Ein Weihnachtsengel für den Highlander

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Braden Kendrick hatte sich Weihnachten in Edinburgh anders vorgestellt: Als der Arzt das Leid in den Slums der Stadt lindern will, wird er nachts hinterrücks überfallen. Doch zu seiner Überraschung eilt ihm eine wunderschöne Fremde zu Hilfe, mit der er zusammen die Angreifer in die Flucht schlägt. Wer ist dieser Engel, den der Himmel geschickt zu haben scheint? Braden kann an kaum etwas anderes mehr denken. Als er Lady Samantha Penwith kennenlernt, erkennt er, dass sie der rettende Engel war. Doch warum streift eine Dame wie sie in der Dunkelheit durch die Straßen der Stadt?


  • Erscheinungstag 15.11.2025
  • Bandnummer 421
  • ISBN / Artikelnummer 9783751532136
  • E-Book Format ePub
  • E-Book sofort lieferbar

Leseprobe

Vanessa Kelly

Ein Weihnachtsengel für den Highlander

Vanessa Kelly

Bereits auf der Universität konzentrierte Vanessa Kelly sich auf die englische Literatur des 18. Jahrhunderts. Ihren Job im öffentlichen Dienst gab sie auf, um hauptberuflich zu schreiben. Inzwischen sind ihre Romane, die meist zur Zeit des Regency spielen, regelmäßig auf den amerikanischen Bestsellerlisten zu finden und wurden bisher in neun Sprachen übersetzt. Vanessa Kelly lebt mit ihrem Mann, der ebenfalls Autor ist, im kanadischen Ottawa.

1. KAPITEL

Edinburgh

November 1826

Einige Atemzüge lang dachte Braden Kendrick darüber nach, wie idiotisch es gewesen war, unnötige Risiken einzugehen.

Er hätte auf Logan hören sollen.

Er warf sich seine Ledertasche über die linke Schulter und zog ein Messer aus seiner rechten Tasche. Es hatte eine scharfe kleine Klinge, aber war lächerlich unzureichend, um sich zwei gewaltbereiten Rohlingen entgegenzustellen, von denen einer mit einem Knüppel und der andere mit einer Machete bewaffnet war.

Erst gestern hatte sein älterer Bruder ihn ermahnt, angemessene Vorsichtsmaßnahmen zu ergreifen, wenn er sich nach Old Town begab. „Was du brauchst, ist eine Pistole. Die Gauner dort unten werden dich ohne zu zögern umnieten, denn es ist verdammt viel einfacher, einen Toten auszurauben als einen lebendigen Mann. Du musst dich vernünftig bewaffnen.“

Braden hatte darauf hingewiesen, dass er noch nie ausgeraubt worden war, während er auf dem Hin- oder Rückweg zu einem Notfall gewesen war. Logan hatte scharf erwidert, dass er verdammt wäre, wenn er der Familie erklären müsste, warum er zugelassen hatte, dass sein kleiner Bruder in einer abgelegenen Gasse ermordet worden war. Braden hatte nur die Augen verdreht und sich keine weiteren Gedanken über die Angelegenheit gemacht.

Nun, Reue würde ihn jetzt nicht retten, da er sich dringend etwas einfallen lassen musste, um einem schmachvollen Tod zu entgehen.

„Meine Herren“, sagte er in dem Ton, in dem er auch mit widerspenstigen Kleinkindern und verängstigten Patienten sprach. „Gewalt ist vollkommen unnötig. Ich bin mehr als bereit, mich von Ihnen ausrauben zu lassen. Ich hole nur eben meine Brieftasche heraus, und Sie können …“

„Halt die Klappe“, schnauzte der Mann mit der Machete. In der anderen Hand hielt er eine kleine Laterne. Als er sie hochhielt, warf sie ein schwaches, gespenstisches Licht auf sein Gesicht. „Wir haben heute Abend noch etwas anderes mit dir zu besprechen.“

Mit seinen Pausbacken und dem runden Kinn sah der Mann irgendwie engelsgleich aus – wäre da nicht seine Nase gewesen. Die ähnelte eher einer zermatschten Kartoffel als dem Riechorgan eines Menschen.

„Ich habe ein gutes Gedächtnis für Gesichter, besonders für solche wie Ihres“, sagte Braden. „Aber ich glaube nicht, dass wir uns schon einmal begegnet sind.“

„Nee, aber wir kennen dich, Kendrick“, knurrte der andere Mann grimmig. „Du verdammter, sich einmischender Bastard.“

Nun, die Stimme des Kerls kam ihm bekannt vor. Die heisere Stimme war das Ergebnis einer Kindheitsverletzung, so hatte es ihm zumindest die Frau des Mannes gesagt.

Um Bradens Überlebenschancen stand es von Sekunde zu Sekunde schlechter.

„Ach ja, Sie sind Dougal Parson, Naomis Ehemann. Oder sollte ich sagen, ihr Ex-Ehemann?“

„Dank dir“, erwiderte der Mann bitter. „Du hast ihr Flausen in den Kopf gesetzt, du dummer Arsch. Sie war mit ihrem Los zufrieden, bis du ihr eingeredet hast, sie soll mich aus meinem eigenen verdammten Haus werfen.“

„Eigentlich war es das Haus ihres Vaters. Und ich bereue es nicht, Naomi vorgeschlagen zu haben, sich von Ihnen scheiden zu lassen, da Sie sie geschlagen und die verdammte Treppe hinuntergestoßen haben. Sie hätten sie fast umgebracht.“

Tragischerweise hatte der skrupellose Mistkerl jedoch Naomis ungeborenes Kind getötet. Braden war zwar zu spät gekommen, um das unglückliche Baby zu retten, aber zumindest hatte er die Mutter vor Schlimmerem bewahren können.

Und obwohl er Naomi und ihren alten Vater nicht davon überzeugen konnte, zur Polizei zu gehen – beide waren zu verängstigt gewesen –, war es Braden gelungen, das Mädchen davon zu überzeugen, sich scheiden zu lassen, was durch die mildere Gesetzgebung Schottlands möglich war.

Er hatte es sich auch zur Aufgabe gemacht, Parson aufzuspüren, und ihn schließlich in einer Taverne in der Nähe von Tanner’s Close gefunden. Damals hatte Braden eine Pistole bei sich gehabt. Er hatte Parson gesagt, dass er, wenn er Naomi jemals wieder belästigen sollte, dafür sorgen werde, dass der Clan Kendrick seine eigene Art von Gerechtigkeit für das Mädchen walten lassen würde, eine Art, die weder Gerichte noch saubere Gefängniszellen beinhaltete. Die Drohung hatte gewirkt, und Parson war verschwunden.

Zumindest hatte Braden das gedacht.

Jetzt spuckte der reuelose Schläger einen Spuckebatzen auf Bradens Stiefel. Zum Glück verfehlte er sein Ziel, da Parsons Zahnhygiene zu wünschen übrig ließ.

