Die Queen und ich – aus dem Leben eines königlichen Corgis

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Kurz vor Weihnachten geht Corgi Henry mit seiner Familie im winterlichen London spazieren - und findet sich plötzlich im Privatpark des Buckingham Palace wieder. Die Angestellten der Queen halten den kleinen Hund für ein Mitglied des königlichen Corgi-Rudels, und ehe Henry sich‘s versieht, wird er zu seinem eigenen Körbchen im royalen Palast geführt. Doch Henry vermisst seine Familie und setzt alles daran, an Weihnachten wieder zu Hause zu sein.

»Eins der niedlichsten Bücher, die ich je gelesen habe. Und wie großartig ist es, den Buckingham Palace durch die Augen eines Hundes zu erkunden! … Es hat mich zum Lachen, zum Lächeln und fast zum Weinen gebracht, es ist erstklassig.«
Goodreads

»Eine zauberhafte Winterlektüre mit echt englischem Setting, nicht nur für Hundefans.« Wochenanzeiger

»Eine unterhaltsame Lektüre, passend zur Winterzeit.« Hunde


  • Erscheinungstag 06.08.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783955768478
  • Seitenanzahl 304
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Für alle Familien und ihre Haustiere
zum Weihnachtsfest!

Tag 1
Samstag, 14. Dezember
HENRY

Das Problem mit den Menschen liegt darin, dass man ständig auf sie aufpassen muss. Oh, ich behaupte nicht, dass sie es nicht wert sind. Allerdings weiß ich auch nicht, was sie ohne uns Hunde machen würden.

Nehmen wir zum Beispiel meine Familie. Die Walkers.

Seit ich als Welpe zu ihnen kam, waren wir immer zu fünft. Na gut, zu sechst, wenn man »Die Katze« mitzählt, was ich gewöhnlich nicht mache. Jedenfalls bestand unsere Familie immer aus Jim, Amy, Jack, Claire und mir – Henry. (Und Sookie eben, wenn’s denn sein muss.)

Das heißt, bis zum Feuerwerk am Guy-Fawkes-Tag vor fünf Wochen. Ich erinnere mich so genau an das Datum, weil die ganze Sache bei dem Geknalle und Geblitze passiert ist. Wie alle vernünftigen Wesen hatte ich mich während des Feuerwerks versteckt, unter dem Stuhl in Jim und Amys Schlafzimmer. Daher sah ich, wie Jim Kleidung und anderes Zeugs in seinen Koffer stopfte. Und ich hörte Amy schluchzend nach dem Grund fragen.

Manchmal glaube ich, dass sie genauso wenig verstand, was los war, wie ich. Mit Sicherheit weiß ich nur, dass Jim an diesem Abend aus dem Haus gegangen und bisher nicht wiedergekommen ist. Und das fühlte sich völlig anders an als sonst, wenn er morgens zur Arbeit ging und ich ihn vermisste. Es fühlte sich auch anders an als die Zeit, die ich in der Tierpension verbrachte, wenn die Familie einmal ohne mich in Urlaub fuhr.

Plötzlich hatte sich alles verändert. Und das gefiel mir überhaupt nicht.

Nachdem Jim gegangen war, kuschelte ich mich an Amy, die auf dem Bett lag und sich in den Schlaf weinte. Erst als ihr Schluchzen verebbte und ich mir sicher sein konnte, dass sie schlief, wagte ich es, vom Bett zu springen und nach den anderen zu sehen. Jack und Claire standen immer noch draußen und schauten dem Feuerwerk auf dem Sportplatz an der Schule zu. Tapfer ertrug ich den Krach und die Blitze, um mich zu vergewissern, dass es ihnen gut ging. Danach kehrte ich in mein Körbchen zurück und dachte darüber nach, was da eben passiert war – und wie ich dieses Problem lösen konnte.

Da schlich sich Sookie plötzlich hinter dem Sofa hervor und schenkte mir diesen grässlich überlegenen Blick, den alle Katzen draufhaben.

»Jetzt bist du dran«, sagte sie. Ich begriff nicht, was sie damit meinte, und sie hatte keine Lust, es mir zu erklären. Seitdem suchte ich jedoch nach Hinweisen, die mir Aufschluss darüber gaben, was eigentlich passiert war – und nach Möglichkeiten, wie ich alles wieder besser machen könnte.

Am darauffolgenden Morgen setzte sich Amy mit Jack und Claire an den Tisch und erklärte ihnen, was geschehen war. Ich hörte natürlich zu, aber ich verstand nur, dass Jim ausgezogen war und wir nun alle zu Hause mit anpacken und zusammenhalten mussten.

Das war einfach! Ich würde der hilfreichste Hund sein, den sie sich überhaupt vorstellen konnten.

Ich fing damit an, dass ich zur Schlafenszeit bei Jack und Claire nach dem Rechten schaute. Manchmal stellte ich dabei fest, dass Claire weinend im Bett lag. Dann sprang ich zu ihr und kuschelte eine Weile mit ihr, bis sie sich besser fühlte oder einschlief. Eigentlich durfte ich nicht aufs Bett, aber schließlich handelte es sich um einen Notfall. Außerdem ist Claires Bett tierisch bequem.

Auch beim Aufräumen half ich mit, indem ich alle Essensreste, die zufällig auf den Boden gefallen waren, auffraß. Das erschien mir jedoch noch nicht hilfreich genug, daher sprang ich auch auf die Küchenstühle, um die Teller abzulecken, die manchmal nach dem Essen auf dem Tisch vergessen wurden. Nach dem Abschlecken waren sie immer alle blitzblank sauber.

Amy wusste meine Bemühungen jedoch nicht so sehr zu schätzen, wie ich dachte. Nach ein paar Tagen stellte Jack das Geschirr immer gleich nach dem Essen in die Spülmaschine. Deshalb suchte ich mir andere Möglichkeiten, wie ich helfen konnte.

Am meisten beunruhigte mich, dass wir viel weniger spazieren gingen als früher. Jack nahm mich zwar manchmal mit in den Park, aber gewöhnlich traf er sich dort mit seinen Freunden, und ich musste angeleint herumsitzen und warten, bis er mit reden fertig war. Claire durfte allein mit mir immer nur bis zu den Einkaufsläden gehen, und die Düfte auf dieser Strecke kannte ich bereits in- und auswendig, weshalb dieser Spaziergang langweilig geworden war. Manchmal folgte Sookie uns auch; ich hatte schon immer den Verdacht, dass sie Claires Liebling war.

