Die Liebe wartet in Bay Beach

– oder –

 

Rückgabe möglich

Bis zu 14 Tage

Sicherheit

durch SSL-/TLS-Verschlüsselung

Für die Kinder, die sie in Bay Beach betreut, würde die hübsche blonde Shanni alles tun! Und das muss sie auch, als ein Verbrecher den Kindergarten überfällt! Doch Shanni ist nicht allein. Der smarte Anwalt Nicholas Daniels kommt ihr zu Hilfe und entdeckt dabei für sich, was er wirklich im Leben will - Shanni!


  • Erscheinungstag 03.01.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733754938
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Ich will kein Friedensrichter in Hicksville werden – hundert Meilen von hier entfernt. Warum, um alles in der Welt, bin ich dann hier?“

Das war eine gute Frage, aber darauf gab es eine vernünftige Antwort. Nick Daniels verfolgte ein ehrgeiziges Ziel: Er wollte Richter am Obersten Gerichtshof werden. „Wenn du einen Bombenjob willst, musst du zuerst die harte Arbeit tun“, hatte der Seniorpartner des Anwaltsbüros zu Nick gesagt. „Einen anderen Weg gibt es nicht. Es ist gerade die Stelle des Friedensrichters in Bay Beach zu besetzen. Ein nettes kleines Fischerstädtchen, vier Autostunden von Melbourne entfernt. Du bist nicht verheiratet, hast keine Kinder, nichts, was dich an die Stadt bindet. Mach dort einen guten Job, Junge, dann werden wir sehen, was wir für dich tun können.“

„Für wie lange?“, hatte Nick entgeistert gefragt.

„Zwei Jahre.“

„Zwei Jahre!“

„Man kann nie wissen.“ Abe Barry zog an seiner Pfeife und musterte seinen jungen Kollegen amüsiert. „Vielleicht gefällt es dir auf dem Land sogar. Du könntest Richter am Amtsgericht werden und dein ganzes Leben lang dort bleiben.“

„Davon träumst du wohl!“

„Nein, ich nicht, aber du. Und es gibt nur einen Weg, das zu erreichen.“

Friedensrichter in Bay Beach! Ein nicht gerade aufregender Name für einen nicht gerade aufregenden Ort. Der Stoff, aus dem die Albträume sind! Er, Nick, der es gewöhnt war, die ganz großen Kriminalfälle aufzuklären, hätte nun mit Geldbußen für Parkvergehen und Geldstrafen wegen illegalen Fischfangs zu tun.

Fischfang und Viehzucht! Was verstand er schon davon?

Farmen lieferten Milch, Steaks oder Wolle, die nach Italien exportiert wurde und in Form von Nicks wunderbar geschnittenen Anzügen zurückkam. Und Fischfang … Fischfang lieferte Lachs und Kaviar. Damit endete schon Nicks Interesse an Fischfang und Viehzucht. Schluss, basta!

Zwei Jahre Friedensrichter auf dem Land … Zwei Jahre in der Hölle! Nick fuhr um die Landspitze und stöhnte noch immer. Bay Beach lag vor ihm, seine getünchten Cottages aus Stein glänzten in der Morgensonne.

Ich werde total verrückt, dachte Nick. Die warme Seeluft wehte ihm ins Gesicht, aber er nahm es kaum wahr. Seine Haut war sonnengebräunt und das tiefschwarze Haar so frisiert, dass der Wind ihm nichts anhaben konnte. Er schnupperte – und zog angewidert die Adlernase kraus. Salz! Und Kuhmist! Igitt! Da waren ihm Benzindämpfe und Umweltverschmutzung in der Stadt schon zehn Mal lieber!

Noch eine Kurve, und der Stadtrand kam in Sicht. Auf dieser Seite der Stadtgrenze lag eine Tankstelle, und einem Impuls folgend fuhr Nick darauf zu und hielt an. Er musste tanken, und das konnte er auch gleich tun – das gab ihm noch eine kurze Galgenfrist, bevor er dieses Kaff betrat!

Er fuhr an der Zapfsäule vor, sah hinüber zu dem jungen Mann, der an der anderen Zapfsäule tankte – und sein Leben veränderte sich mit einem Schlag.

