitung aufgetragen wurde.

„Na klar kann ich das behalten“, sagte sie und verdrehte die Augen. „Ich darf für meine Mutter Anrufe annehmen.“

Shelley stellte wieder einmal fest, dass es albern sei, Ryan auszuweichen, und wollte deshalb Emily den Hörer aus der Hand nehmen. Zu spät. Emily sagte noch: „Okay. Frohe Weihnachten auch für Sie!“, und legte auf.

Dann sprang sie vom Hocker und eilte zum Kühlschrank.

„Wer war das?“

„Das weiß ich nicht.“ Emily holte aus dem Kühlschrank eine Dose Sprudelwasser. „Sie haben mir nicht ihren Namen genannt. Nur, dass sie mit dir sprechen wollen.“

Automatisch nahm Shelley Emily die Dose aus der Hand. „Nicht vor dem Essen. War es nicht Mr. Sullivan?“

„Nein. Ich bin durstig.“ Emily sprach mit leicht weinerlicher Stimme, die sich immer einstellte, wenn sie müde war. Es war ein langer Tag für sie gewesen mit Schulunterricht und dem Nachmittagsprogramm, an dem sie teilnahm, bis Shelley sie nach Dienstschluss abholen kam.

Das ach so vertraute Schuldgefühl, ihre Tochter zu vernachlässigen, quälte Shelley wieder von Neuem. Sie verdrängte es mit der realistischen Ausrede, gerade jetzt sehr hart arbeiten zu müssen. Wenn sie erst einmal die zwei Jahre als staatliche Pflichtverteidigerin hinter sich haben würde, konnte sie sich eine gute Anwaltsfirma suchen, und Emily würde alles bekommen, was sie brauchte.

Mit dem Versuch, sich und das Kind zu besänftigen, schlug sie vor, für das Abendessen Pizza zu bestellen.

Emilys Gesicht hellte sich sofort auf. „Mit ’ner Menge Pilze und ohne Salami.“

„Das klingt wunderbar, aber bevor ich wegen der Pizza telefoniere, sag mir bitte, wer angerufen hat.“

„Weiß ich nicht.“

„Ein Mann oder eine Frau?“

„Das konnte ich nicht erkennen.“

„Okay. Was haben sie gesagt?“

„Sie wollten wissen, ob mein Vater zu Hause sei.“

„Wie bitte?“

„Sie fragten, ob er da wäre, und ich sagte Nein.“

„Was haben sie noch gesagt?“

„Ich soll dir sagen, dass sie wissen, dass du Gangster befreist.“

„Gangster?“

„Ja. Du machst, dass sie frei sind, aber das ist schlecht, und das wird dir nicht mehr gelingen, denn sie lassen dich nicht, und du musst bezahlen.“

Shelley hatte das Gefühl, als würde ihr jemand einen Schlag in die Magengrube versetzen. „Noch etwas?“, fragte sie so ruhig, wie es ihr möglich war.

„Nein. Hab ich was verwechselt?“

Wie sie sich wünschte, dass das Kind darin recht hätte! „Nein. Ich glaube, du hast richtig verstanden.“

„Was bedeutet das?“

Shelley war immer so aufrichtig wie möglich zu Emily. Lügen konnten verletzender sein als die Wahrheit. „Ich habe Probleme im Dienst.“

„Mag Mr. Sullivan dich nicht?“

„Es geht nicht um Mr. Sullivan. Wir mögen uns. Er ist ganz nett. Du weißt doch, mit was für Menschen ich es in der Arbeit zu tun habe?“

„Na klar.“

„Es gibt einige Gute, aber von Zeit zu Zeit muss ich auch mit solchen umgehen, die nicht so gut sind. In den letzten Wochen erhielt ich Briefe und Anrufe von jemandem, der mich nicht mag, weil er glaubt, ich tue das Falsche.“

Emily schien von Shelleys Erklärung gelangweilt. „Dann bring ihn doch ins Gefängnis.“