Amy schien überhaupt keine Zeit mehr für Spaziergänge zu haben. Ich wusste jedoch, dass es ihr danach immer besser ging. Daher schnappte ich mir jedes Mal, wenn die Haustür offen stand, meine Leine vom Haken im Flur und stürmte hinaus, damit sie mir folgen musste. Bis sie mich eingefangen hatte und wir uns wieder auf den Heimweg machten, hatten wir uns beide ein wenig die Beine an der frischen Luft vertreten. Amy wirkte zwar nie besonders glücklich über meine Bemühungen, aber ich war mir trotzdem sicher, dass sie hilfreich waren.

Dennoch blieb die Stimmung im Haus gedrückt. Von der einstigen Fröhlichkeit war nichts mehr zu spüren, und Jim hatte sich nicht ein einziges Mal blicken lassen. Trotz all meiner Anstrengungen litt meine Familie.

Dann jedoch kam der Morgen, an dem sich erneut alles änderte.

Voller Entschlossenheit sprang Amy die Treppe hinunter, packte Sachen in ihre Tasche und machte bergeweise Sandwiches. Irgendetwas ging da vor, und ich wollte unbedingt wissen, was.

»Jack! Wo ist dein blauer Rucksack?«, rief Amy nach oben. Ich drückte mich eng an den Tisch neben der Haustür und beobachtete alles aufmerksam.

»Darf ich mein Tablet mitnehmen?«, fragte Claire und hielt ihr elektronisches Dingsbums hoch.

»Ganz bestimmt nicht«, antwortete Amy. »Warum nimmst du nicht das neue Buch mit, das Oma dir gekauft hat?«

»Welchen blauen Rucksack?« Jack tauchte am oberen Treppenabsatz auf, er trug immer noch seinen Schlafanzug.

»Jack! Du bist ja immer noch nicht angezogen!« Amys Gesicht rötete sich leicht.

»Weil ich nicht mitkommen will«, erwiderte Jack. »Das hab ich dir doch gesagt.«

»Tja, Pech für dich. Wir fahren alle. Das wird ein Abenteuer.«

Abenteuer. Das Wort gefiel mir.

»Jetzt such deinen Rucksack.«

»Welchen Rucksack?«, fragte Jack erneut. »Und warum muss ich unbedingt mit? Fahr doch mit Claire alleine.«

»Ihr fahrt beide mit«, erwiderte Amy nachdrücklich. »Jetzt hol den Rucksack, den ich dir für den Duke-of-Edinburgh’s-Award-Ausflug gekauft hab, und zieh dich endlich an!«

Jack starrte seine Mutter eine ganze Weile an. Ich kannte diesen Blick. Er versuchte abzuschätzen, ob es sich lohnte, weiter mit ihr zu diskutieren, doch er entschied sich dagegen.

»Der Rucksack ist rot«, murrte er, doch er lief zurück in sein Zimmer, um sich fertig zu machen.

Und ich geriet ins Grübeln. Wofür sollte er sich fertig machen? Das hatte Amy nicht erwähnt. Sie hatte nur gesagt, dass wir alle dieses Abenteuer erleben würden. Ob sie mit dem »wir« auch mich gemeint hatte? Ich hoffte es. Falls nicht … Tja, in dem Fall konnte ich mir immer noch meine Leine schnappen und ihnen nachlaufen. Ganz bestimmt würde ich mir den größten Spaß, der sich seit Wochen bot, nicht entgehen lassen!

»Oha. Das sieht interessant aus.« Sookie rieb sich an mir, ehe sie sich auf ihren Lieblingsplatz neben der Heizung setzte. »Was glaubst du, ist hier los?«

»Wir machen uns bereit für einen Ausflug«, erklärte ich und beobachtete Amy, die zwischen Küche und Flur hin und her lief und Sachen packte.

»Das sehe ich auch.« Sookie schlug mit ihrem flauschigen Schwanz aufs Parkett. »Aber wohin?«

»Zu einem Abenteuer.« Ich konnte die Aufregung in meiner Stimme nicht unterdrücken.

Sookie verdrehte die Augen und machte sich auf den Weg zur Küche. »Laaaangweilig.«

Ts, Katzen. Die haben überhaupt keinen Abenteuersinn.

Amy tauchte wieder im Flur auf, Claire klebte ihr an den Fersen.

»Wenn ich ein Handy hätte, könnte ich mir damit im Zug die Zeit vertreiben«, sagte Claire. »Ich bin schließlich schon zwölf. Alle meine Freundinnen haben Handys.«

»Wir hatten uns doch geeinigt, dass du frühestens mit dreizehn ein Handy bekommst.« Amy drehte sich nicht einmal um, während sie antwortete. Was mich nicht überraschte, denn dieses Gespräch hatten sie schon sehr oft geführt.

»Ich sag ja nur, dass ich fast dreizehn bin.«

»Du bist im Oktober zwölf geworden. Das war vor zwei Monaten.«

»Aber ein Handy wäre ein tolles Weihnachtsgeschenk«, fuhr Claire fort und ignorierte die Antwort ihrer Mutter einfach.

Seufzend drehte sich Amy nun doch um. »Claire, wir haben das doch schon besprochen. Weihnachten wird dieses Jahr ein wenig … anders werden. Und solche großen Geschenke sind im Moment einfach nicht drin. Tut mir leid.«

Claires Miene bewölkte sich. In letzter Zeit setzte sie diesen Blick häufiger auf, und immer wenn sie mich in dieser Stimmung anleinte, wurde ich in rasend schnellem Tempo zu den Einkaufsläden geschleift. Wie jeder Hund mochte ich Spaziergänge, aber wenn Claire ihren Turboschmollschritt einlegte, blieb der Spaß gewöhnlich auf der Strecke.

»Na schön.« Sie verschränkte die Arme vor der Brust. »Dann frag ich eben Dad.«

Amy wandte den Kopf ab. Plötzlich war ihr Gesicht ganz traurig geworden. Am liebsten hätte ich mich an sie geschmiegt und sie getröstet. »Tu das.«

Die Gewitterstimmung hielt an, während Amy die Tasche packte und Jacks roten Rucksack, nachdem er ihn die Treppe hinuntergeworfen hatte.

Claire setzte sich an den Küchentisch, in Sichtweite des Flurs, und machte ein finsteres Gesicht. Sookie schlängelte sich um ihre Beine, aber Claire bückte sich nicht zu ihr hinunter, um sie zu streicheln.

Ich legte mich in die Nähe meiner Leine. Wir brauchten dieses Abenteuer dringend. Wir alle.

