Die große Liebe von Vermont (3-teilige Serie)

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SO GEBORGEN IN DEINEN ARMEN von CHRISTINE FLYNN
Mit gebrochenem Herzen kehrt Jenny Baker ins idyllische Maple Mountain zurück. Hier hofft sie, endlich Ruhe zu finden vor all ihren Problemen – und vor allem vor Männern. Ihr neuer Boss Dr. Greg Reid lässt sie diese letzte Entscheidung aber noch einmal überdenken …

BITTERSÜSSE HEIMKEHR von CHRISTINE FLYNN
Eine süße Sache! Der reiche Jack Travers weiß genau, dass er die Fehler seines Vaters nicht wieder gutmachen kann. Aber Eve soll darunter nicht länger leiden. Ihre Ahornsirup-Produktion braucht seine Unterstützung. Und sie auch …

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  • Erscheinungstag 02.12.2021
  • ISBN / Artikelnummer 9783751512534
  • Seitenanzahl 480
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

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Christine Flynn

Die große Liebe von Vermont (3-teilige Serie)

IMPRESSUM

So geborgen in deinen Armen erscheint in der Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg

Cora-Logo Redaktion und Verlag:
Postfach 301161, 20304 Hamburg
Telefon: +49(0) 40/6 36 64 20-0
Fax: +49(0) 711/72 52-399
E-Mail: kundenservice@cora.de

© 2005 by Christine Flynn
Originaltitel: „Trading Secrets“
erschienen bei: Silhouette Books, Toronto
Published by arrangement with HARLEQUIN ENTERPRISES II B.V./S.àr.l.

© Deutsche Erstausgabe in der Reihe BIANCA
Band 1538 - 2006 by CORA Verlag GmbH & Co. KG, Hamburg
Übersetzung: Stefanie Rose

Umschlagsmotive: LittleBee80 / Getty Images

Veröffentlicht im ePub Format in 12/2021.

E-Book-Produktion: GGP Media GmbH, Pößneck

ISBN 9783751512633

Alle Rechte, einschließlich das des vollständigen oder auszugsweisen Nachdrucks in jeglicher Form, sind vorbehalten.
CORA-Romane dürfen nicht verliehen oder zum gewerbsmäßigen Umtausch verwendet werden. Sämtliche Personen dieser Ausgabe sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.

Weitere Roman-Reihen im CORA Verlag:
BACCARA, BIANCA, JULIA, ROMANA, HISTORICAL, TIFFANY

 

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1. KAPITEL

Wenn man erst mal ganz unten angekommen war, konnte es doch eigentlich nur noch aufwärts gehen, oder?

Jenny Baker war sich nicht sicher, ob dieser Gedanke sie tröstete oder noch mehr deprimierte. Sie seufzte, strich sich vorsichtig über die verletzte Stirn und beugte sich über die Umzugskiste vor ihr, um weiter auszupacken.

Das Haus, das in Zukunft ihr Zuhause sein würde, glich einer Ruine. Von den Küchenschränken löste sich die Farbe in breiten Streifen, das Email-Spülbecken hatte Roststellen, und die Fensterscheibe darüber war gesprungen.

Der Blick ging in einen unkrautüberwucherten Garten, der jetzt allerdings vor lauter Regen kaum zu sehen war. Ein großer Topf in der Mitte der Küche fing die Regentropfen auf, die von der Decke tropften.

Immerhin hatte sie überhaupt ein Dach über dem Kopf – doch dass jetzt auch noch das Wetter gegen sie war, munterte Jenny nicht gerade auf.

Im nördlichen Vermont war es Mitte August normalerweise warm und sonnig. Jenny liebte diese Jahreszeit, und sie hatte sich nicht satt sehen können an der grünen, leicht hügeligen Landschaft, als sie von der Autobahn auf die gewundene Landstraße abgebogen war, die sie nach Maple Mountain brachte – nach Hause.

Doch offenbar war ihr die dunkle Wolke, die ihr Leben schon seit einem Monat überschattete, bis hierher gefolgt. Knapp eine Stunde nachdem sie die Bretter von den Fenstern im Erdgeschoss entfernt hatte, zog ein heftiges Sommergewitter auf, und jetzt regnete es immer noch.

Mit dem Ausladen des Wagens war sie zum Glück schon fertig gewesen – kein Kunststück, da ihr von ihrem Besitz nicht mehr als ihre Koffer und vier Umzugskisten geblieben waren. Als weiteren glücklichen Umstand wertete sie die beiden Petroleumlampen, die sie in der Abstellkammer gefunden hatte und die es ihr ermöglichten, diese vier Kisten trotz der Dunkelheit draußen auszupacken.

Denn der Stromausfall hatte leider nichts mit dem Gewitter zu tun. Die Petroleumlampen würden wohl noch eine Weile ihre einzige Lichtquelle sein. Die eine hatte Jenny auf die sandfarbene Arbeitsplatte gestellt, die andere auf den kleinen Kanonenofen, der während der langen, verschneiten Wintermonate auch als Heizung diente.

Doch daran wollte Jenny lieber nicht denken. Sie stellte ihre roten Müslischalen in das Fach, das sie mit frischem Schrankpapier ausgelegt hatte, und versuchte, das rhythmische Tropfen in dem Topf hinter ihr zu überhören. Keinen Strom, kein Telefon und ein undichtes Dach zu haben zählte überraschenderweise im Augenblick nicht zu ihren größten Problemen.

Bis kurz nach zehn am selben Vormittag hatte sie in einem schicken Mietshaus in einem trendigen Viertel in Boston gelebt, das sich durch Delikatessengeschäfte, vornehme Restaurants und angesagte Bars auszeichnete.

Sie hatte zur Happy Hour mit ihren Freundinnen in den Bars ein paar Aperitifs genommen, und sie war mit ihren Nachbarn, ihrem Viertel und ihrem Leben rundum zufrieden gewesen.

Bis vor einem Monat hatte sie sogar einen guten Job gehabt. Nachdem sie sich in einer Maklerfirma zur persönlichen Assistentin des Vizepräsidenten hochgearbeitet hatte, war sie am Ziel ihrer Wünsche angekommen. Der Mann hatte ihr in allem vertraut, in der Wahl der richtigen Mittel gegen Sodbrennen genauso wie bei der Verwaltung von Kundenkonten, die mehr Geld enthielten als die Banksafes mancher kleinerer Staaten.

Die Arbeit war aufregend und abwechslungsreich gewesen und bot ihr die Aufstiegschancen, die sie in Maple Mountain nie gefunden hätte.

Außerdem war sie mit einem viel versprechenden Broker ausgegangen, den eine glänzende Karriere erwartete und der von Heirat und Kindern sprach.

Bei der Erinnerung daran verkrampfte sich Jennys Magen, und sie stellte die Schale, die sie gerade ausgepackt hatte, heftiger ab als beabsichtigt.

Das war vorbei. Im Augenblick konnte sie froh sein, wenn wenigstens das kleine Restaurant vor Ort, in dem sie sich schon während des Studiums etwas dazuverdient hatte, sie als Kellnerin einstellte. Schließlich war sie bis über beide Ohren verschuldet.

Ein lautes Poltern an der Tür ließ sie zusammenzucken, und die Schale, die sie gerade in der Hand hielt, fiel zu Boden. Die leuchtend roten Scherben sprangen in alle Richtungen über den abgewetzten Linoleumboden.

„Ich weiß, dass jemand da drinnen ist, ich sehe Licht. Würden Sie bitte aufmachen?“ Die tiefe, männliche Stimme wurde unvermittelt leiser. „Ich brauche Hilfe.“

Das kümmerte Jenny allerdings wenig. Sie hatte heute schon eine unangenehme Begegnung mit einem Fremden hinter sich und keine Lust, ihre Pechsträhne mit einem weiteren Zwischenfall zu verlängern. Das nächste Haus war fast einen halben Kilometer entfernt.

Wieder polterte es an der Tür. „Kommen Sie, bitte. Ich bin verletzt.“

Jenny hatte nicht vorgehabt, zu öffnen, doch nun änderte sie ihre Meinung. Natürlich konnte der Fremde alles Mögliche behaupten, doch seine Stimme klang tatsächlich, als hätte er Schmerzen.

Mit klopfendem Herzen schlich sie durch das dämmrige und völlig leere Wohnzimmer und spähte durch das ovale Fenster, das in der Haustür eingelassen war.

Allerdings half ihr das nicht weiter, denn eine dicke Staubschicht lag auf dem Glas. Sie erkannte nur den Umriss eines Mannes, der offenbar dunkle Haare hatte. Den Umriss eines großen und breitschultrigen Mannes.

