Diese bittersüße Sehnsucht

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Er atmete tief ein. "Bitte, Alanna, bleib bei mir heute Nacht." Eine atemberaubend heiße Nacht hat Alanna damals in Zandor Vargas Armen erlebt, unüberlegt und hemmungslos! Aber aus Angst vor ihren eigenen Gefühlen floh sie am nächsten Morgen, überzeugt, dass sie ihn nie wiedersehen wird - bis sie ein Wochenende auf dem eleganten Landsitz einer befreundeten Familie verbringt. Schockiert sieht Alanna, wer ebenfalls auf Whitestone Abbey zu Gast ist: ihr unvergessener Liebhaber Zandor. Schon sein Blick weckt ihre Lust von Neuem! Soll sie endlich zu ihren Gefühlen stehen - auch wenn das einen Skandal heraufbeschwört?


  • Erscheinungstag 23.10.2018
  • Bandnummer 2359
  • ISBN / Artikelnummer 9783733710491
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Jetzt erzähl schon, Becks. Ich will alles wissen! Wie ist er im Bett?“

Alanna Beckett verschluckte sich fast an ihrem alkoholfreien Cocktail und sah sich peinlich berührt in der gut besuchten Bar um.

„Susie – um Himmels willen, nicht so laut. Außerdem fragt man so etwas nicht.“

„Ich schon“, erwiderte Susie unbeeindruckt. „Ich habe einen Wissensdurst, den selbst dieser köstliche Wein nicht stillen kann. Jetzt sieh doch mal: Ich fahre für ganze sechs Wochen nach Amerika. Die ganze Zeit habe ich mir vorgestellt, dass du dich wie eine Einsiedlerin in unserer Wohnung einigelst. Ich komme zurück und habe Angst, dass du dir eine Katze aus dem Tierheim geholt oder mit dem Häkeln angefangen hast – und stattdessen hast du dich so gut wie verlobt. Halleluja!“

„Nein“, widersprach Alanna. „Das habe ich nicht. Er hat mich nur zum achtzigsten Geburtstag seiner Großmutter eingeladen, das ist alles.“

„Eine große Familienfeier auf einem herrschaftlichen Landsitz. Das hört sich an, als würde er es ernst meinen, Becks. Ich will alle Einzelheiten. Er heißt Gerald, oder?“

„Gerard. Gerard Harrington.“

„Auch Gerry genannt?“

„Nicht dass ich wüsste.“

„Aha. Und jetzt bitte eine vollständige Beschreibung, inklusive Warzen und so weiter.“

Alanna seufzte. „Über eins achtzig groß, gut aussehend, blond, blaue Augen – und nein, keine Warzen.“

„Jedenfalls keine, die du gesehen hättest. Wie habt ihr euch kennengelernt?“

„Er hat mich davor bewahrt, vor einen Bus zu laufen.“

„Nein! Wo – und wie?“

„In der Nähe vom Bazaar Vert auf der King’s Road. Ich war unkonzentriert und bin einfach auf die Straße getreten. Er hat mich zurückgerissen.“

„Gott sei Dank.“ Susie schaute Alanna skeptisch an. „Das ist doch sonst nicht deine Art. Wo warst du denn mit deinen Gedanken?“

Alanna zuckte mit den Schultern. „Ich dachte, ich hätte ein bekanntes Gesicht gesehen.“ Sie hielte inne und dachte schnell nach. „Lindsay Merton.“

„Lindsay?“, wiederholte Susie verwirrt. „Aber sie und ihr Mann leben doch in Australien.“

„Genau“, bestätigte Alanna leichthin und verfluchte sich im Stillen. „Ich habe mich also quasi für nichts fast überfahren lassen.“

„Wie ist es mit dir und dem edlen Ritter dann weitergegangen?“

„Na ja, ich war natürlich ziemlich geschockt, also hat er mich in den Bazaar Vert gebracht und die Managerin gebeten, mir einen Tee mit sehr viel Zucker zu machen.“ Sie schauderte. „Eigentlich wäre ich lieber unter den Bus geraten, als dieses Zeug zu trinken.“