»Gut.« Amy klang entschlossen. »Zieht eure Jacken an. Wir müssen los!«

Jack trampelte die Treppe herunter und riss seine Jacke von der Garderobe. Auch Claire schlüpfte in ihre rote Steppjacke, und Amy knöpfte ihren alten Mantel zu. Dann griff sie sich ihre Tasche, gab Jack seinen Rucksack und …

Hurra! Sie nahm meine Leine vom Haken und klipste sie an mein Halsband.

Ein warmes, friedvolles Gefühl ergriff mich. Wo auch immer meine Menschen hingingen, sie wollten mich dabeihaben. Das allein zählte.

»Du solltest besser hoffen, dass sie dich auch wieder mit zurückbringen«, schnurrte Sookie, während sie sich an uns vorbeifädelte und die Treppe hinauflief.

Ich schenkte ihr gar keine Beachtung. Natürlich würden sie mich wieder mit nach Hause nehmen.

Ich war das Herzstück der Familie. Sehen wir den Tatsachen ins Auge: Ohne mich wären sie alle verloren.

AMY

Die Idee ist gut, beschloss Amy endgültig, als sie in der Ferne das Schild entdeckte, nach dem sie Ausschau gehalten hatte.

Selbst als der Zug schon in den Bahnhof Victoria Station einfuhr, war sie sich noch unschlüssig gewesen. Jack hatte während der Zugfahrt stur geschwiegen. Seit Jims Auszug vor sechs Wochen redete er ohnehin nicht mehr viel. Allerdings schien sein Schweigen eindringlicher zu werden, je mehr Zeit verstrich. Immerhin konnte sie ihm gelegentlich noch ein paar Worte entlocken. Mit Jim hingegen wollte Jack überhaupt nicht mehr sprechen. Wenn er anrief, legte Jack jedes Mal sofort wieder auf.

Auch Claire, ihr kleines fröhliches Mädchen mit dem sonnigen Gemüt, hatte sich verändert. Sie diskutierte ständig mit ihr und beschwerte sich über jede noch so kleine Änderung der Routine. Und davon gab es einige. Selbst Henry hatte seit Jims Auszug unberechenbare Launen. Der arme Corgi schien entschlossen, jeden daran zu erinnern, dass es ihn auch noch gab, und das meist, in dem er Scherereien verursachte. Vor Jims Auszug war Henry ein gut erzogener Hund gewesen, der sich immer perfekt benahm. Neuerdings schien Amy jedoch die Hälfte ihrer Zeit damit zu verbringen, ihn von Betten zu verscheuchen. Und die andere Hälfte damit, ihm nachzuhetzen, wenn er wieder mal aus dem Haus entwischt war. Sie hatte Jack sogar Spülmaschinendienst auferlegen müssen, damit Henry die Reste nicht direkt von den Tellern fraß.

Dennoch konnte sie dem kleinen Hund keine Vorwürfe machen, dass ihn die neue Situation im Haus verunsicherte, ihm womöglich sogar Angst einjagte. Wie ihnen allen. Ihr ganzes Leben stand im Moment kopf.

Jim hatte sein Gehalt mit sich genommen, als er gegangen war. Zwar bezahlte er immer noch die Hälfte der Hypothek und hatte ihr mehr Unterhalt für die Kinder angeboten, aber Amy wollte sein Geld nicht annehmen. Aus Prinzip. Sie wollte nicht, dass er sich von seinen Pflichten gegenüber der Familie freikaufte, nur damit er sich besser fühlte und sich einreden konnte, dass er genug für seine Familie tat.

Denn das tat er nicht. Ganz und gar nicht.

Seine Kinder brauchten ihn. Nicht sein Geld.

Und wenn er eben nicht für sie da sein wollte – nun, dann würde sie ihnen eben Mutter und Vater zugleich sein. Sie würde auch allein zurechtkommen. Mit allem.

Sie wollte Jim beweisen, dass es ihnen allen ohne ihn besser ging. Das würde sich viel befriedigender anfühlen, als dem Mistkerl eine Ohrfeige zu geben.

Glaubte sie jedenfalls.

Ihre Freunde hatten sich natürlich ausgiebig über Jims unrühmlichen Abgang ausgelassen. Ihr beißendes Urteil lautete zumeist, dass er ein Klischee lebte und das Gute, was er gehabt hatte, nicht zu schätzen wusste. Sie meinten es alle nur gut, das wusste Amy, und es half ihr auch, dass ihre Freunde Partei für sie ergriffen und hinter ihr standen. Der nützlichste Rat war jedoch von gänzlich unerwarteter Seite gekommen – von dem neuen Arzt in der Praxis, in der sie als Krankenschwester arbeitete. Dr. Fitzgerald war erst vor Kurzem in die Stadt gezogen, und der Flurfunk berichtete, dass er selbst frisch geschieden war. Amy hatte ihn ein paar Mal im Park in der Nähe der Praxis getroffen, wo er seinen Dalmatiner spazieren führte, aber sie hatten kaum ein Wort miteinander gewechselt. Bis zum vergangenen Monat.

Eine Woche nach Jims Auszug hatte Dr. Fitzgerald den Kopf in das Behandlungszimmer gesteckt, in dem sie beschäftigt war, und sie gefragt, ob es ihr gut ging.

Amy hatte ein Lächeln aufgesetzt und so getan, als sei alles in Ordnung, aber er hatte sie sofort durchschaut.

»Sie werden jetzt wahrscheinlich von allen Seiten mit guten Ratschlägen überschüttet«, sagte er mit sanftem Lächeln. »Und manche davon sind sicherlich gut, aber andere ganz bestimmt auch absolut furchtbar. Vergessen Sie jedoch nicht, dass es nur darauf ankommt, was Sie für richtig halten. Denn Sie sind diejenige, die ihr Leben weiterleben muss, wenn sich der Sturm gelegt hat und alle sich wieder anderen Dingen widmen. Und egal, was er getan hat, er bleibt der Vater Ihrer Kinder. Und auch Sie werden immer noch Sie selbst sein, obwohl es sich im Moment nicht so anfühlen mag. Also seien Sie ruhig wütend, und betrauern Sie das, was Sie verloren haben, aber letztendlich müssen Sie sich auf die Zukunft konzentrieren.«

Auf die Zukunft. Ein neues Leben schien ihr immer noch in unerreichbarer Ferne, aber Amy gab sich Mühe. Sie versuchte, sich eine Zukunft vorzustellen, in der die Traurigkeit nicht mehr überwog, in der sie glücklich war – und ihre Kinder auch.

Und darum ging es ihr an diesem Tag. Es sollte der erste Schritt auf dem Weg in das neue, glücklichere Leben werden, das sie sich für ihre Familie wünschte.

Und welcher Ort wäre dazu besser geeignet als das Winter Wonderland?

