Ein Herz aus Eis?

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Man nennt sie die Eisprinzessin: die schöne Ärztin Alice Anderson: kühl, kompetent und unnahbar. Ihr neuer Kollege, der feurige Sizilianer Giovanni Moretti, kennt nur ein Ziel: Seine Liebe soll ihr Herz zum Schmelzen bringen ...


  • Erscheinungstag 01.04.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733735821
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

PROLOG

„Ich glaube nicht an die Liebe. Und du auch nicht.“ Alice legte ihren Kugelschreiber beiseite und blickte ihren Kollegen, mit dem sie seit fünf Jahren zusammenarbeitete, verblüfft an. Hatte er den Verstand verloren?

„Das war, bevor ich Trish kennengelernt habe.“ Seine Miene war versonnen und entrückt, sein Lächeln fast schon idiotisch. „Endlich ist es passiert. Genauso wie im Märchen.“

Am liebsten hätte sie ihn gefragt, ob er zu tief ins Glas geschaut hätte, doch sie wollte ihn nicht beleidigen. „Das sieht dir überhaupt nicht ähnlich, David. Du bist ein intelligenter, hart arbeitender Arzt, und plötzlich redest du wie ein … wie ein …“ Naives Kind? Nein, das konnte sie unmöglich sagen. „Du klingst nicht wie du selbst.“

„Das ist mir egal. Sie ist die Richtige. Und ich muss mit ihr zusammen sein. Alles andere ist unwichtig.“

„Alles andere ist unwichtig?“ Auf dem Schreibtisch vor ihr klingelte das Telefon, doch Alice ignorierte es ausnahmsweise. „Die Sommersaison hat gerade begonnen, und der Ort füllt sich bereits mit Touristen. Noch dazu ist die Mehrzahl der Einheimischen von diesem üblen Virus außer Gefecht gesetzt. Und da erzählst du mir einfach so, du gehst, und glaubst, das sei unwichtig? Bitte sag, dass das ein Witz sein soll.“

Selbst mit David an ihrer Seite arbeitete sie im Moment schon bis an den Rand der Erschöpfung, um alle Patienten versorgen zu können. Nicht etwa, dass sie harte Arbeit scheute. Ihr Beruf war ihr Leben. Aber sie kannte ihre Grenzen.

David fuhr sich mit beiden Händen durchs sowieso schon zerzauste Haar. „Ich gehe nicht endgültig, Alice. Ich will nur den Sommer über Urlaub nehmen, um mit Trish zusammen sein zu können. Wir müssen Entscheidungen über unsere Zukunft fällen. Wir lieben uns!“

Liebe. Alice unterdrückte einen kräftigen Seufzer. Hinter jeder Dummheit steckt eine Beziehung, dachte sie im Stillen. Das hatte sie schon lange begriffen. Sie hatte es schließlich oft genug erlebt. Warum sollte David eine Ausnahme sein? Nur weil er ein vernünftiger, rational denkender Mensch zu sein schien …

„Du wirst London hassen.“

„Im Gegenteil: Ich finde London unglaublich aufregend“, gestand David. „Ich liebe das hektische Treiben dort, die Massen von Menschen, die ihren Geschäften nachgehen, ohne sich um die anderen zu kümmern …“ Mit einer entschuldigenden Geste hielt er inne. „Ich rede mich gerade in Fahrt. Aber fühlst du dich hier nicht manchmal eingesperrt, Alice? Wünschst du dir nicht ab und zu, dass du mal etwas machen könntest, ohne dass gleich der ganze Ort Bescheid weiß?“

Alice lehnte sich in ihrem Stuhl zurück und musterte ihn prüfend. Sie hatte David noch nie so emotional erlebt. „Nein“, antwortete sie ruhig. „Es gefällt mir, wenn ich die Menschen kenne und sie mich kennen. Es hilft mir dabei, ihre medizinischen Bedürfnisse einzuschätzen. Wir sind für sie verantwortlich, und diese Verpflichtung nehme ich ernst.“