„Darum geht es gerade. Ich weiß nicht, wer der Anrufer ist. Wahrscheinlich ist er derselbe, der soeben mit dir gesprochen hat.“

„Wirklich?“ Emily machte große Augen. „Sie haben aber sogar frohe Weihnachten gesagt.“

„Du weißt doch, dass ich immer aufrichtig zu dir bin.“

„Na klar, aber Stanley Weed aus der Schule sagt, ich sei dumm, weil ich aufrichtig zu ihm war und ihm gesagt habe, es gebe keinen Weihnachtsmann. Er wollte mich verprügeln, und ich …“

„Emily, bitte. Wir sprechen später über Stanley Weed und den Weihnachtsmann. Im Augenblick mache ich mir wegen dieses Anrufs Sorgen, weil der Anrufer meine Privatnummer hat. Bitte geh von heute an nicht mehr ans Telefon, okay?“

„Aber du hast gesagt, ich mache es wirklich gut.“

„Das stimmt. Aber in den nächsten Tagen muss ich selbst antworten, falls die Person noch einmal anrufen sollte. Verstanden?“

Emily nickte.

„Gut. Ich rufe jetzt Mr. Sullivan an und erzähle ihm von dem Anruf. Dann bestelle ich die Pizza.“

Im selben Moment läutete das Telefon.

„Hallo, ich dachte schon, Sie wollten mich im Stich lassen“, dröhnte Ryans Stimme über die Leitung.

„Dem Himmel sei Dank, Sie sind es, Ryan.“

„Ich mag es, wenn sich jemand über meinen Anruf freut. Aber Sie klingen ziemlich verzweifelt.“

„Das bin ich auch.“ Rasch erzählte Shelley, was vorgefallen war. „Was halten Sie davon, Ryan?“

„Für gewöhnlich hören solche Anrufe von selber auf. In Ihrem Falle sollten wir es allerdings nicht so leicht nehmen, da die ja Ihre Privatnummer haben.“

„Ich hasse es, die Polizei um Hilfe zu bitten. Bei ihr sind Pflichtverteidiger nicht gerade beliebt. Aber vermutlich reagiere ich auch ein wenig übernervös.“

„Vielleicht. Vielleicht aber auch nicht. Wir sind Staatsbürger, wie jeder andere auch, und die Polizei hat die Pflicht, uns zu beschützen und für uns da zu sein. Ich werde morgen früh als erstes mit Captain Bentley sprechen.“

„Es kann nichts schaden, seine Meinung zu hören.“

Anschließend berichtete Sullivan noch über den Grund seines Anrufs. Er war bereit, in Charlie Morans Fall, den Shelley gerade bearbeitete, auf Shelleys Vorschläge einzugehen. Normalerweise hätte Shelley sich über diese Nachricht gefreut, aber im Moment war sie zu besorgt, um Freude zu verspüren. „Großartig“, murmelte sie. „Ich würde alles tun, wenn der Junge Bewährung erhielte.“

„Genaues kann ich noch nicht sagen. Morgen weiß ich mehr, dann können wir das Gespräch fortsetzen.“

„Danke, Ryan.“ Shelley legte auf. Vielleicht war sie so nervös, weil diesmal Emily mit hineingezogen worden war.

„Können wir jetzt Pizza bestellen?“, fragte Emily quengelig. „Ich bin hungrig.“

„Sicher.“

Shelley zuckte zusammen, als das Telefon erneut läutete. Diesmal nahm sie den Hörer auf in dem Glauben, Ryan habe eine weitere Information für sie. „Okay, Ryan, was haben Sie vergessen?“

„Hier ist nicht Ryan, aber Sie sind Shelley Kingston, die große Verteidigerin, nicht wahr?“, zischte eine raue Stimme. „Sie können sich nicht hinter Ihrem Kind verstecken. Sie werden bezahlen müssen. Ich bringe Sie um.“

Shelley warf den Hörer auf die Gabel, und als das Telefon beinahe sofort noch einmal läutete, rührte sie sich nicht von der Stelle.