»Na, was sagt ihr?«, fragte sie, während sie an diesem knackig kalten Dezembertag zum Hyde Park schlenderten. Henry trottete neben ihr her und benahm sich trotz der vielen Fußgänger auf dem Bürgersteig vorbildlich. Einer seiner Streiche hätte ihr an diesem Tag auch gerade noch gefehlt.

Jack und Claire schlurften hinter ihr her, deshalb hatten sie das Schild noch nicht gesehen. Als sie es jedoch entdeckten …

»Mum! Gehen wir etwa dahin? In echt?«, rief Claire. Amy lächelte. Einen Moment lang klang Claire wieder wie ihr kleines fröhliches Mädchen. Himmel, wie hatte sie das vermisst.

Vor ihnen hatte sich bereits eine Menschentraube gebildet, alle strömten zu dem riesigen bunt beleuchteten Eingang. Selbst bei Tageslicht brannten die Lichter, und Weihnachtsmusik erfüllte die Luft. Dahinter ragte das Riesenrad hoch über dem Park auf. Dieser Anblick allein weckte in Amy ein freudiges Kribbeln, und sogar Henry bellte aufgeregt.

Ja, die Idee war perfekt gewesen.

»Winter Wonderland?« Jack gab sich cool und gleichgültig, aber Amy kannte ihn zu gut. Sie hörte den Funken der Begeisterung in seiner Stimme, auch wenn er versuchte, ihn zu verbergen. »Deshalb sind wir hier?«

»Ja!« Sie schenkte ihren Kindern ein strahlendes Lächeln, und ihr Herz erwärmte sich, als sie es erwiderten. Sie reichte ihnen die Karte mit den Attraktionen des Weihnachtsmarkts, die sie vorher ausgedruckt hatte. »Was wollt ihr zuerst machen?«

Jack und Claire breiteten die Karte zwischen sich aus und übertrumpften sich gegenseitig mit Vorschlägen zu ihren Lieblingsfahrgeschäften. Schon seit zwei Jahren hatten sie den Winter-Wonderland-Weihnachtsmarkt im Hyde Park besuchen wollen, aber Jim war dagegen gewesen, weil dort seiner Meinung nach zu viel Trubel und Kommerz herrsche. Stattdessen wollte er lieber mit ihnen zum Skifahren. Einen Winterurlaub für vier Personen hatten sie sich jedoch nicht leisten können – ganz zu schweigen von den Kosten für die Tierpension für Henry und Sookie.

Der Eintritt für das Winter Wonderland war zum Glück kostenlos. Natürlich konnte man im Park selbst jede Menge Geld bei den verschiedensten Dingen loswerden, aber genau aus diesem Grund hatte Amy vorgesorgt. Sie hatte gespart und für zwei der größeren Attraktionen Karten im Voraus gekauft – das Riesenrad und die Schlittschuhbahn beim Musikpavillon. Henry hatte sie absichtlich mitgenommen, um sagen zu können, dass sie nicht mitfuhr, weil sie auf ihn aufpassen musste. Dadurch benötigte sie nur zwei Tickets für die Fahrgeschäfte. Beide Kinder konnten sich darüber hinaus noch eine weitere Attraktion aussuchen, auch dafür würde ihr Gespartes noch reichen. Und für den Fall, dass Jack und Claire noch mehr unternehmen wollten, hatte sie das Geld mitgebracht, das ihre Mutter den Kindern zu Weihnachten schenkte und das sie extra für diesen Ausflug früher geschickt hatte.

Im Zug hatten sie bereits die vorbereiteten Sandwiches gegessen und waren satt, weshalb die Buden mit ihren überteuerten Leckereien sie nicht in Versuchung führen würden. Und fürs Abendessen hatte Amy ein günstiges italienisches Restaurant ausgesucht, das sie von ihrer ersten Verabredung mit Jim kannte. Sie hatten es damals entdeckt, nachdem sie die Oxford Street entlanggeschlendert waren, um das Lichtermeer zu betrachten. Dazu noch ein Abstecher zum Buckingham-Palast und der Tag würde unvergesslich werden. Und trotzdem würde Amy immer noch genügend Geld übrig bleiben, um die Zutaten fürs Weihnachtsessen zu besorgen.

Kein schlechter Plan, lobte sie sich selbst.

Den Kindern schien zum Glück gar nicht aufzufallen, dass sie die Billig-Variante gewählt hatte. Claire war von den Lichtern und dem Zauber des Weihnachtsmarktes fasziniert, und selbst Jack ließ sich von der Musik mitreißen und freute sich auf die Aussicht, die er im Riesenrad haben würde. Henry hielt sich dicht bei ihren Füßen, weshalb sie ein paar Mal fast über ihn gestolpert wäre, aber er machte keinen Ärger, was als Pluspunkt zu werten war.

Für eine Weile schien es fast so, als wäre ihr Leben nicht völlig aus den Fugen geraten.

Wenn man davon absah, dass Jim fehlte.

Amy beobachtete, wie sich das Riesenrad vor dem sich verdunkelnden Londoner Himmel drehte, und stellte sich einen Moment lang vor, wie anders wohl alles verlaufen wäre, wenn Jim keine Sekretärin gebraucht und Bonnie nicht eingestellt hätte. Wenn er sich nicht in sie verliebt hätte. Und wenn er sich nicht dazu entschlossen hätte, fast zwanzig Jahre Ehe von einem Moment auf den anderen wegzuwerfen.

Sie schüttelte den Kopf. Es war sinnlos, in der Vergangenheit zu verweilen. Sie musste nach vorne schauen – und dafür sorgen, dass ihre Kinder ein schönes Leben hatten, auch ohne Jim an ihrer Seite.

Sie wollte nicht, dass Jack und Claire ihren Vater hassten, denn die Situation war ohnehin schon schwierig genug, und Verbitterung nutzte niemandem. Außerdem hatte Dr. Fitzgerald recht – Jim blieb der Vater ihrer Kinder, selbst wenn sie als Paar geschieden waren. Dennoch – trotz all ihrer Bemühungen, zivilisiert und höflich zu bleiben, wurde Amy das Gefühl nicht los, dass sie in allem den Kürzeren gezogen hatte und das zerbrochene Geschirr allein aufsammeln durfte. Weil Jim eine Affäre hatte und sich, zur Wahl gezwungen, für Bonnie entschieden hatte, redete Jack nicht mehr mit seinem Vater. Und bei Claire war sich Amy nicht sicher, ob sie überhaupt so ganz verstand, was passiert war. Jim hatte den Kindern seine neue Freundin noch nicht vorgestellt.