Eben dieser Aspekt hatte sie an diesem kleinen Fischerort so angezogen. Er war ihr mittlerweile zur Heimat geworden und seine Bewohner zu ihrer Familie. Mehr als je ihre eigenes gewesen war. Hier passte sie hin. Sie hatte ihren Platz gefunden und konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Sie liebte die engen gepflasterten Straßen, den geschäftigen Hafen, die kleinen Läden, in denen Muscheln und andere Souvenirs verkauft wurden. Sie liebte den Sommer, wenn sich die Touristenmassen durch die Straßen schoben, und den Winter, wenn die Strände verwaist und vom Regen gepeitscht waren. Einen Moment dachte sie an London mit seinen stickigen, verstopften Straßen und dann an ihr schönes Haus an der Küste. Das Haus mit der Aussicht auf das offene Meer. Das Haus, das sie in jeder freien Minute der letzten fünf Jahre liebevoll renoviert hatte.

Es bot ihr Zuflucht und ein Leben, das ihr gefiel. Ein Leben, in dem sie alles unter Kontrolle hatte.

„Da wir gerade offen reden …“ David holte tief Luft und richtete sich auf. Sein Blick wirkte vorsichtig. „Ich finde, du solltest auch überlegen wegzugehen. Du bist eine attraktive, intelligente Frau, aber wenn du dich weiter hier vergräbst, wirst du niemals den Richtigen finden. Du denkst immer nur an Arbeit, Arbeit, Arbeit.“

„David, ich will niemanden kennenlernen.“ Sie betonte jede Silbe einzeln. „Ich mag mein Leben so, wie es ist.“

„Dein Beruf sollte nicht dein Leben sein, Alice. Du brauchst Liebe. Jeder Mensch braucht Liebe.“

Sie verlor die Beherrschung. „Liebe ist ein Wort, mit dem impulsives, irrationales und gefühlsduseliges Verhalten gerechtfertigt werden soll“, sagte sie bissig. „Ich trete dem Leben lieber mit einer vernunftgeprägten, nüchternen Haltung entgegen.“

David wirkte ein wenig schockiert. „Damit willst du also sagen, ich sei impulsiv, irrational und gefühlsduselig?“

Sie seufzte. Es entsprach nicht ihrer Art, so ehrlich zu sein und so viel von sich preiszugeben. Oder die Gefühle anderer Menschen zu verletzen. Doch David benahm sich wirklich äußerst seltsam. „Du gibst einen wunderbaren Job wegen eines Gefühls auf, das undefinierbar, unzuverlässig und von kurzer Dauer ist. Du hast also recht, genau das will ich damit sagen.“ Sie biss sich auf die Unterlippe. „Es ist die Wahrheit, da kannst du es mir wohl kaum übel nehmen. Du selbst hast es oft genug gesagt.“

„Das war, bevor ich Trish kennengelernt und erkannt habe, wie falsch ich mit meiner Einstellung lag.“ Er schüttelte den Kopf und schenkte ihr ein verständnisvolles Lächeln. „Du hast den Richtigen noch nicht getroffen. Wenn du es tust, wird dir alles klar werden.“

„Mir ist schon jetzt alles klar, vielen Dank.“ Sie griff nach Stift und Papier. „Ich muss nur schleunigst eine Anzeige aufgeben, dann finde ich vielleicht noch einen Ersatz für August.“

Wenn sie Glück hatte.

Wenn nicht, stand ihr ein stressiger Sommer bevor. Ihr logisch denkender Verstand legte schon Listen an. Auch wenn der Ort mit seinem hübschen Hafen und den nostalgischen Läden keine Mediziner anlockte, so zog er doch ganze Busladungen von Touristen an. Ihr Arbeitspensum wuchs entsprechend, gerade in den Sommermonaten.

