Ein Leben lang ist viel zu kurz

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Wiedersehen mit dem Ex: Abigails Herz schlägt wie verrückt, als sie Brad gegenübersteht. Für die Hochzeit seiner Schwester ist er in das kleine Städtchen am Meer zurückgekehrt, das sie niemals verlassen hat. Sofort prickelt es zwischen ihnen so heiß wie damals. Aber auch den entsetzliche Schmerz in Brads warmen Augen erkennt Abigail wieder: Er gibt sich noch immer die Schuld an der Tragödie, die ihre Ehe einst zerstörte. Sie ist entschlossen: Sie wird Brad beweisen, dass ihre Liebe stärker als sein Schmerz ist!


  • Erscheinungstag 07.05.2019
  • Bandnummer 102019
  • ISBN / Artikelnummer 9783733712181
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

1. KAPITEL

„Und du bist wirklich sicher, dass es für dich in Ordnung ist?“, fragte Ruby besorgt.

„Völlig sicher“, schwindelte Abigail. „Ich freue mich sehr, dass Brad zugestimmt hat.“

Das war keine Lüge. Sie freute sich wirklich, dass ihr Ex-Mann nicht nur versprochen hatte, bei der Hochzeit seiner Zwillingsschwester zu erscheinen, sondern sogar bereit war, die Rolle des Brautführers zu übernehmen.

Seit der Beerdigung seines Vaters hatte er sich nicht mehr in Great Crowmell blicken lassen, und Ruby hatte schon Panik gehabt, dass er unter irgendeinem Vorwand der Hochzeit fernbleiben würde, weil er es immer noch nicht ertrug, nach Hause zu kommen.

Aber Bradley Powell hatte die Einladung seiner Schwester angenommen, und sie, Abigail, würde ihren einstigen Ehemann zum ersten Mal seit der Scheidung wiedersehen. Kein sehr angenehmer Gedanke, doch die fünf Jahre, die inzwischen vergangen waren, hatten sie klüger gemacht. Gelassener. Sie würde die Situation meistern, und zwar mit einem Lächeln, denn nichts sollte einen Schatten auf den großen Tag ihrer besten Freundin werfen.

„Du weißt, dass du mitbringen kannst, wen immer du willst“, versicherte Ruby ihr erneut.

Abigail schüttelte den Kopf. „Ich komme lieber allein. Als Brautjungfer muss ich mich um tausend Dinge kümmern, und ich will, dass deine Hochzeit perfekt wird.“ Es gab ohnehin niemanden, der sie hätte begleiten können. Seit der Trennung hatte sie so gut wie kein Date mehr gehabt, aber das war jetzt unwichtig. Es sei denn …

„Bringt Brad jemanden mit?“ Trotz ihres plötzlichen Herzklopfens gelang es Abigail, die Frage ganz beiläufig klingen zu lassen.

„Natürlich nicht! Er ist ja schließlich mit seinem Job …“ Ruby unterbrach sich mitten im Satz. „Sorry, Abby. Ich wollte nicht …“

„Schon gut.“ Abigail beschwichtigte ihre Freundin mit einer raschen Umarmung. „Dass er mit seinem Job verheiratet ist, war einmal ein großes Problem für mich, aber seit damals ist viel Zeit vergangen. Ich sehe keinen Grund, warum wir nicht zivilisiert miteinander umgehen sollten.“

Jedenfalls hoffte sie, dass es ihnen gelingen würde. Am Ende ihrer Ehe hatte Abigail alle klassischen Stadien des Trauerprozesses durchlebt: Leugnen, dass ihre Beziehung gescheitert war. Wut über Brads Uneinsichtigkeit. Verhandeln, um ihn zur Vernunft zu bringen. Depression, als sie erkannte, dass sie ihm nicht genug bedeutete. Und endlich die Akzeptanz, dass es vorbei war. All das verwoben mit Schuldgefühlen, weil die Trennung von ihr ausgegangen war.