Das würde jedoch nicht ewig so bleiben. Jack und Claire würden sich an die neue Situation gewöhnen und mit dem neuen Menschen in ihrem Leben zurechtkommen müssen. Sie würden Feiertage, Ferien und Feste gemeinsam mit Bonnie verbringen. Schon im nächsten Jahr würden sie sich absprechen müssen, welchen Weihnachtstag die Kinder mit ihrer Mutter und welchen bei ihrem Vater verbrachten und wer für das Strümpfefüllen am Heiligabend zuständig war …

In diesem Jahr gehörten die Kinder Amy jedoch noch ganz allein. Und sie wollte das Beste daraus machen. Jack war fast achtzehn, womöglich war das sein letztes Weihnachtsfest im Kreis der Familie. Auch deshalb wollte Amy dieses Weihnachtsfest für ihn und Claire zum magischen Erlebnis machen. Ein letztes Weihnachten, in denen sie noch einmal ganz Kind sein durften.

Auch wenn sie das ganz allein stemmen musste.

Henry schmiegte sich an ihre Beine, als das Riesenrad anhielt, und sie streichelte ihn.

»Wir schaffen das, nicht wahr, mein Junge?«, murmelte sie, während sie nach Jack und Claire Ausschau hielt.

Henry legte zur Antwort den Kopf auf seine Pfoten, die er auf ihren Füßen platziert hatte. Zumindest er würde sie nicht verlassen.

Wie schön, dass sie wenigstens auf ein männliches Wesen in ihrem Leben zählen konnte.

Selbst wenn es ein Corgi war.

HENRY

Ich musste zugeben, dass es in diesem Winter Wonderland viel interessantere Gerüche gab als bei uns zu Hause in Redhill. Dort roch es meist nur nach anderen Hunden, Kindern, Autos, Abfalleimern und im Park auch mal nach Eichhörnchen. Hier duftete es nach gerösteten Kastanien, wenn man dem Mann glauben konnte, der uns das im Vorübergehen zubrüllte, und nach allen möglichen süßen Sachen. Darunter mischte sich der beißende Geruch der Eiseskälte, und über all dem hing der Duft nach Aufregung und Begeisterung. Selbst an Jack, Claire und Amy nahm ich ihn wahr.

Claire murrte zwar, als es Zeit wurde zu gehen, aber sie machte nicht so ein Theater wie so oft in letzter Zeit. Amy schlang einen Arm um ihre schmalen Schultern und versprach, dass sie noch viel mehr Spaß haben würden, was Claire augenblicklich aufheiterte.

»Und was machen wir jetzt, Mum?«, fragte Jack. Auch seine Stimme klang nicht mehr so mürrisch wie sonst. Ich setzte mich vor seine Füße und wackelte anerkennend mit dem Stummelschwanz. Mir gefiel es, wenn meine Familie glücklich war, und zum ersten Mal seit Monaten kamen alle mir wieder glücklich vor.

Vielleicht wurde jetzt ja alles wieder gut.

»Ich dachte, wir schauen beim Buckingham-Palast vorbei.« Amy faltete die Karte vom Winter Wonderland zusammen und steckte sie in ihre Tasche. »Wir könnten durch den St. James’s Park gehen und vorher noch einen Blick auf die Pelikane werfen. Später, wenn es dunkel wird, können wir mit der U-Bahn zur Oxford Street fahren und uns vor dem Abendessen die Weihnachtsbeleuchtung dort anschauen. Was haltet ihr davon?«

Claire legte den Kopf an den Arm ihrer Mutter. »Das klingt wunderbar.«

»Großartig!« Amy strahlte.

Zufrieden schlenderte ich neben ihr her, während wir uns den Weg vorbei an Holzbuden und Schlittschuh laufenden Kindern bahnten. Gelächter und Freude erfüllte die Luft. Es war wirklich ein schöner Tag, und St. James’s Park klang auch gut in meinen Ohren!

Parks waren meiner Erfahrung nach Orte, an denen man herumtollen und neuen Gerüchen und Eichhörnchen nachjagen konnte. Bei uns zu Hause im Park war Amy immer sehr locker. Sie wusste, dass ich mich auskannte, weshalb sie mich nicht so streng beaufsichtigte. Außerdem trafen wir dort immer auf interessante Leute, wie zum Beispiel den Nachbarn mit dem Yorkshire Terrier oder den neuen Arzt, der einen wirklich lustigen Dalmatinerwelpen hatte. Sogar Claires Freundinnen aus der Schule oder Jacks Kumpel trieben sich oft im Park herum. Wir blieben immer stehen, um ein Schwätzchen mit ihnen zu halten, und die Gespräche mit diesen Menschen schienen meine Familie immer aufzuheitern, vor allem in den vergangenen Monaten.

Ich war zwar ein ausgezeichneter Zuhörer und Tröster, im Gegensatz zu Sookie, die beim kleinsten Schniefen das Weite suchte, aber manchmal brauchen Menschen das Gespräch mit anderen Menschen.

Ich behielt recht – der St. James’s Park war paradiesisch. Amy ließ mich von der Leine, und ich konnte nach Lust und Laune herumspringen. Die kalte gefrorene Erde fühlte sich auch viel besser unter meinen Pfoten an als der harte Beton der Bürgersteige, daher genoss ich meine Freiheit und rannte los.

»Jag bloß nicht die Pelikane!«, rief mir Amy nach, die mir mit den Kindern folgte. Ich bellte eine rasche Antwort über die Schulter. Was waren Pelikane überhaupt? Ich konnte keineswegs versprechen, sie nicht zu jagen, bis ich es herausgefunden hatte. Womöglich waren sie ja so was Ähnliches wie Eichhörnchen. Die jagte ich am liebsten. Tauben kamen dicht dahinter an zweiter Stelle. Ich war jedoch gern bereit, meine Liste neu zu ordnen, wenn Pelikane noch mehr Spaß brachten.

Meine Menschen blieben auf den harten Wegen, während ich im Zickzack durch den Park rannte, meist auf dem Gras und immer so, dass ich sie im Auge behalten konnte. Jack warf Stöcke, denen ich nachjagen konnte, was mir großes Vergnügen bereitete. Schließlich erreichten wir einen See, und während ich noch darüber nachdachte, ob das Wasser wohl zu kalt für ein kurzes Bad war, deutete Claire auf eine Insel in der Mitte.

»Schau, Mum. Da sind die Pelikane.«

Ruckartig hob ich den Kopf und spitzte die Ohren, den Blick auf den Horizont gerichtet. Der Park war grün, selbst im tiefsten Winter, und der See war nicht zugefroren, daher trieben sich hier immer noch viele Wildtiere herum. Ich blickte auf die Stelle, auf die Claire deutete, und betrachtete die riesigen, albern aussehenden Vögel, die offensichtlich im Park lebten.