„Der kleine Trampel ist einfach hingefallen. Sie ist oft auf die Fresse geflogen und hat sich verletzt. Aber das willst du ja nicht hören, oder, Doc?“

Braden umklammerte instinktiv den Griff seines Messers fester und kämpfte gegen den Impuls an, sich auf den Mann zu stürzen. „Ich neige nicht dazu, Ehemännern, die ihre Frauen schlagen, und Lügnern zu glauben.“

„Ich finde in Old Town keine Arbeit, weil alle zu viel Angst vor dir und deiner verdammten Familie haben. Keinen müden Cent hab’ ich mehr.“

„Wie traurig. Ehrlich gesagt wäre es mir lieber, wenn du am Galgen baumeln würdest, als dass du wie eine kranke Ratte durch Old Town schleichst.“

Kartoffelnase stieß Parson mit dem Ellbogen an. „Hey, lässt du dir das gefallen?“

„Natürlich nicht, du dämlicher Idiot. Ich werde ihn umbringen.“

„Dann mach schon. Ich schätze, er hat einen Haufen Moneten in der Tasche, ganz zu schweigen von einer goldenen Uhr.“

Braden lachte leise. „Oh, ich trage meine goldene Uhr nie in Old Town. Will doch nicht das Schicksal herausfordern.“

Als die beiden Schläger einen verwirrten Blick austauschten, nutzte er ihr Zögern aus.

„Endlich“, sagte er und blickte an seinen dämlichen Gegnern vorbei. „Es wurde auch Zeit, dass ihr kommt.“

Als Beweis dafür, dass sie tatsächlich Dummköpfe waren, warfen beide Männer einen Blick über die Schulter in die Finsternis. Als sie sich wieder zu ihm umdrehten, schleuderte Braden Parson seine Tasche ins Gesicht.

Der Mann wurde von der Tasche, die mit medizinischen Instrumenten gefüllt war, direkt getroffen, brüllte und taumelte zurück. Braden lief los, drängte sich zwischen den Männern hindurch und schlug mit seinem Messer zu. Die Klinge traf Kartoffelnase am Arm. Er brüllte, stolperte zur Seite und machte den Weg frei.

Braden rannte in die Dunkelheit hinein und davon. Als er um eine Ecke schlitterte, stieß er mit dem Ellbogen gegen eine Ziegelmauer. Er ignorierte den Schmerz und rannte so schnell es ihm möglich war weiter über das unebene Kopfsteinpflaster. Seine Angreifer waren ihm bereits auf den Fersen, und ihre schweren Schritte hallten hinter ihm wider.

Dunkle Mietshäuser ragten wie altersschwache Riesen über ihm auf und verdrängten das blasse Licht des Mondes. Er konnte es nicht riskieren, sich auf den unebenen Steinen den Knöchel zu verstauchen oder über irgendetwas zu stolpern. Glücklicherweise hatten seine Angreifer mit den gleichen Problemen zu kämpfen. Und da er sowohl jünger als auch besser in Form war, musste er nur auf den Beinen bleiben, bis er in Sicherheit war.

Endlich.

Am Ende der scheinbar endlosen Gasse, die direkt auf die Cowgate zulief, war Licht zu sehen. In der Nähe würde es mindestens einen Nachtwächter oder einen Stall geben, und ein paar Tavernen wären noch geöffnet. Braden hatte Freunde in diesen Tavernen, Menschen, die er im Laufe der Jahre behandelt hatte. Sie würden niemals …

Seine Gedanken zersplitterten, als er mit einem bestiefelten Fuß durch etwas Nasses und Schleimiges glitt. Er breitete die Arme aus, geriet dennoch aus dem Gleichgewicht und landete hart auf seiner rechten Seite und seinem rechten Arm. Das Messer flog ihm aus der Hand und fiel irgendwo scheppernd in der Dunkelheit zu Boden. Obwohl scharfer Schmerz ihm durch den Körper schoss, zwang er sich, aufzustehen, gerade als seine Verfolger aus der Dunkelheit auftauchten, wie Dämonen, die aus den Tiefen der Hölle losgelassen worden waren.

Nun, keuchende und schnaufende Dämonen jedenfalls. Kartoffelnase hielt sich den verletzten Arm, und Parson lief Blut übers Kinn.

Aber sie waren wütend. Wie ein Junge, der in ein Wespennest getreten war, würde Braden nun ordentlich gestochen werden.

„Du hältst dich wohl für besonders schlau, was?“, knurrte Parson und packte seinen Knüppel mit beiden Händen. „Jetzt werden wir ja sehen, wie schlau du bist.“

Braden hob die Hände, als wollte er sich entschuldigen. Mit etwas Glück könnte er den Knüppel vielleicht ablenken, bevor der Grobian ihm den Schädel einschlagen würde.

„Um ehrlich zu sein, habe ich es geschafft, an dir vorbeizukommen.“

„Nur weil du mich ordentlich aufgeschlitzt hast“, beschwerte sich Kartoffelnase. „Du hast mich am Arm verletzt. Und ich dachte, du wärst ein Arzt.“

„Ich bin Arzt und würde dich gern kostenlos und ohne Fragen zu stellen nähen und verbinden.“

Der Mann runzelte die Stirn. „Würdest du das?“

„Verdammt, du bist so ein Idiot“, schnauzte Parson.

„So spricht man nicht mit seinem besten Freund“, erwiderte sein Begleiter schmollend.

„Das stimmt allerdings“, warf Braden ein. Wenn er sie nur am Reden halten könnte. „Ich denke sogar, dass …“

„Es interessiert niemanden, was du denkst!“, brüllte Parson und schwang seinen Knüppel. „Ich werde dir ein für alle Mal das Maul stopfen.“

Er holte zum tödlichen Schlag aus. Braden ballte die Hände zu Fäusten und –Bumm.

Putz spritzte von der Wand hinter Parson und fiel ihm auf den Kopf. Er taumelte zur Seite und stieß mit seinem Freund zusammen.

Kartoffelnase heulte auf. „Dougal, das war mein verletzter Arm!“

„Wen interessiert das schon? Wer zum Teufel schießt auf uns?“

Braden spähte zum Ende der Gasse. „Ich glaube, das waren die da.“

Zwei schwarz gekleidete Gestalten näherten sich lautlos. Einer war ein großer, breitschultriger Mann, der in einen Mantel gehüllt war. Er trug eine Pistole, hatte also offensichtlich den Schuss abgegeben. Es war ein hervorragender Schuss gewesen, der Parson auf der Stelle gestoppt hatte, indem er ihn nur knapp verfehlte.

Aber die andere Gestalt? Braden schüttelte den Kopf, als wollte er seine Sicht klären. Diese Person war schlank und nicht sehr groß.

„Dougal, das ist ein Mädchen“, sagte Kartoffelnase.

Nein, eine junge Frau, vermutete Braden.

Sie trug eine schwarze Reitkluft, ihr Haar war unter einer Schirmmütze versteckt, sie hatte einen Spazierstock dabei und passte ihr Tempo mit leichten, selbstbewussten Schritten an das ihres Begleiters an. Das geheimnisvolle Paar trug dunkle Schals, die sie sich bis unter die Augen gebunden hatten und die ihre Gesichtszüge effektiv verdeckten.

„Was zum Henker?“, knurrte Parson und wandte sich den beiden zu.

Braden schüttelte seine Verblüffung ab. „Pech gehabt, alter Mann. Barmherzige Samariter sind mir zu Hilfe gekommen.“

Parson warf ihm einen hasserfüllten Blick zu. „Eine Nutte und ein Kerl, der gerade seinen Pfeil abgeschossen hat? Ich glaube, ich mache mir gleich vor Angst in die Hose.“

Er begann, sich auf das Paar zuzubewegen. Als der Mann in seine Tasche griff, stürmte die Frau vor und schwang ihren Gehstock.