„Nein, wärst du nicht. Denk doch mal an den armen Busfahrer. Wieso gerade in den Bazaar Vert?“

„Die ganze Kette gehört jemandem aus seiner Familie – einem Cousin. Gerard ist der Geschäftsführer.“

„Wow“, entgegnete Susie. „Dann verdient er also viel Geld und ist auch noch umweltbewusst. Meine Liebe, ich bin ernsthaft beeindruckt. Sagt man nicht, dass man demjenigen, der einem das Leben rettet, für alle Zeiten angehört?“

„‚Man‘, wer auch immer das sein mag, sagt eine ganze Menge, und das meiste davon ist einfach dumm. Von angehören kann überhaupt keine Rede sein, weder bei ihm noch bei mir. Jedenfalls noch nicht“, erwiderte Alanna schulterzuckend. „Wir lernen uns gerade erst kennen. Und dazu gehört auch, dass ich ihn zu der Geburtstagsfeier begleite.“

„Um zu erfahren, ob die Großmutter dich für gut genug hält?“ Susie zog die Nase kraus. „Ich hätte dazu keine Lust.“

„Oder ich sie. So oder so ist es ein Wochenende auf dem Land, und ich werde dort ausspannen können und mich einfach treiben lassen. Natürlich nicht so weit, dass ich mit Gerard ins Bett gehen würde“, fügte sie hinzu. „Nur falls du dich das gefragt hast. In der Whitestone Abbey schläft man strikt in getrennten Zimmern.“

Susie grinste. „Nach der Abendandacht, was? Aber vielleicht kennt Gerard ja den einen oder anderen Heuboden.“ Sie hob ihr Glas. „Auf dich, meine stolze, schöne Freundin. Mögen am Wochenende all deine Träume wahr werden.“

Alanna lächelte und nahm einen Schluck ihres Getränks. Vielleicht würde das wirklich passieren.

Und vielleicht konnte sie endlich ihren ganz persönlichen Albtraum hinter sich lassen und sich nicht länger mit der Erinnerung an eine höchst private Blamage quälen. Eine Blamage, seit der sie ein Dasein selbstgewählter Zurückgezogenheit fristete.

Jeder Mensch macht mal einen Fehler, und es war völlig absurd, dass sie ihren eigenen Lapsus so wichtig nahm. Es war sicher nicht nötig, sich deshalb über ein Jahr lang selbst zu kasteien.

„Aber warum?“, hatte Susie wieder und wieder geklagt. „Es ist Wochenende, also vergiss deine Autoren und ihre verdammten Manuskripte wenigstens für einen Abend und geh mit mir aus. Jeder würde sich freuen, dich mal wiederzusehen. Die Leute fragen mich ständig nach dir.“

Und jedes Mal benutzte Alanna ihre Arbeit als Ausrede – Abgabetermine, zusätzliche Titel – und die Gerüchte über eine mögliche Übernahme des Verlags und die daraufhin zu erwartenden Kündigungen.

Immer erklärte sie dann vollkommen vernünftig, dass sie, wenn sie ihren Job nicht verlieren wollte, alles geben musste. Was ihr nicht schwerfiel, denn sie liebte ihre Arbeit.

Sie hatte sich in gewisser Weise neu erschaffen, lebte nur noch für das Büro. Still, engagiert und auf höfliche Weise unnahbar. Ihr üppiges rotbraunes Haar band sie schlicht im Nacken zusammen. Sie hörte auf, ihre grünen Augen und die langen Wimpern zu schminken und beschränkte sich auf einen Lippenstift, der so unauffällig war, dass er kaum zu sehen war.

Sie alleine kannte den Grund für diese Veränderung. Nicht einmal Susie hatte sie etwas erzählt, ihrer besten Freundin, die sie noch aus der Schulzeit kannte. Susie hatte sie freudig als Mitbewohnerin in ihrer Wohnung aufgenommen, als Alanna ein neues Zuhause brauchte. Und jetzt freute Susie sich sichtlich, dass die Zeit der Enthaltsamkeit für Alanna beendet schien.