„Ich muss mal!“

Shanni seufzte und verdrehte die Augen, als der dreijährige Hugh das ankündigte.

„Marg, kannst du Hugh zur Toilette bringen?“

Shannis Assistentin im Kindergarten von Bay Beach bereitete gerade Milch und Obst vor. Das war nun Margs vierter Gang zur Toilette, während Shanni vorlas. Wenn das so weiterging, wäre sie mit der Milch und dem Obst bis Mittag noch nicht fertig. Aber was sein muss, muss sein, dachte sie. Sie lächelte, zuckte die Schultern und nahm Hugh an der Hand.

„Okay, Hugh, gehen wir. Aber wir sollten uns beeilen. Das ist eine sehr aufregende Geschichte.“

„Miss McDonald erzählt immer aufregende Geschichten“, verkündete Hugh. „Ich erzähle sie meinem Dad, und mein Dad sagt: ‚Warum können so aufregende Dinge nicht auch bei uns passieren?‘“

„Ich glaube, es wäre gar nicht so lustig, wenn wir Piraten in unserem wirklichen Leben hätten“, sagte Shanni nachdenklich. „Was denkt ihr, Kinder? Fänden wir das gut, wenn ein echter Pirat durchs Fenster klettern würde?“

„Oooh nein!“

Aber als Shanni weiter vorlas, spürte sie dennoch ein leichtes Bedauern. Vielleicht kein Pirat – aber irgendetwas! Manchmal war Bay Beach einfach zu ruhig.

Ein winzig kleiner Pirat würde mir nichts ausmachen, dachte sie. Sie sah ihren Freund John vor sich – so freundlich und friedfertig wie die holstein-friesischen Kühe, die ihm gehörten. John und sie würden bald heiraten. Alles zu seiner Zeit. Wenn er die neue Molkerei abbezahlt und eine ordentliche Summe für ein neues Haus beiseitegelegt hätte. Er hatte es schon genau geplant.

„Nur ein winziger Pirat“, flüsterte Shanni leise, und dann wandte sie sich wieder ihrem Buch zu. Es war der einzige Ort hier, an dem etwas geschah.

Es war Len Harris.

Der Name hatte sich Nick unauslöschlich eingeprägt. Vor zwei Wochen hatte Nicks jüngere Kollegin Elsbeth Lens Fall als Pflichtverteidigerin übernommen, und sie hatte Nick um Rat gefragt. „Er ist schon neun Mal verurteilt worden, aber er ist erst sechzehn. Wie kann ich ihn vor dem Untersuchungsgefängnis für Jugendliche bewahren?“

„Gar nicht. Ein hoffnungsloser Fall. Spar dir deine Fähigkeiten für einen Fall auf, der es wert ist“, hatte Nick geantwortet.

„Er wird wahrscheinlich nicht mal vor Gericht erscheinen“, sagte Elsbeth düster. „Ich verbringe Tage mit diesem Fall, und dann verschwindet er einfach.“

Genau das war wohl passiert. Nick hatte Len bei dessen vorgerichtlicher Besprechung kennen gelernt. Damals hatte der Junge mürrisch, herausfordernd und unerschrocken ausgesehen.

So sah er auch jetzt aus. Len starrte ihn eine Minute lang an – gerade so lange, wie er brauchte, um Nick zu erkennen – dann fluchte er. Er ließ den Zapfschlauch fallen, sprang in den Mercedes, den er fuhr – der konnte nur gestohlen sein –, und raste mit quietschenden Reifen davon.

„Harry, möchtest du nicht auch die Geschichte von den Piraten hören?“ Bevor Shanni sich wieder dem Buch zuwandte, versuchte sie noch einmal, Harrys Aufmerksamkeit zu erregen. Harry war drei, fast vier – wie der Rest ihrer Gruppe – aber Harry war anders. Er war missbraucht und geschlagen worden und gerade erst in den Kindergarten gekommen, nachdem man ihn aus seiner lieblosen Familie in eines der fünf städtischen Waisenhäuser gebracht hatte.