David runzelte die Stirn. „Ersatz?“ Seine Stirn glättete sich wieder. „Darum brauchst du dich nicht zu kümmern. Das habe ich schon geregelt.“

„Du hast das geregelt?“

„Selbstverständlich.“ Er wühlte in seiner Tasche und zog mehrere zerknitterte Zettel hervor. „Hast du etwa geglaubt, ich würde dich hier ohne einen Ersatz zurücklassen?“

Ja, genau das hatte sie. Alle ihr bekannten Menschen, die behauptet hatten, „verliebt“ zu sein, hatten sofort aufgehört, sich um die Menschen um sie herum Gedanken zu machen.

„Wen?“

„Ich habe einen Freund, der gerne in England arbeiten möchte. Er ist ausgebildeter plastischer Chirurg, doch wegen eines Unfalls musste er sich umorientieren. Tragische Geschichte.“ David seufzte. „Er war eine echte Koryphäe.“

Ein plastischer Chirurg?

Alice griff nach den Unterlagen und überflog den Lebenslauf. „Giovanni Moretti.“ Sie schaute auf. „Ist er Italiener?“

„Sizilianer.“ David grinste. „Nenne ihn niemals Italiener. Er ist sehr stolz auf seine Herkunft.“

„Der Mann ist hoch qualifiziert.“ Sie legte die Unterlagen auf ihren Schreibtisch. „Warum sollte er herkommen wollen?“

„Du willst doch auch hier arbeiten“, entgegnete David. „Also triffst du vielleicht sogar deinen Seelenverwandten.“ Er bemerkte ihren missbilligenden Blick und zuckte mit den Achseln. „Sollte nur ein Witz sein. Jeder hat ein Recht darauf, eine andere Gangart einzulegen. Er hat in Mailand gearbeitet, das erklärt es vielleicht. Aber ehrlich gesagt, kenne ich den Grund dafür nicht. Du weißt ja, wie wir Männer sind. Wir stellen keine bohrenden Fragen.“

Alice seufzte und blickte wieder auf den Lebenslauf. Er würde es vermutlich kaum fünf Minuten hier aushalten, aber zumindest würde er so lange einspringen können, bis sie einen Ersatz für den Rest des Sommers gefunden hatte.

„Na, zumindest hast du für einen Stellvertreter gesorgt. Vielen Dank. Und was passiert, wenn der Sommer vorbei ist? Kommst du dann zurück?“

David zögerte. „Können wir erst mal abwarten, wie es sich entwickelt? Trish und ich haben schwerwiegende Entscheidungen zu treffen.“ Bei dem Gedanken daran strahlten seine Augen. „Aber ich verspreche dir, ich lasse dich nicht im Stich.“

Er sah so glücklich aus, dass Alice nicht anders konnte, als ihm zuzulächeln. „Ich wünsche dir Glück.“

„Aber du verstehst es nicht, stimmt’s?“

„Wenn du mich fragst, ist die Veranlagung, sich von Gefühlen leiten zu lassen, der einzige schwere Konstruktionsfehler beim Menschen“, erwiderte sie achselzuckend.

„Ach, du liebe Güte.“ Plötzlich nahm David ihre Hände und zog sie aus dem Stuhl. „Die Liebe wartet da draußen, Alice. Du musst nur nach ihr suchen.“

„Warum sollte ich das tun? Wenn du meine ehrliche Meinung hören willst: Liebe ist eine vorübergehende psychische Störung, die sich im Lauf der Zeit von selbst verflüchtigt. Deshalb ist die Scheidungsrate auch so hoch.“ Sie schüttelte seine Hände ab, während er sie entgeistert anblickte.

„Eine vorübergehende psychische Störung?“ Ein ersticktes Lachen drang aus seiner Kehle, und er ließ die Hände sinken. „Das ist nicht dein Ernst. Das glaubst du doch nicht wirklich.“

Alice neigte den Kopf und ließ all die Menschen Revue passieren, die sie kannte und die sich im Namen der Liebe seltsam aufgeführt hatten. Es waren erschreckend viele – ihre Eltern und ihre Schwester eingeschlossen. „Doch, das tue ich“, sagte sie tonlos, während Gefühle in ihr aufstiegen, die sie jahrelang unterdrückt hatte. Hastig griff sie nach einer medizinischen Fachzeitschrift und blätterte darin, wobei sie sich auf Fakten zu konzentrieren versuchte. Fakten waren berechenbar und ungefährlich – Gefühle hingegen unangenehm und gefährlich. „Genau das glaube ich.“

Ihr Herz begann zu hämmern, und ihre Finger verkrampften sich. Sie rief sich in Erinnerung, dass sie ihr Leben unter Kontrolle hatte. Sie war kein Kind mehr, das den wechselnden Stimmungen anderer ausgeliefert war.