Nur dass der Stock in Wirklichkeit eine lange, tödlich aussehende Klinge war. Als sie Parson geschickt damit in die Wange schnitt, brüllte der vor Schmerz auf, wich zurück und schlug sich mit der Hand ins Gesicht.

„Hey!“, schrie Kartoffelnase und stürmte mit hoch erhobener Machete vorwärts.

Ein weiterer Schuss ertönte, abgefeuert von einer zweiten Pistole, die der Mann in Schwarz aus seinem Mantel gezogen hatte. Kleine Steinchen flogen vom Kopfsteinpflaster direkt vor Kartoffelnase hoch. Laut schreiend drehte er sich auf dem Absatz um und taumelte die Gasse hinauf. Schnell verschwand er in der Nacht.

Parson war aus härterem Holz geschnitzt. Er blieb standhaft, hielt sich die blutige Wange und starrte die Frau an, die sich neben Braden stellte. Ihr Begleiter gesellte sich zu ihnen, ein stummer, bedrohlicher Wächter.

„Ich sollte euch alle umbringen“, knurrte Parson.

Braden legte den Kopf schief. „Ich habe gerade den Nachtwächter pfeifen hören. Er hat wahrscheinlich die Schüsse gehört und ruft nach einem Konstabler. Parson, Sie würden gut daran tun, Ihrem Freund zu folgen.“

Es folgte eine Reihe wirklich abscheulicher Flüche, während der Bastard Braden einen letzten verächtlichen Blick zuwarf. Dann nahm der Mann die Beine in die Hand und eilte seinem Komplizen hinterher.

Einen Moment lang verharrten Braden und die anderen wie erstarrt in einem stummen Tableau und lauschten den Schritten, die immer leiser wurden. Dann wollte Braden seinen Hut vor seinen Rettern ziehen, bevor ihm klar wurde, dass er das verdammte Ding in der verdammten Gasse verloren hatte.

Stattdessen lächelte er. „Danke. Ich hoffe, Sie haben mich nicht nur gerettet, damit Sie mich jetzt ausrauben können.“

Der große Mann schüttelte nur den Kopf, während die Frau hinter ihrem schwarzen Seidenschal ein wenig gereizt aufseufzte.

„Dann danke ich Ihnen aufrichtig für Ihr hervorragendes Gefühl für den richtigen Zeitpunkt“, sagte Braden. „Ich bezweifle, dass mein Schädel die Begegnung mit Parsons Knüppel überlebt hätte.“

Der Mann schüttelte erneut den Kopf, bevor er auf die Lichter von der Cowgate deutete. Er und die Frau schritten dann in diese Richtung davon und ließen Braden ohne ein Wort einfach stehen.

„Darf ich Ihre Namen erfahren, damit ich mich gebührend bei Ihnen bedanken kann?“, fragte er, als er ihnen nachlief.

Die Frau schenkte ihm nicht einmal einen Blick.

Braden hätte vor Ungläubigkeit beinahe gelacht. Dies entwickelte sich zur bizarrsten Nacht seines Lebens. Und angesichts der Geschichte seiner Familie war das ein sehr hoher Berg, den es zu erklimmen galt.

Als er ihnen dicht auf den Fersen folgte, erregte eine flüchtige Bewegung seine Aufmerksamkeit. Mit ihrer behandschuhten Hand beschrieb die Frau Gesten, die routiniert und präzise wirkten. Bradens Verwunderung wuchs, als ihr Begleiter mit ein paar schnellen Bewegungen seiner rechten Hand antwortete.

Sie verständigten sich mit einer Art Zeichensprache. „Ich darf also davon ausgehen, dass Sie nicht mit mir sprechen werden“, meinte er. Das Paar ignorierte ihn weiterhin, als sie den Eingang der Gasse erreichten. Die Frau streckte eine Hand aus und griff nach etwas. Sie schob ihre Klinge in die schlanke Holzscheide, die an einer Hauswand gelehnt hatte. Sofort verwandelte sich ihre tödliche Waffe tatsächlich in einen vornehmen Spazierstock.

Braden kam es so vor, als bewegte er sich durch einen Traum oder eine Art Märchen, in dem eine geheimnisvolle Prinzessin zu seiner Rettung herbeigeeilt war.

Sie traten hinaus auf die Cowgate, und Braden musste gegen das Flackern der Gaslaternen blinzeln, die die Straße säumten.

Seine stummen Begleiter blieben stehen und drehten sich um, wobei sie ihn ruhig hinter ihrer äußerst effektiven Vermummung musterten.

Jetzt, da er sie endlich richtig sehen konnte, stellte Braden fest, dass die junge Frau eine schlanke, wohl proportionierte Figur hatte und eine eng anliegende Wolljacke über einem passenden Rock trug. Ihr Gehstock bestand aus poliertem Ebenholz und einem Griff aus Messing. Was den Mann anging, der sie um gut einen Fuß überragte, hatte Braden den Eindruck, dass er ein Diener sein könnte. Er stand ein paar Zentimeter hinter der Frau und blickte sie geduldig an, als würde er auf ein Zeichen von ihr warten.

Faszinierend.

Wenn es schon kein Märchen war, dann war er offenbar in ein Abenteuer gestolpert, das es in sich hatte. Im Gegensatz zu seinen Brüdern geriet er nie in Abenteuer, die es in sich hatten.

„Wenn Sie mir Ihren Namen nicht verraten wollen“, sagte er, „dann erlauben Sie mir …“

Ein schriller Pfiff unterbrach ihn. Sie alle blickten die Cowgate hinauf und sahen in der Ferne einen stämmigen Nachtwächter mit Laterne und langem Stab auf ihre kleine Gruppe zukommen.

Die Frau warf ihrem Begleiter einen Blick zu. Er drehte einen Finger neben seinem Kopf und zeigte dann zurück in die Gasse. Sie nickte, und sie wandten sich in diese Richtung.

Braden griff nach ihr. „Warten Sie, Sie können da nicht wieder reingehen.“

Als sie ihm elegant auswich, stellte sich der Mann vor Braden und schrie ihn mit seiner Haltung förmlich an: Zurück!

Er hob schnell die Hände. „Ich will nur, dass Ihnen nichts passiert.“

Die Frau stieß ein leises Kichern aus. Dann tippte sie sich an die Krempe ihrer Mütze und salutierte ihm, bevor sie in der Nacht verschwand, mit dem großen Mann im Schlepptau.

Braden starrte immer noch die Gasse hinunter, sein Gehirn arbeitete auf Hochtouren, als der Nachtwächter ihn endlich erreichte. Was war hier gerade geschehen?

„Sind Sie das, Dr. Kendrick?“, fragte der Mann besorgt. „Habe ich Schüsse gehört? Geht es Ihnen gut?“

„Ja, das haben Sie, und mir geht es gut. Zwei Grobiane haben versucht, mir den Schädel einzuschlagen. Glücklicherweise kamen eine Kriegerprinzessin und ihr treuer Begleiter zu meiner Rettung.“

Der Nachtwächter schnaubte. „Jetzt nehmen Sie mich aber auf den Arm, Sir. Aber wer waren die beiden, die gerade bei Ihnen waren? Und wo sind sie hin?“

Braden schüttelte den Kopf. „In beiden Fällen habe ich leider nicht einmal den Hauch einer Ahnung.“

2. KAPITEL

Braden unterdrückte ein Gähnen und stieg die Treppe hinunter in die Eingangshalle des Stadthauses seiner Familie. Sich mit mörderischen Schlägern anzulegen, konnte einem schon mal den Schlaf rauben. Ebenso wie die Fragen seine geheimnisvollen Retter betreffend – insbesondere die Frau, die sich offenbar sehr wohlfühlte dabei, mit einer scharfen Klinge Männer, die sie um einiges überragten, in die Flucht zu schlagen.

