Die unwillige Braut

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Verkauft an den Höchstbietenden! Lady Rhoese of York ist zweifellos ein Gewinn. Die Landbesitzerin wird den Reichtum König Williams II. mehren, wenn einer seiner Ritter sie heiratet.Judhael de Brionne sticht alle Konkurrenten um die Hand der schönen Rhoese aus. Wenn seine Braut nur nicht so widerspenstig ihm gegenüber wäre - glaubt sie doch, er habe sie nur zur Frau genommen, um als normannischer Ritter an englische Ländereien zu gelangen. Wird es ihm wohl jemals gelingen, auch Rhoeses Herz zu besitzen?


  • Erscheinungstag 11.01.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733775315
  • Seitenanzahl 256
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Michaelistag, 29. September 1088, York

Ein kalter Windstoß wehte den leichten Wollschal von Rhoeses Kopf und entblößte ihr kastanienbraunes Haar. Sie griff nach dem Schal und schlang ihn sich brüsk um die Schultern, so dass die beiden schweren Zöpfe bedeckt waren, die ihr bis zur Taille reichten. Nur einzelne Locken wehten ihr noch ins Gesicht. „Einen Karren voll Feuerholz von Gilbert of Newthorpe“, rief sie dem Geistlichen an ihrer Seite zu, der emsig mitschrieb. „Notiert das, Bruder Alaric. Zwei Kühe, jede davon zwanzig Pence wert, von Robert, Bruder aus Thorkil …“

„Ja, ja“, sagte der Geistliche. „Nicht so schnell, Mylady, wenn es recht ist.“ Angetrieben von Roberts Stachelstock, waren die Kühe nicht geneigt, ordentlich stehen zu bleiben und zu warten.

„Beeilt Euch, Mann. Master Ralph ist hier mit dem Korn.“

Bündel von Reet, Körbe mit gesalzenem Fisch, lebende Hühner und frische Eier, Honig und Laibe von Käse, Säcke mit Malz und Korn wurden in den abgezäunten Innenhof von Toft Green getragen und gegenüber Lady Rhoese, ihrem Verwalter und ihrem Geistlichen abgerechnet. Es war Michaelistag, jener Tag, an dem die Abgaben fällig wurden, in ihrem ersten Jahr als Landbesitzerin. Seit dem frühen Morgen kamen Männer und zahlten Schillinge und Pence als Pacht für ihr Ackerland, für Getreide und Wiesen, für zwei Mühlen und zwei Stadthäuser, alles notiert auf den Pergamentrollen, die sich unter der Feder des Geistlichen wölbten. Der Unterstand aus Segeltuch über seinem Kopf begann zu flattern, als der erste Regen darüber hinweg fegte.

„Wie viele noch, Mylady?“ fragte er, warf die Feder weg und zog eine andere hinter seinem Ohr hervor.

Rhoese strich sich die widerspenstigen Haarsträhnen aus dem Gesicht und wandte den Blick aus ihren grünen Augen dem großen steinernen Durchgang zu. Es dämmerte bereits, und bald würden die Tore zur Nacht geschlossen werden, obwohl noch immer Nachzügler eintrafen, die den ganzen Tag unterwegs gewesen waren, um ihre Schulden zu begleichen. Ein Wagen fuhr hindurch, holperte und rumpelte hinter dem Ochsengespann her, hoch beladen mit Schafsfellen, gefolgt von Reitern, die zwar ungeduldig, doch offensichtlich bester Stimmung waren.

„Wer kommt da, Bran?“ rief sie ihrem Verwalter zu, der am Tor stand.

„Die Normannen, Mylady“, erwiderte der mit gerunzelter Stirn.

„Schließt hinter dem Karren das Tor. Rasch!“ befahl sie. Unwillkürlich trat sie einen Schritt zurück unter den Schutz des Segeltuchs. Der stete Strom von Wagen und Tieren, der sich auf ihr Gut zu bewegte, hatte Aufmerksamkeit erregt, und einige der Reiter waren stehen geblieben, um aus der Ferne die organisierte Menge zu beobachten, die mit ihren brüllenden Stieren und blökenden Schafen ihr Interesse geweckt hatte. Rhoese lag wohl mit ihrer Vermutung ganz richtig, dass es sich bei der normannischen Gruppe um Jäger handelte, die von einer Tageshatz kamen und ein wenig harmlosen Schabernack im Sinn hatten. Diese verdammten normannischen Emporkömmlinge!

Dieses Unbehagen beruhte auf früheren Erfahrungen, ließ sie wachsam beobachten, was hinter dem Palisadenzaun geschah, der ihren großen Hof umgab, so dass, als zwei der Reiter bis ans Tor herankamen, um besser sehen zu können, sie sich noch weiter in die Schatten des Unterstandes zurückzog. Seit der letzten großen landesweiten Überprüfung des Königs vor zwei Jahren waren die Anwesen, die sie von ihrer Mutter geerbt hatte, weitestgehend unangetastet geblieben, denn zu jener Zeit lebte sie noch daheim, und die Pachten und Einnahmen aus ihrem Eigentum vergrößerten kaum jene ihres Vaters, der ein Lehnsmann des Königs und reicher Kaufmann aus York gewesen war.

Mit gesenkter Stimme fuhr sie fort, dem Kirchenmann zu diktieren. Dabei versuchte sie, die beiden neugierigen Reiter nicht zu beachten, bis eine geheimnisvolle, unsichtbare Macht sie zwang, den Kopf zu drehen und hinzuschauen. Einer von ihnen beobachtete die Szenerie im Hof, der andere aber musterte sie, und nur sie allein. Er saß hoch aufgerichtet zu Pferde, war kräftig gebaut, so viel hatte sie mit einem Blick erfasst. Ihn hatte sie noch nie zuvor in York gesehen, sonst hätte sie ihn gewiss nicht vergessen. Sein dunkles Haar wehte wie schwere Seide im Herbstwind, und seine Blicke unter den geraden dunklen Brauen schienen sie wie Dolche zu durchdringen.

Er sah, wie sie zusammenzuckte, nickte ihr zu, ein Zeichen, das, wie sie meinte, ein Dienstbote besser nicht ignorieren sollte. Sie musste so tun, als ob. „Mylord?“ rief sie und ging ohne Eile zu ihm hinüber. Ein Schaf lief ihr vor die Füße, so dass sie stehen bleiben musste.

„Wo ist dein Herr?“ rief er zurück. Er besaß eine tiefe Stimme, die an Befehl und Gehorsam gewöhnt zu sein schien, und er setzte voraus, dass sie Französisch verstand.

Sie zuckte die Achseln. „Fort, Sir“, gab sie zurück.

„Und deine Herrin? Wo ist sie?“

„Auch fort.“

„Und wer ist hier verantwortlich?“

Wieder zuckte sie die Achseln. „Wir alle. Man vertraut uns.“

„Wie heißt du, Mädchen?“

Sie holte tief Luft und wollte gerade zu einer Lüge ansetzen. Aber der Verwalter war mit der Anzahl der Felle auf dem Karren nicht zufrieden, und mit lauter Stimme wandte er sich direkt an sie: „Lady Rhoese. Das hier ist zu wenig.“

Von dem Karren her erscholl ein Aufschrei. „Das stimmt nicht, Mylady. Das hier ist alles. Ehrlich!“

Der Reiter saß ab und warf dem Mann neben ihm seine Zügel zu. Rhoese erkannte, dass er eine Erklärung wollte. Schon war es vorbei mit der Schwindelei, und nicht einmal dieser kurze Versuch, sich unterzuordnen, hatte ihr besonders gefallen.