Allerdings hatte Alanna nicht vor, ihr Erscheinungsbild wieder zu verändern. Sie hatte sich daran gewöhnt und redete sich ein, dass Vorsicht besser sei als Nachsicht. Und sie hatte auch früher nicht jede Mode mitgemacht oder sich Kriegsbemalung ins Gesicht geschminkt.

Gerard jedenfalls schien sie so zu gefallen, wie sie war, auch wenn ihn etwas weniger Zurückhaltung ihrerseits vermutlich nicht aus der Bahn werfen würde.

Alles hing davon ab, wie die Geburtstagsfeier verlaufen würde.

Die Einladung hatte sie überrascht. Sicher war Gerard aufmerksam und charmant, doch ihre Beziehung war durchaus distanziert. Nicht, dass Alanna daran etwas auszusetzen hätte – ganz im Gegenteil.

An jenem ersten Abend hatte sie nur eingewilligt, mit ihm zu Abend zu essen, weil er sie ohne Rücksicht auf seine eigene Sicherheit so heldenhaft gerettet hatte. Es wäre daher unhöflich gewesen, seine Einladung abzulehnen.

Entgegen ihrer Erwartung hatte sie sich in seiner Gesellschaft bald entspannt und einen angenehmen Abend mit ihm verbracht. Erst nach ihrem dritten Treffen hatte er sie zum Abschied geküsst – hatte ihren Mund leicht und ohne etwas zu fordern mit seinen Lippen berührt.

Zu ihrer eigenen Erleichterung hatte der Kuss sie weder aufgewühlt noch erregt. Gleichzeitig hatte sie festgestellt, dass sie keine Probleme damit haben würde, wenn er sie wieder küssen wollte. Und als er es dann tat, konnte sie es sogar genießen.

Wir lassen es langsam angehen, sagte sie sich, so wie früher, als es noch üblich gewesen war, dass ein Mann lange um eine Frau warb. Und dieses Mal, fügte sie in Gedanken hinzu, werde ich alles richtig machen.

Gleichzeitig war sie sich im Klaren darüber, dass das Wochenende in der Whitestone Abbey einen Wendepunkt in ihrer Beziehung darstellen konnte, für den sie noch nicht bereit war.

Die Einladung abzulehnen, kam ihr aber auch falsch vor.

Und so hatte sie einen großen Teil ihrer Ersparnisse für ein passendes Kleid ausgegeben. Es bestand aus Seide und Spitze, hatte die bezaubernde Farbe des diesigen Meeres, war eng geschnitten und knöchellang. Außerdem war es sittsam genug, um selbst die kritischste Großmutter zu besänftigen, während es gleichzeitig so figurbetont war, dass es auch Gerard gefallen würde.

Alanna würde es sowohl zur Cocktailparty mit Freunden und Nachbarn der Harringtons als auch zum förmlichen Abendessen im Kreis der Familie tragen können.

„Ich hoffe, du findest die Feier nicht langweilig“, hatte Gerard gesagt. „Es gab Zeiten, da hat Grandma die ganze Nacht durchgetanzt, aber aus dem Alter ist sie raus. Auch wenn sie noch immer jeden Morgen vor dem Frühstück ausreitet, im Sommer wie im Winter.“ Er dachte kurz nach. „Kannst du reiten?“

„Ja. Bis ich zur Uni ging, hatte ich ein eigenes Pferd. Nachdem ich ausgezogen war, beschlossen meine Eltern, ein kleineres Cottage mit einem überschaubaren Garten zu kaufen, statt sich um Paddock und den Stall kümmern zu müssen.“

„Dann nimm deine Reitstiefel mit.“ Gerards überraschtes Lächeln wich einem Grinsen. „Eine Kappe werden wir in der Abbey auftreiben. Ich freue mich schon darauf, dir bei einem schönen Ausritt die Gegend zu zeigen.“

Alanna lächelte. „Das hört sich gut an“, sagte sie und meinte es auch so. Allerdings wuchs in ihr die Überzeugung, dass die bald achtzigjährige Niamh Harrington eine recht eindrucksvolle Dame sein musste.