David musterte sie. „Also glaubst du noch immer nicht, dass die Liebe existiert? Selbst wenn du siehst, wie glücklich ich bin?“

Sie drehte sich um. „Wenn du damit ein merkwürdiges, undefinierbares Gefühl meinst, das zwei Menschen aneinander bindet, dann nein, ich glaube nicht, dass das existiert. Ich glaube genauso wenig an eine undefinierbare emotionale Bindung wie an den Weihnachtsmann.“

Ungläubig schüttelte David den Kopf. „Aber ich spüre ein starkes Gefühl.“

Sie brachte es nicht übers Herz, sein Glück durch weitere Worte infrage zu stellen. Daher trat sie auf ihn zu und nahm sein Gesicht in ihre Hände. „Ich freue mich für dich. Wirklich.“ Sie stellte sich auf die Zehenspitzen und küsste ihn auf die Wange. „Aber es ist nicht ‚Liebe‘.“ Sie ließ sich wieder auf ihren Stuhl sinken, und David musterte sie lächelnd.

„Das wird dir auch passieren, Alice.“ Er verschränkte die Arme vor der Brust, und seine Stimme klang überzeugt. „Eines schönen Tages wird jemand dein Herz im Sturm erobern.“

„Ich bin Akademikerin“, erinnerte sie ihn mit amüsiertem Blick. „Ich habe ein logisch denkendes Hirn. Ich glaube nicht daran, dass jemand mein Herz im Sturm erobert.“

Schweigend betrachtete er sie eine Weile, bevor er antwortete. „Nein, genau deshalb wird es passieren. Die Liebe kommt dann, wenn du nicht danach suchst.“

„Klingt nach Masern“, entgegnete Alice trocken und griff nach einem Stapel Papier mit Laborwerten, die sie noch prüfen musste. „Da fällt mir ein, die kleine Fiona Ellis hat sich von ihren Masern letzten Winter nicht richtig erholt. Ich werde heute mal nach ihr schauen. Und mit Gina, unserer Gesundheitsschwester, rede ich über unsere Erkrankungsraten, was Masern, Mumps und Röteln betrifft.“

„Nach der letzten Medienhysterie sind sie leicht zurückgegangen, aber ich habe das Gefühl, sie sind wieder etwas gestiegen. Das Krankenhaus überprüft regelmäßig Fionas Gehör“, sagte David, und Alice nickte.

„Ja, und soviel ich weiß, gab es Fortschritte zu verzeichnen. Aber dennoch braucht die Familie Unterstützung, und wir müssen uns darum kümmern, dass unsere Patienten stets die optimale Versorgung erhalten.“ Sie stand auf und lächelte ihrem Kollegen zu. „Und genau das können wir in einem kleinen Ort geben: Unterstützung und individuelle Zuwendung. Glaubst du nicht, dass du das vermissen wirst? In London wirst du in einer dieser riesigen Kliniken arbeiten, mit Tausenden von Ärzten, wo du keinen Patienten zweimal siehst. Du kennst sie nicht, und sie kennen dich nicht. Es wird völlig unpersönlich sein. So als ob du medizinische Fälle am Fließband behandelst.“

Sie kannte natürlich auch alle Vorteile. Ihr war klar, dass eine große Gruppe von kooperierenden Allgemeinmedizinern ihren Patienten eine größere Bandbreite an Leistungen bieten konnten – Psychologen und Chiropraktiker eingeschlossen. Dennoch war sie überzeugt, dass ein guter Familiendoktor, der seine Patienten in- und auswendig kannte, ihnen eine noch viel bessere medizinische Versorgung gewährleisten konnte.