An der Haltung seines linken Arms sah sie, dass er nicht an der Tür geklopft, sondern dagegen getreten hatte. Und er holte schon zum nächsten Tritt aus. Als er sie bemerkte, trat er jedoch hastig einen Schritt zurück.

Sie hatte einen Schraubenschlüssel aus ihrem Autowerkzeugkasten benutzt, um die Bretter von den Fenstern zu hebeln, und der lag praktischerweise noch auf der Fensterbank. Sie hob ihn auf, schloss fest die Finger darum und öffnete dann vorsichtig die Tür einen Spaltbreit.

Draußen grollte noch immer der Donner. Obwohl der Regen für eine frühe Dämmerung sorgte, konnte sie den Fremden deutlich sehen, als sie hinausspähte.

Er sah wahrscheinlich gut aus, wenn sein Gesicht nicht gerade schmerzverzerrt war. Außerdem war er bis auf die Haut durchnässt. Sein dunkles Haar lag wie ein Helm am Kopf, und das Hemd klebte ihm am Körper, sodass die Muskeln sich darunter abzeichneten.

Ihr Blick fiel auf den linken Arm, den er mit dem rechten an den Oberkörper gedrückt hielt. Er wirkte verletzt, und Jenny öffnete die Tür ein Stück weiter.

Doch er rührte sich nicht, die Augen auf den Schraubenschlüssel in ihrer Hand gerichtet. „Mein Wagen ist von der Straße abgekommen, da vorn.“ Er versuchte mit einer Kopfbewegung die Richtung anzudeuten, unterbrach sie jedoch mit einem Schmerzenslaut. „Ich habe mir die Schulter ausgekugelt. Könnten Sie mir vielleicht helfen?“

Jenny betrachtete den Fremden prüfend. Früher hätte sie ihn sofort hereingebeten. Doch nach mehreren Jahren in der Stadt und den Ereignissen der letzten vier Wochen war sie nicht mehr so vertrauensselig wie früher. Wer weiß, vielleicht zog der Kerl eine riesige Show ab und würde über sie herfallen, kaum dass er im Haus war.

„Ist noch jemand im Wagen?“

„Nein, ich bin allein.“

„Und wo hatten Sie den Unfall?“

„In der Todeskurve. Deshalb wird die ja so genannt. Hören Sie …“

„In welche Richtung sind Sie gefahren?“

Er schluckte schwer und lehnte sich erschöpft gegen den Verandapfosten. „Richtung Westen.“

Sein Gesicht verlor alle Farbe, und er atmete mühsam. Das reichte Jenny, um alle Vorsicht in den Wind zu schlagen und den Schraubenschlüssel fallen zu lassen. Selbst wenn er noch so ein talentierter Schauspieler war, würde er wohl kaum seine Gesichtsfarbe auf Kommando ändern können.

Eilig trat sie auf die Veranda und hoffte inständig, dass er nicht ohnmächtig wurde. „Halten Sie durch. Ruhen Sie sich einen Moment aus. Okay?“

Er war groß und schwer, und wenn er zusammenbrach, würde sie ihn niemals allein bewegen können. „Ich hole nur schnell meine Handtasche mit dem Autoschlüssel.“

„Die brauchen Sie nicht. Sie können mir helfen.“

„Das habe ich ja vor“, erklärte sie geduldig und fragte sich kurz, ob er sich den Kopf angeschlagen hatte. Ohne Autoschlüssel konnte sie schließlich nicht fahren. „Ich bringe Sie zum Arzt.“

„Ich bin der Arzt.“

Jenny hatte sich wieder zur Haustür umgedreht. Nun blieb sie stehen und wandte langsam den Kopf. Ihr Misstrauen flammte sofort wieder auf. „Ich kenne zufällig den Arzt hier“, sagte sie. „Doc Wilson ist kleiner als ich und so alt wie Methusalem.“

„Ich weiß. Deswegen hat er sich ja zur Ruhe gesetzt. Ich habe vor zwei Jahren seine Praxis übernommen.“

„Dann bringe ich Sie zur Krankenschwester.“

„Bess ist bei einer Geburtstagsfeier in West Pond.“

Jennys Zweifel legten sich wieder. Er kannte Bess.

„Ich weiß, dass Sie mich nicht kennen“, sagte er, bevor ihr eine Antwort einfiel. „Ich kenne Sie ja auch nicht. Und ich habe keine Ahnung, was Sie in dem verlassenen Haus hier zu suchen haben. Aber ich verspreche Ihnen, dass ich Ihnen keinen Ärger mache. Mein Name ist Greg Reid, ich wohne im Haus am Ende der Hauptstraße, ein paar Blocks von der Praxis entfernt. Sehen Sie sich meinen Führerschein an, wenn Sie wollen, er steckt in meinem Portemonnaie in der hinteren Hosentasche.“ Während er sprach, war er noch blasser geworden. „Ich würde ihn Ihnen zeigen, aber ich kann meinen Arm nicht loslassen.“

Seine Stimme klang schmerzerfüllt, aber sie glaubte, auch Verzweiflung herauszuhören. Auf einmal bekam sie ein schlechtes Gewissen. Gut, sie hatte einen der schlechtesten Tage ihres Lebens, aber ihr Besucher schien auch nicht gerade das große Los gezogen zu haben.

Es kam ihr klüger vor, ihm zu vertrauen, als in seiner Gesäßtasche nach seinem Führerschein zu suchen. „Tut mir leid“, sagte sie und meinte damit gleichermaßen seine Situation wie ihre übermäßige Vorsicht. „Aber dann müssen wir Sie eben woandershin bringen.“ Es gab ein Krankenhaus, das allerdings fast anderthalb Fahrtstunden entfernt lag. „Ich habe keine Ahnung, wie ich Ihnen sonst helfen könnte.“

„Ich erkläre Ihnen, was Sie tun sollen. Es ist nicht schwierig. Ich muss mich nur setzen. Okay?“

Greg musste sich dringend hinsetzen, hauptsächlich, weil er nicht wusste, wie lange er sich noch aufrecht halten konnte. Sein Schlüsselbein, seine Brust, sein linker Arm und sein Rücken pulsierten vor schneidenden, immer stärker werdenden Schmerzen. Er spürte Schweißperlen auf seiner Oberlippe, und wenn er daran dachte, wie weh es tun würde, wenn er den Arm erst losließ, wurde ihm schlecht.

Aber immerhin trat die entnervend misstrauische junge Frau vor ihm nun endlich zur Seite, um ihm Einlass ins Haus zu gewähren, und sie wirkte kräftig genug, um ihm tatsächlich zu helfen.

Seine Retterin schloss die Tür hinter ihnen und folgte ihm durch den dunklen, leeren Raum in Richtung des Lichtscheins. „Hier hinein“, sagte sie und ging an ihm vorbei. „Neben der Spüle steht ein Hocker.“

Er folgte ihr in die ebenso leere Küche. Im Lichtschein sah er rote Keramikscherben auf dem Boden. Offenbar gab es keine Möbel im Haus, und die einzige Sitzgelegenheit war tatsächlich der Hocker.

Schwindlig vor Schmerzen beobachtete er, wie sie eine Umzugskiste von der Sitzfläche auf den Boden stellte und sich dann mit beiden Händen das zum Pagenkopf geschnittene, rotbraune Haar aus dem Gesicht strich.

Sie war jung und hübsch, und wenn er nicht solche Qualen ausgestanden hätte, hätte er ihren tiefblauen Augen sicher mehr Aufmerksamkeit geschenkt. In seiner jetzigen Lage interessierte ihn allerdings nur, dass sie intelligent genug aussah, um seinen Anweisungen folgen zu können. Und dass er sich endlich hinsetzen konnte.

Im Licht sah er noch schlimmer aus. Schweißperlen standen ihm auf Stirn und Oberlippe, und er zitterte. Erschrocken legte Jenny ihm eine Hand auf den unverletzten Arm. Unter dem nassen Stoff fühlten sich seine Muskeln hart und kalt an.

„Einen Moment“, sagte sie und ließ die Hand lange genug auf seinem Arm liegen, um sicherzugehen, dass er nicht vom Hocker fallen würde. „Ich hole Ihnen ein Handtuch.“

Sie war sich nicht sicher, ob er nur vor Kälte zitterte oder ob es ein Anzeichen für Schock war.

„Können Sie das Hemd ausziehen?“, fragte sie. „Sie sind ja klatschnass.“

„Ich will meinen Arm nicht loslassen.“

Offenbar bedeutete das, dass er dabei Hilfe brauchte.

Eine Ecke der Küche hatte sie schon gefegt und zwei weitere Umzugskisten dort abgestellt, von denen eine ihr Bettzeug enthielt. Sie riss sie auf, durchwühlte den Inhalt und zog ein hellgelbes Badetuch heraus.