Und diese Zeichensprache? War es Gebärdensprache gewesen? Allein der Gedanke daran hatte ihn wach gehalten. Braden hatte schon einmal etwas Ähnliches gesehen, und er würde dem später am Morgen nachgehen.

Macklin, der Butler, kam ihm entgegen, um ihn zu begrüßen. „Guten Morgen, Sir. Mr. Kendrick und Joseph frühstücken im Speisezimmer, wenn Sie sich ihnen anschließen möchten.“

„Danke, Will. Ich meine, Macklin. Jetzt, da Sie ein richtiger Butler sind, muss ich mich an das entsprechende Protokoll halten.“

Will lächelte schief. „Mir kommt das genauso seltsam vor wie Ihnen, Dr. Kendrick. Ich hoffe, ich enttäusche Sie nicht.“

„Das werden Sie nicht. Sie helfen uns seit Jahren, die Ordnung aufrechtzuerhalten. Als ich hier noch für alles allein zuständig war, neigte ich dazu, die Dinge schleifen zu lassen. Ich bin sicher, Sie und Mrs. Kendrick waren über den Zustand des Haushaltes entsetzt.“

Will Macklin war schon so lange bei der Familie, wie Braden zurückdenken konnte. Er stammte ursprünglich aus dem Dorf, das zum Stammsitz der Kendricks, Kinglas Castle, gehörte. Er hatte sich zum Unterbutler in Kendrick House in Glasgow hochgearbeitet und war kürzlich zum Butler im Familiensitz in Edinburgh befördert worden.

Braden hatte sich vor einigen Jahren, als er noch Student gewesen war, dauerhaft in Edinburgh niedergelassen. Er hatte eine Stelle am Royal Infirmary und des angeschlossenen Medical College angenommen. Er wäre mit ein bis zwei gemieteten Zimmern in der Nähe seiner Arbeitsstelle zufrieden gewesen, aber der Rest der Familie hatte sich von dieser Vorstellung entsetzt gezeigt. Nick, Bradens ältester Bruder, war der Laird of Arnprior und hatte darauf bestanden, ein elegantes Stadthaus in New Town zu kaufen, das als Zuhause für Braden und als Anlaufstelle für die Mitglieder der Familie Kendrick dienen sollte, wenn sie die Stadt besuchten.

Das Haus in der Heriot Row hatte sich in letzter Zeit stark verändert. Logan, der zweitälteste Kendrick und Besitzer einer florierenden Reederei, hatte beschlossen, mit seiner Familie von Glasgow nach Edinburgh zu ziehen. Dank der kürzlich erfolgten Fertigstellung des Forth-and-Clyde-Kanalsystems hatten Logans Unternehmen in Glasgow nun ständigen Zugang zum nahe gelegenen Hafen von Leith. Also beschloss Logan, sich mit seiner Frau und seinen beiden Kindern so lange in der Heriot Row niederzulassen, bis er eine weitere florierende Niederlassung von Kendrick Shipping and Trade aufgebaut hatte.

Der vierzehn Jahre ältere Logan war während eines Großteils von Bradens Jugend abwesend gewesen, weil er sein Handelsunternehmen in Kanada gegründet hatte. Da seine Rückkehr nach Schottland mit Bradens Umzug nach Edinburgh zusammengefallen war, kreuzten ihre Wege sich deutlich häufiger als jemals zuvor.

Auch wenn Braden manchmal den Verlust seiner Ruhe und seines Friedens bedauerte, war es eine gute Gelegenheit, Zeit mit Logan, Donella und ihren beiden Kindern zu verbringen. Sosehr er auch manchmal dazu neigte, es zu vergessen, war er immer noch ein Mitglied des Clans Kendrick. Das bedeutete, dass die Familie an erster Stelle stand, auch wenn diese Familie manchmal ganz schön neugierig und aufdringlich sein konnte.

„Das Haus befand sich in einem erstklassigen Zustand, Sir“, protestierte Will höflich. „Es musste nur gründlich gelüftet werden.“

Es hatte mehr als das gebraucht, da Braden den größten Teil des Hauses geschlossen gehalten hatte und mit einem Dienstmädchen und einer Köchin ausgekommen war.

„Hmm, ich bin mir ziemlich sicher, dass ich meine Schwägerin vor Entsetzen schreien hörte, als sie den Dachboden betrat.“

Will bemühte sich, ein Lächeln zu unterdrücken. „Mrs. Kendrick schreit nie, egal, worum es geht. Selbst gezielte Provokationen können ihr nichts anhaben.“

„Ich werde trotzdem versuchen, Provokationen auf ein Minimum zu beschränken. Apropos, hat mich gestern Abend niemand hereinkommen hören?“

„Ich glaube nicht, Sir.“

„Belassen wir es dabei. Und wenn einer der Bediensteten nach dem ramponierten Zustand meiner Kleidung fragt, sagen Sie einfach, ich wäre ausgerutscht und in den Dreck gefallen.“

Will war an die Kapriolen von Kendrick gewöhnt und nickte. „Natürlich, Sir. Und ich werde mich sofort um Ihren Kaffee und Ihr Frühstück kümmern.“

„Nur Kaffee, bitte. Ich nehme mir ein Brötchen mit.“

Als er sich zum Speisezimmer umdrehte, entging Braden der Seufzer des Butlers nicht. Jeder, von Logan bis hinunter zum Küchenmädchen, hielt ihn für unterernährt. Zu Hause versuchte immer irgendjemand, ihm Kuchen, Scones und verschiedene Delikatessen in den Rachen zu stopfen. Das war Unsinn, da er sich in bester Verfassung befand. Aber er war es gewohnt, mit seinen älteren Brüdern verglichen zu werden, die außergewöhnlich muskulöse Männer waren, die eher wie Highland-Krieger als wie Stadtmenschen aussahen.

Leise betrat er das elegante Speisezimmer, dessen formelle Atmosphäre durch den Blick aus den Erkerfenstern auf den Garten gemildert wurde. Obwohl es für Bradens Geschmack etwas zu prunkvoll war, bestand Donella darauf, dass sie dort als Familie regelmäßig gemeinsam aßen. Als Braden einwandte, dass seine Arbeit sich nicht planen ließe, hatte seine Schwägerin entgegnet, dass er einen geordneteren Lebensstil, mehr Ruhe, regelmäßige Mahlzeiten und mehr Freizeit mit der Familie brauche. Jeder Versuch, den er unternommen hatte, den normalen Tagesablauf eines Arztes begreifbar zu machen, war entschieden zurückgewiesen worden, was typisch für die Familie war. Eigensinnige Familienmitglieder sollten abwechselnd beschwatzt und unter Druck gesetzt werden, bis sie sich fügten. Natürlich alles in ihrem besten Interesse.

Aber Kendricks waren auch hervorragend darin, einander zu ignorieren, wenn es ihnen passte. Im Laufe der Jahre war Braden ein Meister in dieser Fähigkeit geworden.