Als sie die gemeinsame Wohnung verließ und zu ihren Eltern zurückzog, hatte Abigail fest damit gerechnet, dass der Schreck Brad die Augen öffnen würde. Dass er sie vermissen und endlich erkennen würde, dass sie ein Teil seines Lebens war.

Stattdessen hatte er ihren Auszug als Bestätigung genommen, dass alle recht gehabt hatten und sie zu jung für eine Ehe waren und es das Beste wäre, sie freizugeben, damit sie sich ein neues Leben aufbauen konnte.

Eine Scheidung war das Letzte gewesen, was sie gewollt hatte. Doch nach dem Tod seines Vaters hatte Brad eine Mauer aus Eis um sich errichtet. Er hatte Abigail ausgeschlossen und sich so tief in seine Arbeit vergraben, dass sie ihn einfach nicht mehr erreichen konnte. Sie hatte gekämpft, solange sie konnte, hatte alles versucht, um ihn in seiner Trauer zu unterstützen und ihre Beziehung zu retten. Irgendwann hatte sie sich jedoch eingestehen müssen, dass die beinah vier Jahre ihrer Ehe nicht genügt hatten, um die Krise zu überstehen.

„Ist es für Brad in Ordnung, dass ich deine Brautjungfer bin?“, fragte sie. „Falls nicht, sollte ich vielleicht von dem Job zurücktreten und mich etwas im Hintergrund halten.“

Ruby verdrehte die Augen. „Wer sollte wohl meine Brautjungfer sein, wenn nicht die Person, mit der ich schon seit der Krabbelgruppe befreundet bin?“

Und die zufällig auch die Ex-Frau ihres Zwillingsbruders war.

„Hast du es ihm schon gesagt?“

„Ja. Er hat denselben Kommentar dazu abgegeben wie du. Dass er nicht wüsste, warum ihr nicht zivilisiert miteinander umgehen solltet.“

Zivilisiert.

All die Leidenschaft, Liebe und Hoffnung reduziert auf kühle, distanzierte Höflichkeit.

Abigail hätte weinen mögen, doch sie riss sich zusammen. Rubys Hochzeit sollte ein rundum glückliches Ereignis werden, und sie würde tun, was immer sie konnte, um dazu beizutragen.

„Schön“, sagte sie. „dann ist ja alles geregelt.“

„Genau.“ Ruby erwiderte ihr Lächeln, dann wurde sie plötzlich ernst. „Bereust du es, Abby?“

„Was denn? Dass ich deinen Bruder geheiratet habe oder ich ihm nach nicht ganz vier Jahren davongelaufen bin?“

„Du weißt, was ich meine.“

Abigail seufzte. „Ich bereue es nicht, Brad geheiratet zu haben. Ich habe ihn geliebt. Wir haben einfach nur den Fehler gemacht, überstürzt zu heiraten, anstatt bis zu seinem Examen damit zu warten.“

„Dann bereust du es, mit ihm durchgebrannt zu sein?“

„Nur zum Teil. Es war sehr aufregend und romantisch.“

Nur sie beide. Eine schmucklose Trauung und eine unvergesslich schöne Hochzeitsnacht in einem billigen Hotelzimmer, das ihnen wie ein Märchenpalast vorgekommen war. Zwei unbedarfte Achtzehnjährige und eine Welt voller wunderbarer Möglichkeiten …

„Aber im Rückblick“, fügte sie leise hinzu, „bedauere ich es, den Tag nicht mit euch geteilt zu haben. Mein Vater konnte mich nicht zum Altar führen. Unsere Mütter hatten keine Gelegenheit, sich groß herauszuputzen und jede Menge Wirbel zu veranstalten. Du warst nicht meine Brautjungfer, und dein Vater war nicht Brads Trauzeuge. Inzwischen glaube ich, dass es ziemlich egoistisch von uns war, doch jetzt haben wir lange genug über die Vergangenheit philosophiert.“

Abigail verdrängte den Anflug von Melancholie und wandte sich wieder ihrem geöffneten Laptop zu. „Okay. Wo waren wir mit unserer To-do-Liste stehen geblieben?“

Sechs Wochen später.