Und dann war da natürlich noch der Rest der Familie.

„Gerards Mutter ist Witwe, sein verstorbener Vater war Mrs. Harringtons ältestes Kind und ihr einziger Sohn“, erzählte sie Susie zu Hause beim Abendessen. Sie hatten sich etwas vom Thailänder besorgt.

Sie zählte an den Fingern ab. „Dann sind da seine Tante Caroline und Onkel Richard mit ihrem Sohn und dessen Frau, plus seine Tante Diana, ihr Mann Maurice und deren beiden Töchter, eine verheiratet, eine ledig.“

„Ach du meine Güte“, sagte Susie lahm. „Ich hoffe für dich, dass sie alle Namensschildchen tragen. Kinder?“

Alanna spießte eine Garnele auf. „Ja, aber alle mit Kindermädchen. Ich glaube, Mrs. Harrington hält nicht viel von moderner Kindererziehung.“

Dann fügte sie hinzu: „Sie hatte noch eine dritte Tochter, ihre jüngste, Marianne, aber sie und ihr Mann sind schon tot, und ihr Sohn wird anscheinend nicht an der Feier teilnehmen.“

„Gut so. Klingt so, als würde es auch so ziemlich voll werden.“ Susie dachte kurz nach. „Dieser Sohn von Marianne, ist er der Besitzer vom Bazaar Vert?“

Alanna zuckte die Achseln. „Ich glaube schon. Gerard hat nicht viel von ihm erzählt.“ Sie griff nach einer Plastikschale. „Sollen wir uns den klebrigen Reis noch teilen?“

„Sehr gerne“, erwiderte Susie. „Er ist wahrscheinlich immer noch lockerer als dein Wochenende auf dem Lande.“

Der Freitag begann mit einem äußerst unerfreulichen Redaktionsmeeting.

Danach ging Alanna in ihr Büro, kaum größer als eine Abstellkammer, und schloss fluchend die Tür hinter sich.

„Oh Hetty“, flüsterte sie. „Wo bist du, wenn ich dich brauche?“

Hetty war natürlich im Mutterschutz, weshalb Alanna vorübergehend zur Chefredakteurin der Sparte „Romantische Frauenliteratur“ bei Hawkseye Publishing befördert worden war.

Anfangs war sie glücklich darüber gewesen, doch nachdem sie die rosarote Brille abgesetzt hatte, war ihr aufgegangen, dass sie auf ein Schlachtfeld geraten war. Ihr Gegner war Louis Foster aus der Redaktion Männerliteratur. Er hatte eine Vorliebe für bluttriefende Inhalte, aber anscheinend auch für andere Titel, wie Alanna soeben herausgefunden hatte.

Sie war in das Meeting gegangen mit dem Ziel, eine neue, vielversprechende Autorin zu verlegen, die ihre eigene Entdeckung war.

Voller Begeisterung und mit großer Überzeugungskraft hatte sie dafür geworben, das aufstrebende junge Talent ins Verlagsprogramm aufzunehmen, doch Louis stellte sich ihr mit höflicher Entschlossenheit in den Weg.

Nachdem er sich die Geschäftszahlen angesehen habe, sagte er, könne er einer so riskanten Investition in eine völlig unbekannte Autorin unmöglich zustimmen.

„Zumal“, fügte er hinzu, „Jeffrey Winton mir neulich beim Mittagessen erzählt hat, dass er seine Bandbreite gerne vergrößern würde. Das, was er vorgeschlagen hat, scheint dem von Alannas Entdeckung sehr ähnlich zu sein. Und wir hätten natürlich den Namen Maisie McIntyre, der sich wie von selbst verkauft.“

Jeffrey Winton, dachte Alanna, und krümmte die Zehen. Der Bestsellerautor, der unter dem weiblichen Pseudonym ländliche Sagas schrieb, die so zuckersüß waren, dass sie Zahnschmerzen davon bekam.