Emily schob ihre kleine Hand in Shelleys: „Das war wieder der böse Mensch, nicht?“

„Ja.“ Shelley wusste, sie hatte keine Wahl. Sie musste die Polizei um Hilfe bitten.

Lucas Jordon fühlte sich verdammt schlecht, dabei war dies einer seiner guten Tage. Seine Schulter schmerzte, seine Hand war steif.

Er stand am Fenster im Büro seines Vorgesetzten und drückte rhythmisch einen roten Übungsball in seiner linken Hand. Nebelfetzen hingen über der weihnachtlich geschmückten Stadt, und der morgendliche Verkehr staute sich beinahe bis Oakland zurück.

Seit über zwei Monaten war Lucas bereits vom Dienst zurückgestellt, und er war kurz davor, zu explodieren. Bis zu dem Tag, als er angeschossen worden war, hatte er nicht viel über sein Leben nachgedacht. Er hatte es fünfunddreißig Jahre lang einfach so hingenommen. Aber nur zwei Monate ohne Aktivität in seinem Apartment nahe dem Präsidium, den Blick pausenlos auf den Fernseher gerichtet, hatten ihn an den Rand der Verzweiflung gebracht.

Er wollte wieder arbeiten. Er wollte etwas anderes tun, als nachmittags von einer TV-Serie in die andere zu flippen und beim Dinner Spielshows anzuschauen. Und die langen Nächte, allein …

„Hallo, Lucas.“ Bentley hatte den Raum betreten. „Da bin ich.“ Der dünne Mann mit dem kahlen Kopf warf einen Stapel Unterlagen auf den bereits übervollen Schreibtisch. Dick Bentley wurde als Polizist respektiert, und das war nach Lucas’ Meinung das Wichtigste, was ein Mann in einer solchen Position erwarten konnte.

„Schön, Sie zu sehen“, sagte Lucas.

„Es ist schon eine Weile her, seit …“ Bentley verstummte.

„Ja, so ist es.“ Lucas hatte nicht die Absicht, das Wort Begräbnis laut auszusprechen.

„Wie geht’s?“ Dick ließ sich in seinen Sessel fallen.

„Besser. Immerhin besitze ich noch einen Arm. Und der Arzt meint, zu gegebener Zeit könnte auch der andere Arm wieder voll einsatzfähig sein.“ Lucas ging um den Schreibtisch herum und nahm auf einem der harten Holzstühle Platz. „Sie wollten mit mir sprechen?“

Dick Bentley nahm die Unterlagen auf, die er gerade vorhin auf den Tisch geworfen hatte. „Ein Spezialauftrag. Ein Job, der Sie langsam wieder an die Arbeit heranführen soll.“

„Schon akzeptiert.“

„Ohne zu wissen, worum es sich handelt?“

„Hauptsache, ich kann arbeiten“, antwortete Lucas ehrlich.

Dick entnahm dem Stapel ein Blatt und schob es über den Tisch Lucas zu. „Werfen Sie einen Blick darauf.“

„Worum geht es?“

„Eine Notiz, die jemand ans Polizeidepartment geschickt hat.“

Sie haben Ihr Leben verwirkt. Sie werden für das Leben eines anderen bezahlen müssen. Lucas überflog den Rest, eine chaotische Tirade über Wahrheit und Gerechtigkeit. Unterschrieben war das Ganze mit Jemand, der es ernst meint.