Great Crowmell.

Schon der Anblick des Hinweisschilds bewirkte, dass sich Brads Magen zusammenzog. Seit der Beerdigung seines Vaters hatte er die Stadt, in der er aufgewachsen war, nicht wieder betreten. Nicht zu Geburtstagen, nicht zu Weihnachten, nicht einmal für eine Stippvisite. Und mit der Zeit war der Gedanke an eine Rückkehr immer bedrohlicher geworden. Natürlich sah er seine Mutter und seine Schwester noch, aber nicht hier. Er traf sie in London, wo er sie zu eleganten Teenachmittagen oder exklusiven Theaterbesuchen einlud, um sie dafür zu entschädigen, dass er nie zu ihnen nach Norfolk kam.

Der Drang, den Wagen zu wenden und schnurstracks nach London zurückzufahren, war überwältigend. Dort könnte er sich in seine Arbeit stürzen und darüber alles andere vergessen. Doch seine Schwester heiratete, und er durfte sie nicht enttäuschen.

In seinem Elternhaus würde Brad allerdings nicht wohnen. Es barg zu viele Erinnerungen an seinen Vater, als dass er es ertragen könnte. Stattdessen hatte er für die Zeit seines Aufenthalts ein Cottage in der Nähe des Hafens gemietet. Ruby verstand das, und er hoffte, seine Mutter tat es ebenfalls. Schließlich ging er ja nicht Rosie aus dem Weg, sondern dem Haus.

Und dann war da noch Abigail …

Sie würde Rubys Brautjungfer sein, und er hatte keine Ahnung, wie er ihr begegnen sollte. Vor lauter Eifer, seiner Schwester zu versichern, dass er kein Problem mit dem Wiedersehen habe, hatte er ganz vergessen zu fragen, ob sie allein oder zu zweit kommen würde. Bei der Vorstellung, sie mit ihrem neuen Lover lachen und flirten zu sehen, wurde ihm regelrecht übel.

Brad zwang sich, tief durchzuatmen. Vielleicht hätte er eine Arbeitskollegin bitten sollen, ihn zu begleiten. Er könnte es noch tun, die Hochzeit war erst am Samstag. Doch wie sollte er sein Anliegen formulieren, ohne die falschen Signale auszusenden? Er wollte auf keinen Fall den Eindruck erwecken, er wäre an einer Beziehung interessiert. Andererseits konnte er aber auch nicht den wahren Grund für seine Bitte nennen, ohne sich zum Objekt des Mitleids zu machen.

Nein, es blieb ihm nichts anderes übrig, als sich auf das Schlimmste einzustellen und den Tag so würdevoll wie möglich durchzustehen. Er würde ganz der Bradley Powell sein, als den man ihn im Labor kannte. Als einen Mann, der sich stets im Griff hatte und sich jeder Herausforderung stellte, ohne dabei Emotionen ins Spiel kommen zu lassen. In seinem Beruf war kein Platz für Schuldgefühle, Nervosität oder Spekulationen darüber, wie andere auf sein Verhalten reagieren mochten. Warum sollte es nicht möglich sein, das auch auf sein Privatleben zu übertragen?

Du kannst es! sagte Brad sich. Der bittere Geschmack auf seiner Zunge, das Kältegefühl und das nervöse Zittern in seinen Händen waren nur psychosomatische Randerscheinungen, die er am besten ignorierte. Und die stechenden Kopfschmerzen, die ihn schon seit dem Morgen plagten, würde er mit Tabletten in den Griff bekommen.

Da die Vermietungsagentur ihn auf die schlechte Parkplatzsituation im Hafenviertel hingewiesen hatte, stellte er den Wagen im Stadtzentrum ab. Er löste dort ein Ticket bis zum nächsten Morgen, platzierte es hinter der Windschutzscheibe und ging zu Fuß zu der angegebenen Adresse.