„Sie müssen ihn nicht nehmen, wenn Sie denken, dass Sie mit ihm nicht klarkommen“, hatte der Sozialarbeiter zu Shanni gesagt. Aber natürlich hatte sie ihn genommen. Wie hätte sie ihn ablehnen können?

Harry erholte sich von einem Beinbruch. Weil der Heilungsprozess so langsam voranging, war das Bein mit einem Fiberglasverband geschient, der einen Absatz hatte. Die ganze Konstruktion schien für den kleinen Körper einfach viel zu schwer.

Der Junge war zart, eher wie ein Baby, und immer ein wenig entrückt. Er verbrachte seine Kindergartenzeit unter dem am weitesten entfernten Tisch, und wenn Shanni oder irgendjemand anderes versuchte, ihn darunter hervorzuziehen, trat er um sich und schrie, bis man ihm erlaubte, wieder unter den Tisch zu kriechen. Nach einem Monat im Kindergarten hatte er Shanni noch nicht näher an sich herangelassen.

Aber Shanni gab nicht auf.

„Das ist wirklich ein spannendes Buch“, sagte sie zu Harry, doch der sah nur aus seinen großen Augen misstrauisch in die Welt und zog sich noch weiter unter den Schatten des Tisches zurück. Die anderen Kinder warteten. Shanni seufzte und las weiter. Piraten. Piraten und Probleme …

„Polizei? Hier ist Nick Daniels, der neue Friedensrichter.“ Nick saß wieder am Steuer seines Autos und sprach aufgeregt in sein Handy. „Da fährt ein Junge Richtung Süden in die Stadt, in einem grauen Mercedes. Er ist sechzehn, aus der U-Haft entflohen und unberechenbar. Er hat mich gesehen und vermutet, ich sei hinter ihm her. So wie er fährt, gibt es gleich Ärger. Ich bin hinter ihm, aber mit etwas Abstand, damit er nicht denkt, ich würde ihn jagen. Jetzt biegt er links ab, Richtung Küste. Er … Nein!

Shanni las weiter.

„Er nahm seinen Enterhaken in die Hand und schwang ihn wild über dem Kopf. ‚Gebt mir all eure Schätze‘, rief der Pirat, und Miss Mary runzelte die Stirn.

„Du bist kein sehr höflicher Pirat. Hat deine Mummy dir nicht beigebracht, ‚Bitte‘ zu sagen?“

Dirty Dick blickte finster drein und schwang seinen Enterhaken noch einmal. ‚All eure Schätze, habe ich gesagt …‘“

Es gab einen mordsmäßigen Krach, und ein großes graues Auto durchbrach den Zaun des Kindergartens. Shannis Buch fiel zu Boden, als der Wagen genau vor den Fenstern des Kindergartens zum Stehen kam.

„Er hat einen Unfall gebaut.“ Nick war noch immer mit der Polizei verbunden, seine Freisprechanlage ließ ihn mit den Händen das Steuer umfassen. „Meine Güte, es ist ein Kindergarten. Ich fahre hin. Halten Sie sich zurück. Er ist imstande, etwas wirklich Dummes zu tun …“

Aber noch während er sprach, hörte er schon die Polizeisirenen näher kommen und wusste, dass es zu spät war. Len, der benommen und verängstigt in seinem kaputten Auto saß, würde die Sirenen auch hören. Wenn er in der Lage wäre, aus dem Wagen zu steigen, was würde er tun?

Plötzlich wusste Nick es. Er hielt am Straßenrand, stieg aus, ließ sein Auto stehen und begann zu laufen.

„Kinder, ihr bleibt hier. Marg, ruf den Krankenwagen und die Polizei.“ Shanni sah, dass Rauch aus dem Motor aufstieg. Wenn der Fahrer eingeklemmt war …

Sie lief schnell zur Tür – dann hielt sie inne.

Ein Junge stieg aus dem Wrack. Er sah wie fünfzehn aus – war mager und trug eine schmutzige Windjacke und verschlissene Jeans, das lange blonde Haar hing ihm in die Augen. Er hatte einen Schnitt auf der Stirn und stolperte, als er den ersten Schritt tat.