Logan saß am Kopfende des Tisches und blickte von seiner Ausgabe des Caledonian Mercury auf. „Schön, dass du heute Morgen ausgeschlafen hast, Junge. Das hast du sicher gebraucht. Wann bist du gestern Abend überhaupt nach Hause gekommen?“

„Oh, irgendwann nach Mitternacht“, antwortete Braden, während er das reichhaltige Frühstücksangebot auf der Mahagoni-Anrichte begutachtete.

„Es war kurz nach zwei Uhr, Onkel Braden“, sagte Joseph, der rechts von Logan saß.

Braden seufzte innerlich. Logans Sohn war dreizehn. Aber er war außergewöhnlich intelligent und unglaublich aufmerksam, manchmal auf eine unbequeme Art und Weise.

Logan runzelte die Stirn. „Joseph, hast du wieder bis spät in die Nacht gelesen? Die halbe Nacht wach zu bleiben ist nicht gut für dich. Außerdem liest du tagsüber schon so viel.“

„Ja, aber das ist für meine Studien, Papa. Und ich lese gerade Robinson Crusoe. Das ist eine aufregende Abenteuergeschichte, weißt du?“

„Ja, ich weiß, aber …“

„Und du hast mir das Buch geschenkt, erinnerst du dich? Es war dein Lieblingsbuch, als du in meinem Alter warst. Du hast gesagt, ich soll es lesen.“

„Autsch. Selbst schuld“, sagte Braden und setzte sich auf die andere Seite des Tisches.

„Der Junge ist mir haushoch überlegen“, meinte Logan reumütig.

Joseph schenkte seinem Vater ein seliges Lächeln. „Mama sagt, das liegt daran, dass ich so schlau bin.“

„Der Klügste in der Familie“, fügte Braden hinzu.

„Nein, das bist du, Onkel Braden. Das sagt Mama auch.“

„Ach, das stimmt nicht. Du bist der klügste Kendrick von allen.“

Joseph war in seinen Studien weit fortgeschritten, und wenn er nicht lernte, steckte der Junge normalerweise seine Nase tief in ein Buch. Braden hatte vor Kurzem auf Wunsch des Jungen begonnen, ihm Chemie beizubringen. Angesichts der Tatsache, wie rasch sein Neffe komplexe Formeln verinnerlichte, vermutete Braden, dass er einmal Wissenschaftler oder sogar Arzt werden würde.

Logan verzog das Gesicht. „Moment mal, was ist mit mir? Ich leite ein ziemlich großes und lukratives Unternehmen. Man kann kein Dummkopf sein, wenn man einen solchen Erfolg hat, meinst du nicht auch?“

Joseph tätschelte seinem Vater die Hand. „Natürlich nicht, Papa. Aber jeder weiß, dass Onkel Braden der Klügste von euch Brüdern ist. Onkel Nick und Grandda sagen das auch immer.“

„Hervorragend. Nun, ich hoffe, ich bin zumindest auch für irgendetwas gut“, sagte Logan gespielt beleidigt.

Joseph schmierte Butter auf seinen Scone. „Du bist gut darin, Köpfe einzuschlagen. Onkel Nick sagt, dass du der Beste bist, wenn es darum geht.“

Angesichts der Tatsache, dass Logan ein wahrer Riese war, dessen Kampffähigkeiten in der Wildnis Kanadas verfeinert worden waren, war diese Aussage keine Übertreibung.

Logan schnaubte. „Danke, mein Sohn. Ich bin auch sehr gut darin, auf den Punkt zu kommen, nämlich die Tatsache, dass du die halbe Nacht wach geblieben bist, um zu lesen.“

„Ich habe letzte Nacht nicht nur gelesen, Papa. Ich habe auf Onkel Braden gewartet, der normalerweise nicht so spät nach Hause kommt, also habe ich mir Sorgen gemacht.“

Joseph war schlau wie ein Fuchs und einfühlsam, aber er neigte dazu, sich zu viele Gedanken um die Sicherheit seiner Familie zu machen. Das lag daran, dass er als Kind lange Zeit von seinem Vater getrennt gewesen war.

„Du weißt, dass ich manchmal spät in der Nacht zu Notfällen gerufen werde“, sagte Braden sanft. „Es gibt also keinen Grund zur Sorge.“

„Ich würde gern glauben, dass das der Fall ist“, sagte Logan. „Aber wo warst du letzte Nacht? Nicht schon wieder in Old Town, hoffe ich.“

Braden unterdrückte ein Stöhnen. „Mir erging es jedenfalls bestens.“

„Nein, erging es dir nicht“, widersprach Joseph mit vernichtender Offenheit. „Ich glaube, du wurdest ausgeraubt. Du warst sehr schmutzig und hattest einen großen Riss in deinem Mantel. Ich habe es gesehen, als du versucht hast, dich durch den Flur in dein Schlafzimmer zu schleichen.“

Gütiger Gott. Der Junge würde einen ausgezeichneten Spion abgeben.

Logan machte ein erschrockenes Gesicht. Dann richtete er den Blick auf Braden, und seine Augen verengten sich zu Schlitzen, so kalt wie die Nordsee.

„Möchtest du das erklären?“, fragte er mit trügerisch sanfter Stimme.

Braden ließ sich nicht täuschen. Wenn ihm nicht schnell etwas einfiel, stand ein Vulkanausbruch unmittelbar bevor.

Glücklicherweise öffnete sich die Tür, und Will kam ins Zimmer, gefolgt von einem Lakaien, der ein Tablett mit frischem Kaffee und weiteren Tassen trug.

Logan richtete seinen Zorn auf den Butler. „Macklin, warum zum Teufel haben Sie mir nicht gesagt, dass Braden letzte Nacht ausgeraubt wurde?“

„Ich wurde nicht ausgeraubt!“, rief Braden.

Joseph runzelte die Stirn. „Aber du warst in einem … Aufruhr. Ich habe gehört, wie du das gestern Abend zu Macklin gesagt hast, als du hereingekommen bist.“

Logan knallte seine Kaffeetasse auf den Tisch, sodass das Gebräu auf die gestärkte Tischdecke schwappte. „Und warum zum Teufel höre ich erst jetzt davon?“ Er starrte Braden mit funkelnden Augen an, dann Macklin.

„Es war wirklich nichts“, sagte Braden. „Nicht der Rede wert.“

Sein Bruder zeigte mit einem Finger auf ihn. „Jetzt hör mal zu, Braden. Du könntest …“

„Ich sagte, es war nichts“, unterbrach Braden ihn entschieden.

Logan ließ den Blick zornig durch den Raum schweifen. Da dieser Blick dafür bekannt war, dass er erwachsene Männer zum Wimmern brachte, als wären sie Babys, war es nicht überraschend, dass der Lakai, der neu im Haushalt war, fast das Tablett fallen gelassen hätte. Will schnappte es sich geschickt und stellte es auf die Anrichte.

„Darf ich Ihnen eine Tasse Kaffee einschenken, Dr. Kendrick?“, fragte er, unbeeindruckt vom Gebaren seines Arbeitgebers.