Er saß jetzt vornübergebeugt und stützte den Ellenbogen seines verletzten Armes auf dem Oberschenkel ab. Mit der freien Hand mühte er sich mit dem obersten Hemdknopf ab, was durch den nassen Stoff und seine unbequeme Position noch erschwert wurde.

Hastig ließ Jenny das Handtuch auf die Kiste fallen, die sie gerade ausgepackt hatte. „Warten Sie, ich mache das.“

Sein leises „Danke“ klang furchtbar schwach.

Seine offensichtlichen Schmerzen ließen ihr keine Zeit, darüber nachzudenken, wie unbehaglich sie sich dabei fühlte, einem Fremden das Hemd aufzuknöpfen. Um die Manschetten brauchte sie sich nicht kümmern, da er die Ärmel aufgekrempelt trug. Doch als sie den untersten Knopf erreicht hatte, musste sie ihm das Hemd aus der Hose ziehen.

Ihn schien es nicht zu kümmern, dass eine wildfremde Frau seinem Hosenreißverschluss nahe kam, und auch nicht, dass sie ihm die Arme um die Taille legen musste, um das Hemd hinten herauszuziehen. Im Gegenzug versuchte sie zu ignorieren, dass er nach einer würzigen Seife roch und sie darunter noch eine andere, männliche Note entdeckte. Da sie so dicht vor ihm stand, spürte sie die Wärme, die sein großer, breitschultriger Körper ausstrahlte. Auch die Berührung seiner Schenkel an den Innenseiten ihrer Beine war ihr nur allzu deutlich bewusst.

Aus seinem Haar löste sich ein Wassertropfen, lief ihm über die Wange und blieb an seinem Kinn hängen. Sie widerstand dem Impuls, ihn abzuwischen, und sagte stattdessen mit einem Blick auf seine Schulter: „Sie müssen den Arm noch einmal loslassen.“

Er unterdrückte ein Stöhnen, sodass Jenny den nassen Ärmel von seinem Arm streifen konnte. Dann hielt er ihn sofort wieder fest.

Sie ließ das Hemd achtlos auf die Arbeitsplatte fallen, denn ihre ganze Aufmerksamkeit war von seinem muskulösen Oberkörper gefesselt. Allerdings war es nicht so sehr sein beeindruckender Körperbau, von dem sie den Blick nicht wenden konnte, während sie nach dem Handtuch tastete, sondern der riesige Bluterguss auf seiner Brust, die tennisballgroße Beule unter seinem Schlüsselbein und der völlig falsche, flache Winkel, in dem seine Schulter abfiel.

„Lassen Sie das jetzt“, sagte er stöhnend. „Bringen wir es besser hinter uns.“

Sie warf das Handtuch zurück auf die Kiste. „Was soll ich denn tun?“

„Legen Sie Ihre Hand auf den Kopf des Humerus.“

Der schreckliche Anblick verstärkte ihre ursprünglichen Bedenken nur noch. „Das Fachchinesisch lassen Sie besser weg.“

„Das runde Ding unter meinem Schlüsselbein.“

Vorsichtig stellte sie sich wieder zwischen seine gespreizten Beine und tat, was er gesagt hatte. Als sie die Beule berührte, sog er scharf die Luft ein. „Ja, dort.“

„Lieber Himmel.“

Die gerötete Haut fühlte sich an ihrer Handfläche kühl und an den Fingern heiß an. Jenny spürte den Knochen und die verkrampften Muskeln darum herum. Sie zuckten unter ihrer Hand, und sie sah den Mann entsetzt an.

Er hielt die Augen geschlossen, und die Wimpern hoben sich pechschwarz vor der unnatürlich blassen Haut seiner Wangen ab. Auch die vollen, geschwungenen Lippen wirkten blutleer. Er öffnete leicht den Mund und atmete langsam aus.

Sie tat es ihm nach, und als er langsam die Augen öffnete, bemerkte sie zum ersten Mal ihre eigenartige, silbergraue Farbe. Gleichzeitig wurde ihr klar, dass es schiere Willenskraft war, die ihn daran hinderte, einfach ohnmächtig zu werden.

„Was jetzt?“, fragte sie gepresst.

„Die Muskeln haben sich völlig verkrampft, also müssen Sie selbst Kraft aufwenden. Nehmen Sie meinen Arm, und wenn ich ihn loslasse, dann ziehen Sie daran, während Sie gleichzeitig die Kugel nach unten drücken. Ich werde dagegen halten.“

Unbehaglich ergriff sie seinen Oberarm knapp über dem Ellenbogen. Sobald er seinen Arm losließ, versteifte sich sein Körper – und ihrer ebenso, denn er legte die freie Hand auf ihre Hüfte.

Die Berührung kam so unerwartet, dass ihre Stimme kraftlos klang, als sie fragte: „So?“

Zwischen zusammengebissenen Zähnen stieß er hervor: „Los.“

Innerlich zitternd begann Jenny, an seinem Arm zu ziehen. Sie war nicht darauf gefasst, wie schwer und leblos er sich anfühlte, und umfasste ihn fester, während sie gleichzeitig auf den Knochen drückte.

„Fester“, stöhnte er.

Es bestand kein Zweifel daran, dass sie ihm Schmerzen zufügte. Seine ohnehin schon feuchte Haut glänzte nun vor Schweiß, sein Atem kam stoßweise. Alles in ihr drängte danach, ihn sofort loszulassen, als sie spürte, wie der Knochen sich bewegte.

„Fester“, stieß er wieder hervor.

„Ich ziehe ja schon, sosehr ich kann.“

Da die Muskeln um den Knochen völlig verkrampft waren, bewegte sich der Knochen nicht weit genug.

Er griff wieder nach seinem Arm und sagte ihr, sie solle aufhören.

Hilflos betrachtete Jenny sein schmerzverzerrtes Gesicht.

„Ich habe befürchtet, dass es nicht klappt.“

Ungläubig starrte sie ihn an. „Wieso haben wir es dann gemacht?“

„Weil es die einfachste Methode ist, einen ausgekugelten Arm einzurenken. Wenn es denn funktioniert“, erklärte er, atmete dann ein paarmal durch.

Er war jetzt weiß wie die Wand und schwankte auf dem Hocker hin und her. Sie hatten es nur noch schlimmer gemacht.

„Oh Mann“, stöhnte er.

„Lieber Himmel“, stimmte sie ein und legte eine Hand auf seine unverletzte Schulter, um ihn zu stützen.

Sie versuchte, den grotesk hervorstehenden Knochen zu übersehen, und wischte einen Tropfen weg, der von seiner Schläfe zum Kinn lief.

„Haben Sie nicht ein Schmerzmittel?“ Auch auf der anderen Seite löste sich ein Tropfen, den sie ebenfalls auffing. „In Ihrer Arzttasche vielleicht? Ist die noch im Auto?“

„Ich hatte sie nicht bei mir.“

„Aber Landärzte gehen doch nie ohne ihre schwarze Arzttasche aus dem Haus.“

„Nur, wenn sie Hausbesuche machen. Und ich war woandershin unterwegs. Kommen Sie, wir schaffen das schon.“

Unendlich mühsam verlagerte er sein Gewicht, und seine Stimme klang so angespannt, dass es Jenny schon wehtat, ihm zuzuhören. „Wir brauchen eine größere Hebelwirkung. Sie müssen meinen Arm nehmen und ihn gleichzeitig nach unten und zur Seite ziehen. Ich werde mich am Spülbecken festhalten und in die andere Richtung ziehen. Dabei sollte die Gelenkkugel zurück in die Kapsel rutschen.“ Er schluckte hart. „Umfassen Sie mit der einen Hand meinen Ellenbogen und mit der anderen mein Handgelenk. Wenn Sie angefangen haben zu ziehen, hören Sie nicht auf, bevor ich es sage. Okay?“

Gar nichts war okay. „Ich werde Ihnen nur wieder wehtun“, protestierte sie.

„Nein“, drängte er, stützte den verletzten Arm wieder auf den Schenkel und griff mit der freien Hand nach ihrem Handgelenk, als sie zurückwich.

Als sie aufschrie, ließ er sie erschrocken wieder los.

„Sie helfen mir“, sagte er beschwörend. „Wir versuchen es noch einmal. Je länger wir warten, desto schlimmer werden die Muskelkrämpfe.“

Es war die Art, wie er „wir“ sagte, die sie überzeugte. Ohne sie war er hilflos, und seine Schmerzen würden nur noch schlimmer werden.

„Na schön“, gab sie nach und rieb sich das Handgelenk. „Aber versuchen Sie diesmal etwas, was auch funktioniert.“

„Ja, es wird klappen.“

Mit offensichtlicher Überwindung und schwer atmend ließ er seinen Arm wieder los und hielt sich mit der freien Hand an der Spüle fest.