Brad gab den Code für die Sicherheitsbox ein, in der sich die Schlüssel befanden, öffnete die Haustür und stellte sein Gepäck neben der Treppe ab. In der Küche stand ein Tablett mit den üblichen Utensilien für die Zubereitung von Tee und Instantkaffee bereit. Daneben lag eine Papiertüte, an die ein Notizzettel geheftet war:

Willkommen im Hafencottage Nr. 2. In der Tüte ist etwas für die Zeit bis zum Dinner. Wenn es ein Problem gibt, klopfen Sie bei Nr. 1.

Offenbar fungierte der Bewohner von Nr. 1 als eine Art Hausmeister. Ein beruhigender Gedanke, da der Makler in London war.

Die Tüte enthielt einen Blaubeermuffin, und Brad, der seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte, biss hungrig hinein. Er schmeckte köstlich und versetzte ihn für einen Moment in die erste Zeit seiner Ehe zurück. Abigail hatte sonntags immer Blaubeermuffins zum Frühstück gebacken, die sie sich gemeinsam im Bett schmecken ließen, wo sie dann meistens bis zur Mittagszeit blieben.

Energisch verdrängte er die Erinnerung. Er brauchte jetzt einen Kaffee. Der würde dafür sorgen, dass er wieder einen klaren Kopf bekam, und außerdem die Wirkung der Schmerztablette beschleunigen.

Er stellte den Wasserkessel in die Spüle und drehte den Hahn auf, doch nichts geschah. Hm … ein Wasserproblem war in der Notiz nicht erwähnt worden. Er ging nach oben und versuchte es im Bad, doch auch dort tat sich nichts. Anscheinend war der Haupthahn geschlossen, nur wo war der? Brad suchte das ganze Haus ab und fand nichts.

Großartig.

Wie es aussah, würde er nun tatsächlich seinen Nachbarn um Hilfe bitten müssen.

Er lief nach nebenan und klopfte an die weiß gestrichene Tür. Rasche Schritte näherten sich, die Tür schwang auf …

… und Brad stand zum ersten Mal seit fünf Jahren Abigail Scott gegenüber.

2. KAPITEL

„Was machst du denn hier?“

Abigail sah ebenso geschockt aus, wie Brad sich fühlte.

„Ich war auf der Suche nach dem Mieter von Nr. 1“, brachte er verblüfft hervor.

„Das bin ich.“ Sie sah ihn stirnrunzelnd an. „Dann hast du für diese Woche Nr. 2 gemietet?“

„Hat die Agentur dir nicht meinen Namen genannt?“

„Nein. Die Leute haben mich nur informiert, dass eine Einzelperson anreisen würde.“

Klar. Andernfalls hätte sie ihm wohl kaum einen Muffin dagelassen. „Ich hatte keine Ahnung, dass du hier wohnst.“

Sie zog leicht eine Braue hoch, als wollte sie ihn darauf hinweisen, dass ihr Wohnort ihn nun wirklich nichts anging. Und recht hatte sie. Schließlich waren sie nicht mehr verheiratet.

„Ich vermute, dass es drüben ein Problem gibt?“

Brad erklärte ihr die Lage, woraufhin sie sich schuldbewusst auf die Lippe biss. „Ach verflixt, das hatte ich völlig vergessen. In Nr. 3 wurde neulich ein Wasserrohr undicht, und der Klempner hat sich bei mir den Ersatzschlüssel für dein Cottage ausgeliehen, um für die Dauer der Reparatur auch dort den Haupthahn zu schließen. Offenbar hat er vergessen, ihn wieder aufzudrehen, nachdem er fertig war. Sorry, ich hätte das checken sollen.“

Brad winkte ab. „Alles gut. Ich wüsste nur gern, wo dieser verdammte Haupthahn sich befindet.“