Braden lächelte ihm dankbar zu. „Ja, bitte.“

„Macklin, das ist nicht das Ende des Gesprächs“, erklärte Logan. „Wenn jemand in meinem Haushalt überfallen wird, möchte ich davon erfahren.“

„Natürlich, Sir. Darf ich Ihren Kaffee auffüllen?“

Logan sah äußerst genervt aus und starrte den Butler finster an, bevor er seine Tasse hinhielt. „Ihr seid alle gestört.“

„Hör auf zu schimpfen, Liebster“, sagte Donella, die gerade den Raum betreten hatte. „Es ist viel zu früh am Tag, um deine Familie in Angst und Schrecken zu versetzen, geschweige denn das Personal.“

„Ich versetze niemanden in Angst und Schrecken“, brummte Logan. „Leider.“

Braden grinste seinen Bruder an. „Hast du den Dreh nicht mehr raus?“

Donella tätschelte ihrem Mann die Schulter. „Natürlich hat er den Dreh noch raus. Der arme Ryan sieht aus, als hätte er einen Geist gesehen.“

Ihr neuer Lakai wirkte nun ziemlich verwirrt. Braden konnte dem armen Kerl keinen Vorwurf machen.

„Ich entschuldige mich, Mrs. Kendrick“, sagte Will. „Ich bin noch dabei, das neue Personal einzuarbeiten.“

„Ich fürchte, keine noch so gute Ausbildung kann jemanden vollständig auf unsere verrückte Familie vorbereiten“, meinte Braden.

Donella nahm auf dem leeren Stuhl auf der anderen Seite ihres Mannes Platz. „Das ist sicherlich zutreffend. Ich muss mich immer noch an sie gewöhnen, selbst nach all den Jahren.“

„Sagt die Frau, die aus einem Kloster geworfen wurde und dann eine Entführung und eine Clan-Fehde auslöste“, sagte Logan trocken.

„Zum Glück hast du mich gerettet, indem du mehrere Männer von einer Brücke in den Fluss Tay geworfen hast“, erwiderte Donella und griff nach der Teekanne.

„Nur zwei Männer, Liebes“, korrigierte Logan.

„Stimmt. Den Rest hast du erschossen.“

Ryan, der leere Teller vom Beistelltisch geräumt hatte, stieß eine Schale mit Scones um.

„Du darfst in die Küche zurückkehren“, sagte Will missbilligend. „Sofort.“

Der arme Lakai wäre in seiner Eile, den Raum zu verlassen, fast gestolpert.

„Es wäre ein Wunder, wenn der Bursche nicht sofort kündigt“, meinte Braden.

Donella seufzte. „Und ich hatte so gehofft, dass Ryan sich bewähren würde. Wirklich, Logan, du musst einfach aufhören, jeden anzubrüllen.“

„Wie kann das meine Schuld sein?“, protestierte ihr Ehemann. „Außerdem brülle ich nur Familienmitglieder an, die sich in gefährliche Situationen bringen und dann versuchen, es vor mir zu verbergen.“

„Vielleicht, weil du so viel Aufhebens darum machst?“, sagte Braden, bevor er einen Schluck Kaffee nahm.

„Papa regt sich immer auf, wenn einer von uns angegriffen wird“, sagte Joseph.

„Niemand wird mehr angegriffen“, bellte Logan. „Ich verbiete es.“

Braden lächelte Joseph an. „Mir ist es bestens ergangen, mein Junge. Ich schwöre es.“

Dank einer geheimnisvollen jungen Frau und ihres ebenso geheimnisvollen Begleiters. Dieses Detail war jedoch nichts, was seine Familie erfahren musste.

„Aber Papa kann helfen, dich zu beschützen“, erwiderte Joseph ernsthaft. „Das ist sein Beruf.“

„Richtig, mein Junge“, sagte sein Vater und nickte eifrig.

„Dem kann ich nicht widersprechen“, sagte Donella. „Ich habe deinen Mantel gesehen, Braden. Der ist nicht mehr zu reparieren.“

„Das ist aber ärgerlich“, erwiderte Braden.

Bei dieser Bemerkung sah Logan aus, als würde er gleich explodieren. Donella warf ihrem Mann einen Blick zu. „Macklin, vielleicht könnten Sie uns frischen Tee bringen“, sagte sie zum Butler.

Als Will sich taktvoll zurückgezogen hatte, schaute Braden auf die Uhr auf dem Kaminsims. „Meine Güte, wie spät es schon ist. So unterhaltsam dieses Gespräch auch ist, ich muss los. Ich bin schon spät dran.“

Logan zeigte mit einem Finger auf ihn. „Denk nicht einmal daran. Du wurdest angegriffen, Braden. Und wie wurde dein Mantel ruiniert? Vielleicht war es ein Messer?“

„Ach, sei nicht albern“, sagte Braden.

Donella rümpfte die Nase. „Wirklich, Braden, wir wollen uns nicht als Wichtigtuer aufspielen. Wir machen uns nur Sorgen um dich.“

Braden betrachtete die Gesichter seiner Verwandten, die ihn mit offensichtlicher Sorge musterten. Sie waren alle so unterschiedlich – sein muskulöser älterer Bruder, der die Kraft und den Mut eines Riesen hatte, seine liebenswerte Schwägerin, deren gütiges Herz Logan aus einem einsamen Leben gerettet hatte, und sein Neffe, dessen sanfte Art durch eine Reife ergänzt wurde, die über sein Alter hinausging.

Was sie verband, war ihre unerschütterliche Hingabe zueinander und zu jedem Mitglied der Familie. Hinter all dem Trubel und dem Unsinn steckte Liebe – und Sorge. Die Kendricks waren Meister im Sich-Sorgen-Machen. Angesichts all der Tragödien, die sie im Laufe der Jahre erlebt hatten, war das kaum verwunderlich.

Jetzt, da die Katze aus dem Sack war, würde der Versuch, ihre Bedenken zu zerstreuen, sie nur noch mehr beunruhigen.

„Es war eine etwas heikle Angelegenheit“, gab er also zu. „Aber es wäre kein Problem gewesen, wenn ich nicht ausgerutscht wäre.“

„Das passiert selbst den Besten von uns, Junge“, sagte Logan in mitfühlendem Ton. „Deshalb ist es immer ratsam, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein.“

„Was ist denn passiert, Lieber?“, fragte Donella sanft.

Nach einem kurzen Blick auf die Uhr, weil er wirklich zu spät zu seiner Verabredung kommen würde, referierte Braden eine stark verkürzte Version der Ereignisse.

Logan nickte zustimmend. „Dem Bastard deine Tasche ins Gesicht zu schleudern, war eine verflucht gute Reaktion, Junge.“

Donella tippte ihrem Mann auf den Arm. „Achte auf deine Ausdrucksweise, Schatz.“

Wie aufs Stichwort verdrehten Vater und Sohn auf identische Weise die Augen.