Auch Jenny keuchte. „Auf drei?“, stieß sie hervor, und er nickte.

Sie hoffte verzweifelt, dass er wusste, was sie taten. Bei drei zog sie, so stark sie konnte, und er stieß einen Schrei aus, der ihr Übelkeit verursachte. Gleichzeitig spürte sie, wie der Knochen in Bewegung geriet, und obwohl das auch nicht gerade angenehm war, war es immerhin das, was sie erreichen wollten.

Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, und auch Jenny war mittlerweile klatschnass.

„Drehen Sie ihn nach unten“, stieß er kaum verständlich hervor.

Jenny betete stumm, dass der Mann, der sichtlich am Ende seiner Kraft war, nicht zusammenbrechen möge. Schließlich spürte sie, wie die Gelenkkugel mit einem satten Plopp wieder in die Kapsel glitt.

Einen Augenblick stand sie nur reglos da, unfähig zu atmen oder sich zu bewegen. Auch ihn schien alles Leben verlassen zu haben. „Kann ich jetzt loslassen?“, fragte sie schließlich zaghaft, noch nicht ganz überzeugt, dass sie es geschafft hatten.

Er antwortete nicht, sondern saß nur mit geschlossenen Augen da und sog heftig den Atem ein, offenbar zu geschwächt, um sich zu bewegen.

Vorsichtig und ganz langsam ließ sie seinen Arm los. Die Beule an seinem Schlüsselbein war verschwunden. Sie streckte die Hand aus und legte die Handfläche auf die Stelle, wo der Knochen hervorgetreten war. Die Muskeln dort fühlten sich noch immer schrecklich verkrampft und knotig an, und sie zweifelte nicht daran, dass Greg noch immer große Schmerzen litt. Doch sein Gesichtsausdruck begann sich zu entspannen. Offenbar war das Schlimmste vorüber.

Sie stand noch immer zwischen seinen Beinen und half ihm, das Spülbecken loszulassen und sich wieder gerade auf den Hocker zu setzen. Doch kaum hatte er sich aufgerichtet, als sein Körper wieder in sich zusammensank und sein Kopf auf ihre Schulter fiel.

Seine Erleichterung war so tief greifend, dass Jenny sie körperlich spürte. Auch sie selbst hätte vor Glück weinen mögen, als sie die Hand schützend um seinen Hinterkopf legte. Sie dachte überhaupt nicht darüber nach, was sie da tat, sondern folgte einfach ihrem Gefühl, hielt Greg fest an sich gedrückt und genoss die Atempause.

Daran, was sie getan hätte, wenn auch der zweite Versuch fehlgeschlagen wäre, mochte sie gar nicht denken. Unwillkürlich hielt sie ihn fester und streichelte sein nasses Haar.

Durch den Stoff ihres dünnen rosafarbenen Sweatshirts spürte sie seine Körperwärme, doch die Haut in seinem Nacken war unter ihren Fingerspitzen mit einer Gänsehaut überzogen. Instinktiv schlang sie beide Arme um ihn und zog ihn dichter an sich heran, um ihn zu wärmen.

Als ihr klar wurde, was sie da tat, wagte sie es allerdings vor Schreck nicht mehr, sich überhaupt zu rühren.

Greg spürte ihre plötzliche Anspannung im selben Moment, als das ungewohnt friedliche Gefühl verflog. Ein paar seltsame Augenblicke lang fühlte er sich umsorgt, geradezu getröstet.

Er selbst war immer für andere Menschen da, doch die stille Beruhigung, die er in der Umarmung dieser Frau fand, war etwas, was er selbst vorher noch niemals erfahren hatte. Nicht als Kind und nicht als Erwachsener. Nicht einmal bei der Frau, mit der er die letzten zwei Jahre zusammen gewesen war.

Überrascht hob er den Kopf. Nachdem der Schmerz zu einem dumpfen Pulsieren abgeklungen war, wurde ihm auf einmal bewusst, wie frisch und gleichzeitig weiblich sein rettender Engel duftete, wie sanft sie ihn berührte. Wie dicht sie vor ihm stand.

Da sein Kopf nur wenige Zentimeter von ihr entfernt war, hatte er einen hervorragenden Blick auf die zarte Haut an ihrem Hals, ihr leicht geschwungenes Kinn und ihre vollen, ungeschminkten Lippen.

Ihr Atem streifte seine Haut, und ihre Wärme rief ein Verlangen in ihm hervor, das er tief in sich vergraben hatte, nun aber als deutliches Ziehen in der Leistengegend spürte.

Ihre Wangen waren leicht gerötet, als sie eine Hand hob und ein paar Tropfen abwischte, die noch immer aus seinem Haar über seine Wange liefen. Doch als sie seinen Blick auf sich spürte, lächelte sie leicht und nahm die Hand weg.

„Es geht Ihnen besser“, sagte sie, trat einen Schritt zurück, griff nach dem Handtuch auf der Umzugskiste und legte es ihm um die Schultern.

„Viel besser.“ Er hob vorsichtig die Hand und tastete sein Schultergelenk ab. Ob er sich einen Bänderriss zugezogen hatte, ließ sich so allerdings nicht feststellen. Auf jeden Fall würde seine Schulter die nächsten Wochen die Farbe einer Aubergine haben. Im Augenblick war ihm allerdings alles recht, Hauptsache, der Schmerz war vorbei. „Ich danke Ihnen.“

Wieder lächelte sie zaghaft, nahm eine Ecke des Handtuchs und rieb es über sein Haar. „Sie könnten noch so eins gebrauchen“, sagte sie.

„Was ich brauche, ist eine Schlinge“, erwiderte er. „Oder ich nehme das Handtuch. Haben Sie etwas, um es festzubinden?“

Greg war ihr vorher schon groß und kräftig vorgekommen, doch nun schien er die kleine, heruntergekommene Küche vollkommen auszufüllen. Zwischen den Handtuchenden sah sie seine durchtrainierten Bauchmuskeln.

Eilig wandte sie sich ab und beugte sich über die offene Umzugskiste. „Wie ist der Unfall passiert?“

„Ich bin einem Reh ausgewichen. Die Straße war nass, und ich habe die Kontrolle über den Wagen verloren.“

„Sind Sie mit dem Reh zusammengestoßen?“

„Nein, das Reh lebt noch. Aber ich bin gegen einen Baum gefahren.“

Sie zog ein weiteres Handtuch aus der Kiste und hob eine Sicherheitsnadel hoch.

„Ja, damit wird es gehen“, sagte er.

Er hatte das rechteckige Handtuch unter seinem Arm durchgezogen und ein Ende über die Schulter gelegt.

Jenny nahm das andere Ende und schlang es um seinen Hals, wo sie beide Enden mit der Sicherheitsnadel verband.

„Danke“, sagte er wieder, doch ihm fiel auf, wie schnell sie sich wieder von ihm entfernte. Da er nun eine Hand frei hatte, nahm er das andere Handtuch und trocknete sich das Gesicht ab.

Gleichzeitig fragte er sich, wer seine Retterin wohl war. Wenn sie Doc Wilson kannte, musste sie aus der Gegend stammen, aber er hatte sie nie vorher gesehen. Dabei wären ihm ihre Augen bestimmt aufgefallen. Sie waren von einem geradezu unglaublichen Blau, blickten im Moment aber äußerst besorgt.

Sie war dabei, Scherben vom Boden aufzuheben, und er ließ seinen Blick über die Umzugskisten und den Rest der Küche wandern. Geschirr in derselben glutroten Farbe wie die Scherben stand in einem der offenen Schränke, eine Kiste darunter auf der Arbeitsplatte. Eine weitere Kiste in einer Ecke war offenbar leer, ihr Inhalt – Putzmittel, Töpfe und rote Vorratsdosen – stand auf dem alten Elektroherd.

„Ziehen Sie hier gerade ein?“

„Mehr oder weniger.“

„Na, so was“, bemerkte er beiläufig. „Ich hatte gar nichts davon gehört, dass das Haus hier verkauft oder vermietet werden sollte. Dabei erfahre ich normalerweise solche Neuigkeiten fast immer als Erster von meinen Patienten, die nichts so sehr lieben wie Klatsch.“

Ohne aufzublicken, stand sie mit einer Hand voll Scherben aus der Hocke auf und ließ sie in die leere Kiste fallen.

In der hinteren Ecke des Raumes, wo normalerweise der Esstisch gestanden hätte, sah er vier Koffer und eine Steppdecke.

„Außerdem hätte ich wahrscheinlich von meiner Praxismanagerin erfahren, wenn der Strom hier wieder angeschlossen worden wäre. Ihre Cousine arbeitet im Kundenverkehr bei den E-Werken in St. Johnsbury.“

Bei der jungen Frau musste es sich um eine Hausbesetzerin handeln.