„Komm mit, ich zeig es dir.“

Abigail hatte sich in den letzten fünf Jahren kaum verändert. Mit ihrem herzförmigen Gesicht, den vollen, sinnlichen Lippen und den dicht bewimperten Augen, deren Farbe je nach Stimmung zwischen Grau und Meergrün changierte, war sie immer noch die schönste Frau, der Brad je begegnet war. Nur ihr dunkles Haar hatte einen ganz neuen Look. Früher hatte es ihr fast bis zur Taille gereicht, jetzt war es zu einer knabenhaften Kurzhaarfrisur geschnitten, die ihre ausdrucksvollen Augen noch größer wirken ließ.

„Audrey Hepburn“, sagte er.

Sie sah ihn fragend an.

„Dein Haar. Es sieht aus wie das der Schauspielerin in Frühstück bei Tiffany.“

Abigail schüttelte den Kopf. „Sie hatte in dem Film langes Haar. Du meinst wahrscheinlich Sabrina.“

So musste es wohl sein. Abigail und Ruby hatten Audrey Hepburn als Teenager vergöttert und kannten alle ihre Filme.

Er hob die Hände. „Es tut mir leid.“

„Vergiss es. Das ist ja nun wirklich nicht wichtig.“

Sie gingen zu Nr. 2 hinüber und regelten das Problem mit dem Haupthahn, der sich, wie sich herausstellte, an einer schwer zugänglichen Stelle im hinteren Teil des Hauses befand.

„Ich warte, bis du alle Wasserhähne und die Toilettenspülung überprüft hast“, sagte Abigail. „Außerdem werde ich die Leute von der Agentur bitten, die Position des Hahns in die Einweisungsliste für die Gäste mit aufzunehmen.“

„Gute Idee.“ Brad hatte ihre praktische Art schon immer gemocht. Sie hatte ihm nach einem langen Tag im Labor das Gefühl gegeben, wieder im wirklichen Leben angekommen zu sein, und er vermisste es.

Doch schließlich war er es gewesen, der auf einer Scheidung bestanden hatte. Damit hatte er Abby sehr wehgetan, das wusste er genau. Und die Tatsache, dass er diese Entscheidung nur in ihrem Interesse getroffen hatte, änderte nichts an dem Schmerz, den er ihr zugefügt hatte.

Es war, wie es war. Die Vergangenheit ließ sich nicht mehr ändern. Doch im Hinblick auf Rubys bevorstehende Hochzeit sollte er wenigstens versuchen, ein halbwegs entspanntes Verhältnis zwischen ihnen herzustellen.

„Es ist alles wieder in Ordnung“, verkündete er, nachdem er seinen Rundgang beendet hatte. „Und tausend Dank für die Hilfe. Ohne dich wäre ich aufgeschmissen gewesen.“

Es war Abigails Stichwort, sich mit einem lässigen „kein Problem“ zu verabschieden und sich in den nächsten Tagen wenig sehen zu lassen.

Doch Brad schien es nicht gut zu gehen. Seine innere Anspannung war deutlich spürbar, und die dunklen Schatten unter seinen Augen verrieten ihr, dass er in letzter Zeit nur wenig geschlafen hatte.

Der Grund dafür lag auf der Hand. Zum ersten Mal seit dem Begräbnis seines Vaters war er wieder hier in Great Crowmell, dem Ort seines Versagens. Denn auch wenn er in keiner Weise für Jim Powells Tod verantwortlich war, gab er sich nach wie vor die Schuld daran.

Natürlich ging Brads Gefühlswelt sie nichts mehr an. Sie waren geschieden und lebten jetzt beide ihr eigenes Leben. Doch er war ihre erste und bisher einzige große Liebe gewesen, und sie sah, dass er litt. Darüber konnte sie nicht einfach hinweggehen.

„Ist alles in Ordnung mit dir?“, erkundigte sie sich vorsichtig.