Braden unterdrückte ein Lächeln. „Ich wäre den Bastarden, äh, Idioten, wohl entkommen, wenn ich nicht in irgendeinem ekelhaften Dreck ausgeglitten wäre. Glücklicherweise haben meine Möchtegern-Angreifer die meiste Zeit damit verbracht, leere Drohungen auszustoßen, anstatt mich auszurauben oder mir den Schädel einzuschlagen.“

Joseph runzelte die Stirn. „Wie haben sie es dann geschafft, deinen Mantel aufzuschlitzen?“

„Äh, das passierte, als ich ausrutschte und hinfiel. Ich bin ziemlich hart auf den Pflastersteinen aufgeschlagen.“

„Das klingt jetzt aber wie Seemannsgarn“, sagte Logan missbilligend. „Von zwei bewaffneten Schurken verfolgt, fällst du in den Dreck, und trotzdem kehrst du irgendwie unversehrt und unausgeraubt nach Hause zurück. Bitte erkläre uns, wie dir das gelungen ist.“

„Wir waren zu diesem Zeitpunkt gerade an der Cowgate, also habe ich wie verrückt nach dem Nachtwächter gerufen. In der Nähe gibt es eine Wachstation, wisst ihr. Sobald der Nachtwächter mich hörte, pfiff er und kam angerannt.“

Logan verschränkte die Arme vor der Brust. „Ich habe noch nie in meinem Leben einen Nachtwächter angerannt kommen gesehen.“

„Nun, dieser hier hat sofort reagiert. Offensichtlich fehlte es meinen beiden Angreifern an Mut, denn sie sind auf der Stelle geflohen, als sie die Pfeife hörten.“

Sein Bruder kniff die Augen zusammen, offensichtlich immer noch misstrauisch.

Donella schenkte ihrem Mann eine weitere Tasse Kaffee ein. „Gott sei Dank gibt es die Nachtwachen. Aber vielleicht könntest du etwas vorsichtiger sein, Braden. Versuch doch in Zukunft, nachts einige der gefährlicheren Teile von Old Town zu meiden.“

„Das würde ich gern tun, wenn nur meine Patienten nicht darauf bestehen würden, dort zu leben.“

Sie rümpfte die Nase. „Entschuldige. Ich wollte nicht herzlos klingen. Wir haben so ein Glück, hier oben in New Town zu sein, während so viele in diesen schrecklichen Mietshäusern leben.“

Logan gab ihr einen Kuss. „Gut, dass du die Hälfte unseres Vermögens für wohltätige Zwecke ausgibst, Schatz.“

„Wir können es uns leisten“, antwortete sie keck.

„Ja, das können wir.“ Logan wandte seine Aufmerksamkeit wieder Braden zu. „Ich fürchte, ich muss darauf bestehen, dass du ab jetzt immer eine Pistole bei dir trägst, alter Mann. Ich weiß, dass du Waffen nicht magst, aber ich mag den Gedanken noch weniger, dass du wie ein Stück Rindfleisch aufgeschlitzt wirst.“

Braden schnaubte. „Ein ausgesprochen unappetitlicher Gedanke.“

„Dann sind wir uns einig. Du wirst ab jetzt immer eine Pistole bei dir tragen.“

„Nachts werde ich das tun, aber ich glaube kaum, dass Pistolen für das Royal Infirmary oder den Hörsaal geeignet sind.“

Sein Bruder beugte sich vor. „Du wirst immer und überall eine bei dir tragen, oder ich werde dich bei diesen nächtlichen Einsätzen begleiten.“

Braden lachte auf. „Das wird ganz sicher nicht passieren.“

„Und du arbeitest hart genug, Liebling, ohne dass du auch noch die Aufgabe eines Leibwächters übernimmst“, fügte Donella hinzu. „Wenn Braden richtig bewaffnet ist und Vorsichtsmaßnahmen trifft, wird ihm nichts geschehen.“

„Ich kenne mich doch aus“, sagte Braden. „Ich habe schon seit mehreren Jahren Patienten in Old Town und bin oft dort unterwegs.“

Logan tippte sich mit einem Finger ans Kinn. „Das ist tatsächlich eine hervorragende Idee, Donella. Die beste Lösung könnte darin bestehen, Braden einen Leibwächter zu besorgen.“

„Gütiger Gott, Logan!“, rief Braden entnervt. „Das ist buchstäblich das erste Mal, dass jemand versucht hat, mich auszurauben. Und das liegt daran, dass fast jeder weiß, wer ich bin und dass ich da bin, um ihnen zu helfen.“

Sein Bruder schüttelte den Kopf. „Ein Leibwächter ist die beste Lösung. Ich werde mit Macklin darüber sprechen. Vielleicht einer der neuen Lakaien.“

„Vielleicht Ryan?“, fragte Braden sarkastisch.

„Ich kann mitkommen“, warf Joseph ein. „Solange es nicht zu spät ist. Papa hat mir das Schießen beigebracht, und ich bin sehr gut darin, Dinge zu bemerken. Außerdem möchte ich Arzt werden, dann kann ich sehen, wie du arbeitest.“

Braden lächelte ihn an. „Nun, danke, Junge, aber ich glaube, dein Papa hat da wahrscheinlich andere Vorstellungen.“

Jetzt war es Logan, der schnaubte.

„Vielleicht nächstes Jahr, Joseph“, sagte Donella diplomatisch. „Du bist noch etwas zu jung für Hausbesuche, besonders nachts.“

„Oh, schade“, sagte der Junge und seufzte. „Immer sagt ihr, ich wäre zu jung für die lustigen Dinge.“

„Damit das klar ist: Mein Sohn wird sich nicht in die Nähe irgendwelcher Gefahrenherde begeben, weder dieses noch nächstes Jahr“, erklärte Logan streng.

Joseph sah seinen Vater unglücklich an. „Ich bin kein kleiner Junge mehr, Papa. Ich bin schon groß.“

„Du schießt wirklich wie Unkraut in die Höhe“, sagte Donella lächelnd.

Braden stand auf. „Hör mal, ich muss wirklich …“

„Setz dich!“, herrschte Logan ihn an. „Die Diskussion ist noch nicht beendet.“

„Tut mir leid, ich muss los. Ich bin schon meilenweit zu spät für mein Treffen mit Blackmore.“

Sein Bruder warf ihm einen äußerst einschüchternden Blick zu. „Braden Kendrick …“

„Wir reden später weiter, alter Mann.“ Braden schritt zur Tür und drehte sich dann zu seinem Bruder um. „Ich verspreche es.“

„Das ist ein leeres Versprechen, denn du weichst dem verdammten Thema immer aus.“

„Wie schlau von ihm“, meinte Donella mit einem Augenzwinkern.

„Ich dachte, du wärst auf meiner Seite“, sagte Logan schroff zu seiner Frau.

Donella riss nur die Augen auf.

„Du neigst dazu, zu schreien, wenn du dich aufregst, Papa“, sagte Joseph. „Kein Wunder, dass Onkel Braden dich meidet.“

„Ich verbiete ab sofort jedem, mich zu meiden.“

Sein Sohn kicherte.

„Niemand will dich meiden, mein Lieber“, sagte Donella in beruhigendem Ton. „Ich hole dir einen dieser Schokoladen-Scones. Die sind so lecker, nicht wahr, Joseph?“

„Papa sollte auf jeden Fall einen nehmen, und wahrscheinlich auch etwas Pflaumenkuchen“, meinte Joseph. „Mit Pflaumenkuchen geht es ihm immer besser.“

„Mir geht es bestens“, protestierte Logan, als seine Frau anfing, seinen Teller mit Gebäck zu füllen.

Wieder einmal war Bradens großer, starker Bruder überrumpelt worden. Braden fand das alles ziemlich unterhaltsam, aber es bestätigte ihm nur, wie kompliziert Familien – und vor allem Ehefrauen – sein konnten.

Er hatte sein Herz schon einmal an eine Frau verschenkt. Und wie hatte das geendet?

Mit einem Höllentrip.

Es war eine Erfahrung, die er sich geschworen hatte, nie mehr zu wiederholen.