„Ich hatte noch keine Gelegenheit, mich um den Strom zu kümmern“, antwortete Jenny. „Ich bin erst heute Nachmittag angekommen. Und ich bin weder Mieterin noch Käuferin“, fuhr sie fort. „Dieses Haus gehört meiner Familie. Ich bin Jenny. Jenny Baker.“

Er hatte sich nun das Haar trockengerubbelt, und es stand in allen Richtungen von seinem Kopf ab. Schweigend legte er das Handtuch auf die Arbeitsplatte und fuhr sich mit den Fingern durchs Haar. Die ganze Zeit ließ er sie dabei nicht aus den Augen. Sein silbergrauer Blick war schwer zu lesen. Sie konnte nicht sagen, ob er ihr glaubte oder nicht.

Offenbar musste sie sich in letzter Zeit immer und überall verteidigen.

„Das Haus stand seit dem Tod meiner Großmutter vor drei Jahren leer“, sagte sie. Ein Hausbesetzer konnte diese Details nicht wissen. „Der Immobilienmarkt hier floriert nicht gerade, und meine Mutter konnte es nicht verkaufen. Auch mein Elternhaus ist sie nur mit Mühe losgeworden, als mein Vater letztes Jahr starb.“

Da sie keine anderen Angehörigen in Maple Mountain hatte, war ihre Mutter danach zu Jennys Schwester Michelle nach Maine gezogen, und Jenny wollte Greg das gerade erzählen, als sie sein Stirnrunzeln bemerkte.

„Was ist denn?“, fragte sie. Wenigstens konnte er ihr glauben, nachdem er schon der Grund dafür gewesen war, dass sie die Schüssel fallen ließ.

Greg stand auf und machte einen Schritt auf sie zu. Im Licht der Petroleumlampen war alles mit einem goldenen Schimmer überzogen, deshalb bemerkte er erst jetzt, was er schon längst hätte sehen sollen: die Blutergüsse an ihrem Kiefer und die Schürfwunde auf ihrer Stirn, die halb unter den dicken Ponyfransen verborgen war.

Und sie hatte aufgeschrien, als er nach ihrem Handgelenk griff.

„Ich habe Ihnen wehgetan“, sagte er leise und blickte auf den dünnen Stoff ihres Ärmels. Ob sie darunter weitere Blutergüsse hatte? Sofort meldete sich der Arzt in ihm zu Wort. „Als ich Sie am Handgelenk festgehalten habe“, erklärte er. „Da habe ich Ihnen wehgetan, oder?“

„Nein. Nein“, wiederholte sie schnell. Ihr Schmerz war lächerlich gewesen gegen seinen. „Sie haben nichts getan.“

„Lassen Sie mich Ihren Arm sehen.“

„Das ist nicht nötig.“

Doch er streckte dennoch die Hand aus und streifte vorsichtig ihren Ärmel nach oben.

Ihren Unterarm zierten drei lange, blaurote Striemen. Jenny war selbst überrascht davon. Vor ein paar Stunden waren sie nur leicht rosa gewesen.

„Eine unglückselige Beziehung?“, fragte er.

„Einfach nur Pech“, erwiderte sie und schob den Ärmel wieder nach unten. „Ich bin nicht in ein verlassenes Haus geflüchtet, um einem gewalttätigen Freund zu entkommen, wenn Sie das denken“, fuhr sie fort. „Ich wurde heute Morgen überfallen.“

Zweifelnd sah er sie an.

„Es stimmt!“, beharrte sie fast trotzig. Sie hasste das Gefühl, dass man ihr nicht glaubte. „Ich bin heute Morgen aus meiner Wohnung in Boston ausgezogen. Dieser Kerl versteckte sich hinter den Büschen beim Haus, während ich das Auto belud. Als ich mit der letzten Kiste ankam, warf er mich zu Boden und versuchte, mir die Handtasche zu entreißen. Ich hatte sowieso schon eine harte Woche hinter mir. Einen harten Monat, um genau zu sein.“ Jenny stemmte die Hände in die Hüften. „Ich hatte also nicht vor, einem schmierigen kleinen Ganoven das zu überlassen, was ich noch besaß, nämlich mein letztes Bargeld, meine Kreditkarten und meine Autoschlüssel.“

„Also haben Sie die Handtasche festgehalten.“

„Und wie. Deshalb hat er meinen Arm bearbeitet, aber da hatte er sich geschnitten. Als er mich hinter sich herschleifen wollte, habe ich mich mit der freien Hand an einer Parkuhr festgehalten und ihn dahin getreten, wo es am meisten wehtut. Danach habe ich ihn nur noch von hinten gesehen, wie er den Hügel hinunterhumpelte.“

Greg nickte langsam. Ein Sturz auf den Gehweg konnte die Schürfwunde an ihrer Stirn verursacht haben. Die Streifen auf ihrem Arm mochten vom harten Griff ihres Angreifers stammen, und die blauen Flecken an ihrem Kiefer konnten von der Parkuhr, dem Gehsteig oder der Hand des Kerls stammen.

Er ließ den Blick von ihrer Pagenfrisur zu den Turnschuhen an ihren Füßen wandern. Sie war vielleicht einsfünfundsechzig groß und wog höchstens fünfundfünfzig Kilo. Da sie zwar über verführerische Rundungen, aber keine ausgeprägten Muskeln verfügte, wusste er nicht, ob er ihren Heldenmut bewundern oder ihren Leichtsinn verfluchen sollte. Schließlich gab es Straßenräuber, die ihre Opfer für ein paar Dollar Kleingeld krankenhausreif schlugen oder sogar umbrachten. In seiner Zeit als Assistenzarzt in einem Bostoner Krankenhaus hatte er die bedauernswerten Opfer oft genug wieder zusammenflicken müssen. „Hat die Polizei den Kerl erwischt?“

Sie senkte den Blick. „Ich will nichts mit der Polizei zu tun haben.“

„Sie haben keine Anzeige erstattet? Kein Phantombild erstellt?“

„Wovon denn? Der Typ war mittelgroß, Mitte zwanzig, mexikanischer, puerto-ricanischer oder haitianischer Herkunft, ein hellhäutiger Schwarzer oder ein tief gebräunter Weißer, in schwarzen Jogginghosen und einem grauen Sweatshirt, dessen Kapuze er so weit zugebunden hatte, dass ich nur seine Augen sehen konnte.“

„Und welche Farbe hatten die?“

„Braun.“

„Aber irgendein besonderes Kennzeichen muss er doch gehabt haben.“

„Möglich, aber ich war zu sehr damit beschäftigt, um meine Handtasche zu kämpfen, um es zu bemerken. Außerdem habe ich für den Rest meines Lebens genug von Polizisten. Das Letzte, was ich wollte, war: schon wieder endlose Fragen zu beantworten.“

Auf einmal fühlte sie sich äußerst unwohl in Gregs Nähe, und sie blickte auf einen hervorstehenden Nagel im Linoleum. „Das ist also die Geschichte meines Arms“, sagte sie brüsk und hob wieder den Kopf. „Und wie geht es Ihrem? Sie haben mehr abbekommen als ich. Soll ich Sie ins Krankenhaus in St. Johnsbury fahren oder nach Hause bringen?“

An dem unsteten Ausdruck in ihren blauen Augen erkannte er, dass sie mehr über die Polizei gesagt hatte, als sie eigentlich wollte, und dass ihr seine Anwesenheit deshalb jetzt unangenehm war.

Seine Schulter schmerzte jetzt wieder stärker, und sein Arm fühlte sich steif und nutzlos an. Die Schulter musste zwar geröntgt werden, doch die Fahrt ins Krankenhaus war bei diesem Wetter eine Tortur. Bess würde irgendwann schon wieder von ihrer Feier auftauchen und konnte dann die Röntgenaufnahmen machen. Außerdem war sein Haus nur ein paar Kilometer entfernt.

Er sagte Jenny, dass er nach Hause wollte, und sah gerade noch ihr erleichtertes Lächeln, als sie die eine Petroleumlampe ausblies und die andere durch das dunkle Wohnzimmer zur Haustür trug, wo sie ihm den Vortritt ließ. Dann löschte sie auch die zweite Lampe, und in der regennassen Dunkelheit gingen sie zu ihrem Wagen.

2. KAPITEL

Wieso hatte sie das mit der Polizei bloß gesagt?

Während Jenny angestrengt auf die Straße starrte, dachte sie darüber nach, wie sie ihren kleinen Ausrutscher am besten ausbügeln konnte. Die Scheibenwischer schafften es kaum, die Windschutzscheibe freizuhalten, und der Regen trommelte laut auf das Dach ihres vier Jahre alten Sportwagens.