„Ja.“

Er log, zog eine Mauer zwischen ihnen hoch, wie er es schon vor fünf Jahren getan hatte. Nur besaß Abigail jetzt mehr Selbstvertrauen als damals. Sie wusste, wer sie war, und hatte keine Angst mehr, sich auf eine Konfrontation mit ihm einzulassen.

„Das stimmt nicht, Brad“, widersprach sie ihm energisch. „Ich kann es dir an der Nasenspitze ansehen, also versuch gar nicht erst, mir den starken Mann vorzuspielen, der alles im Griff hat.“

Er hob unvermittelt das Kinn, als wollte er zu einer scharfen Erwiderung ansetzen. Doch schon im nächsten Moment verließ ihn plötzlich die Kampflust, und er schien förmlich in sich zusammenzusinken. „Nein“, gab er zu, „ich bin absolut nicht in Ordnung.“

„Wegen der Woche, die dir bevorsteht?“ Abigail sah ihn forschend an. „Deshalb wohnst du nicht zu Hause, stimmt’s? Damit du nicht ständig deinen inneren Dämonen begegnest.“

Er fuhr sich seufzend mit der Hand durchs Haar. „Du konntest mich schon immer durchschauen, Abby. Nur damals nicht, als …“

„Damals habe ich dir viel zu viel durchgehen lassen.“ Jetzt konnte sie besser mit schwierigen Situationen umgehen. Aber was war mit Brad? „Hör zu“, sagte sie, „du hast drei Stunden im Auto gesessen und vermutlich keine Pause eingelegt, weil du während der ganzen Fahrt in Gedanken bei einer deiner Versuchsreihen warst. Dein Kühlschrank ist leer, also komm mit rüber zu mir. Ich mache dir etwas zu essen.“

Er schüttelte den Kopf. „Das kann ich dir nicht zumuten.“

Abigail verschränkte die Arme vor der Brust und neigte den Kopf zur Seite. „Das war kein Vorschlag, sondern eine Anweisung.“

„Du bist ja ganz schön herrisch geworden.“ Ein kurzes Aufblitzen in seinen dunklen Augen und dann dieses Lächeln, mit dem er es immer noch schaffte, ihre Knie weich werden zu lassen.

Ich tue das nur für Ruby, sagte sie sich, damit er sich nicht von der Vergangenheit überwältigen lässt und am Ende noch vor der Hochzeit die Flucht ergreift.

„Kann ich dir irgendwie helfen?“

Abigail schüttelte den Kopf und deutete auf den kleinen Bistrotisch in einer Ecke der Küche. „Nimm einfach Platz, und mach es dir bequem.“

„Danke.“ Brad setzte sich und schwieg einen Moment. „Also … wie lange wohnst du schon hier?“

„Seit zwei Jahren. Hat Ruby dir es nicht erzählt?“

„Sie spricht kaum von dir.“ Er warf ihr einen forschenden Blick zu. „Spricht sie mit dir über mich?“

„Nein. Aber deine Mutter hat mir erzählt, dass du inzwischen deinen Doktor gemacht hast. Sie hat mir die Fotos von der Urkundenverleihung gezeigt.“

„Ach ja?“ Er hatte keine Lust, mit Abigail darüber zu reden. Oder darüber, wie schmerzlich er seinen Vater an diesem Tag vermisst hatte.

Es hätte ihm die Welt bedeutet, ihm endlich beweisen zu können, dass er etwas aus sich gemacht hatte, indem er das tat, was er liebte. Doch Jim Powell hatte diesen Tag nicht mehr erlebt, und Brad war fest entschlossen gewesen, der Feier fernzubleiben – bis Ruby ihm mitteilte, dass sie und ihre Mutter sich schon seit Wochen auf dieses Ereignis freuen würden.

„Das Haus ist sehr hübsch“, wechselte er rasch das Thema.