Shanni öffnete die Tür – und dann sah sie, was er in der Hand hielt. Als sie ihn erblickte, erblickte er sie. Und hob die Hand.

Eine Pistole zielte genau auf ihr Herz.

„Was, um …“

„Rühr dich nicht von der Stelle. Mach keine Dummheiten.“ Das sagte nicht der Junge. Es war eine Männerstimme, hart und bestimmt. Shanni, die Hand noch immer auf dem Türknauf, stand wie angewurzelt da. Hinter dem zertrümmerten Mercedes sah sie einen Mann.

Er war etwa dreißig, gut gekleidet mit einer Sporthose, einem kurzärmeligen Leinenhemd und einer Krawatte. Er hatte einen dunklen Teint, dunkle Augen und war groß. Sein Haar war zurückgekämmt, wie man es in der Stadt trug, und sein Körper war kräftig und … männlich, das war das einzig passende Wort. Sehr männlich.

Kurz, er sah aus wie ein Mann, der es gewohnt war, Befehle zu erteilen.

„Len, mach keine Dummheiten. Du bist verletzt. Wirf die Pistole weg, und lass uns dir helfen.“

„Sie …“ Der Junge atmete scharf ein, als er sich umdrehte, um den Mann anzusehen, und seine Furcht war beinahe greifbar. „Sie wollten mich einlochen. Sie und diese dumme andere Anwältin. Nun, Pech gehabt. Mich kriegt ihr nicht in den Knast.“ Er zielte wieder auf Shanni, und seine Hand zitterte. „Los, rein!“ Dann drehte er sich wieder zu Nick um und zielte mit der Pistole auf ihn. „Sie auch. Noch so ein Manöver, und die Lady bekommt es zu spüren.“

Seine Hand zitterte nicht genug. Die Waffe lag zu fest darin. Also gab es nur eine Lösung: zu gehorchen.

„Stellt euch … stellt euch an die Wand.“ Len klang verdammt unsicher. Das Sirenengeheul kam immer näher. „Alle.“

„Lassen Sie die Kinder auf dem Boden sitzen“, sagte Shanni mit einer Stimme, die Nick veranlasste, zu ihr hinzusehen. Sie war jedenfalls nicht hysterisch. Shanni war klein, viel kleiner als Nick, hatte schulterlange, wilde blonde Locken, blaue Augen und Sommersprossen. Sie trug Jeans und ein viel zu großes Männerhemd, das mit Fingerfarben verschmiert war. Sie sah aus wie sechzehn, aber ihre Stimme klang Respekt einflößend.

„Wir setzen uns zu den Kindern auf den Boden“, sagte sie zu Len. „Dann können Sie auf uns alle zielen, und die Kinder fürchten sich nicht so.“

Len atmete hörbar ein. Er war wirklich selbst noch ein Kind. „O…kay.“ Er fuchtelte wild mit der Pistole herum. Draußen wurde eine Sirene abgestellt, dann hörte man das Geräusch eiliger Schritte. „Sie …“ Len zielte mit der Pistole auf Nick. „Stellen Sie sich vor die Tür. Sagen Sie ihnen …“

„Was?“ Nick klang ebenfalls ruhig, viel ruhiger, als er in Wirklichkeit war. Angst, eine Pistole und kleine Kinder – das sah nach einem Albtraum aus.

„Sagen Sie ihnen, wenn sie reinkommen, bringe ich jemanden um.“

„Ich gehe …“ Nick machte einen Schritt zur Tür.

„Nein!“ Len, unentschlossen und verschreckt, änderte seine Meinung.

„Wenn ich ihnen etwas mitteilen soll, muss ich hinausgehen“, sagte Nick ruhig. „Von hier aus kann ich es nicht tun.“

„Ich erschieße die Kinder, wenn sie reinkommen.“

„Verstanden, aber ich muss raus, um ihnen das zu sagen. Jetzt gleich, sonst kommen sie rein.“ Er warf einen raschen Blick auf Shanni und hoffte inständig, dass hinter dieser Flut blonder Locken auch ein Verstand war. Dann sah er wieder zu Len. „Wenn du hinter mir bleibst, kannst du die Schusswaffe weiter auf mich gerichtet halten, während ich rede.“

„Ich …“

„Sie kommen gleich rein, Len.“

„Nein!“ Der Junge war fast zu Tode erschrocken. Wieder fuchtelte er mit der Pistole herum. Die Kinder waren wie gelähmt vor Schock und sprachlos. Shanni hatte sich neben sie gesetzt.