„Du wirst Gio mögen“, sagte David und schlenderte zur Tür. „Alle Frauen tun das.“

„Solange er seine Arbeit macht“, antwortete Alice scharf, „werde ich ihn mögen.“

„Er gilt als absoluter Frauenschwarm.“ Nachdenklich blickte er sie an. „Frauen bekommen weiche Knie, wenn er einen Raum betritt.“

Wunderbar. Das Letzte, was sie gebrauchen konnte, war ein Romeo, der sich von jedem Rock ablenken ließ.

„Manche Frauen sind so dämlich.“ Alice stand auf und griff nach ihrer Jacke. „Wenn er seinen Job gut erledigt, ist es mir völlig egal, was er in seiner Freizeit anstellt.“

„Es gibt mehr als nur Arbeit im Leben.“

„Dann zieh los und genieße deins“, empfahl sie ihm lächelnd. „Und lass mich meins genießen.“

1. KAPITEL

Giovanni Moretti stand am Ende der schmalen gepflasterten Straße, streckte seine breiten Schultern, um die Verspannungen der langen Fahrt abzuschütteln, und sog die frische Meeresluft tief in seine Lungen. Über ihm kreischten Möwen, die ein Stück vom Morgenfang ergattern wollten.

Geräusche des Meeres.

Die Hände in die Taschen seiner ausgewaschenen Jeans geschoben, stand er eine Weile regungslos und musterte mit leicht zusammengekniffenen dunklen Augen die hübsch gestrichenen Cottages, die sich bis hinunter zum geschäftigen Hafen reihten. Blumenkästen und Tontöpfe waren üppig mit bunten Geranien und Lobelien bepflanzt, und ein Lächeln huschte über sein attraktives Gesicht. Vor diesem Tag hatte er immer geglaubt, ein solcher Ort existierte nur in der Fantasie eines Künstlers. Einen Ort, der sich stärker von den staubigen, verstopften Straßen Mailands unterschied, hätte er nicht finden können. Er spürte, wie sich eine wohltuende Ruhe in ihm ausbreitete.

Es ist eine gute Entscheidung gewesen, diesen Job anzunehmen, dachte er, als er all die Gegenargumente, die er zu hören bekommen hatte, Revue passieren ließ. Jetzt war genau der richtige Zeitpunkt, um Italien den Rücken zu kehren und ein weniger hektisches Leben zu führen.

Es war noch früh am Morgen, aber schon warm. Der verlockende Duft von frischem Gebäck lag in der Luft, und auf der Straße herrschte bereits lebhaftes Treiben.

Menschen in Flip-Flops, Touristen vermutlich, schlenderten hinunter zum Hafen, während andere sich in der Schlange vor der Bäckerei drängelten und mit Tüten voller ofenfrischer, duftender Croissants und Brötchen herauskamen.

Als sein Magen knurrte, fiel Giovanni ein, dass er seit der Abreise aus Mailand am Abend zuvor nichts mehr gegessen hatte. Fast Food schmeckte ihm nicht. Er zog das Echte vor, und die Bäckerei sah aus, als hätte er es gefunden.

Er hätte sich gerne geduscht und rasiert, doch das musste warten, bis er die Schlüssel für seine Unterkunft in Empfang nehmen konnte. Er bezweifelte, dass seine Kollegin um diese Zeit bereits in der Praxis war. Er warf einen Blick auf seine Uhr und sagte sich, dass ihm noch genug Zeit blieb, etwas zu essen und sie danach in der Praxis zu treffen, bevor die Sprechstunde begann.