„Sie sagten, dass Sie am Ende der Hauptstraße wohnen“, sagte sie schließlich, weil ihr das Thema unverfänglich erschien. „Meinten Sie Doc Wilsons altes Haus?“

„Genau das. Er und seine Frau sind nach Florida gezogen.“

„Ach ja, da wollte sie schon immer hin“, lächelte Jenny. „Ich wusste nur nicht, dass sie es wahr gemacht haben.“

Sie warf ihm einen Seitenblick zu, und als sie feststellte, dass er sie aufmerksam betrachtete, blickte sie schnell wieder nach vorn.

„Tut mir übrigens leid, dass ich Ihnen vorhin nicht geglaubt habe. Dass Sie der Arzt sind, meine ich. Seit meine Mutter hier weggezogen ist, bekomme ich kaum noch Neuigkeiten aus Maple Mountain.“

„Schon gut.“ Er rieb sich die Schulter. „Ich bin ja dankbar, dass Sie mir geholfen haben.“

Durch den Regen und die Dunkelheit ließ sich nicht sagen, ob sich in dem kleinen Ort, in den sie nun hineinfuhren, irgendetwas geändert hatte. Jenny bezweifelte es. In den zweiundzwanzig Jahren, die sie hier gelebt hatte, war immer alles gleich geblieben, und die letzten vier Jahre hatten wohl auch keine bahnbrechenden Umwälzungen gebracht.

Wahrscheinlich war noch immer die alte Holzbrücke der Treffpunkt für verliebte Pärchen. Die alten Männer, die vor dem Kolonialwarenladen Dame spielten, redeten immer noch über das Wetter und die Landwirtschaft und betrachteten alles, was nach 1950 erfunden worden war, als neumodischen Kram. Die gutherzigen, aber sittenstrengen Kirchenchor-Damen buken wahrscheinlich immer noch zu jeder Gelegenheit Kuchen, und zu jedem Feiertag gab es eine Kirmes oder einen Umzug.

Und wahrscheinlich war der Dorfklatsch noch immer das Aufregendste im Leben der meisten der 704 Einwohner, sodass nichts lange ein Geheimnis blieb.

Ihr Unbehagen verstärkte sich. Es gab so viel, was sie vor den Leuten hier gern verborgen hätte – und Dr. Greg Reid hatte ihr bereits viel zu viel davon entlockt.

„Sie sollten morgen in die Praxis kommen und sich von Bess durchchecken lassen“, sagte er.

Seiner tiefen melodischen Stimme hätte sie stundenlang zuhören können. Sie erinnerte Jenny an Honig, Rauch und Brandy, klang gleichzeitig bestimmt und rücksichtsvoll.

„Warum?“

„Da Sie mit der Polizei nichts zu tun haben wollten, waren Sie wahrscheinlich auch nicht im Krankenhaus, oder?“

Unwillkürlich umfasste sie das Steuer fester und zwang sich zu einem Lächeln. „Es sind doch nur ein paar blaue Flecken.“

„Ihre Pupillen wirkten normal, aber ich hätte mir ihre Stirn ansehen sollen.“

Er hatte ihre Pupillen kontrolliert? „Es ist nur ein Kratzer. Nichts, was sich nicht mit etwas Make-up kaschieren ließe. Sie sind derjenige, der eine Untersuchung braucht. Vielleicht ist etwas gebrochen, oder Sie haben eine Gehirnerschütterung. Sind Sie sicher, dass ich Sie nicht ins Krankenhaus bringen soll?“

„Ja. Ich werde Bess eine Nachricht hinterlassen, dass sie bei mir vorbeikommen soll, wenn sie zurück ist.“

„Und wann wird das sein? Wenn Sie tatsächlich eine Gehirnerschütterung haben, sollten Sie nicht allein sein. Ist jemand im Haus, der sich um Sie kümmern kann?“

„Ich lebe allein, aber mir geht es gut. Wirklich.“

Sie seufzte. „Sind Sie Rechts- oder Linkshänder?“

„Rechtshänder.“

Es war sein linker Arm, der in der Schlinge steckte. „Dann können Sie sich wenigstens ausziehen“, sagte sie nachdenklich. „Aber trotzdem bereitet mir Ihr Kopf Sorgen.“

„Machen Sie sich keine Gedanken“, beruhigte sie Greg, obwohl ihn ihre Sorge rührte. „Nur meine Schulter ist verletzt. Sie waren es, die sich den Kopf angeschlagen hat.“

Daraufhin schwieg sie und konzentrierte sich auf die Straße. Zu beiden Seiten der Hauptstraße waren Wagen geparkt, sowohl vor Dora’s Diner, dem kleinen Familienrestaurant des Ortes, als auch vor der Videothek. In der Kirche gab es anscheinend eine Veranstaltung.

Am hinteren Ende der Hauptstraße standen jedoch nur kleine Einfamilienhäuser, und die Straße selbst endete unvermittelt vor einem Wald aus Birken, Ahorn und Buchen.

Gregs Haus war das letzte auf der rechten Seite, ein gemütlicher Altbau mit einer umlaufenden Veranda und mehr Räumen, als ein Junggeselle brauchte, wie Greg immer wieder betonte. Doch das Wohnrecht war Bestandteil seines Vertrags mit der Gemeinde, und das Haus lag nur ein paar Gehminuten von der Praxis entfernt. Ein Zimmer hatte er in eine Dunkelkammer verwandelt, sodass er an den langen Winterabenden seinem Hobby nachgehen konnte.

Er hätte das Licht auf der Veranda anlassen sollen. So konnte man vor lauter Regen nicht einmal die Stufen vorm Eingang erkennen.

Auch Jenny Baker schien das zu bemerken. Sie zögerte nur kurz, stellte dann den Motor ab und wandte sich ihm zu. „Warten Sie einen Augenblick. Ich mache die Tür auf und bringe Sie hinein.“

„Sie haben schon genug getan. Und ich bin Ihnen sehr dankbar“, sagte er. „Aber ich komme jetzt gut klar.“

Greg sehnte sich nach einer heißen Dusche und nach einem Eisbeutel für seine malträtierte Schulter, aber er hatte nicht die Absicht, sich auch noch dabei von der geheimnisvollen Frau neben ihm helfen zu lassen.

„Sind Sie sicher?“ Sie blickte ihn besorgt und forschend an.

„Ganz sicher. Danke.“

Jenny setzte zu einer Antwort an, überlegte es sich dann anders. Er wollte ihre Hilfe offensichtlich nicht, also würde sie sich nicht aufdrängen. Doch eine Kleinigkeit musste sie noch richtig stellen.

„Warten Sie“, sagte sie, als er die Hand schon am Türgriff hatte. Unwillkürlich legte sie ihm dabei eine Hand auf den Schenkel und zog sie hastig wieder weg, als er sich überrascht zu ihr umdrehte.

„Ich möchte Sie bitten, mit niemandem über die Bemerkung zu reden, die ich vorhin gemacht habe. Sie wissen schon, dass ich von der Polizei genug habe. Sie haben sicher schon gemerkt, wie der Klatsch hier blüht, und es wäre mir gar nicht recht, wenn das die Runde machte. Dieser Eid, den Sie abgelegt haben, besagt ja sowieso, dass Sie nichts von dem weitererzählen sollen, was Sie hören.“

„Dieser Eid?“

„Sie wissen schon, der hippokratische Eid. Der verpflichtet Sie doch zur Verschwiegenheit.“

Greg war sich nicht sicher, ob Verzweiflung oder Trotz in ihrer Stimme überwog, aber er wurde nun wirklich neugierig, wovon sie eigentlich sprach. „Das bezieht sich nur auf die Beziehung zwischen Arzt und Patient“, sagte er. „In diesem Fall war ich der Patient.“

„Bitte …“ Ein flehender Ausdruck trat auf ihr hübsches Gesicht.

„Sind Sie hier, weil Sie mit dem Gesetz in Konflikt geraten sind?“

„Nein. Nein“, betonte sie. „Es wurde keine Anklage gegen mich erhoben. Also behalten Sie bitte für sich, was ich gesagt habe. In Ordnung?“

Keine Anklage? Er wollte gerade weiterfragen, als helle Scheinwerfer aufleuchteten und hinter ihnen ein Wagen hielt. Eine Autotür schlug zu, dann tauchte ein dritter Lichtstrahl von einer Taschenlampe auf. Kurz darauf klopfte eine schwarz behandschuhte Hand an die Scheibe der Fahrertür.

Jenny kurbelte das Fenster hinunter. Im Regen draußen stand Deputy Joe Sheldon, in einem gelben Regenmantel und mit einer Plastikfolie über dem breitkrempigen Rangerhut. Der Ex-Footballstar blickte misstrauisch von ihr zu Greg und wieder zurück, dann erkannte er sie wieder.