Abweisend sah sie ihn an, als er durch das Tor auf sie zukam. „Mein Name“, sagte sie kurz, „ist Lady Rhoese of York, Tochter des verstorbenen Lord Gamal of York, Enkelin eines früheren Sheriffs. Genügt das, oder soll ich meinen gesamten Stammbaum herunterbeten? Ich könnte es, wenn Ihr darauf besteht, aber Ihr seht, ich bin sehr beschäftigt.“

Langsam ging er weiter, als sei ihm ihre abweisende Haltung egal. „Ich bin sicher, dass Ihr das könntet. Warum also die Lüge? Macht Ihr das immer so?“

„Oh, bei den Normannen versuche ich alles, damit sie ihre Nasen nicht in meine Angelegenheiten stecken, Sir.“

„Allem Anschein nach habt Ihr eine vorgefasste Meinung über Normannen, Mylady. Ich frage mich, was sie getan haben, um das zu verdienen?“

Aus irgendeinem Grund schlug ihr Herz wie rasend und presste ihr die Luft aus dem Leib, was sie irritierte, denn sie hatte sich geschworen, sich nie mehr zu einem Mann hingezogen zu fühlen. Dieser Mann aber stand in ihrem Hof, als gehörte er ihm, mit Beinen wie Baumstämmen, die Hände in die schmalen Hüften gestemmt, wo ein Gürtel mit goldener Schließe tief über einer Leinentunika in Blau und Gold hing. Teure Gewänder. Gegen ihren Willen nahm sie seinen muskulösen Hals zur Kenntnis, seine Schultern und seine Brust, breit wie bei einem Ringer, und sie ertappte sich dabei, dass sie das tat, was Männer gewöhnlich machten, wenn sie sie ansahen: Sie zog ihn mit Blicken aus. Sie errötete, und an dem Lächeln auf seinem Gesicht erkannte sie, dass er den Grund dafür erriet.

„Was das betrifft, Sir“, sagte sie und reckte das Kinn vor, „wenn Ihr die Antwort darauf nicht wisst, dann zeigt das deutlich, dass Ihr noch nicht lange in England seid. Es würde mindestens eine Woche dauern, Euch zu berichten, welche Schäden Ihr und Euresgleichen uns in den letzten zweiundzwanzig Jahren zugefügt habt. Zum Glück konnten wir uns unsere Würde und unsere Sprache bewahren. Diese beiden Dinge könnt Ihr nicht fortschaffen, Gott sei es gedankt.“ Sie sah sich nach ihrem Verwalter um und rief ihm auf Englisch zu: „Bran! Schafft mir diesen Flegel aus dem Weg, ja?“ Auf Französisch sagte sie dann zu dem Normannen: „Ihr seht, Sir, ich bin zu beschäftigt, um zu plaudern. Vielleicht ein andermal. Bitte entschuldigt mich.“

Selbst jetzt, da sie sprach, hinderte ihre so offen zur Schau getragene Feindseligkeit sie nicht daran, jedes Detail seines Gesichts zu bemerken, den leichten Schatten auf seinem markanten Kinn, den entschlossenen Zug um seinen Mund, das Grübchen im Kinn und die lange, gerade Nase. Auf seinen hohen Wangenknochen schimmerte bereits das Regenwasser, und seine Augen, die zuerst nicht mehr als schmale Schlitze gewesen waren, weiteten sich jetzt angesichts ihrer tapferen Worte – tiefbraun, mit langen Wimpern und mit einem beunruhigend direkten Blick. Sie zuckte zusammen, ihrer selbst plötzlich nicht mehr ganz sicher, wandte widerstrebend den Blick ab, um weitere freimütige Schlüsse über sein bemerkenswert gutes Aussehen zu vermeiden. Eine bittere Stimme flüsterte ihr ins Ohr: Er wird nicht anders sein als die anderen, ob nun Normanne oder Engländer.

„Ja“, erwiderte er. „Ich sehe, dass Ihr viel zu tun habt. Seid Ihr die Besitzerin dieses Hofes oder ist es Euer Ehemann?“

„Ihr stellt zu viele Fragen, Sir. Und Euer Freund erwartet Euch.“

Über ihr Bemühen, ihn loszuwerden, lächelte er. „Nun, dann ein andermal, Mylady. Vielleicht kommt Ihr zu der Zeremonie morgen? Als eine der Pächterinnen des Königs werdet Ihr doch mit Eurer Abgabe dort sein?“

Seine Beharrlichkeit irritierte sie. „Wer weiß schon, wie viel Unterhaltungswert wir englischen Landbesitzer heutzutage haben? Wir sind eine aussterbende Rasse. Warum sollten wir uns nicht zeigen, so lange wir noch die Gelegenheit dazu haben? Ist es das, was Ihr meint? Ich wünsche Euch einen guten Tag, Sir.“

Darauf hatte er keine Antwort bereit, so nickte er nur knapp und ging durch das Tor davon, wobei er kurz ein Wort an den Verwalter richtete, der es für ihn aufhielt. Ohne einen Blick zurück schwang er sich in den Sattel und trabte davon, während Rhoese versuchte, sich wieder auf das Chaos im Hof zu konzentrieren und weiterzuatmen, obwohl die Angst ihr beinahe die Kehle zuschnürte.

Zweifellos hatte sie ihre Feindseligkeit übertrieben und das aus keinem anderen Grund, als dass er ein Normanne war. Oder gab es doch einen anderen Grund, etwas, das noch zu frisch war, um erklärt oder entschuldigt werden zu können? Etwas, das mit Männern im Allgemeinen zu tun hatte, mit diesen unzuverlässigen, sprunghaften, selbstsüchtigen Geschöpfen? In den vergangenen zehn Monaten hatte sie ihr Bedürfnis nach ihnen bekämpft, und jetzt waren ihr keine anderen Gefühle geblieben alsVerachtung und der Wunsch nach Rache. Kalte, süße Rache. Unterwürfigkeit und Bescheidenheit bewahrte sie sich für besondere Gelegenheiten auf, wenn nichts anderes mehr half, nachdem sie um einen hohen Preis festgestellt hatte, wie sehr diese Eigenschaften unterschätzt wurden.

Der Geistliche hatte aufgehört zu notieren und räumte sein Schreibzeug weg, ehe der Regen seine Aufzeichnungen zerstören konnte. Ein Bündel von Rollen bewegte sich im Wind. „Wer war das, Mylady?“ fragte er und schob sich die Federn zurück ins Haar.

„Ich habe keine Ahnung“, sagte sie. „Er wird nicht zurückkommen.“

Bruder Alaric, der geistliche Beistand der Lady und auch ihr Buchhalter, besaß keine Spielernatur. Aber selbst er fühlte sich versucht, einen Penny darauf zu verwetten, dass dieser Bewunderer noch vor dem nächsten Sonnenuntergang zurückkehren würde.