Er schlenderte in die Bäckerei und schenkte dem hübschen Mädchen hinter der Ladentheke ein Lächeln. „Buongiorno … Guten Morgen.“

Sie hob den Kopf und registrierte sein Lächeln. Ihre blauen Augen weiteten sich, als sie seine Erscheinung wahrnahm. „Hallo, was kann ich für Sie tun?“

Der Blick aus ihren Augen ließ keinen Zweifel daran, dass sie alles für ihn tun würde, doch Gio ignorierte die stumme Einladung und musterte aufmerksam die Gebäckauswahl. Er war es gewohnt, Frauen auf höfliche Distanz zu halten. Er war schon immer wählerisch gewesen, was das andere Geschlecht betraf. „Ich nehme ein Mandelcroissant und einen doppelten Espresso. Grazie.“

Er setzte sich an den Tisch, der den besten Blick auf den Hafen bot. Der Kaffee stellte sich als außergewöhnlich gut heraus, das Croissant war unwiderstehlich süß, und als er sein Frühstück bis auf den letzten Krümel vertilgt hatte, war er zu dem Schluss gekommen, dass es ihm nicht schwerfallen würde, den Sommer in diesem kleinen malerischen Dorf zu verbringen.

„Machen Sie Urlaub?“ Das Mädchen an der Kasse packte Croissants schneller in Tüten, als der Bäckermeister Nachschub aus dem Ofen ziehen konnte, und dennoch schien die Schlange nicht kürzer zu werden.

Gio zog Kleingeld aus seiner Hosentasche hervor und zahlte. „Nein. Ich arbeite hier.“

„Arbeiten?“ Sie reichte ihm das Wechselgeld. „Als was?“

„Ich bin Arzt. Allgemeinmediziner.“ Es war bis heute ein seltsames Gefühl, sich so zu bezeichnen. Viele Jahre lang war er Chirurg gewesen, und er fühlte sich noch immer so. Doch das Schicksal hatte anders entschieden.

„Sind Sie unser neuer Doktor?“

Er nickte, obwohl er sich darüber bewusst war, dass er nach der nächtlichen Autofahrt nicht gerade standesgemäß aussah. „Würden Sie mir bitte verraten, wie Dr. Anderson ihren Kaffee trinkt?“

Alles, was er von seiner neuen Kollegin wusste, hatte ihm David während ihrer kurzen Telefonate erzählt. Er wusste, dass sie mit ihrer Arbeit verheiratet und dazu ein sehr akademischer und überaus ernster Mensch war. Er hatte sich schon ein Bild von ihr gemacht. Tweedrock, flache Absätze, Hornbrille … er kannte den Typ. Ihm waren genug von der Sorte an der medizinischen Fakultät begegnet.

„Dr. Anderson? Das ist einfach zu merken.“ Das Mädchen lächelte ihn an, während sie ihn wie hypnotisiert anstarrte. „Genau wie Sie. Stark und schwarz.“

„Ah.“ Seine neue Kollegin war offensichtlich eine Frau mit Geschmack. „Und was isst sie gern?“

Das Mädchen starrte ihn noch immer an, gab sich dann sichtlich einen Ruck. „Essen? Ehrlich gesagt, habe ich sie noch nie irgendwas essen sehen.“ Sie zuckte mit den Achseln. „Wir Einheimischen und dazu noch die Touristen halten sie vermutlich dermaßen auf Trab, dass ihr keine Zeit zum Essen bleibt. Vielleicht liegt ihr auch einfach nicht viel daran.“

Gio zuckte zusammen und hoffte, dass Ersteres zutraf. Er konnte sich nicht vorstellen, eine gute Arbeitsbeziehung zu jemandem aufzubauen, der nicht gerne aß. „Dann gehe ich lieber auf Nummer sicher und nehme ihr einen großen Americano mit.“ Ihm würden sich noch genügend Gelegenheiten bieten, sie von den Vorzügen des Essens zu überzeugen. „Würden Sie mir bitte noch verraten, wie ich zur Praxis komme? Dr. Anderson ist vermutlich noch gar nicht dort.“

Es war nicht einmal acht Uhr.