Und Len fasste einen Entschluss. „Gehen Sie raus“, befahl er Nick. „Richten Sie ihnen aus, was ich gesagt habe. Aber ich stehe hinter Ihnen. Und ihr anderen – keine Bewegung, oder ich bringe ihn um.“

Er drückte Nick den Pistolenlauf in den Rücken und schob ihn zur Tür hinaus.

Von überall her ertönten Sirenen. Wie viele Polizisten gibt es in dieser Stadt? fragte sich Nick. Aber der Lärm kam ihm gelegen. Wenn die Erzieherin auch nur einen Funken Verstand hatte …

Sie hatte. Shanni wusste genau, was zu tun war.

Der Junge hatte den Fremden bedroht, aber Shanni konnte sich darüber keine Gedanken machen. Sie trug die Verantwortung für die Kinder.

„Ich will keinen Mucks von euch hören“, flüsterte sie den Kindern zu. „Von niemandem einen Ton. Dies ist ein Piratenspiel. Ihr müsst mucksmäuschenstill sein und bleiben, wo ihr seid. Wenn ich euch an der Schulter anfasse, lauft ihr hinaus zu Marg, so schnell ihr könnt. Aber keinen Ton, sonst gewinnt Dirty Dick das Spiel!“

Sie sah die Kinder noch einmal scharf an, dann lächelte sie, um sie glauben zu machen, dass alles nur ein Spaß sei. Sie stand auf, schob Marg zur Hintertür und berührte Hugh, der neben Marg gestanden hatte. „Okay, lauf. Hugh, du zuerst. Nun Louise. Los! Jetzt Mary! Sam! Tony! Schneller. Brav, Kinder. Raus, und Marg bringt euch weg von Dirty Dick. Los!“

Nick atmete tief durch. Polizisten liefen auf ihn zu, und irgendwie musste er sie aufhalten.

„Bleiben Sie stehen! Sofort“

Sie blieben stehen, aber zu seinem Entsetzen sah Nick, dass zwei der Polizisten ihre Pistolen gezückt hatten. Na, großartig – eine Schießerei – und er in der Mitte.

Er musste sprechen, und zwar schnell! Laut rief er: „Ich bin Nick Daniels, und der da hinter mir ist Len Harris. Len ist aus der U-Haft abgehauen, als man ihn wegen bewaffneten Raubüberfalls anklagen wollte. Er hat eine Pistole und wird mich töten, wenn Sie näher kommen.“

Nick versuchte, möglichst viele Informationen in kurzer Zeit zu geben, aber er hatte schon Mühe, überhaupt etwas zu sagen. Hoffentlich brachte sie die Kinder in Sicherheit …

„Ich habe Ihnen nicht gesagt, dass Sie sagen sollen, wer ich bin.“ Len stieß Nick die Pistole hart in den Rücken, und Nick schnitt ein Gesicht. „Sagen Sie nur … sagen Sie: ‚Noch einen Schritt, und ich bringe Sie um‘.“

Nun standen drei Polizisten in Hörweite. Sie waren bei Nicks Worten sofort stehen geblieben.

„Noch einen Schritt, und er bringt mich um“, wiederholte Nick matt.

„Das ist mein Ernst“, rief Len. „Und jetzt … Gehen Sie zurück! Sofort!

Verflixt, hatte er die Waffe entsichert? Nick hatte zwar ruhig geklungen, aber Schweißperlen rannen ihm über die Stirn.

Doch die Polizei hatte verstanden. „Okay. Wir ziehen uns zurück.“ Der vorderste Polizist streckte die Hand aus, um den anderen zu bedeuten, dass sie hinter ihm stehen bleiben sollten. „Was fordern Sie?“

„Weiß ich noch nicht“, rief Len. „Ich denk drüber nach. Gebt mir Zeit. Ich hab all die Kinder da drinnen …“

„Rühren Sie die Kinder nicht an!“ Angst sprach aus der Stimme des Polizisten, der das gesagt hatte, und Nick sah ihn sich genauer an. Er war Mitte dreißig – genau das richtige Alter, um ein eigenes Kind unter den bedrohten zu haben.