Die beiden Reiter hatten die Felder von Toft Green passiert, ehe einer von ihnen lächelte und auf seinen Begleiter sah, der eine versteinerte Miene zur Schau trug. „Du solltest dein Gesicht sehen“, sagte er grinsend. „Es lohnt sich.“

„Also schön. Erzähl es mir. Wer ist sie?“

„Dies, mein Freund, ist eine der beiden noch verbliebenen weiblichen Landbesitzer in York, und ich kann dir keinen einzigen Mann nennen, der sich nicht danach sehnt, das alles zusammen in seine Hände zu bekommen. Jawohl“, er lachte, „sie und ihr Land. Sie hat dir den Kopf abgerissen, was? Das sieht ihr ähnlich. Seit zehn Monaten ist sie in dieser Gegend, seit dem Tod ihres Vaters, und sie lässt keinen Mann näher als einenYard an sich heran, ausgenommen natürlich ihren Priester. Und ihren Bruder.“

„Nun, dafür könnte es viele Gründe geben. Sie ist das Reizvollste, was ich in der letzten Zeit gesehen habe, Ranulf. Diese dunklen, blitzenden Augen. Dieser Körper.“ Er holte tief Luft, dachte an ihr dichtes, kastanienbraunes Haar, die vollen Lippen, die Haut, vom Regen feucht, an der er hätte erkennen müssen, dass sie eine Dame war, auch ohne die übliche Kopfbedeckung. Diese Frau war aus dem Stoff, aus dem Männerträume gemacht waren. „Sie sagte, ihr Vater hieß Gamal. Wer genau war das?“

„Ein Lehnsmann des Königs. Einer der letzten hier in York, ein reicher Kaufmann. Letzten Winter ist er auf See verschollen. Zumeist handelte er mit Pelzen und Walfischbein. Seine Werft liegt am Fluss, in der Nähe der Brücke. Große Speicher und mehrere Schiffe.“

„Das Geschäft besteht demnach noch?“

„Ja, sein Assistent hat den Handel übernommen, ein junger Schlaukopf mit Namen Warin. Und nicht nur den Handel.“

„Was noch?“

„Die Witwe. Er ist in Lord Gamals Haus eingezogen, bei seiner zweiten Frau, einer echten Xanthippe. Dänin. Sie hat nicht lange gebraucht, um Trost zu finden. Aber die Tochter, Lady Rhoese, zog aus, um allein zu leben. Allem Anschein nach hat der Tod des Vaters sie tief getroffen, und mit ihrer Stiefmutter will sie nichts mehr zu tun haben.“

„Oder mit dem Liebhaber ihrer Stiefmutter, der vermutlich seine Hände nicht nur nach der Witwe ausgestreckt hat?“

„Genau. Möglicherweise war da etwas zwischen ihm und der Tochter. Wir sind nicht sicher.“

„Wir?“

„Der Hof. Der Witz ist, dass sie glaubt, sicher zu sein, wenn sie sich nur still verhält und abseits bleibt.“

„Sicher wovor?“

„Vor den Aufmerksamkeiten der Normannen. Einer Heirat und den üblichen Besitzübernahmen. Das ist der einzige legale Weg für einen Mann, an ihr Eigentum zu kommen, außer natürlich, sie verkauft es ihm, obwohl viele Frauen ihr Eigentum illegal verlieren, wie du weißt. Nur dieVorstellung, dass eine Frau auf ihren eigenen Namen ein Anwesen besitzt, ist lächerlich, weil sie dafür als Gegenleistung Ritterdienste beim König bieten muss. Irgendwann wird sie es verlieren.“ Der junge Mann namens Ranulf wischte sich ein paar Regentropfen von der Nasenspitze und betrachtete bekümmert seine durchweichte Tunika aus grüner Wolle. Zu Extravaganzen hatte er schon immer eine Neigung gehabt, und selbst als Geistlicher des Königs würde er an einem Hof, der bekannt war für seine aufwendige Kleidung, keine schlichten Gewänder tragen.

„Der König weiß also von ihr?“

„Mit ziemlicher Sicherheit. Da er das Gutachten kennt, das ihr verstorbener Vater vor zwei Jahren erstellt hat, weiß er genau, wer was bekommen hat, wo es liegt, wie viel es wert ist und wie viele Einnahmen er davon erwarten kann. Ihr Anwesen ist für denjenigen vorgesehen, der am meisten dafür zu zahlen bereit ist. Wenn du mitbieten willst, solltest du schon mal anfangen zu sparen.“

„Dann will er sie verheiraten?“

„Genau. Ob es ihr gefällt oder nicht. Und es wird ihr nicht gefallen.“

„Also wird sie alles verlieren.“

„Alles.“ Auf einem Hügel jenseits der reetgedeckten Häuser lag eine Befestigungsanlage, und er deutete dorthin. „Da, siehst du es? Das ist eine der Burgen, und dort hinten“, er wies nach links, „liegt die große Burg. König William, der Bastard, musste den Fosse eindämmen, um den Wassergraben dafür bauen zu können. Die Leute in der Stadt waren darüber nicht besonders erfreut.“ Er lachte in Erinnerung an die überfluteten Häuser und Obstgärten.

Aber Jude war mehr an Lady Rhoese of York interessiert als an den beiden Burgen, die er auf dem Weg in die Stadt schon gesehen hatte. „Erzähl mir mehr von ihr“, verlangte er.

Der andere lächelte breiter. „Ich kann dir noch erzählen, dass wir gewettet haben.“

„Worauf?“

„Wie lange du brauchen wirst, um sie für dich zu gewinnen.“

Jude zog die Brauen hoch. „Ich verstehe. Und was glaubst du – wie viel Zeit bleibt uns noch, bis der König nach London zurückkehrt? Tage oder Wochen?“

Ranulf tätschelte seinem Pferd den Hals. „Nun, morgen ist die Zeremonie, mit der die neue Abtei St. Mary’s gegründet werden wird, und danach wird der König wieder auf die Jagd gehen wollen.“

„Wann will der König einmal nicht auf die Jagd gehen?“ murmelte Jude.

„Und ich vermute, dass wir zwei oder drei Tage später nach London zurückkehren werden. Damit bleibt dir nicht viel Zeit, nicht wahr?“

„Unter diesen Umständen bedeutet das eine unangemessene Eile.“

„Glaubst du, du schaffst es?“

„Ich werde es versuchen. Doch ich will mehr wissen, als du mir bisher erzählt hast.“

„Dann solltest du wissen, dass der König mit den Vorbereitungen begonnen hat“, er warf einen Blick zurück und senkte die Stimme, „um die Besitztümer ihres Vaters zu beschlagnahmen.“ Als Bewahrer des königlichen Siegels war der junge Ranulf Flambard in einer bevorzugten Stellung, um solche Dinge zu wissen.

Die beiden wurden plötzlich ernst. „Das“, meinte Jude, „ist nicht komisch, oder?“

„Nein, das ist es gewiss nicht.“

„Weiß Lord Gamals Witwe schon davon?“

„Nein, aber sie wird es bald erfahren. Wenn sie es vor der Zeremonie morgen herausfindet, werden die Funken fliegen. Sie wird der Abtei St. Mary’s keine Schenkung machen können. Und schlimmer noch, sie wird aus ihrem Haus hinausgeworfen, weil es auf dem Grund und Boden steht, das zu der neuen Abtei gehören wird.“

Die Haare der Männer, die umhereilten, um die Karren zu entladen und das Vieh einzupferchen, waren bereits dunkel vor Nässe, als Rhoese ihnen zurief: „Kommt zum Essen, wenn ihr fertig seid!“ Die Lagerräume waren angefüllt mit Lebensmitteln und Fellen aus den Tälern. „Und bringt auch die Kutscher herein, Bran“, erinnerte sie ihn. „Sie werden über Nacht bleiben müssen.“

Nach dem Lärm des Windes draußen herrschte in der großen Halle tiefe Stille, die sie und Bruder Alaric umschloss wie eine warme Decke. Es duftete nach Holzfeuer und nach dem nahrhaften Eintopf, der in dem Kessel über der Kochstelle brodelte. Blauer Rauch stieg kräuselnd nach oben und hing in den hölzernen Dachsparren, ehe er durch das schwere Reet nach oben gefiltert wurde, und Rhoese ließ ihren Blick voller Besitzerstolz über den großen Raum schweifen, der als Wohnraum der Männer diente – Küche, Speisezimmer und Schlafraum in einem. Hier war sie die Herrin. Dicke hölzerne Säulen trennten die Seitengänge in Kammern, hinter deren zurückgezogenen Vorhängen mit Pelzen bedeckte Bänke die Betten für alle Mitglieder des Haushaltes verbargen. Dort war derVorrat an Essbarem und da hinten die Tür, die nach draußen zum Hof führte. Ihre eigene kleine Kemenate lag abseits zwischen zwei Vorratskammern.