„Jemand der es ernst meint?“ Lucas sah Dick an. „Was zum Teufel soll das heißen?“

„Wer weiß. Diese Art Drohbriefe erhalten die Pflichtverteidiger nicht selten. Das gehört fast zu ihrem Job, würde ich sagen.“

Lucas warf das Blatt zurück auf den Tisch. „Wen soll es verwundern? Die lassen ja den Abschaum der Erde frei herumlaufen.“ Mit einer heftigen Bewegung steckte Lucas den Ball in seine Jackentasche. „Wenn Jimmy Barnes im Gefängnis geblieben wäre, nachdem er im letzten Jahr festgenommen worden war, hätte er mich nicht anschießen können.“

„Genau. Und es gibt Leute, die sind in einem solchen Falle weniger pragmatisch als Sie. Die flippen aus.“

Lucas zog eine Grimasse. „Klinge ich so bitter?“

„Ziemlich.“

Lucas schüttelte den Kopf. „Mag sein. Es ist frustrierend. Ein Polizist setzt bei der Festnahme sein Leben ein, und irgendein gewichtiger Wohltäter findet eine Lücke im Gesetz, und schon ist der Gauner wieder frei.“

„Jimmy Barnes lief nicht frei herum. Er hatte zehn Jahre abgesessen.“

Lucas blickte auf das Papier. „Okay, aber was hat das alles mit mir zu tun?“

Dick klopfte auf den Stapel Unterlagen. „Dies sind weitere Drohbriefe. Gestern teilte mir Ryan Sullivan, der stellvertretende Staatsanwalt, mit, dass der Schreiber inzwischen Kontakt mit der Pflichtverteidigerin aufgenommen habe. Er rief ihre geheime Privatnummer an und bedrohte sie mit dem Tode.“

„Die Pflichtverteidigerin scheint Probleme zu haben.“

„Das hat sie. Die bitten uns um Hilfe.“

„Schlagen Sie doch vor, einen Leibwächter heranzuziehen.“

„Das ist unmöglich.“

„Warum?“

„Weil die Möglichkeit besteht, dass jemand aus dem Polizeidepartment dafür mitverantwortlich ist.“

Lucas runzelte die Stirn. „Wie kommen Sie denn darauf?“

„Die Ausdrucksweise in den Briefen und am Telefon deutet darauf hin.“

„Jedermann könnte dieser Sprache gebrauchen.“

„Könnte, aber es ist nicht wahrscheinlich. Da steckt mehr dahinter. Nur kann ich mit Ihnen nicht darüber reden.“

„Glauben Sie, dass ein Polizist unter den Pflichtverteidigern Angst verbreiten will und dabei so weit über das Ziel hinausschießt?“

„Möglich.“

„Haben Sie eine Vermutung, wer es sein könnte.“

„Keine.“

„Was wollen Sie tun?“

„Wir werden die Verteidigerin beschützen, bis wir sicher sind, was da vorgeht.“

Lucas hätte beinahe laut aufgelacht. „Schutz? Welcher Polizist würde es sich wünschen, jemanden rund um die Uhr zu beschützen, dessen Ziel es ist, das von der Polizei Erreichte wieder …“ In diesem Augenblick ging Lucas ein Licht auf. „Oh, nein. Ich will arbeiten, nicht den Babysitter für irgend so eine liberale Pflichtverteidigerin spielen.“

„Sie sagten, Sie wollten arbeiten“, entgegnete Dick bestimmt. „Ich brauche Sie in diesem Fall. Die Sache muss diskret bearbeitet werden. Und das wäre nicht möglich, wenn das Department eingeschaltet würde. Außerdem möchten wir vermeiden, dass die Medien darauf aufmerksam werden.“

„Sie haben andere …“

„Es ist Urlaubszeit, und wir brauchen jeden verfügbaren Beamten im Dienst. Und da Sie vorerst nur begrenzt einsatzfähig sind, fällt unsere Wahl logischerweise auf Sie. Da Sie keine Familie haben, wird es Ihnen sicher nicht so schwerfallen, für eine Woche oder so von zu Hause abwesend zu sein.“

„Was meinen Sie mit abwesend sein?“

„Wir beordern Sie auf ein Kreuzfahrtschiff. Sehen Sie es als Bonus an. Ein ruhiger Job, so eine Kreuzfahrt.“ Dick lächelte beinahe. „Danken Sie nicht mir. Der Befehl kommt von ganz oben und hat höchste Priorität.“