Außerdem war er Hettys Autor, warum also ließ er sich von Louis zum Mittagessen einladen, um mit ihm über zukünftige Projekte zu reden?

Nicht, dass sie etwas mit ihm zu tun haben wollte. Mit Schaudern dachte sie an ihre erste und einzige Begegnung mit dem rundlichen Autor von „Liebe in der Dorfschmiede“ und „Gasthaus der Geborgenheit“. Und, noch schlimmer, an das, was daraufhin folgte …

Alles, was sie seit Monaten zu verdrängen versuchte, strömte jetzt in jeder Einzelheit wieder auf sie ein, so stark, dass Alanna kurz wie betäubt war.

Und während sie noch um Fassung rang, hatte Louis die anderen am runden Tisch bereits von seinem Standpunkt überzeugt. Nun blieb ihr nur noch übrig, einer Autorin, an die sie glaubte, mitzuteilen, dass es keinen Vertrag geben würde. Als ob diese Enttäuschung noch nicht reichte, fühlte Alanna sich in ihrem Stolz gekränkt und zweifelte an ihrem Verhandlungsgeschick.

Wahrscheinlich hatte sie Louis gerade dabei geholfen, seinem großen Ziel näher zu kommen, die Redaktionen von Männer- und Frauenliteratur unter seiner Führung zusammenzulegen.

Erst das und dann auch noch das Treffen mit den Harringtons, für das sie gar nicht genug Selbstvertrauen haben konnte.

Ihr Blick fiel auf ihre Tasche, die fertig gepackt für das Wochenende in einer Ecke ihres Büros stand. Darin hatte sie Jeans und Stiefel, das neue Kleid und den handgeschmiedeten silbernen Fotorahmen, den sie ihrer Gastgeberin zum Geburtstag schenken würde.

Kurz überlegte sie, ob sie nicht besser eine mysteriöse Viruserkrankung vortäuschen sollte, verwarf den Gedanken dann aber wieder.

Sie hatte schon ihre junge Autorin enttäuscht und wollte das jetzt nicht auch noch Gerard antun, zumal sie das Gefühl hatte, dass auch ihn das bevorstehende Wochenende nervös machte.

Ihm zuliebe muss ich zusehen, dass alles gut geht, dachte sie. Und wegen der Aussicht auf eine gemeinsame Zukunft – falls und wenn die Zuneigung sich allmählich in Liebe verwandelte.

Der vorsichtige Beginn, der zu einem Happy End führen würde. Genau, wie es sein sollte.

Das war es, was sie brauchte. Und keine hemmungslos leidenschaftliche Nacht, die sie monatelang bereute. Die sie verdrängen musste, genau wie all die anderen Erinnerungen, bis sie endlich in Vergessenheit gerieten.

Und dieser Tag wird kommen, sagte sie sich. Das musste er einfach.

Die Fahrt verlief gemütlich und ohne besondere Vorkommnisse. Gerard steuerte den überaus komfortablen Mercedes souverän, während er Alanna von Whitestone Abbey und deren wechselhafter Geschichte erzählte.

„Angeblich hat die Familie, die die Abtei in Tudorzeiten erworben hat, die Offiziere des Königs bestochen, damit sie die dort lebenden Mönche vertrieben, und der Klostervorsteher hat sie daraufhin verflucht. Ob das wahr ist oder nicht, sei dahingestellt, jedenfalls sind die neuen Besitzer in den folgenden Jahrhunderten in große Schwierigkeiten geraten. Hauptsächlich, weil eine ganze Reihe von erstgeborenen Söhnen gerne trank und dem Glücksspiel frönte. Mein Ururgroßvater Augustus Harrington hat das Anwesen dann irgendwann recht günstig erwerben können. Und als überaus rechtschaffender und fleißiger Mensch hat er den Wiederaufbau der Abtei als seine Lebensaufgabe betrachtet.“