Eine Frau rührte in dem Topf über den Scheiten, die innerhalb eines Kreises aus Steinen brannten. Sie sah auf, sobald die Herrin eintrat, und füllte gleichzeitig zwei Schalen mit gesüßtem Met, für sie und den Geistlichen mit der roten Nase. Eine junge Magd hob eine schlafende Katze von einer mit Pelzen bedeckten Kiste, wo, wie sie annahm, Rhoese zu sitzen wünschte, sah aber, dass die immer noch stumm ihr geliebtes Reich betrachtete, als wollte sie sich an dessen Unantastbarkeit erinnern und an die Zeit, als sie zum ersten Mal vor ihrer schmerzhaften Trauer geflohen war.

Rhoese nahm ihrer Amme mit einem geflüsterten Dankeschön die Schale ab. „Wo ist Eric?“ fragte sie, während sie daran nippte.

„Er kämpft mit Neal“, sagte Hilda missbilligend.

„Im Regen?“

Kaum hatte sie die Worte ausgesprochen, da traten am anderen Ende der Halle zwei junge Männer ein, halb nackt, lachend, tropfnass, gerötet von der Anstrengung und den festen Griffen kräftiger Hände. Kein Fremder hätte an Erics Lächeln, das er dorthin richtete, wo seine Schwester stand, erkennen können, dass er ihre Gegenwart mit allen Sinnen außer der Sehkraft wahrnahm. Jetzt kam er näher, die Hand leicht auf die Schulter des Freundes gelegt, und gab ihr einen raschen, feuchten Kuss auf die Wange. „Ich habe gewonnen.“ Er lachte.

„Mylady“, sagte Neal mit einem höflichen Kopfnicken, „er hat nur gewonnen, weil ich ihn habe gewinnen lassen.“

„Unsinn, Mann!“ Eric boxte den Freund kameradschaftlich gegen die Schulter. „Ich hatte dich zweimal am Boden.“ Trotz seiner Blindheit bewegte Eric sich sicher auf das Feuer zu, wo er seine durchnässten Beinkleider ablegte, ohne sich um Els und Hilda zu kümmern, Rhoeses Magd und ihre Amme. Keine von ihnen allerdings ließ sich den Anblick entgehen, denn sie genossen den Vorteil, sich daran erfreuen zu können, ohne bemerkt zu werden. Wie seine Schwester, war auch Eric von schönem Wuchs, groß und anmutig, das kastanienbraune Haar zu einem Zopf gebunden, der vom Regen und dem Ringkampf zur Hälfte gelöst war. Mit zwanzig war er fast drei Jahre jünger als Rhoese und vier Jahre jünger als Neal, der Isländer, der sein ständiger Begleiter war. Mit Neal, der ihm die Sehkraft ersetzte, musste Rhoese nicht um Erics Sicherheit fürchten, nicht einmal wegen der Frauen, die ihm mit ihren Blicken überallhin folgten.

Els, die ihn offen bewunderte, wurde von der Amme mit einem schroffen Kopfnicken angewiesen, ihrer Herrin die feuchten Kleider abzunehmen und trockene bereitzulegen. Abwesend half Rhoese mit und war dabei von einer Schweigsamkeit, die allen auffiel, vor allem Eric, der einen lebhaften Bericht von den Abrechnungen des Tages erwartet hatte. Während er sich das Haar mit einem Leinentuch trockenrieb, ging er, noch immer nackt, zu ihr und kauerte sich auf den Rand des Truhendeckels.

„Was ist, Liebes? Bist du nicht zufrieden? Ich dachte, alles läuft ganz gut.“

Es war gut gegangen, obwohl sie von einer düsterenVorahnung bedrückt wurde, die schlimmer geworden war seit dem Besuch jenes Normannen – der ihr noch nicht einmal seinen Namen genannt hatte. Das war gewöhnlich das Erste, was Männer sagten, ehe sie Fragen stellten. Nachdem sie ihn so verächtlich abgefertigt hatte, hatte sie anstelle der üblichen Befriedigung ein Schauder erfasst: Zumal der Fremde mit viel zu vielen Fragen zu ihr gekommen war und dabei eine so kühle Selbstsicherheit zur Schau getragen hatte. Nein, morgen würde sie ganz gewiss nicht der Zeremonie beiwohnen, nicht einmal, um den neuen König zu sehen.

„Ja“, sagte sie, „ich bin ganz zufrieden. Es sind alle gekommen, mit denen ich gerechnet habe.“

„Vater wäre stolz auf dich.“

Vor einem Jahr noch hatte Lord Gamal gelebt, und sie hatte Warin geliebt, ihres Vaters vertrauten Gehilfen, einen Mann mit großen Ambitionen, zu denen es auch gehörte, der Tochter seines Herrn den Hof zu machen. Bei seinen ersten Annäherungsversuchen hatte Rhoese seine Motive weder verstanden noch sich Gedanken darüber gemacht, denn mit gerade zwanzig Jahren war sie bereit gewesen, sich von einem Mann einfangen zu lassen, wenn er nur kühn genug war. Warins Erfolg bei den Mädchen von York und seine Berichte über Eskapaden in Norwegen und Island waren ihr aufregend erschienen, und seine Erzählungen hatten seinen Mangel an Raffinesse wieder ausgeglichen. Er war eifrig gewesen und impulsiv, und sie war in seine kräftigen, liebenden Arme gesunken, ohne auch nur die Zeit zu haben, die Jagd zu genießen. Ihr Vater hatte die Sache gebilligt, und weder er noch Rhoese hatten bei dem jungen Mann Schwächen erkannt, die nicht mit der Unwissenheit der Jugend entschuldigt werden konnten.

Auch Ketti, ihre dänische Stiefmutter, hatte die Beziehung befürwortet. Sie hatte Gefallen gefunden an dem jungen Kaufmann, dessen Schwäche für sie als Gamals junger Frau unübersehbar war. Schließlich war sie nur ein paar Jahre älter als Warin, und es fiel ihr nicht leicht, für einen vierundzwanzig Jahre jungen Mann die zukünftige Schwiegermutter zu spielen.