„Jenny Baker“, sagte er langsam in dem breiten Vermonter Dialekt der Gegend. „Was machst du denn hier?“

„Ich bin wieder zurückgezogen, Joe.“

„Nicht möglich. Ich hätte nicht gedacht, dass es ausgerechnet dich wieder hierher treibt. Ach je, dann sind das deine Sachen, die ich im Haus von deiner Großmutter gesehen habe. Ich dachte schon, wir hätten es mit einem Hausbesetzer zu tun.“

Zufrieden mit seiner Kombinationsgabe beugte er sich tiefer ins Fenster. „Hey, Doc, ich habe Ihren Wagen in der Todeskurve im Graben gesehen. Alles klar mit Ihnen?“

„Ja, jetzt wieder. Danke, Joe.“

„Sie haben mich ganz schön erschreckt, Doc. Ich habe die ganze Gegend abgesucht, als ich Sie beim Wagen nicht finden konnte. Und als Sie auch im Baker-Haus nicht waren, bin ich zurückgekommen, um zu sehen, ob Sie es hierher geschafft haben.“ Joe hob die Augenbrauen, als er die Schlinge sah. „Brauchen Sie Hilfe?“

Jenny sah keinen Grund, warum Greg auch Joes Angebot ablehnen sollte, wenn er ihre Hilfe schon nicht wollte. „Du könntest die Tür für ihn aufmachen“, schlug sie vor.

„Kein Problem“, erwiderte der Deputy und ging schnell um den Wagen herum, um Greg auch noch beim Aussteigen zu helfen.

Jenny machte sich Sorgen. Greg hatte sich noch einmal bei ihr bedankt und war dann mit Joes Hilfe in seinem Haus verschwunden. Sein Versprechen hatte sie nicht bekommen.

Sie legte eine Hand auf ihren nervös verkrampften Magen, während sie den kurzen Weg von Dora’s Diner zur Arztpraxis zurücklegte. Sie war nach Maple Mountain zurückgekommen, um neu anzufangen. Ganz gleich, welchen Eindruck Dr. Greg Reid von ihr bekommen hatte, sie wollte nicht, dass er ihr Steine in den Weg legte – und sei es auch nur, weil er unabsichtlich die Gerüchteküche in Gang setzte.

Als sie die vier Stufen zur Eingangstür der Praxis hinaufstieg, strich sie sich die schokoladenbraune Bluse glatt, die sie zu ihrer beigefarbenen Hose trug.

Sechs dunkle Holzstühle standen an einer Wand des hellgrün gestrichenen Wartezimmers. Auf einem saß eine junge Mutter, die nur kurz aufblickte und sich dann sofort wieder ihrem quengeligen Kleinkind zuwandte. Jenny ging zum Rezeptionsfenster. Die hochschwangere Praxismanagerin, die am Computer beschäftigt war, drehte sich zu ihr um.

„Kann ich Ihnen helfen?“ Einen Augenblick später weiteten sich ihre Augen. „Jenny Baker!“

Rhonda Pembroke war Mitte dreißig und trug ihre Haare zum Pferdeschwanz gebunden. Wie alles in Maple Mountain hatte auch sie sich in den vergangenen vier Jahren nicht verändert – wenn man von der Schwangerschaft absah. „Bess hat mir heute Morgen erzählt, dass du zurück bist“, plapperte sie. „Und Lois Neely war vor zwei Stunden hier. Sie hat gesagt, dass du in das alte Haus deiner Großmutter eingezogen bist. Hast du wirklich vor, das Haus zu restaurieren?“

Jennys Lächeln erlosch. Sicher, wenn der Winter kam, würde sie dort nicht leben können, ohne einige notwendige Reparaturen ausgeführt zu haben, aber eine komplette Renovierung würde ein Vermögen kosten. Geld, das sie niemals zusammenbekommen würde.

„Mal sehen“, sagte sie ausweichend, deutete dann auf Rhondas Bauch. „Wie geht es dir und deiner Familie? Ist das dein drittes?“

„Das vierte. Wir haben noch ein kleines Mädchen bekommen, während du weg warst. Aber du bist sicher nicht hier, um mit mir zu reden? Willst du zum Doktor? Oder zu Bess?“

„Zum Doktor. Hat er denn Zeit?“

„Er ist gerade bei einem Patienten. Aber warte einen Moment, ich sag ihm, dass du hier bist.“

Kurz darauf öffnete sich die Tür zu dem Flur, an dem die Untersuchungsräume lagen, und Bess Amherst kam heraus. Ihre früher grau melierten kurzen Locken waren inzwischen weißer geworden, und die Krähenfüße um ihre braunen Augen hatten sich etwas vertieft, aber ansonsten sah auch sie noch genauso aus, wie Jenny sie in Erinnerung hatte. Die resolute Mittfünfzigerin trug ihre Lesebrille wie immer an einer Silberkette um den Hals, und anscheinend hatte auch der neue Doktor sie nicht dazu bringen können, ihre pastellfarbenen Blusen und Jerseyhosen gegen die weiße Schwesterntracht einzutauschen, zu der Doc Wilson sie schon immer hatte überreden wollen. Immerhin trug sie einen weißen Laborkittel und ebenso weiße Arztschuhe, und ganz wie früher verlor sie keine langen Worte, bevor sie zur Sache kam.

„Du bist zu dünn“, erklärte sie Jenny mit in die Hüften gestemmten Händen. „Ich weiß nicht, warum ihr jungen Dinger alle in die Stadt zieht und wie Hungerhaken zurückkommt. Da erzählen alle, was es für wundervolle Restaurants in Boston gibt, aber offenbar esst ihr dort nie. Und deine Haare erst!“

Das fröhliche Funkeln in Bess’ Augen milderte den Klang ihrer Standpauke. „So kurz, dass du hier im Winter ganz schön am Nacken frieren wirst! Lass mich deine Stirn sehen.“

Bevor Jenny sie begrüßen konnte, hatte Bess schon ihre dunklen Ponyfransen zur Seite geschoben. „Der Doktor sagt, dass er keine Gelegenheit hatte, sich die Wunde anzusehen“, fuhr die Krankenschwester fort und betrachtete stirnrunzelnd die Schürfwunde über Jennys rechtem Auge. „Was hast du darauf getan?“

„Gar nichts, ich habe sie nur mit Seife und Wasser ausgewaschen.“

„Na ja, jedenfalls solltest du die Haare nicht hineinhängen lassen. Und du brauchst Salbe. Komm mit rein, dann gebe ich dir welche. Und leg kein Make-up auf, bis die Wunde verheilt ist. Wenn sie sich entzündet, wird es eine Narbe geben.“

Sie schob Jenny durch die Tür zum Flur, wo ihnen Rhonda entgegenkam. „Ich habe dem Doktor gesagt, dass du hier bist“, meldete sie. Beinahe flüsternd fügte sie hinzu: „Ich kann gut verstehen, dass du nach Hause kommen willst.“

Bess schob Jenny in einen der Untersuchungsräume und deutete auf einen Hocker. Stirnrunzelnd sagte sie: „Rhonda muss gehört haben, wie der Doktor sagte, dass ich dich mir ansehen sollte. Er hatte schon ein schlechtes Gewissen, weil er dich nicht gleich selbst untersucht hat.“

„Das hat er gesagt?“

„So ist er eben. Wenn er glaubt, dass jemand Hilfe braucht, dann kümmert er sich darum, dass derjenige sie bekommt. Wenn man bedenkt, welche Schmerzen er hatte, wundert es mich, dass er überhaupt noch klar denken konnte. Ein Glück, dass du für ihn da warst.“

Sie nahm Verbandsmaterial aus einer der Schubladen und kam auf Jenny zu, die sich noch immer nicht gesetzt hatte. Doch das hielt Bess nicht ab. „Schieb dein Haar zur Seite.“

„Bess, ich brauche keinen …“

„Oh doch“, erklärte Bess und desinfizierte die Wunde. Jenny verzog das Gesicht, als es brannte. „Nur schade, dass es erst so weit kommen musste, damit du wieder hier leben willst, wo du sicher bist. Du hattest Glück, dass dieser Verbrecher nichts Schlimmeres mit dir angestellt hat.“

Sie gab Salbe auf einen Gazestreifen und legte ihn auf die Wunde. Dann klebte sie ihn mit einem Pflaster fest.

Jenny beschloss, dieser Version ihrer Geschichte nicht zu widersprechen. Ihr war nur wichtig, dass Greg offenbar nichts von ihrem Kontakt mit der Polizei erzählt hatte – sonst hätte Bess das längst erwähnt.