„Wir geh’n wieder rein.“ Die Pistole grub sich tiefer in Nicks Rücken. „Kommt uns nicht nach! Das wär’s.“

„Ich sage ihm, dass er einige von den Kindern freilassen soll“, rief Nick. „Er kann sie nicht alle festhalten. Sagen Sie ihm, dass ich recht habe.“ Er versuchte verzweifelt, Zeit zu gewinnen. Len starrte auf die Polizisten, und seine ganze Aufmerksamkeit konzentrierte sich auf sie. Und drinnen …

Bestimmt hatte der Kindergarten eine Hintertür. Bestimmt war diese Frau nicht so dumm, dass sie geduldig auf die Rückkehr dieses verrückten Kerls wartete. Er, Nick, musste ihr nur genug Zeit lassen.

„Sie können nicht fünfundzwanzig Kinder als Geiseln behalten“, bestätigte der erste Polizist. Ja, dieser Officer kannte den Kindergarten, er wusste genau, wie viele Kinder hier waren. Er hatte persönliche Interessen.

Das ist gut, dachte Nick. Kein Polizist würde den Helden spielen wollen, wenn sein Kind dadurch in ein Kreuzfeuer geriet.

„Kein einziges lass ich gehen“, knurrte Len. „Und wenn Sie näher kommen, erschieße ich sie. Eins nach dem anderen.“ Er packte Nick am Kragen und stieß ihn zurück in den Saal.

Zunächst dachte Nick, sie hätte alle weggebracht. Kein Kind war mehr zu sehen. Dann aber sah er das saubere Hinterteil einer Jeans unter einem Tisch hervorlugen, und seine Hoffnung schwand. Hatte sie etwa versucht, sich zu verstecken?

Als Len ein wütendes Knurren ausstieß, drehte Shanni sich zu ihm um. Sie hatte die Arme fest um einen dünnen Jungen gelegt.

„Sie hätten gehen sollen.“

„Klar, und Harry zurücklassen.“ Eine Stunde später saßen sie an der Wand, so weit wie nur möglich von jeder Tür entfernt. Len stand gegenüber und spähte durch einen Spalt in den geschlossenen Vorhängen. Er hatte sich erst jetzt so weit beruhigt, dass Nick es wagte, zu reden. Eine Weile hatte er um das Leben des Mädchens gebangt.

Aber sie hatte sich Len gegenüber behauptet, denn sie war unter dem Tisch hervorgekommen und ihm gegenübergetreten.

„Es ist mir egal, wer Sie sind und was Sie tun, aber Sie brauchen nicht fünfundzwanzig kleine Geiseln. Sie haben mich, Sie haben diesen Mann, und Sie haben ein Kind.“ Sie hob das Kinn, herausfordernd und anscheinend furchtlos. „Und wenn Sie Harry etwas antun“, sie zog den Jungen noch fester an sich, „dann haben Sie nur noch eine Geisel, denn dann müssen Sie mich auch umbringen.“ Sie hatte es mit so viel eiserner Entschlossenheit gesagt, dass Len wusste, er hatte die absolute Wahrheit gehört.

Sie hat dabei so schön ausgesehen, dachte Nick erstaunt. Noch nie war ihm eine so mutige Frau begegnet. Sie verschlug ihm den Atem. Und was sie erreicht hatte … irgendwo da draußen waren vierundzwanzig Kinder wieder mit ihren Eltern vereint, und nur eines war hier geblieben. Ein abgemagertes Kind mit großen Augen und einem geschienten Bein. Ein Kind, das auf Shannis Schoß saß, als hätte es einen Spazierstock verschluckt, und keinen Laut von sich gab.

Wenn sie nur ein wenig schneller gewesen wäre. „Warum haben Sie Harry nicht auch rausgebracht?“, fragte Nick und sah auf den Jungen. Es war bestimmt noch nicht alt genug für den Kindergarten.