Es dauerte nur wenige Monate, bis Warin Rhoese überreden konnte, ihm zu Willen zu sein, schließlich wollten sie sich verloben, sobald er von seiner nächsten Reise nach Island zurückkäme. Rhoese war überzeugt gewesen, dass mit ihren Plänen nichts schief gehen konnte, hatte alles vorbereitet, damit sie als verheiratetes Paar nach Toft Green ziehen konnten. Sie hatte sich ihm hier hingegeben, in genau dieser Halle, bevor er mit ihrem Vater nach Norden reiste, um Felle einzukaufen. Für einen Vergleich fehlte es ihr an Erfahrung, aber sie vermutete mit einer gewissen Befriedigung, dass Warin besser war als die meisten, den Blicken der anderen Frauen nach zu urteilen. Dann kehrte das Boot drei Monate später zurück mit Walfischbein, Pelzen und Warin. Ihr Vater jedoch war in den eisigen Wassern der Nordsee über Bord gegangen, und im November des vergangenen Jahres, 1087, erfuhren Rhoese und Eric, dass sie nun Waisen waren. Und sie, die gerade einundzwanzig Jahre alt geworden war, stellte fest, dass sie ein Kind erwartete.

„Alles in Ordnung, Liebes?“ fragte Eric und fasste nach ihrem Arm.

„Ja. Ich dachte nur gerade zurück, das ist alles.“

„Mach das nicht.“

„Ich muss es tun.“

„War es wegen der Frau mit dem schreienden Säugling heute Morgen?“

„Nein, ich denke nicht.“

„Warum dann?“

Plötzlich wehte eine Böe die Tür auf, schlug sie fest gegen die Wand und drückte die Flammen mit plötzlicher Heftigkeit auf die Scheite hinunter. „Schließt die Tür!“ schrie Hilda, als noch mehr Männer eintraten, unsicher darüber, wie sie wohl empfangen werden würden.

Der Tod ihres Vaters war schlimmer gewesen als alles, was Rhoese bis dahin erlebt hatte. Ihre Mutter Eva war damals bei Erics Geburt gestorben. Ohne ihren Vater wurde ihre Welt unaufhaltsam auf den Kopf gestellt, denn sie hatte auf seine Rückkehr gewartet und noch niemandem von ihrem Geheimnis erzählt. Er sollte der Erste sein, der davon erfuhr. Doch der Schock darüber, ihn so unerwartet und ohne jede Erklärung zu verlieren, machte sie krank, so dass sie den Fötus in einer entsetzlichen Nacht verlor, mit niemandem außer Hilda und Els, um ihr zu helfen, die einzigen, abgesehen von dem Geistlichen, die die Wahrheit erfuhren. Eric hatte es von selbst erraten.

Warin wahrte mit seinen Beileidsbekundungen zwar die Form, aber das war auch schon alles. Sein Verhalten ermutigte sie kaum dazu, ihm den zweiten Grund für ihren Kummer zu sagen, vor allem, weil seine Aufmerksamkeiten sich sichtlich Ketti zugewandt hatten unter dem Vorwand, sie hätte bei Gamals Tod einen größeren Verlust erlitten als Rhoese.

Verletzt, krank und verzweifelt, verbrachte Rhoese immer mehr Zeit hier in Toft Green in der Hoffnung, dass Warin kommen würde, um ihr zu helfen, alles für ihr gemeinsames Leben hier vorzubereiten. Dann sah sie eines Tages, wie er bei Ketti lag. Warins Verteidigung – dass er ihre Stiefmutter nur ein wenig hatte trösten wollen – wirkte wenig überzeugend, und sein Betrug so kurz nach den anderen Tragödien brach Rhoese das Herz. Es gab keinen flammenden Streit, keine Auseinandersetzung, nur einen stummen und stillen Rückzug in ihr eigenes Haus auf Toft Green. Die Kraft, um das zu kämpfen, was beinahe ihr gehört hätte, war mit ihrem Glück, ihrem Wohlbefinden und ihren Hoffnungen dahingegangen.

Kaum hatten Eric und sie die Reste ihrer Habseligkeiten entfernt, als Warin schon bei Ketti einzog. Er brachte seinen betagten Vater mit, der Kettis streitsüchtiger Mutter und ihrem zwölfjährigen Sohn Thorn aus erster Ehe Gesellschaft leisten sollte. Der Wechsel war komplett vollzogen, und Rhoese leitete Mieten und Abgaben von ihrem Besitz inYorkshire zu sich und Eric um, damit sie den eigenständigen Haushalt aufrechterhalten konnten.

Kettis Hoffnungen auf einen angenehmen Witwenstand schwanden mit diesem Entzug von Einnahmequellen dahin, und sie protestierte. Aber Rhoese sah keinen Grund, ihren Gewinn beizusteuern, wenn Warin doch Lord Gamals Geschäfte übernommen hatte, seine großen Speicher an der Ouse-Werft entlang, seine Frau und sein Haus in Bootham neben der aufblühenden neuen Abtei St. Mary’s.

In den zehn aufwühlenden Monaten seit dem Tod ihresVaters hatte Rhoese einen Panzer aus Eis um ihr verwundetes Herz gelegt, hatte es mit Rachegedanken kühl gehalten, die doch nichts dazu beigetragen hatten, den Schmerz darüber zu lindern, zurückgewiesen worden zu sein. Jetzt gab es keinen Mann, dem sie ihre Liebe anvertraute, außer ihrem Bruder. Der Umstand, dass er von Geburt an blind war, spielte keine Rolle in Anbetracht seiner vielen anderen Qualitäten. Er hatte bereits den Wunsch geäußert, Mönch in St. Mary’s zu werden, und Rhoese hatte großzügig für die neuen Gebäude gespendet, deren Grundstein der neue König selbst am nächsten Morgen legen wollte. Jetzt erwarteten sie Nachricht von Abt Stephen, ob er Eric als Novizen nehmen würde.

Sanft drückte Eric ihren Arm. „Geh und kümmere dich um die Vorbereitungen, Liebes. Zum Essen werden wir Gäste haben. Wenn du möchtest, werde ich danach für dich die Harfe spielen.“

„Willst du nackt speisen?“ fragte sie. „Als besondere Unterhaltung?“

„Neal!“ rief Eric über das Feuer hinweg. „Die Lady hier hat einen Vorschlag!“

Judhael de Brionnes Wunsch, mehr über Rhoese zu erfahren, war nicht einmal in Ansätzen erfüllt worden durch die Erzählungen seines Freundes Ranulf hinsichtlich der Schwierigkeiten ihrer Stiefmutter. Er wollte mehr über die Frau selbst erfahren. Sicherlich könnte er auf eigene Faust herausfinden, was ihm wohlmeinende Freunde verschwiegen, die nur begierig darauf waren, eine Wette zu gewinnen.

Eine Stunde nach der Ausgangssperre ritt er allein durch Yorks von Pfützen übersäte Straßen dorthin, wo die südwestliche Ecke der hohen Stadtmauer an Toft Green anschloss. Die dunklen Umrisse von strohgedeckten Hütten scharten sich innerhalb einer Palisade um eine große Halle, und der Wind trug den Duft eines brennenden Holzfeuers heran. Im Schutze der Dunkelheit wartete er, in der Hoffnung, dass früher oder später sich schon jemand zeigen würde, der ihm erzählen konnte, wie eine Edelfrau aus Yorkshire es in ihrem eigenen Haushalt hielt.

Er musste nicht lange warten, bis sich auf der Rückseite der Halle eine Tür öffnete. Sanfter Feuerschein fiel heraus, zusammen mit der Melodie eines Harfenspielers, und die Gestalt einer Frau erschien in der Tür. Jude trieb seinen Hengst ein paar Schritte nach vorn, so dass er sehen konnte, wie sie hinüberging zu einem der kleineren Gebäude. Jetzt, da der Regen nachgelassen hatte, ließ sie dessen Tür offen stehen, vermutlich um etwas Licht zu haben.