Es war genauso geschnitten wie das Cottage, das er gemietet hatte. Unten war das Wohnzimmer, an das sich die offene Küche anschloss, dazwischen befand sich eine Treppe, die zur oberen Etage führte. Doch während bei ihm alles in neutralem Grau und Weiß gehalten war, setzte Abigail auf starke Farben und Akzente: primelgelbe Wände im Wohnzimmer, zu denen die dunkelroten Vorhänge und das Sofa im selben Farbton einen tollen Kontrast bildeten. Über dem Kaminsims hing ein großer, goldgerahmter Spiegel. Eine Wand wurde ganz von Bücherregalen eingenommen, während die gegenüberliegende von einem großformatigen Ölgemälde dominiert wurde. Es zeigte einen Pfau, der eindeutig die Handschrift seiner Schwester trug. Die Küche war in einem hellen Aquamarinblau gestrichen, die Schränke waren cremefarben und die Arbeitsflächen grau.

Alles war durchgestylt und zugleich sehr gemütlich.

Das perfekte Zuhause für zwei Menschen.

Die Frage, wer wohl sonst an diesem Tisch saß und Abby beim Kochen zuschaute, ließ Brad nicht zu. Es ging ihn nichts an, mit wem sie sich traf. Sie war nicht mehr seine Frau.

„Gibt es irgendetwas, das du nicht essen darfst?“, wollte sie wissen.

„Zum Beispiel?“

„Keine Ahnung. Du könntest inzwischen eine Allergie entwickelt haben oder Vegetarier geworden sein.“

„Nein, ich esse nach wie vor alles, aber du solltest meinetwegen wirklich keinen Aufwand betreiben. Wenn es den Imbiss unten am Hafen noch gibt, hole ich mir nachher eine Portion Fisch und Chips.“

„Es ist kein Aufwand“, stellte sie klar. „Ich habe auch Hunger und hätte sowieso etwas gekocht. Außerdem hast du Ruby gesagt, dass wir zivilisiert miteinander umgehen könnten. Wie wär’s, wenn wir diese Gelegenheit zu einem kleinen Probelauf nutzen?“

Brad nickte. „Ein guter Vorschlag.“

Er war bereit, sein Bestes zu geben. Und da sie es ebenfalls wollte, standen die Chancen, es auch zu schaffen, nicht schlecht.

„Möchtest du einen Kaffee?“

Er schenkte ihr ein dankbares Lächeln „Genau das brauche ich jetzt. Ach übrigens … war der Muffin, den du mir dagelassen hast, selbst gemacht?“

„Ja, ich hatte heute Morgen welche gebacken.“

„Das dachte ich mir. Er war hervorragend.“

Sie wurde tatsächlich ein bisschen rot. Dachte sie auch gerade an all die Muffins, die sie während seiner Studienzeit zusammen im Bett gegessen hatten? Nicht dass Brad vorhatte, sie danach zu fragen. Damit hätte er die Grenzen des zivilisierten Umgangs eindeutig überschritten.

Der Kaffee, den sie ihm kurz darauf hinstellte, war genau so, wie er ihn mochte: stark, ohne Zucker, mit einem winzigen Schuss Milch. Er wusste auch noch, wie Abby ihren trank und dass sie schwarzen Tee verabscheute. Seltsam, wie auf einmal all diese Erinnerungen zurückkamen. Als hätte es die dazwischenliegenden Jahre nie gegeben.

So ein Blödsinn! rief Brad sich zur Ordnung. Es hatte diese Jahre gegeben, und nichts konnte sie ungeschehen machen. Alles andere war naives Wunschdenken.

Er beobachtete, wie Abby mit raschen, geschickten Bewegungen Zwiebeln, Chili und Knoblauch hackte, Öl in einer Pfanne erhitzte und die Mischung andünstete. Als sie gewürfeltes Hühnerfleisch dazugab, breitete sich ein köstlicher Duft in der Küche aus, und er merkte, wie hungrig er war.

Abigail hatte schon immer gut kochen können. Statt nach dem Abitur eine akademische Laufbahn einzuschlagen, hatte sie sich dafür entschieden, in den Cafébetrieb ihrer Eltern einzusteigen, während er nach Cambridge ging, um Chemie zu studieren. Und nach seinem Examen wollten sie heiraten.