„Sie haben mir nicht genügend Zeit gelassen“, flüsterte Shanni. „Er saß unter dem Tisch.“

„Ja, stimmt.“ Nick hörte den vorwurfsvollen Unterton in ihrer Stimme. „Sie geben mir die Schuld an dieser ganzen Angelegenheit?“

„Sie haben ihn hier hereingejagt. Etwas Dümmeres …“

„He, das stimmt nicht!“ Seine Stimme wurde lauter, und Nick biss sich auf die Lippe und warf einen vorsichtigen Blick auf Len. Aber der war viel zu sehr damit beschäftigt, die sich draußen versammelnden Polizisten zu beobachten. „Er sah mich an der Tankstelle und glaubte, ich wäre hinter ihm her.“

„Sind Sie Polizist?“

„Anwalt.“

„Oh, großartig!“ Ihre Stimme ließ erkennen, was Shanni von Anwälten im Allgemeinen hielt – und von einem Anwalt im Besonderen.

„Das ist nicht meine Schuld“, stieß Nick zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Er war es nicht gewöhnt, dass eine Frau so zu ihm sprach.

Shanni machte ein finsteres Gesicht und zog Harry näher an sich. „Irgendjemand muss ich die Schuld geben, und ein Anwalt aus der Stadt mit einer zu schmalen Krawatte und einem teuren After Shave kommt mir da gerade recht, vielen Dank.“

Nick blinzelte. Machte sie sich etwa über ihn lustig?

Nein, er täuschte sich. Frauen lachten nicht über Nick Daniels. Und Frauen lachten nicht in Situationen wie dieser. Sie hatte ihre Aufmerksamkeit wieder dem Kind zugewandt und beachtete Nicks Reaktion nicht weiter. Fest schloss sie die Arme um den kleinen Jungen und versuchte, seinen steifen Körper näher an sich zu ziehen.

„He, Harry, alles ist gut. Alles ist in Ordnung.“ Sie wiegte ihn vor und zurück, wie sie es nun schon seit über einer halben Stunde tat, aber von Harry kam kein Ton. War er stumm? Nick wusste nichts über kleine Kinder. Vielleicht reagierten sie alle so, wenn sie Angst hatten.

„Seine Mum und sein Dad werden vor Sorge außer sich sein“, sagte er auf gut Glück.

„Nein. Harry lebt in einem Waisenhaus. Seine Erzieherin Wendy wartet draußen auf ihn, nicht wahr, Harry?“

Schweigen. Keine Reaktion.

„Ist er okay?“ Nick sah den kleinen Jungen an. Irgendetwas stimmte nicht mit ihm, außer dem kaputten Bein.

„Es geht ihm gut.“ Shanni seufzte. Dann ließ sie Harry mit einer Hand los, streckte sie Nick entgegen und sagte: „Ich bin Shanni McDonald. Und dies ist Harry Lester.“

„Ich bin Nick Daniels.“ Nick nahm ihre Hand und fand sie erstaunlich warm und fest. Anders …

Shanni war ganz anders als die Frauen, die er kannte, aber er wusste nicht genau, warum. Oder warum er sich bei ihr so … merkwürdig fühlte.

Zumindest reagiert sie nicht gleich hysterisch bei meinem Anblick, dachte er dankbar. Er lächelte schwach – und bemerkte, dass sie ihn auf eine beunruhigende Weise ansah.

„Ich könnte dasselbe über Sie sagen“, meinte Shanni.

„Wie bitte?“

„Ich kann mir vorstellen, was Sie denken, und genau wie Sie bin ich sehr erfreut, dass Sie nicht der Typ sind, der gleich in Ohnmacht fällt. Wir brauchen jetzt einen kühlen Kopf.“

Einen kühlen Kopf … Nick blinzelte. Offenbar dachte sie, dass sie helfen könnte, sie aus dieser misslichen Lage zu befreien – und sie schien seine Gedanken zu lesen!

„Tun Sie nichts“, sagte er schnell. Das Letzte, was sie brauchten, waren heldenhafte Taten.