Wenig später erschien sie wieder, diesmal trug sie etwas unter dem Arm und schloss sorgfältig die Tür hinter sich, ehe sie an den Hütten entlang auf die Bäume zu glitt, die am Ende des Hofes standen. Dabei hielt sie sich wie ein Raubtier im sicheren Schatten auf. Jude lenkte sein Pferd mit den Absätzen den Weg entlang bis zu einem Spalt in den Palisaden, durch den er reiten konnte. Er visierte dieselben Bäume an und bewegte sich lautlos über die feuchten Blätter, während Tropfen von den Zweigen auf Mann und Pferd herabfielen.

Das Pferd schnaubte empört, und das Geräusch hallte in dem stillen Waldstück wider, so dass die Frau mit einem Aufschrei erschrocken zur Seite sprang und dann schneller lief. Jude war erfahren genug, so etwas vorauszusehen. Es war dunkel, und die Schatten halfen wenig, doch Jude besaß scharfe Augen, und er war daran gewöhnt, etwas im Dunkeln zu erkennen. Auch der Hengst hatte keine Schwierigkeiten, der flüchtenden Frau zu folgen, die mehr als einmal im Unterholz stürzte, wenn sich ihre Kleidung im Gebüsch und in den niedrigen Zweigen verfing.

Schließlich riss sie sich mit fliegenden Fingern los, nur um festzustellen, dass ihr nun das große, schnaubende Pferd mit seinen stampfenden Hufen den Weg versperrte, und dann, als sie ausweichen wollte, ihr seine Hinterpartie im Weg stand. Aus dem Dunkel heraus griff eine Hand nach ihr, packte sie, und im selben Moment warf sie das Bündel mit aller Kraft von sich, tief in das Unterholz hinein, wehrte sie sich voller Entsetzen gegen die starken Arme, die sie zwischen die Bäume zogen und festhielten, während sie zappelte und protestierte. Angst lag in ihrer Stimme, als sie flehte: „Lasst mich los – bitte! Ich bin Lady …“

„Lady Rhoese of York. Ich weiß, wer Ihr seid“, flüsterte Jude ihr ins Ohr. „Und Ihr verstoßt gegen die Ausgangssperre, darauf steht eine Nacht im Gefängnis, was Ihr vermutlich wisst. Und jetzt, Mylady, entdecke ich da vielleicht einen Wandel in Eurem Verhalten? Wollt Ihr wissbegierige Normannen immer noch so schnell loswerden?“

„Ihr!“ fauchte sie und versuchte, sich gegen seinen festen Griff zu wehren. „Was tut Ihr denn hier draußen nach der Ausgangssperre, Sir? Lasst mich los, verdammt sollt Ihr sein!“

„Wie schnell Euer Herz schlägt!“ Er hatte die Hand unter den Umhang geschoben, ließ sie jetzt höher gleiten, bis er ihre Brust umfasste und leicht den Daumen hin und her bewegte – ein Verstoß gegen die Sitten einer Dame gegenüber, so ernst wie der gegen die Ausgangssperre.

„Nein – nein!“ wehrte sie sich. „Kein Mann darf eine Frau so berühren. Lasst mich gehen!“

„Dann sagt mir, was Ihr um diese Zeit hier draußen macht, mitten in der Nacht, und wen Ihr hier treffen wollt. Einen Liebhaber, nicht wahr?“ Er bewegte die Hand nicht mehr, nahm sie aber auch nicht weg.

„Das geht Euch nichts an. Das ist meine Angelegenheit.“

„Nicht um diese nächtliche Stunde, Lady. Sagt es mir.“

Es gelang ihr nicht, seine Arme wegzuschieben. „Wenn Ihr es schon wissen müsst – ich war unterwegs nach St. Martin“, erklärte sie wütend, „um mit Pater Leofric zu sprechen. Sein Zehnter ist heute fällig.“

„Und das kann nicht bis morgen warten? Der Priester wird kaum verhungern wegen Eures Zehnten, oder?“

Rhoese verstummte. Ihr Besuch hatte nichts mit den Zehnten zu tun, aber sie konnte diesem Normannen nicht gut den wahren Grund sagen: Die Ursache für ihren nächtlichen Ausflug war, dass er vorher hier herumgeschnüffelt hatte.

„Na gut“, sagte er und drehte sie herum, so dass sie ihn ansehen musste. „Wenn Ihr mir nicht mehr erzählen wollt, könnt Ihr das morgen dem Sheriff erklären, wenn Euch das lieber ist. Ein Verstoß gegen die Ausgangssperre ist eine ernste Angelegenheit, und Ihr solltet ein Beispiel geben.“

„Bitte – nein, bitte nicht! Das ist nicht nötig!“ Sie stieß mit den Händen gegen seine Brust, spürte die weiche Wolle seines Umhangs und das untere Ende der Fibel an seiner Schulter. Viel konnte sie nicht von ihm sehen, doch sie spürte seinen Atem auf ihren Lidern, als er sprach, und sobald er seine Hand zurückzog, spürte sie eine Kühle an ihrer Brust. All die Ängste und dunklen Vorahnungen, die sein Interesse und seine Beobachtung bei den Einnahmen der Abgaben vorhin geweckt hatten, kehrten jetzt zurück wie Dämonen der Nacht und warnten sie davor, ihn noch mehr zu reizen. Die Normannen stellten eine machtvolle Kraft dar, und wenn sie vor dem Sheriff erscheinen musste, könnte das leicht all ihre Bemühungen, sich aus dem öffentlichen Interesse fern zu halten, zunichte machen. Der Mann musste besänftigt werden.

„Nein?“ fragte er leise. „Habt Ihr dann einen anderenVorschlag?“

„Gastfreundschaft?“ schlug sie vor. „Ihr könntet in die Halle kommen und meinen Bruder spielen hören. Er ist ein guter Harfespieler. Ich könnte Euch Met anbieten oder Bier.“

„Und mich zweifellos vergiften?“

„Nein, das nicht. Das meinte ich nicht. Mein Kaplan wird Euch selbst einschenken, wenn es das ist, was Ihr fürchtet.“

„Und sonst, Lady? Habt Ihr mir sonst noch etwas zu bieten?“

Rhoese erstarrte. Mit jeder Faser ihres Körpers war sie gewahr, in welche Richtung seine Fragen zielten. Sie wappnete sich gegen die Beleidigung und die Hilflosigkeit, die ihre Situation mit sich brachte, und konnte doch nichts gegen die plötzliche Erregung tun, die in ihr hochstieg. Unwillkürlich musste sie daran denken, wie er im Hof vor ihr gestanden, ihrem Blick standgehalten hatte und ihren Versuchen entgegengetreten war, ihn fortzuschicken. In jenem Moment hatte sie dieselbe Erregung gespürt und versucht, ihr mit einer Gleichgültigkeit zu begegnen, die sie nicht empfand. Diesmal war sie ihren Gefühlen jedoch hilflos ausgeliefert und fand keine scharfen Worte für ihn, nicht einmal, als er sie langsam zurückdrängte und gegen einen breiten Eichenstamm schob.