„Klare Sprache, Dick.“

„Okay. Die Frau muss außer Reichweite sein, während wir herausfinden, wer hinter ihr her ist.“

„Also nicht allein zu ihrem Schutz, sondern auch zum Schutz der Abteilung?“

„Wir müssen herausfinden, wer hinter den Drohungen steckt.“

Lucas wusste, dass ihm keine Wahl blieb. Immerhin brauchte er nicht länger seine vier Wände anstarren, dachte er. „Okay. Ich verstehe. Sagen Sie mir, wen ich auf dieser Kreuzfahrt beschützen soll.“

„Shelley Kingston.“

Lucas fuhr von seinem Stuhl hoch, noch bevor der Name ausgesprochen war. „Was zum Teufel soll das sein? Ein Witz?“

Dick blieb von Lucas’ Aufbrausen unbeeindruckt. „Sehe ich so aus, als machte ich Witze? Es ist nicht erforderlich, jemanden zu mögen, den man beschützen soll. Wäre das die Voraussetzung, so fänden neunzig Prozent der Menschen in dieser Stadt keinen Polizeischutz.“

„Diese Shelley Kingston hat erreicht, dass Freddy Monroes Anklage aus Mangel an Beweisen fallen gelassen wurde. Himmel, sie bekam ihn in weniger als einer Woche frei, und er tötete gleich darauf einen Polizisten.“ Lucas lehnte sich vor. „Einen guten Polizisten. Larry Hall hätte nicht sterben dürfen in diesem miesen Viertel, als er versuchte, Monroe festzunehmen. Und er wäre nicht gestorben, wenn die Verteidigerin Monroe im Gefängnis hätte verrotten lassen.“

Dick zuckte nicht einmal mit der Wimper. „Sind Sie fertig?“

Lucas atmete tief durch. „Sie waren auf der Beerdigung.“

„Larry kannte sein Risiko. Wie wir alle unser Risiko kennen.“

„Es stinkt zum Himmel.“

„Erst recht, wenn wir den nicht finden, der dahintersteckt. Außerdem habe ich dies satt.“

„Was haben Sie satt?“

„Jemandem zu sagen, was getan werden muss. Sie machen es mir nicht leicht. Würde mir eine Kreuzfahrt angeboten, würde ich vor Freude jubeln. Selbst wenn ich meine Schwiegermutter beschützen müsste.“

„Es ist nicht gerade eine Urlaubsreise.“

„Das ist mir klar. Sie werden die Lady und ihr Kind bewachen.“

„Ein Kind?“

„Eine sieben Jahre alte Tochter.“

Das wird ja immer schlimmer, dachte Lucas. Er hatte nie viel mit Kindern zu tun gehabt. „Wie gesagt, ich bin kein Babysitter.“

„Sie brauchen nur Ihren Job zu tun. Und um es Ihnen ein wenig leichter zu machen, setzen wir jemanden von der Crew ein, der sich besonders um das Kind kümmern soll.“

„Was ist mit dem Ehemann?“

„Die Lady ist geschieden.“

„Wie lange werde ich gebraucht?“

„Die Reise dauert eine Woche, dann werden wir hoffentlich alles aufgedeckt haben.“

Lucas fuhr sich mit der Hand durchs Haar. „Okay. Für eine Woche kann ich alles ertragen …“

2. KAPITEL

Am nächsten Tag waren alle Details arrangiert. Das Schiff sollte am Nachmittag um vier Uhr ablegen.

Lucas ging von der Polizeidienststelle zum Gerichtsgebäude. Dort überflog er den Dienstplan, der in der Lobby aushing, bis er den Namen Kingston fand und die Nummer des Gerichtssaales, in dem sie an diesem Vormittag war. Zweiter Stock, Zimmer zehn-null-sechs. Zumindest einen Blick wollte er auf die Frau werfen, bevor er ihr auf dem Schiff begegnete.

Er nahm den Lift, schlüpfte in den Gerichtssaal und setzte sich in die letzte Reihe nahe der Tür. Die Verhandlung schien sich in der Endphase zu befinden.