„Ist von dem ursprünglichen Gebäude denn noch viel erhalten?“

„Vom Kloster abgesehen kaum. Die Familien aus der Tudorzeit haben einfach alles abgerissen und neu aufgebaut.“

„Diese Vandalen. Ich nehme an, die Instandhaltung ist ein Fass ohne Boden.“

Er antwortete nicht sofort. „Ja“, sagte er schließlich. „Ziemlich. Vielleicht ist das der eigentliche Fluch des Abtes. Er hat gesagt, dass die Abtei für alle Zeiten ein Mühlstein am Hals der Besitzer sein würde.“

„Ich glaube nicht an Flüche. Und Mühlstein hin oder her – Whitestone Abbey muss ja auch einiges wert sein bei der langen Geschichte.“

„Davon bin ich überzeugt.“ Gerard klang merkwürdig tonlos. „Wenn auch nicht jeder meine Meinung teilt. Aber bilde dir dein eigenes Urteil.“ Er beschleunigte ein wenig. „Wir sind gleich da.“

Und richtig, als sie den letzten Hügel überquert hatten, sah Alanna ein großes Gebäude aus hellem Stein in einem Tal liegen – Whitestone Abbey. Hohe Schornsteine ragten in den Himmel; das Licht des frühen Sommerabends spiegelte sich in zahllosen Sprossenfenstern.

Zu beiden Seiten des Hauptgebäudes erstreckten sich zwei schmale Nebenflügel, als wollte die Abbey sie mit offenen Armen empfangen; auf dem Hof davor parkten bereits mehrere Autos.

Gerard stellte den Mercedes zwischen einem Jaguar und einem Audi ab und nahm das Gepäck aus dem Kofferraum. Alanna wartete an einer Steintreppe mit flachen Stufen, die zum Eingang der früheren Abtei führten. Im nächsten Moment bemerkte sie, wie die mächtige Holztür geöffnet wurde und eine grauhaarige Frau in einem eleganten roten Kleid heraustrat, die Augen zum Schutz vor der Sonne mit einer Hand abschirmte und ihre Ankunft beobachtete.

„Da seid ihr ja“, sagte sie ungeduldig. Sie wandte sich einem hochgewachsenen Mann zu, der ihr nach draußen gefolgt war. „Richard, geh und sag Mutter, dass Gerard endlich eingetroffen ist.“

„Dir auch einen wunderschönen guten Abend, Tante Caroline.“ Gerard lächelte höflich, nachdem er und Alanna die Tür erreicht hatten. „Bleib ruhig hier, Onkel Rich, ich gehe uns selbst ankündigen.“

„Ihr wurdet bereits vor einer Stunde erwartet.“ Seine Tante schürzte die Lippen, während sie die beiden in eine imposante Halle mit getäfelten Wänden führte. „Ich habe keine Ahnung, wie sich das auf den Beginn des Abendessens auswirken wird.“

„Es wird wie immer genau dann serviert werden, wenn Großmutter es wünscht“, gab Gerard ungerührt zurück. „Darf ich dir Alanna Beckett vorstellen. Liebling – meine Tante und mein Onkel Mrs. und Mr. Healy.“

Leicht verwirrt durch die ungewohnte Anrede schüttelte Alanna Hände und murmelte ein paar Höflichkeiten.

„Die anderen sind alle im Salon“, sagte Mrs. Healy. „Lassen Sie Ihre Tasche einfach hier stehen, Miss – äh – Beckett. Die Haushälterin wird sie später auf ihr Zimmer bringen.“ Sie wandte sich an Gerard. „Es gab eine Planänderung, also schläft deine Begleiterin jetzt im Ostflügel, neben Joanna.“ Sie sah Alanna zweifelnd an. „Ich befürchte, Sie werden sich das Badezimmer mit ihr teilen müssen.“

„Daran bin ich gewöhnt.“ Alanna versuchte es mit einem freundlichen Lächeln. „Ich teile mir in London eine Wohnung mit einer Freundin.“

Mrs. Healy nahm diese Information kommentarlos zur Kenntnis und drehte sich zu Gerard. „Kommt jetzt. Du weißt, wie deine Großmutter es hasst, warten zu müssen.“

Alanna allerdings wäre lieber zusammen mit ihrer Tasche erst einmal auf ihr Zimmer gegangen, um sich frisch zu machen, bevor sie der Harrington-Matriarchin entgegentrat.