Hier in der Dunkelheit huschten ihr Entschuldigungen durch den Kopf, flink wie Fledermäuse – zu schnell, sie zu erfassen. Dann war es für Widerstand zu spät, und der Panzer aus Zurückhaltung, den sie in den letzten zehn Monaten um sich errichtet hatte, gab nach unter dem gleichzeitig zärtlichen, doch festen Druck seines Körpers. Durch den feinen Stoff der Kleidung fühlte sie die starken Muskeln seiner Schenkel, erahnte die starken Arme des Kriegers, mit denen er sie an sich zog, die Sicherheit, mit der er sie berührte. Wie kundig er war, das zeigte sich in der Art, wie er ihren Kopf an seine Schulter zog und sie dort mit aller Behutsamkeit festhielt, ihr zeigte, dass dies keine hastige, unkultivierte Begegnung sein würde, auch wenn die Umgebung noch etwas verbesserungsbedürftig war. Später entschuldigte Rhoese ihren mangelnden Widerstand vor sich selbst mit der Begründung, dass sie gegen diese Sicherheit nichts hätte ausrichten können, sagte sich, dass sie seinen Lippen nicht hätte ausweichen können, obwohl es möglich gewesen wäre.

Sie dachte nichts mehr, fühlte nur noch den warmen Druck seiner Lippen, der nicht dazu gedacht war, ihr Vergnügen zu bereiten, sondern ihm. Er hielt sie fester, umfasste ihren Nacken, machte es ihr unmöglich, auf ihren Verstand zu hören, zwang sie, dem zu folgen, was sie bekämpfte, und erinnerte sie daran, dass er auf der Seite der Eroberer stand, nicht sie.

Während sie sich bemühte, klare Gedanken zu fassen und zu protestieren gegen diese Art der Misshandlung, versuchte sie gleichzeitig, nicht auf ihn zu reagieren, erkannte aber bald, dass jede ihrer Regungen, ob sie nun dafür oder dagegen waren, von seiner Lust überschwemmt worden wären. Als hungerte ihn nach Liebe – und sie wusste, dass das unmöglich der Fall sein konnte –, erforschte er ihren Mund mit atemberaubender Geschicklichkeit, und wenn er damit aufhörte, dann nur, um ihren Hals mit Küssen zu bedecken, ehe er sich mit neu entfachter Leidenschaft wieder ihren Lippen zuwandte. Der Einzige, mit dem sie ihn vergleichen konnte, war Warin, und der war eifrig gewesen und heftig, doch niemals so erfahren und kundig. Und obwohl Rhoese ihn am liebsten als jemanden gesehen hätte, der hilflose Frauen belästigte, brachte sie es doch nicht fertig, ihn so zu nennen, denn ihre Knie wurden allmählich weich. Wie hatte sie zulassen können, dass so etwas passierte? Und warum?

„Halt!“ rief sie ihm zu. Er hatte ihren Kopf zurückgeschoben, während er ihr Ohr küsste. „Bitte … nicht mehr … Ihr müsst aufhören! Ihr vergesst Euch, Sir! Ich bin eine englische Edeldame, und dies hier geht weit über ein Verhandlungsgespräch hinaus. Lasst mich jetzt heimgehen.“

Schwer fühlte sie seinen Atem auf ihrer Haut, hörte sein Seufzen und war nicht sicher, ob er ihren Protest gehört hatte. Denn selbst jetzt noch bewegte er seine Hand zu ihrer linken Brust, so dass Rhoese erneut wachsam wurde. Sie packte sein Handgelenk und versuchte, ihn wegzuschieben, doch er achtete gar nicht darauf, sondern erstickte ihre Schreie mit seinen Küssen. Da begriff sie, dass er bestimmte, wann Schluss war, und das dies hier weniger zu tun hatte mit dem Umstand, dass sie nach der Ausgangssperre noch draußen war, sondern mehr mit der Unhöflichkeit, die sie ihm gegenüber vorhin im Hof an den Tag gelegt hatte.

Allerdings war er weit davon entfernt, sich zu vergessen, er hatte die Kontrolle über alles. „Muss ich aufhören?“ flüsterte er. „Wollt Ihr mir immer noch sagen, was ich muss und was ich nicht darf, Lady?“ Er streichelte sie weiter, verscheuchte ihren Widerstand wie eine Windböe ein Spinnennetz zerreißt, raubte ihr den Atem, so dass sie ihm nicht zu antworten vermochte. „Jetzt endlich glaube ich, wir verstehen einander“, sagte er. „Meint Ihr nicht?“

Seine Frage war nicht schwer zu beantworten, denn er hatte keinen Zweifel an dem gelassen, was er wollte. Das konnte sie kaum missverstehen. Weitaus weniger sicher war sie, ob sie sich selbst verstand, denn die Teilnahmslosigkeit, die sie bisher so selbstverständlich zu ihrem Schutz eingesetzt hatte, war verflogen. Sie reagierte durchaus auf ihn, trotz allem, was sie versuchte, um sich zurückzuhalten, kühl und gleichmütig zu bleiben. Er würde es wissen. In diesen Dingen hatte er Erfahrung. Ja, er würde es ganz bestimmt wissen.

Nein, du darfst es ihn nicht merken lassen. Reiß dich los, ehe es zu spät ist.

Heftig stieß sie ihn zurück, ohne Rücksicht auf Verluste, und als sie seine kundigen Hände nicht mehr fühlte, bemächtigte sich ihrer mit einer solchen Leichtigkeit ein so ungeheurer Zorn, dass Rhoese selbst erschreckte. „Ihr irrt Euch, Sir!“ fuhr sie ihn an. „Niemals werdet Ihr der richtige Mann sein, um meine Verachtung für Eure Art zu verstehen. Es würde mir leichter fallen zu begreifen, was im Kopf einer Kröte vor sich geht. Vermutlich habt Ihr Euch auf meine Kosten genug amüsiert, daher könnt Ihr jetzt …“

Den Rest ihres Wortschwalls erstickte er, indem er ihr die Hand auf den Mund legte. „Wenn es Euch nichts ausmacht, dann fangt bitte nicht schon wieder an. Die Nacht bietet für mich genügend Stunden für mein Amüsement, wie Ihr es nennt, und dass Ihr nicht willig seid, ist für mich nicht von Bedeutung. Wenn Euch Eure Tugend so kostbar ist, dann solltet Ihr lernen, Eure Zunge zu hüten. Ich dachte, das hätte ich deutlich zu verstehen gegeben. Soll ich Euch noch einmal zeigen, wer hier der Herr ist?“

Normannischer Schurke. Niederer Abschaum. „Nein“, flüsterte sie. „Lasst mich in Ruhe. Ich finde allein nach Hause. Lasst mich einfach nur in Ruhe.“ Noch immer musste sie das Paket aus dem Unterholz bergen, und ihr Ärger verrauchte nicht im Mindesten, denn diese ganze Episode war offensichtlich nur inszeniert worden, um sie einzuschüchtern und diesen überheblichen Normannen zu belustigen. Jetzt würde er darüber lachen, seinen Freunden davon erzählen, die interessanten Stellen hervorheben und ihre Beschämung genießen. Vor allem aber richtete sich ihr Zorn gegen sie selbst, weil sie zugelassen hatte, dass dies passierte, ohne auch nur denVersuch zu unternehmen, sich zu wehren. Dummes, schwaches Weib. So viel dazu, wie sehr sie Männer verachtete. Zutiefst beschämt schlug sie nach ihm, hämmerte verspätet, dafür umso heftiger, mit den Fäusten gegen seine Schultern.