„Mrs. Kingston“, sagte in diesem Moment der Richter zu der blonden, knabenhaft wirkenden Frau in dem dunkelblauen Kostüm, die neben einem dicken, glatzköpfigen Mann saß. „In diesem Fall waren offensichtlich eine Menge Drogen im Spiel. Vielleicht können Sie Ihrem Klienten sagen, dass es ihm zum Vorteil gereichen würde, wenn ich sein Gesicht nie wieder hier in meinem Gerichtssaal sähe.“

„Ja, Euer Ehren. Das werde ich“, murmelte Shelley Kingston.

Der Richter schlug mit dem Hammer auf den Tisch. „Der Gerichtssaal ist bis dreizehn Uhr geschlossen.“

Lucas fühlte, wie ihn der Ekel im Hals würgte. Der Schmerz in Schulter und Hand verstärkte sich, und er presste den roten Ball zwischen den Fingern. Eine weitere nichtswürdige Kreatur konnte frei auf den Straßen herumlaufen. Er sah, wie der tätowierte Mann sich rasch vom Sitz erhob, im Gang auf seinen Freund stieß und mit ihm zusammen dem Ausgang zustrebte. Beide Männer klopften einander grinsend auf die Schultern. Als die Schwingtüren hinter ihnen zufielen, wollte auch Lucas den Raum verlassen. Er hatte genug gesehen.

Unerwartet versetzte etwas seinem linken Arm einen Schlag, und ein stechender Schmerz strahlte zu seinem Nacken und seiner Schulter aus. Der Trainingsball flog ihm aus der Hand, er umklammerte seinen Arm, wirbelte herum und sah Shelley Kingston zu seinen Füßen, wie sie versuchte, auf allen vieren lose Blätter aufzusammeln, die auf dem beigen Teppich verstreut herumlagen. Lucas verzog das Gesicht. Es sah ganz danach aus, als hätte sich ihre verdammte Aktentasche plötzlich geöffnet und dabei seinen Arm getroffen.

Dann blickte er sich suchend nach seinem Ball um und sah ihn nahe der Barriere liegen. Rasch ging er hinüber und hob ihn auf, und als er sich umdrehte, war Shelley Kingston gerade dabei, sich mit der geschlossenen Aktentasche wieder aufzurichten.

Der erste genaue Blick auf die Frau überwältigte ihn. Sie wirkte alles andere als knabenhaft mit ihren vollen Brüsten, die sich unter dem geraden Schnitt ihres Blazers abzeichneten. Lavendelfarbene Augen blickten ihn unter dichten Wimpern an, und eine sanfte Röte überzog ihre Wangen.

Sie trug kaum Make-up, was auch völlig überflüssig gewesen wäre. Lucas stand einer Frau gegenüber, die alles andere als die erwartete reizlose Superfeministin war, und er verlor geradezu die Fassung, als ihm bewusst wurde, dass sie unter anderen Umständen zweifellos sein männliches Interesse geweckt hätte.

Seltsam, er hatte das Gefühl, ihr schon einmal begegnet zu sein.

„Verzeihung, ich hatte Sie nicht gesehen“, entschuldigte Shelley sich ein wenig atemlos. „Ich bin in Eile.“

Lucas hatte nicht geplant, mit der Frau zu reden. Nur beobachten wollte er sie, um herauszufinden, was ihm in der kommenden Woche bevorstehen mochte.

„Ich hatte Sie auch nicht bemerkt“, murmelte er.

Autor

Mary Anne Wilson
<p>Mary Anne wurde in Toronto, Kanada, geboren und fing bereits im Alter von neun Jahren mit dem Schreiben kleiner Geschichten an. Über den Ausgang von Charles Dickens' berühmtem Roman "A Tale of Two Cities" ("Eine Geschichte zweier Städte") war sie so enttäuscht, dass sie das Ende kurzerhand nach ihren Vorstellungen...
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