Und noch lieber hätte sie umgehend den Rückweg nach London angetreten. Wenn nötig, zu Fuß.

Gerard beugte sich zu ihr. „Mach dir wegen Tante Caroline keine Sorgen“, flüsterte er. „Seit meine Mutter nach Suffolk gezogen ist, nimmt sie ihre Rolle als Tochter des Hauses etwas zu ernst.“

Alanna zwang sich zu einem Lächeln. „Fast hätte ich vor ihr geknickst.“

Er nahm ihre Hand. „Alles wird gut, das verspreche ich dir.“

Sie erreichten einen langgezogenen Raum mit einer niedrigen Decke und einem riesigen Kamin, in dem man problemlos einen ganzen Ochsen hätte grillen können.

Das Mobiliar bestand hauptsächlich aus durchgesessenen Sofas und tiefen Sesseln, allesamt mit verblichenem Chintz bezogen. Wie die alten Teppiche auf dem dunklen Eichenfußboden und die grünen Damastvorhänge an den Fenstern und Terrassentüren wirkte alles ein wenig schäbig und heruntergekommen.

Die Anwesenden waren plötzlich verstummt, als sie und Gerard den Raum betreten hatten.

Alanna war verunsichert und wünschte, sie würden ihre Gespräche wiederaufnehmen, damit ihre Absätze nicht so laut auf dem Parkett klackerten. Wenn sie sie wenigstens nicht so neugierig ansehen würden, während Gerard sie durch den Salon zu seiner Großmutter führte.

Sie hatte eine ältere Version von Mrs. Healy erwartet, eine abweisende Erscheinung, die in angemessenem Abstand vom Rest ihrer gehorsamen Familie thronte, und sich entsprechen gewappnet.

Aber Niamh Harrington war eine kleine, pummelige Frau mit blauen Augen, rosigen Wangen und einem Wust weißer Haare auf dem Kopf.

Sie saß in der Mitte des größten Sofas mit Blick auf die offen stehenden Terrassentüren neben einer blonden jungen Frau.

„Mein lieber Junge“, begrüßte sie Gerard und hielt ihm lächelnd das Gesicht entgegen, damit er ihr einen Kuss geben konnte. „Das also ist deine reizende Freundin.“

Sie musterte Alanna mit einem scharfen Blick, dem nichts entging, und schenkte ihr schließlich ebenfalls ein Lächeln. „Nein, wie wunderbar. Willkommen in Whitestone, meine Liebe.“

Der leichte irische Akzent überraschte Alanna, andererseits hätte ihr der Name Niamh die Herkunft von Gerards Mutter bereits verraten sollen.

Sie straffte sich. „Vielen Dank für die Einladung, Mrs. Harrington. Sie besitzen wirklich ein schönes Haus.“

Oh Gott, dachte sie. Hatte das etwa so geklungen, als würde sie im Geiste schon hier einziehen? Und hatte Gerard seiner Großmutter erzählt, dass sie sich erst seit wenigen Wochen kannten?

Mrs. Harrington machte eine abwertende Geste mit einer schwer beringten Hand. „Es hat schon bessere Tage gesehen.“ Sie wandte sich an die junge Frau an ihrer Seite. „Steh auf, Joanna, mein Liebes, und lass – Alanna, richtig? – neben mir sitzen, damit sie mir alles von sich erzählen kann.“

Gerard sah sich um. „Ich kann Mutter nirgends entdecken.“

„Die arme Meg hat sich oben ein wenig hingelegt. Die Fahrt von Suffolk hierher hat sie sehr angestrengt, fürchte ich.“ Mrs. Harrington seufzte tief. „Lass sie erst einmal in Ruhe, mein lieber Junge, denn ich bin sicher, dass es ihr pünktlich zum Abendessen wieder besser geht.“

Alanna sah, dass Gerard die Lippen aufeinanderpresste, doch er sagte nichts, als er sich umdrehte und ging.