Sie hatten ein dreckiges weißes Gefieder und große spitze Schnäbel, an deren unterer Hälfte ein schlaffer Hautsack hing. Und sie waren eindeutig größer als ich.

Ich wich ein paar Schritte vom Ufer zurück. Die Viecher sahen so aus, als könnten sie eine ganze Taube oder ein Eichhörnchen auf einmal verschlucken. Ich wollte auf keinen Fall ausprobieren, ob sie Appetit auf einen Corgi hatten.

»Wem gehören die denn?«, wollte Claire wissen. Plötzlich sehnte ich mich nach den Spatzen und Drosseln in unserem Garten in Redhill zurück. Das waren anständige Vögel. Die kannten ihren Platz im Tierreich.

»Nun, der St. James’s Park ist ein königlicher Park«, antwortete Amy bedächtig. »Daher gehören sie wohl der Queen.«

Die Queen hat einen sehr eigenartigen Haustiergeschmack, dachte ich unwillkürlich.

»Der russische Botschafter hat König Charles II im Jahr 1664 die ersten Pelikane geschenkt.« Wir schauten Jack überrascht an, der sein Handy hochhielt. »Die Magie des Internets. Und jetzt kommt weiter, es ist schweinekalt! Was machen wir jetzt?«

»Wir haben die Pelikane gesehen, schauen wir mal, ob wir einen Blick auf ihre Besitzerin erhaschen«, schlug Amy vor. »Ich habe heute Morgen in der Zeitung gelesen, dass die Queen heute Nachmittag den Palast verlassen wird. Vielleicht haben wir ja Glück.«

Ich war mir nicht sicher, ob man von Glück sprechen konnte, wenn man die Besitzerin dieser Horrorvögel zu Gesicht bekam. Claire hüpfte jedoch aufgeregt herum und klatschte in die Hände, daher irrte ich mich möglicherweise.

Wir wanderten am See entlang auf den Parkausgang zu. Amy leinte mich nicht wieder an, was mir nur recht war. Ich blieb sowieso in ihrer Nähe, zumindest bis ich mir sicher sein konnte, dass die Pelikane uns nicht mehr sahen.

Auf einen zweiten Besuch in diesem Park verspürte ich keine große Lust. Der Park bei uns zu Hause mit all den Menschen und Hunden, die wir kannten, war mir sehr viel lieber. Dort gab es auch ein paar hübsche dicke Eichhörnchen, mit denen ich herumtollen konnte.

Als wir den Park verließen, entdeckten wir vor uns an einem Eisenzaun eine riesige Menschenmasse. Gespräche füllten die frostige Luft, und Amy scheuchte uns alle über eine breite Straße. Auf der anderen Seite angekommen, schaute ich mich um. Allerdings sah ich nur Beine – dünne Beine, dicke Beine, Beine in dunklen Hosen und Stiefeln oder in Jeans und Strumpfhosen. Überall waren Beine und versperrten mir die Sicht.

»Das Tor öffnet sich!«, rief Claire und plötzlich drängten die drei noch dichter auf den Zaun zu. Ich heftete mich an ihre Fersen und fädelte mich zwischen den Beinen hindurch, damit ich sie nicht verlor.

»Komm schon, Henry.« Jack schaute zu mir herunter. Ich war immer noch nicht angeleint, aber die Walkers waren viel zu sehr damit beschäftigt, die Hälse zu recken, um es zu bemerken.

Plötzlich schwoll der Lärm an. Durch den Beinewald hindurch erkannte ich ein Motorrad. Es brauste mit blinkenden Lichtern aus dem Tor heraus. Dahinter folgte ein langes schwarzes Auto, auch mit Blinkelichtern, und als es vorbeifuhr, fing die Menge an auszuflippen. Die Leute riefen und klatschten wie wild. Das war schlimmer als jedes Silvesterfeuerwerk. Ich machte mich ganz klein, aber hinter mir gab es noch mehr Beine, und überall war es laut. Ich konnte dem Krach nicht entkommen.

Aber das musste ich meinen schmerzenden Ohren zuliebe. Am liebsten hätte ich mich unter meinem Kissen in meinem Körbchen zu Hause verkrochen. Ich wollte mit meiner Spielzeugmaus kuscheln. Ich wollte, dass Jack mir den Kopf kraulte und mir versicherte, dass bald wieder Ruhe herrschte.

Ich wusste jedoch, dass das nicht passieren würde. London war schon den ganzen Tag so wahnsinnig laut – erst der Zug, dann das Winter Wonderland und schließlich das Gekreische der Pelikane bei der Fütterung, als sie um ihren Fisch gerangelt hatten.

Diese Menschenmenge hier war jedoch das Schlimmste, und ich wollte nur noch weg.

Leise winselnd kämpfte ich mich rückwärts durch die Beine und den Lärm. Ich beschloss, am Rand der Menge auf die Walkers zu warten – sicher fanden sie mich in null Komma nichts, sobald dieser Trubel vorüber war.

Hinter all den Menschen war es nicht mehr ganz so laut, dennoch hätte ich mir immer noch am liebsten die Pfoten auf die Ohren gelegt. Ich lief ein Stückchen weiter, in der Hoffnung, dass es noch ein wenig leiser werden würde, bis ich ein Gebüsch entdeckte, in dem ich mich verstecken konnte. Als ich mich hineindrückte, entdeckte ich eine große dicke Taube, die auf mich zuhopste. Ich betrachtete sie aufmerksam und stellte mir vor, wie ich sie fangen würde, um mich von dem Krach abzulenken. Der Lärm der Menge dämpfte sich in meinen Ohren, als ich mich auf meine Beute konzentrierte.

Der Vogel merkte nicht, dass ich ihn im Visier hatte, ungerührt hüpfte er näher an das Gebüsch heran. Und noch ein Stück näher. Direkt vor meine Nase …

Genau im richtigen Moment machte ich einen Satz nach vorn. Panisch flatterte die Taube hoch, und ich beobachtete, wie sie über meinen Versteckbusch hinwegflog und auf der anderen Seite landete. Das war ja fast zu einfach.

Der Busch war dichter als der Wald aus Beinen, aber auch viel leiser. Und er würde mir auch ganz bestimmt nicht auf die Pfoten trampeln. Ich schob mich durch die Äste, bis ich gegen zwei Metallstangen mitten im Gestrüpp stieß, die sich nicht wegdrücken ließen.

Ich steckte den Kopf dazwischen und schlängelte mich erst mit den Schultern, dann mit dem Körper und zum Schluss mit dem Hinterteil hindurch.