Das war jedenfalls der Plan gewesen, bis Brad nach einem heftigen Streit mit seinem Vater beschloss, zu rebellieren. Er hatte so lange auf Abby eingeredet, bis sie bereit war, mit ihm nach Gretna Green durchzubrennen und ihn dort sofort zu heiraten.

„Was für einen Sinn soll es haben, ewig damit zu warten, wo wir doch schon seit zwei Jahren wissen, dass wir uns lieben?“, hatte er argumentiert. „Lass uns unser gemeinsames Leben jetzt beginnen, anstatt jahrelang eine unbefriedigende Wochenendbeziehung zu führen.“

Blauäugig und verliebt, wie sie damals war, hatte Abby ihre Bedenken beiseitegeschoben und sich von seinem Enthusiasmus anstecken lassen. Sie hatte ihre eigenen Pläne auf Eis gelegt und war ihm nach Cambridge gefolgt, wo sie einen Job in einem Café annahm, das sie nach einem Jahr eigenverantwortlich leitete.

Von Ruby erfuhr Brad später nur sehr wenig über sie, aber er vermutete, dass sie nach ihrer Rückkehr nach Great Crowmell ihren ursprünglichen Plan umgesetzt hatte und jetzt im Familienbetrieb arbeitete.

„Wie läuft es mit dem Café?“, erkundigte er sich.

„Sehr gut. Und bei dir im Labor?“

„Auch gut. Ich entwickle mit meinem Team gerade ein neues Antibiotikum.“

„Das finde ich großartig. Antibiotika werden dringend gebraucht.“ Sie wendete das Hühnerfleisch, damit es auch von der anderen Seite braun wurde, und setzte einen Deckel auf die Pfanne. „Dann geht es dir also gut in London?“

„Ich kann nicht klagen.“ Es ging ihm schon seit fünf Jahren nicht mehr gut, aber seinen Job liebte er. Und sie erkundigte sich nach seinem Job, oder? „Und was ist mit dir? Bist du glücklich mit deiner Arbeit im Café?“ Ob sie es auch in ihrem Privatleben war, hatte ihn nicht zu interessieren.

„Ja, sehr sogar“, erwiderte sie. „Und genau wie du entwickle ich auch gerade etwas. Nur dass es bei mir nicht um lebensrettende Medikamente geht, sondern bloß um Eiscreme für Hunde.“

„Um was?“ Die Vorstellung war so absurd, dass Brad sich vor Lachen fast an seinem Kaffee verschluckte.

Abigail hob warnend den Zeigefinger. „Wag es nicht, dich darüber lustig zu machen. Denk doch nur mal an die vielen Leute, die mit ihren Hunden am Strand spazieren gehen oder mit ihnen vor meinem Café sitzen. Die Hälfte der Gäste kauft normales Eis, um ihren vierbeinigen Freunden eine kleine Erfrischung zu gönnen. Doch Zucker ist nicht gut für ihre Zähne, und der hohe Fettgehalt bekommt ihrer Gesundheit auch nicht. Also habe ich mir eine hundefreundlichere Rezeptur ausgedacht.“

Brad zog die Brauen hoch. „Wassereis mit Hühnergeschmack?“

Sie lachte. „Nicht ganz. Eher so etwas wie gefrorener Joghurt. Zurzeit gibt es ihn in den Geschmacksrichtungen Karotte-Zimt und Käse.“

Autor

Kate Hardy
Kate Hardy wuchs in einem viktorianischen Haus in Norfolk, England, auf und ist bis heute fest davon überzeugt, dass es darin gespukt hat. Vielleicht ist das der Grund, dass sie am liebsten Liebesromane schreibt, in denen es vor Leidenschaft, Dramatik und Gefahr knistert? Bereits vor ihrem ersten Schultag konnte Kate...
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