„Ich bin doch nicht dumm“, erwiderte Shanni würdevoll. Dann biss sie sich auf die Lippe. „Harry, Mr. Daniels hat zwar einen Piraten direkt in den Kindergarten gejagt, aber vielleicht sollten wir trotzdem freundlich zu ihm sein. Sollen wir ihm etwas Milch und Obst anbieten?“

„Milch und Obst?“

„Das isst man im Kindergarten.“

Und noch ehe Nick antworten konnte, hatte Shanni etwas lauter hinzugefügt: „Len?“

Len wirbelte herum, als hätte sie geschrien, und die Pistole zielte jetzt direkt auf sie. Zu Nicks Erstaunen reagierte sie nicht mit Furcht, sondern mit Entschlossenheit. Sie stand auf, ohne Harry dabei loszulassen. Es war keine schnelle Bewegung – aber eine entschiedene.

„Setzen!“ Lens Stimme brach vor Panik, aber Shanni schüttelte nur den Kopf.

„Ich kann nicht. Ich muss auf die Toilette.“

„Nein!“

„Die Toilette hat keine Fenster“, sagte Shanni ruhig. „Sehen Sie selbst nach. Es gibt nur Dachluken, und so sportlich bin ich nicht. Niemand.“ Sie lächelte, und ihr Lächeln hätte einen Eisberg zum Schmelzen gebracht. „Len, wenn Sie mich nicht gehen lassen, wird es Ihnen leid tun.“

„Ich …“

„Ich wette, Sie müssen auch mal“, sagte sie nachdenklich. „Wozu diese ganze Aufregung? Wissen Sie was? Warum gehen Sie nicht mit Ihrer Pistole und Mr. Daniels und Harry auf die Jungentoilette, während ich auf die Mädchentoilette gehe? Ich schwöre, dass ich nicht abhaue.“

Len sah sie verblüfft an.

„Ich verspreche es Ihnen, und ich halte meine Versprechen. Ich werde nicht versuchen zu fliehen. Ich werde Harry nicht hier zurücklassen. Aber wenn wir uns über die Benutzung der Toilette nicht einig werden, wird es hier bald sehr ungemütlich sein.“

„Ja …“ Len dachte nach. „Wenn Sie versuchen zu fliehen, erschieße ich das Kind. Das ist mein Ernst.“

„Ich habe Ihnen doch gesagt – ohne Harry gehe ich von hier nicht weg“, sagte Shanni und sah Len so offen und aufrichtig an, dass selbst Nick, der niemandem vertraute, ihr glaubte. „Ich schwöre es.“

Und zu Nicks Verwunderung stimmte Len zu.

2. KAPITEL

Wie Len überhaupt fast allem zustimmte, was Shanni vorschlug. Er war vielleicht ein Krimineller mit einem langen Strafregister, aber er war auch noch Kind genug, um auf Shannis bestimmte Erzieherinnenart und ihr freundliches Lächeln zu reagieren.

Draußen waren jetzt Dutzende von Polizisten, mit Scharfschützen, Polizeipsychologen – der ganze Apparat. Die Polizei hatte immer wieder versucht, mit Len zu reden, aber aus lauter Angst hatte er es nicht gewagt, den ersten Schritt zu tun. Er hatte den Hörer neben das Telefon gelegt und ignorierte die Ansagen über das Megaphon.

Es war fast zehn, und es sah aus, als würde es eine lange Nacht werden.

„Es macht Ihnen nichts aus, wenn wir versuchen zu schlafen?“ Shanni deutete auf die Matten, die sie für den Mittagsschlaf der Kinder benutzten.

„Machen Sie, was Sie wollen“, knurrte Len. Nick dachte, er möchte auch schlafen – aber er traut sich nicht.

Autor

Marion Lennox
Marion wuchs in einer ländlichen Gemeinde in einer Gegend Australiens auf, wo es das ganze Jahr über keine Dürre gibt. Da es auf der abgelegenen Farm kaum Abwechslung gab, war es kein Wunder, dass sie sich die Zeit mit lesen und schreiben vertrieb. Statt ihren Wunschberuf Liebesromanautorin zu ergreifen, entschied...
Mehr erfahren