„Raubkatze!“ Er lachte. Trotz der Finsternis gelang es ihm, ihre Handgelenke zu packen. „Kommt, Lady. Es ist Zeit, Euch für die Nacht sicher zu verwahren.“ Ohne sie loszulassen, trat er beiseite.

„Verwahren? Nein!“ rief sie und zerrte, um sich zu befreien. „Das war nicht ausgemacht.“

„Still, Weib. Ich weiß, was ausgemacht war. Ich bringe Euch heim. Ihr müsst Euch keine Sorgen machen, ich werde die Grenzen Eures Territoriums nicht noch einmal verletzen. Aber glaubt nur nicht, dass dies das letzte Mal ist, dass Ihr mich seht.“ Er fasste sie am Arm und führte sie zu dem wartenden Hengst.

Wie sollte sie ihn erkennen? In Kettenhemd und Helm sahen sie alle mehr oder weniger gleich aus. Würde er als Höfling kommen oder die Ausrüstung des Kriegers tragen? „Euren Namen, Sir. Wie heißt Ihr?“

„Das werdet Ihr morgen bei Tagesanbruch erfahren.“

„Das bezweifle ich. Wenn es nach mir geht, werdet Ihr mich morgen nicht zu sehen bekommen.“

„Ihr glaubt es nicht? Nun, das weiß ich besser, Mylady. Seid versichert, morgen werden wir uns wiedersehen.“

Dazu ließ sich nichts mehr sagen, denn eine sinnlose Unterredung zu verlängern war das Letzte, was Rhoese am Herzen lag.

Selbst die Hunde mit ihren scharfen Ohren regten sich nicht, als Jude sie sicher zur Tür ihrer Kemenate geleitete und sie ihr öffnete, ehe sie den Arm nach der Tür ausstrecken konnte. Dabei hielt er sie fest, bis er sich ordentlich verabschiedet hatte. „Bis morgen, Mylady“, sagte er und verneigte sich leicht. „Und geht nicht wieder nach Beginn der Ausgangssperre hinaus.“

„Gewiss nicht“, fuhr sie ihn an. „Man weiß ja nie, welchem Gesindel man begegnet.“

„Genau“, gab er zurück. „York ist eine gewalttätige Stadt. Schlaft gut.“ Mit einer einzigen eleganten Bewegung stieg er aufs Pferd, wandte sich um und trabte davon, in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Rhoese blieb zurück, verwirrt und erschrocken. Noch immer spürte sie seine Berührungen auf ihrem Leib. Außerdem sorgte sie sich wegen des Pakets, das für Pater Leofric bestimmt gewesen war und das durch eine Nacht im nassen Unterholz leicht Schaden nehmen könnte. Allerdings verspürte sie ganz und gar nicht den Wunsch, in dieser Nacht noch einmal hinaus in den Wald zu gehen. Von plötzlicher Wut erfasst, versetzte sie der Tür einen Tritt und zuckte vor Schmerz zusammen, ehe sie in die warme Dunkelheit der Kemenate trat.

Spät erst dämmerte in diesen Herbsttagen der Morgen herauf, und alle im Haus waren bereits auf den Beinen, ehe es für Rhoese hell genug war, um in die Wälder zurückzugehen und das mit Leinen umwickelte Bündel aus seinem feuchten Blätterversteck zu holen. Zu ihrer Beruhigung fand sie es heil und unbeschädigt vor. Vergangenen Abend, als sie plötzlich Angst bekommen hatte wegen des unerwarteten Interesses an dem Umstand, dass sie die Eigentümerin eines blühenden Anwesens war, hatte sie das Bedürfnis verspürt, diesen kostbaren Schatz an einen sichereren Ort zu bringen. Gewiss würde Pater Leofric den Wert eines in Leder gebundenen, mit Juwelen verzierten Evangeliars erkennen, dessen Seiten gefüllt waren mit keltischen Schriftzeichen und wunderschönen Zeichnungen, die geschickte Nonnen im vergangenen Jahrhundert angefertigt hatten. Es gab nur ein Nonnenkloster, deren Bewohnerinnen ebenso gebildet waren wie die Mönche. Das war Barking in Essex, viele Meilen von York entfernt. Doch kein gewöhnlicher Sterblicher hatte jemals so einen Gegenstand besessen, der zum Lobe Gottes gefertigt war und nur von heiligen Männern und Frauen benutzt werden sollte. Und von Königen. Wenn man es jemals in ihrem Besitz finden sollte, müsste sie eine sehr überzeugende Erklärung vorbringen, warum sie es besaß und, wichtiger noch, warum sie es nicht umgehend den dafür zuständigen Obrigkeiten übergeben hatte. Die kurze Freude, die sie erleben durfte, weil ihr dieses Ding gehörte, war lange schon verdrängt worden von der Furcht, damit entdeckt zu werden. Sie presste das Bündel so fest an sich, als wäre es ein Kind.

Sobald sie sich bückte, um den Boden abzusuchen, bemerkte sie die großen Hufabdrücke. Dann die Fußspuren. Dort stand die Eiche. Und hier war der verrutschte Absatzabdruck entstanden, während sie versucht hatte, das Gleichgewicht zu halten. Und nachdem sie die Augen geschlossen hatte, fühlte sie erneut den erschreckend zärtlichen und ungehörigen Druck gegen ihren Leib, fühlte seine Hände, wo sie nicht hingehörten. Hände, die sie vergessen sollte, anstatt sich an sie zu erinnern. Ihr Herz schlug schneller, als sie daran dachte, wie sich sein Mund auf ihren gepresst hatte, und sie hielt den Atem an, bis das Zittern vorüber war. „Männer“, flüsterte sie, „hinterhältige Männer.“

2. KAPITEL

Kettis Haus, Bootham, York

Kurz vor Einbruch der Dunkelheit traf der Abgesandte des Sheriffs Gamals Witwe in ihrem großen Haus in der Nähe der Abtei St. Mary’s an. Er musste seine Botschaft schnell überbringen, wenn er noch heimkehren wollte, ehe die Stadttore bei Sonnenuntergang geschlossen wurden.

Zu seinen Füßen bildete sich eine große Wasserlache, während er seine höchst unwillkommenen Neuigkeiten zwar nicht eben mit Vergnügen, aber doch ohne jedes Mitgefühl überbrachte. Jeder inYork wusste von der Treulosigkeit dieser Frau. Während er sich mit dem Handgelenk Wasser von der Nasenspitze wischte, sah er das Paar durchdringend an. „Ihr gestattet mir die Bemerkung“, erwiderte er auf ihre Proteste hin, „dass diese Nachrichten für Euch nicht ganz unerwartet kommen dürften, hat doch mein Herr, der Sheriff, Euch schon im Sommer vorgewarnt: Wenn Ihr die Aufforderung des Königs, Ritterdienste zu leisten, weiterhin nicht beachtet, so hieß es, dann wird Euer Eigentum beschlagnahmt werden.“

„Im Sommer“, entgegnete die Frau mit dem Namen Ketti in stockendem, normannischem Französisch, „war ich gerade frisch verwitwet und in Trauer. Ich hatte anderes im Kopf.“ Sogleich wünschte sie sich, die fremde Sprache etwas besser zu beherrschen, da der Abgesandte des Sheriffs zur Seite blickte und den starken, jungen Mann an ihrer Seite betrachtete. Einen Moment lang ließ er seinen Blick auf der Wölbung unterhalb Warins Gürtels ruhen, als wolle er dessen Leistungen im Bett beurteilen.

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