Mit einem Ruck kam ich auf der anderen Seite raus und tauchte aus dem Busch gerade noch rechtzeitig auf, um zu sehen, wie die Taube auf einen Grasflecken zustolzierte.

Die Jagd konnte beginnen.

Tauben sind echt dumme Vögel. Ihnen scheint nie einzufallen, dass sie nur hoch oder weit genug wegfliegen müssen, um mir zu entkommen. Stattdessen flattern sie nur kurz auf und setzen sich dann ein paar Schritte vor mir wieder hin.

Wie ich schon sagte: Total dumm. Aber das macht das Spiel umso lustiger.

Fröhlich bellend jagte ich hinter dem Vogel her. Das Geklatsche und Gejohle war hier fast gar nicht mehr zu hören. Wo war ich überhaupt? Die Umgebung wirkte wie ein weiterer Park, wie der mit den Pelikanen, mit vielen Bäumen und Sträuchern. Das fand ich in Ordnung. Parks waren gute Plätze für Hunde, und die Walkers würden mich schon finden, wenn sie erst mal mit dem fertig waren, was auch immer sie da am Zaun taten. Ich war ja auch gar nicht so weit weg.

Schließlich bewies die Taube genug Verstand, um in einen Baum zu fliegen und dort auf einem Ast hocken zu bleiben, aber das machte mir nichts aus. Das gab mir Zeit, den neuen Park ein wenig zu erkunden – und dabei natürlich Ausschau nach Pelikanen zu halten.

Das Erforschen der Wege und Rabatten, Bäume und Büsche war ein wundervoller Zeitvertreib. Nach einer Weile taten mir jedoch die Pfoten weh. Schlimmer noch, es wurde allmählich dunkel. Hatte Amy nicht etwas von Abendessen gesagt? Ja, wenn es dunkel würde, wollten wir uns alle die Weihnachtsbeleuchtung anschauen und an einem Ort, den sie Oxford Street nannte, zu Abend essen.

Das wollte ich auf keinen Fall verpassen.

Gähnend trottete ich in der Abenddämmerung zurück in Richtung des großen Gebäudes, vor dem die Walkers gestanden hatten. Wie hatte Amy es gleich noch genannt? Den Buckingham-Palast. Aus diesem Winkel sah er jedoch ein wenig anders aus. Zum einen sah ich kein großes Tor und keinen Zaun. Dennoch war es derselbe Ort, also mussten die Walkers auch irgendwo hier sein.

Zum anderen gab es auf dieser Seite des Palastes keine Menschenmenge. Und auch keine Wachen mit komischen Hüten. Tatsächlich entdeckte ich keinen einzigen Menschen.

Ich blieb stehen. Seltsam, mir kam es so vor, als sei ich jetzt näher am Palast, als es auf der anderen Seite der Fall gewesen war. Aber egal, ich musste ja nur um das Gebäude herumgehen und den Rückweg zu den Walkers finden. Vorhin hatte ich mich durch einen Busch gequetscht. Das würde ich jetzt auch wieder machen.

Wenn ich mich nur erinnern könnte, welcher Busch es gewesen war.

»Was tust du denn hier draußen?«, hörte ich eine brummige Stimme hinter mir. Erschrocken hopste ich auf. Ich drehte mich so schnell um, dass ich fast meinen eigenen Stummelschwanz gefangen hätte, und entdeckte einen Mann in dunklem Anzug und weißem Hemd, der mich finster anschaute. »Du musst wohl der Neue sein. Ich habe gedacht, Ihre Majestät hätte dich mitgenommen. Nun, offenbar doch nicht. Nein, du rennst hier draußen rum, kommst jedem zwischen die Füße und hast kleine Unfälle, die wir beseitigen dürfen, und dabei müssen wir so tun, als ob wir dich mögen. So wie die anderen drei. Ehrlich. Ich habe gedacht, sie wollte sich keine neuen Haustiere mehr anschaffen. Aber einem Corgi in Not konnte sie natürlich nicht widerstehen, was?« Der Mann seufzte und öffnete eine Tür zum Palast. »Na ja, du kannst ja nichts dafür. Komm mit. Bringen wir dich dahin zurück, wo du hingehörst.«

Ich spitzte die Ohren. Der Satz mit »Ihrer Majestät« und den »Unfällen« ergab überhaupt keinen Sinn, aber dorthin gebracht zu werden, wo ich hingehörte – zu den Walkers –, war genau das, was ich wollte. Daher folgte ich dem brummigen Mann im Anzug durch die Tür, hinter der die Walkers ganz sicher schon auf mich warteten.

Kaum war ich drinnen, riss ich erstaunt die Augen auf. Mir war ja nicht klar gewesen, was »Palast« bedeutete – außer, dass es ganz eindeutig ein sehr großes Haus war. Aber das, was ich hinter dem Eingang vorfand, ähnelte kein bisschen unserer Eingangsdiele zu Hause. Zum einen gab es keine gerade Treppe mit Sachen auf jeder Stufe, die nach oben gebracht werden sollten. Es gab auch keinen Telefontisch mit Adressbuch, auf dem man gut herumkauen konnte. Keine Garderobe mit Körben darunter, in denen sich ein Sammelsurium an Schuhen fand.

Und auch keinen Haken für eine Leine.

Stattdessen erstreckte sich vor meinen Augen ein riesiger Raum mit einem dunkelroten Teppich und vielen roten Stühlen und Sofas, auf die ich vermutlich nicht drauf durfte. Hohe Säulen aus weißem Stein ragten vor mir auf, und an den Wänden hingen große Bilder von Menschen in komischer Kleidung. In der Mitte stand ein gigantischer Weihnachtsbaum, der mit roten Plüschkronen dekoriert war.

Der Raum wirkte so imposant, dass ich mich am liebsten hinter den schweren rot-goldenen Vorhängen versteckt hätte. Aber dann würde ich meine Familie nie wiedersehen.

»Jetzt komm schon«, sagte der brummige Mann und scheuchte mich weiter. »Wenn du dich nicht beeilst, verpasst du dein Abendessen, und dann ist die Hölle los.«

Der Mann hatte recht. Amy wäre sicher sauer, wenn sie wegen mir zu spät zum Abendessen kamen. Und ich fand es auch nicht toll, eine Mahlzeit zu verpassen. Ich hatte die Taube ja schließlich nicht gefressen. Und ich war heute ganz schön viel herumgerannt. Danach wäre jeder Corgi ausgehungert.

Das einzige Problem war nur, dass ich keine Ahnung hatte, wohin ich gehen sollte.