„Also“, meinte Mrs. Harrington. „Mein Enkel hat erzählt, Sie wären Verlegerin.“

„Nein, Redakteurin im Bereich Frauenliteratur.“ Alanna merkte selber, wie gestelzt das klang.

„Um diesen Beruf beneide ich Sie wirklich. Ich liebe nichts mehr als Bücher. Eine gute Geschichte mit ordentlich Saft und nicht zu sentimental. Vielleicht könnten Sie mir ein paar Titel empfehlen.“

„Können Sie ein Buch für eine ältere Dame empfehlen, die gerne liest?“

Genau diese Frage war ihr vor über einem Jahr in einer Londoner Buchhandlung gestellt worden, von einem Mann mit einer tiefen, klangvollen Stimme. Und das war der Anfang des Albtraums gewesen, den sie seither zu vergessen versuchte. Sie versuchte, ein Schaudern zu verbergen, was nicht unbemerkt blieb.

„Sie frieren ja, und das ist auch kein Wunder bei dieser frischen Abendbrise.“ Niamh Harrington erhob die Stimme. „Zandor, kommst du jetzt rein? Und mach um Himmels willen die Tür hinter dir zu. Hier drinnen zieht es, und wir wollen doch nicht, dass Gerards Gast sich den Tod holt, nur weil du draußen spazieren gehen musst.“

Alanna gefror das Blut in den Adern. Sie blickte auf ihre Hände, die sie so fest in ihrem Schoß umklammert hielt, dass die Knöchel weiß hervortraten.

„Zandor“, wisperte sie ungläubig. Zandor?

Nein, das konnte nicht sein, es war unmöglich. Sie war so nervös, dass sie sich verhört haben musste. Das war alles.

„Großmutter, ich möchte dich und die schöne Freundin meines Cousins um Verzeihung bitten. Natürlich möchte ich nicht, dass sie sich erkältet.“

Es ist nicht nur der Name, dachte Alanna wie betäubt. Auch die Stimme – tief und mit einem leisen Anflug von Belustigung darin.

Sie zwang sich aufzusehen. Dunkel hob sich seine Gestalt im Türrahmen vor der untergehenden Sonne ab, als ihre Blicke sich begegneten.

Vor ihr stand der Mann, aus dessen Schlafzimmer sie vor so vielen Monaten geflohen war, und der sie seither in ihren Träumen und Gedanken verfolgte.

Aus dem schlimmsten aller denkbaren Gründe.

2. KAPITEL

Sorgfältig schloss Zandor die Terrassentür hinter sich und ging auf Alanna zu. Er hatte breite Schultern, schmale Hüften und trug eine enge schwarze Hose zu einem gleichfarbigen Hemd, das so weit aufgeknöpft war, dass seine sonnengebräunte Brust zu sehen war. Dieser Anblick erinnerte Alanna daran, dass er völlig nackt gewesen war, als sie nach ihrer letzten Begegnung aus seinem Bett geflohen war.

Leise sagte er: „Vielleicht sollte ich mich Ihnen vorstellen. Mein Name ist Zandor. Zandor Varga. Und Sie sind …?“

Irgendwie gelang es ihr, zu antworten, mit einer heiseren Stimme, die nicht ihr selbst zu gehören schien. „Alanna“, brachte sie hervor und schluckte. „Alanna Beckett.“

Er nickte und musterte sie aus seinen unvergesslichen stahlgrauen Augen.

Autor

Sara Craven

Sara Craven war bis zu ihrem Tod im November 2017 als Autorin für Harlequin / Mills & Boon tätig. In über 40 Jahren hat sie knapp hundert Romane verfasst. Mit mehr als 30 Millionen verkauften Büchern rund um den Globus hinterlässt sie ein fantastisches Vermächtnis.

In ihren Romanen entführt sie...

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