Die Krankenschwester drückte ihr die Tube und weiteres Verbandsmaterial in die Hand. „Schmier täglich neue Salbe drauf, und wechsle den Verband“, sagte sie energisch. Dann wurde ihre Stimme weicher. „Und willkommen daheim, Jenny.“

Jenny lächelte zaghaft. „Danke.“ So resolut sich Bess immer gab, sie war eine herzensgute Seele und ernsthaft besorgt um Jenny, die sich wie eine Hochstaplerin vorkam. Außerdem hatte sie kein Geld, um das Verbandsmaterial zu bezahlen. Ihre Barschaft belief sich auf 46 Dollar und acht Cents, bis sie ihren ersten Gehaltsscheck von Dora’s Diner bekam, der weniger als 200 Dollar betragen würde.

Sie reichte Bess das Verbandsmaterial zurück. „Ich glaube nicht, dass ich das alles brauche. Kannst du mir nur eine Rechnung für die Behandlung ausstellen?“

„Nimm es einfach mit“, erwiderte Bess und steckte es in Jennys Handtasche. „Ich weiß ja, dass du nicht wegen einer Untersuchung gekommen bist, sondern weil du den Doktor sprechen wolltest, wahrscheinlich um zu sehen, wie es ihm geht. Aber diese Schürfwunde muss ordentlich verheilen, damit du keine Narbe behältst. Mach dir keine Sorgen wegen der Rechnung, schließlich habe ich dir nur ein Pflaster aufgeklebt. Und die Salbe ist eine kostenlose Probe. Jetzt komm, du kannst in seinem Büro auf den Doktor warten.“

Offenbar wusste Bess darüber Bescheid, wie Jenny dem Doktor geholfen hatte, und erzählte ihr nun, dass sie ihn noch letzte Nacht geröntgt und den Arm geschient hatte. In ein paar Wochen würde er wieder ganz hergestellt sein. Damit ließ sie Jenny im Büro zurück und schloss die Tür von draußen.

Auch dieser Raum sah fast aus wie früher, eingerichtet mit einem antiken Schreibtisch aus honigfarbenem Ahornholz, mit einem bunten Wollteppich auf dem Dielenboden, grünen Pflanzen am Fenster und einer Wand voller Bücherregale. Nur der Laptop und eine Schale voller Pfefferminzbonbons auf dem Schreibtisch waren neu. Außerdem sah es viel ordentlicher aus als zu Doc Wilsons Zeiten.

Zu unruhig, um sich zu setzen, ging Jenny im Zimmer auf und ab und studierte die Buchrücken im Regal. Als sie geistesabwesend ihren Pony zurückstrich, stieß sie prompt an das Pflaster, das die kleine Verletzung so viel dramatischer wirken ließ.

Dabei wollte sie ihre ganze Vergangenheit – und besonders die letzten vier Wochen – einfach vergessen und sich auf etwas Positives konzentrieren. Wie zum Beispiel Dora Schaeffer, die Besitzerin des Familienrestaurants, die ihr ohne Zögern ihren alten Job als Teilzeit-Kellnerin wiedergegeben hatte.

Unfähig, ihre Nervosität im Zaum zu halten, ging Jenny weiter zu der Wand mit den Fotos. Einige großformatige zeigten die umliegenden Wälder in der ganzen Pracht des Indian Summer, andere die örtliche Baseball-Jugendmannschaft. Eine Pinnwand war bedeckt mit Schnappschüssen von Babys und ihren stolzen Eltern, dazwischen eine von Kinderhand gemalte Glückwunschkarte.

An einem Ende der Wand, fast etwas verschämt, entdeckte sie ein Arztdiplom, das sie genauer studierte. Offenbar hatte Greg Reid seinen Doktor in Harvard gemacht, und das mit Auszeichnung.

Beeindruckend. Ein Studium an der renommierten Universität war nicht nur höchst anspruchsvoll, sondern kostete auch ein Vermögen. Ganz abgesehen davon, dass man als Arzt mit einem Harvardabschluss vielleicht ein Wochenende als Tourist in einem verschlafenen Örtchen wie Maple Mountain verbrachte, aber nicht, um dort zu praktizieren. Hier gab es weder einen Golfplatz noch ein Skigebiet, keine Cocktailbars, Theater oder Bälle. Nicht einmal das Mobilfunknetz war sehr zuverlässig.

Jennys Blick fiel auf ein kleines Foto in einem Goldrahmen, der nicht an der Wand hing, sondern auf dem Aktenschrank darunter stand. Auf dem Foto stand der Doktor bei Sonnenuntergang vor dem Eiffelturm, den Arm um eine umwerfend attraktive Blondine gelegt.

Die Frau war groß und schlank, und ihre langen, weizenblonden Strähnen flatterten im Wind. Die Augenfarbe war nicht zu erkennen, doch ihr Lächeln war strahlend weiß, ihre Zähne perfekt.

Was Jenny jedoch am meisten auffiel, und weswegen sie den kleinen Rahmen in die Hand nahm, war das ausgeprägte Selbstvertrauen, das die Frau ausstrahlte.

Wehmütig fragte sich Jenny, ob sie selbst nach all dem, was ihr zugestoßen war, jemals wieder so selbstsicher aussehen würde. In diesem Moment öffnete sich die Tür, und Greg kam herein.

Den Arm trug er in einer dunkelblauen Schlinge, und sein weißer Arztkittel war auf dieser Seite nur über die Schulter gelegt. Sein riesiger Bluterguss hatte sich offenbar noch ausgebreitet, denn er war noch über dem Kragen seines dunkelgrünen Hemdes zu sehen, das Greg zu seinen braunen Kakihosen trug.

Dennoch wirkte er keineswegs schwach oder verletzt. Nichts deutete mehr darauf hin, wie hilflos er noch vor weniger als zwölf Stunden gewesen war. Er beherrschte den Raum, kaum dass er eingetreten war, und lächelte Jenny mit einer Intensität an, die ihr ein leichtes Kribbeln im Magen verursachte.

Ohne Schmerzen war er ein äußerst gut aussehender Mann, groß, breitschultrig, zupackend und stets Herr der Lage.

Diese ruhige Kraft strahlte bis zu ihr aus, und sie musste erst seinem Blick folgen, um zu bemerken, dass sie noch immer sein Foto in der Hand hielt.

Sie stellte den Rahmen vorsichtig zurück und lächelte. „Sie ist wahrscheinlich nicht mit Ihnen verwandt?“

Er blickte auf das Foto. „Sie ist … eine Freundin.“

Offenbar hatte ihre unschuldige Frage ihn unvorbereitet getroffen, dennoch war das leichte Zögern ungewöhnlich. Natürlich hatte er „eine Freundin“. Der Mann war attraktiv, rücksichtsvoll, gut situiert.

Nicht, dass sie selbst sich in dieser Weise für ihn interessiert hätte. Nach ihrer letzten Erfahrung hatte sie von Männern aller Art erst einmal genug.

„Man sagte mir, dass Sie hier sind, um sich nach meinem Befinden zu erkundigen?“

„Ich wollte nur sehen, wie es Ihnen geht. Sie hatten letzte Nacht solche Schmerzen.“

„Es wäre noch viel schlimmer geworden, wenn Sie nicht da gewesen wären. Noch einmal danke für alles. Ich habe Sie wahrscheinlich zu Tode erschreckt, als ich gegen Ihre Tür trat.“

„Gern geschehen. Und ja, Sie haben mich tatsächlich erschreckt.“ Es gab keinen Grund, das Offensichtliche zu leugnen. Schließlich hatte sie ihn mit einem Schraubenschlüssel in der Hand begrüßt. „Aber dann hatte ich mehr Angst, dass Sie ohnmächtig werden könnten.“

Er lächelte. „Ich habe mir alle Mühe gegeben, das zu vermeiden.“

„Sie können sich nicht vorstellen, wie sehr ich das zu schätzen weiß“, erwiderte sie mit einem ebenso warmen Lächeln.

In seinen Augen tanzten kleine silberne Funken, dann senkte er den Blick auf ihren Mund. Jenny erinnerte sich nur zu gut daran, wie nahe sich ihre Lippen in der vergangenen Nacht gewesen waren. Wie warm sich sein Atem auf ihrer Haut angefühlt hatte und wie sein Blick flackerte, als sie ...

Autor

Christine Flynn

Der preisgekrönten Autorin Christine Flynn erzählte einst ein Professor für kreatives Schreiben, dass sie sich viel Kummer ersparen könnte, wenn sie ihre Liebe zu Büchern darauf beschränken würde sie zu lesen, anstatt den Versuch zu unternehmen welche zu schreiben. Sie nahm sich seine Worte sehr zu Herzen und verließ seine...

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