Der Mann seufzte schwer. »Stimmt. Du bist ja noch neu. Natürlich findest du dich noch nicht zurecht. Komm mit, ich zeig’s dir.«

Ich hatte erwartet, dass er mich geradewegs zu einer anderen Tür führen würde und wieder nach draußen. Zu meinem Erstaunen gingen wir jedoch durch weitere beeindruckende Räume zu einer breiten Treppe mit goldenem Geländer und noch mehr Gold an den Wänden. Am Fuß der Treppe stand eine weiße Statue, direkt neben einer gigantischen verzierten Uhr. Lange grüne Girlanden mit glänzenden Kugeln schlangen sich um das Geländer nach oben.

Hier war alles ganz anders als im Haus der Walkers.

»Gut, hinauf mit dir.« Der brummige Mann zeigte mit dem Finger zur Treppe. Ich setzte mich hin und schaute von ihm zu den Stufen. Da oben warteten die Walkers doch bestimmt nicht auf mich, oder? »Na los, hoch mit dir!«, forderte der Mann mich auf.

Die ganzen Welpenschulstunden, zu denen mich Jim geschleift hatte, zeigten ihre Wirkung, und ich hopste gehorsam die Stufen hinauf.

Der Mann folgte mir. Ich fragte mich, was ich oben wohl vorfinden würde.

Hoffentlich meine Familie.

Der obere Flur war genauso schick und weihnachtlich geschmückt. Mir fiel auf, dass Amy bisher noch nicht mal den Weihnachtsbaum aufgestellt hatte. Vielleicht, weil Jim das sonst immer machte.

Ich war froh, dass ich dem brummigen Mann folgen konnte, denn ohne ihn hätte ich mich hoffnungslos verirrt.

»Hier geht’s lang.« Er fasste nach dem Griff der schweren roten Tür, vor der wir stehen geblieben waren. Ein Schild war daran angebracht.

Ich konnte nicht besonders gut lesen. Ich kannte nur wenige Wörter: Henry, Hund, Futter und Corgi.

Auf dem Schild stand eindeutig irgendetwas mit Corgi.

Die Tür öffnete sich, und drei andere Hunde starrten mich an.

Ich starrte zurück.

Vermutlich bedeutete das andere Wort auf dem Schild »Zimmer«.

Ein Zimmer für Corgis.

Was um alles in der Welt hatte ich mir denn da bloß eingebrockt?

AMY

»Wir haben die Queen gesehen!« Gut, sie hatten nur einen kurzen Blick auf einen Hut erhascht und womöglich auf das Ohr eines Corgis, als die große schwarze Limousine aus dem Tor gefahren war. Dennoch hüpfte Claire immer noch so aufgeregt auf und ab, als sei ihr eine persönliche Audienz gewährt worden.

»Und ich hab das Ganze aufgenommen«, fügte Jack hinzu und stoppte die Videoaufnahme seines Handys. »Oma wird es lieben.«

»Oh ja«, stimmte Amy zu. Oma Freida, ihre Mutter, war ein großer Fan der königlichen Familie. Jack hatte sich im Grunde genommen gerade das beste Weihnachtsgeschenk seines Lebens gesichert, wenn er ihr diesen Neunzig-Sekunden-Film zeigte, auf der Ihre Majestät höchstens eine halbe Sekunde zu sehen war.

Amy war hochzufrieden. Sie hätte diesen Tag gar nicht besser planen können. Die Kinder waren glücklich, und sie fühlte sich zum ersten Mal seit Monaten völlig entspannt. Und nun würden sie den Lichterschmuck in der Oxford Street betrachten und danach etwas essen. Ein wunderbarer Abschluss dieses Tages. Und auch das Weihnachtsfest würde so magisch werden, wie sie es sich erhoffte.

Dr. Fitzgerald hatte recht. Sie musste sich auf die Zukunft konzentrieren, das war der richtige Weg.

»Wo ist Henry?«, fragte Jack und runzelte die Stirn. Amy spürte, wie ihre Ruhe und Gelassenheit wie eine Seifenblase zerplatzte und die Gegenwart sie mit aller Macht einholte und sich plötzlich von ihrer schrecklichsten Seite zeigte.

»Was meinst du? Er war doch eben noch hier …« Amy blickte hinunter zu ihren Füßen, wo Henry ganz still und friedlich gesessen hatte. Trotz der Kälte fühlten sich ihre Hände schwitzig an, als sie die Leine in ihrer Hand überprüfte. Sie war einziehbar und natürlich war sie ganz eingezogen. Aber am anderen Ende befand sich kein Hund. Weil sie die Leine im Park abgenommen hatte, damit Henry herumrennen konnte und dann …

»Ich habe vergessen, ihn wieder anzuleinen.« Amys Herz schlug so heftig in ihrer Brust, als ob es zerspringen wollte. »Aber … Er muss hier noch irgendwo sein. Er würde ganz bestimmt nicht weglaufen.«

Oder etwa doch? Henry hatte die üblichen Kurse in der Hundeschule besucht und war gewöhnlich so vernünftig, sich in ihrer Nähe zu halten, wenn es mal hektisch oder eng wurde. Vor allem, um sicherzustellen, dass er keinen Leckerbissen verpasste. An einem solchen Tag wie heute jedoch, mit all dem Lärm und Gedränge, an einem fremden Ort … Ganz zu schweigen von seiner neuen Angewohnheit, immer aus dem Haus zu rennen, wenn die Tür offenstand. Was, wenn er doch wieder mal davongelaufen war?

Bloß wohin?

»Er könnte überall sein«, meinte Jack. Seine Stimme klang panisch.

Sie hätte aufmerksamer sein sollen. Vorsichtiger. Gewissenhafter. Wie hatte sie nur vergessen können, ihn anzuleinen? Wie hatte sie Henry vergessen können, auch wenn es nur für einen Augenblick gewesen war, als sie der Queen in ihrer Limousine hinterhergesehen hatte?

Sie hatte ihn im Stich gelassen. Ihre ganze Familie. Es war idiotisch von ihr gewesen zu glauben, dass sie alles allein stemmen konnte.

Verzweifelt sah sie sich nach einem flauschigen Fell, einem Stummelschwanz oder einem Hundegrinsen um.

Nichts.

Nein. Amy schüttelte den Kopf. Ihr blieb keine Zeit für kopflose Verzweiflung.

Autor

Georgie Crawley
Georgie Crawley lebt mit ihrem Mann und ihren sechs Hunden in Hertfordshire, Großbritannien. Wann immer es ihr möglich ist, verbringt sie ihre Freizeit mit Spaziergängen durch die englische Landschaft und liest über ihr Lieblingsthema– die königliche Familie.
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