„Folgen Sie der Straße geradeaus hinunter zum Hafen, dann liegt sie direkt vor Ihnen. Eine blaue Tür. Und sie wird da sein.“ Das Mädchen drückte einen Deckel auf den Kaffeebecher. „Sie war die halbe Nacht bei der Sechsjährigen der Bennetts. Asthmaanfall.“

Gio runzelte die Stirn. „Sie wissen das?“

Das Mädchen nickte und blies sich eine Haarsträhne aus den Augen. „In einem Ort wie diesem kriegt jeder alles mit.“ Sie reichte ihm den Kaffee und das Wechselgeld. „Alles spricht sich herum.“

„Dann schläft sie heute Morgen vielleicht länger.“

Das Mädchen blickte auf die Uhr. „Das bezweifle ich. Dr. Anderson schläft nicht viel, und die Sprechstunde beginnt sowieso gleich.“

Gio nahm diese Information mit Interesse auf. Wenn sie dermaßen hart arbeitete, überraschte es ihn nicht, dass sie ihren Kaffee stark und schwarz trank.

Er verabschiedete sich mit einem Lächeln, verließ die Bäckerei und folgte der Wegbeschreibung, die sie ihm gegeben hatte. Er genoss den kurzen Fußweg die steile gepflasterte Straße hinunter und studierte im Vorbeigehen die Schaufenster der Läden.

Der Hafen war größer, als er erwartet hatte. Dicht gedrängt schaukelten die Boote auf den sanften Wogen. Die hohen Maste surrten in der leichten Brise, und auf der anderen Seite des Hafens entdeckte er eine Reihe von Geschäften und eine blaue Tür mit einem Messingschild – die Praxis.

Wenige Minuten später stieß er die Tür zur Praxis auf und blinzelte überrascht. Was von außen eher auf ein kleines, beengtes Gebäude hatte schließen lassen, entpuppte sich als luftig und groß.

Durch die Deckenfenster fiel Licht in das hübsche Wartezimmer, in dessen einer Ecke sich Spielsachen in knallbunten Farben türmten. An den Wänden hingen Plakate, die die Patienten aufforderten, das Rauchen aufzugeben und ihren Blutdruck messen zu lassen.

Als Gio gerade ein Poster genauer betrachtete, entdeckte er die Sprechstundenhilfe.

Halb verdeckt stand sie über einen geschwungenen Schreibtisch gebeugt und blätterte in einem Stapel von Unterlagen. Ihr honigblondes Haar fiel bis auf ihre Schultern herab, und ihre ungebräunte Haut schimmerte cremezart. Sie war sehr schlank, trug kein Make-up, und die Schatten unter ihren Augen ließen vermuten, dass sie härter arbeitete, als ihr guttat. Sie sah zerbrechlich, müde und sehr jung aus.

Gios Augen blitzten auf, als er sie auf instinktiv männliche Art taxierte.

Sie ist schön, dachte er, und so englisch wie Scones and Cream. Sein Blick verweilte auf ihren Wangenknochen und glitt dann hinunter zu ihrem perfekt geformten, weich geschwungenen Mund. Er ließ unwillkürlich an Sommerfrüchte denken – Erdbeeren, Himbeeren, rote Johannisbeeren …

Etwas in ihm erwachte zum Leben.

Die junge Frau war so in ihre Lektüre vertieft, dass sie ihn nicht einmal bemerkte. Er wollte gerade vortreten, um sich vorzustellen, als die Praxistür aufflog und eine Gruppe Jugendlicher fluchend und lachend hereinpolterte.

Sie bemerkten ihn nicht. Genau gesagt, schienen sie unfähig, auch nur irgendetwas zu bemerken, so betrunken waren sie.

Gio ahnte, dass es Ärger geben würde, und blieb regungslos stehen. Seine dunklen Augen blickten nun wachsam, und er stellte den Kaffee auf dem nächsten Tisch ab, um die Hände frei zu haben.

Autor

Sarah Morgan
<p>Sarah Morgan ist eine gefeierte Bestsellerautorin mit mehr als 21 Millionen verkauften Büchern weltweit. Ihre humorvollen, warmherzigen Liebes- und Frauenromane haben Fans auf der ganzen Welt. Sie lebt mit ihrer Familie in der Nähe von London, wo der Regen sie regelmäßig davon abhält, ihren Schreibplatz zu verlassen.</p>
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Sarah Morgan
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