3. KAPITEL

Braden fuhr mit einer Mietdroschke zur Universität und forderte den Kutscher auf, sich zu beeilen. Sein Kollege Dr. John Blackmore hielt gerade einen Vortrag über die neuesten Entwicklungen bei der Behandlung schwieriger Schwangerschaften, und nun konnte er froh sein, wenn er noch den Schluss mitbekam – dank Logan, der gemeint hatte, ihm die Leviten lesen zu müssen.

Er bezahlte den Kutscher und eilte zur Ostseite der Universität, einem dreistöckigen Gebäude mit massiven Säulen, die die Türen einrahmten. Obwohl er normalerweise den größten Teil seines Tages im Royal Infirmary verbrachte, unterhielt Braden an der Universität ein kleines Büro zum Arbeiten und für Treffen mit seinen Studenten. Er assistierte auch John, einem leitenden Professor mit den Fachgebieten Geburtshilfe und Infektionskrankheiten. John hatte Braden unter seine Fittiche genommen und in diesen vier Jahren hatte er Braden so viel beigebracht wie fast alle seine Professoren zusammen.

Er war auch ein verdammt guter Freund geworden und verstand Braden manchmal wahrscheinlich besser als seine eigene Familie.

Im Hörsaal wich er einer Schar von Studenten in schwarzen Kitteln aus, die den großen Raum gerade verließen und begeistert über die Vorlesung diskutierten, die sie gerade gehört hatten. Dann ging er den schmalen Mittelgang entlang auf John zu, vorbei an Reihen von Schreibtischen und Stühlen.

„Da sind Sie ja!“, rief sein Mentor, während er seine Instrumente wegpackte. „Schade, dass Sie die Vorlesung verpasst haben. Wir hatten danach eine lebhafte Diskussion.“

„Ich bedaure es aufrichtig, aber ich hatte meine eigene Vorlesung und Diskussion in der Heriot Row. Und in meiner Familie gibt es keine kurzen Diskussionen.“

John musterte ihn prüfend. „Ich vermute, es ging um eine weitere Nacht in Old Town, und Ihr Bruder war nicht einverstanden mit dem, was Sie tun. Sie sehen ziemlich mitgenommen aus, Braden. War es ein schwieriger Fall?“

„Eigentlich nicht. Es war das, was danach passiert ist, das schwierig war.“

„Ah, ein Rätsel also. Sie können mir auf dem Weg zu meinem Büro alles darüber erzählen. Ich denke, Sie könnten eine gute Tasse Tee – oder Kaffee – gebrauchen.“

„Ich würde zu beidem nicht Nein sagen.“

Sie gingen den langen Flur entlang in Richtung des Trakts der Professoren, wobei Braden sich beeilen musste, mit den langen Schritten des älteren Mannes Schritt zu halten. Obwohl er weit über vierzig war, hatte John so viel Kraft und Energie wie ein halb so alter Mann. Im Gegensatz zu vielen anderen erfolgreichen Ärzten weigerte sich John, weich zu werden, wie er es abfällig nannte.

Johns Hingabe an seine Patienten und seine Arbeit wurde nur durch seine Hingabe an seine Frau und seine Tochter übertroffen. Als Mentor hätte Braden keinen Besseren finden können. Als Vorbild – jemand, der sowohl sein Privat- als auch sein Berufsleben mühelos im Griff zu haben schien – fand er John ein wenig einschüchternd.

Wenn er jetzt darüber nachdachte, war er eher wie Bradens ältere Brüder, die sowohl beruflich als auch in der Liebe gleichermaßen erfolgreich waren. Dieses Erfolgsrezept hatte er noch nicht geknackt.

„Was ist los?“, fragte John leise.

Braden rang sich ein Lächeln ab. „Nichts. Ich bin nur etwas müde.“

„Wissen Sie, es ist nicht gut für Ihre Patienten, sollten Sie krank werden, weil Sie sich keine Ruhe gönnen.“

„Unsinn. Ich bin so robust wie eine Kanalratte.“

Sein Freund schnaubte. „Ich bin mir nicht sicher, ob das eine gute Sache ist.“

„Für einen Arzt, der in Old Town arbeitet, schon.“

John hielt einen vorbeigehenden Universitätsdiener an und bestellte Kaffee. Dann schloss er seine Bürotür auf und winkte Braden herein.

Als Dekan und leitender Arzt der Krankenstation hatte John eines der größten Büros in der Universität. Stabile Regale, gefüllt mit Hunderten von Büchern, sowie Gläser mit medizinischen Präparaten säumten zwei der Wände bis hinauf zur holzgetäfelten Decke. Ein polierter Eichentisch, auf dem sich Bücher stapelten, stand vor einem gemauerten Kamin, und ein großer mit Papieren übersäter Schreibtisch stand vor dem Fenster.

John schürte schnell das Feuer im Kamin, während Braden sich in den Clubsessel aus Leder vor dem Schreibtisch sinken ließ. Nebelschwaden wanden sich durch sein Gehirn. Er straffte die Schultern und weigerte sich, dem Drang nachzugeben, die Lider sinken zu lassen.

„Der Kaffee sollte in ein paar Minuten fertig sein“, sagte John, während er sich hinter seinem Schreibtisch niederließ. „Das wird Ihnen wieder etwas Leben einhauchen. Ich fürchte, die Nacht ist Ihnen nicht gut bekommen.“

„Sie würden auch ein wenig derangiert aussehen, wenn Sie von einem Idioten mit einer Machete und einem anderen Idioten mit einem Knüppel angegriffen worden wären.“

Sein Freund richtete sich auf. „Gütiger Himmel. Haben sie Ihnen tatsächlich etwas angetan?“ Er beugte sich über seinen Schreibtisch. „Muss ich Sie auf Verletzungen untersuchen?“

„Ach, Sie sind ja genauso schlimm wie meine Familie. Ich bin entkommen, und es geht mir gut.“

„Also war es ein gescheiterter Raubüberfall?“

Braden schüttelte den Kopf. „Nur teilweise. Sagt Ihnen der Name Naomi Parson noch etwas? Bei ihr war es knapp, wie Sie sich sicher erinnern werden.“

„Ja, eine Fehlgeburt. Es war eine sehr belastende Situation. Ihr Mann gab Ihnen die Schuld, sagte, Sie hätten Naomi dazu ermutigt, zu …“ Jetzt dämmerte es ihm, und Johns grauer Blick wurde stürmisch. „Verdammt noch mal. Sagen Sie mir nicht, dass dieser Mistkerl Sie aus Rachedurst aufgespürt hat?“

„Ja, und er hatte einen fröhlichen Freund mit einer Machete dabei.“

„Waren Sie bewaffnet?“

„Nur mit einem Messer.“

John runzelte missbilligend die Stirn. „Braden, ich denke, es ist an der Zeit, dass Sie in Old Town eine Pistole bei sich tragen, besonders nachts.“

„Ja. Dieses Versäumnis werde ich umgehend beheben, versprochen.“

„Sorgen Sie dafür, dass Sie sich zügig bewaffnen. Also, wie haben Sie es geschafft zu entkommen?“

„Ich habe Parson mit meiner Arzttasche für einen Moment unschädlich gemacht und bin dann wie der Teufel gerannt.“

John lachte. „Gott sei Dank für Ihr rasches Reaktionsvermögen.“

Braden klopfte sich an den Schädel. „Im Gegensatz zu meinen Brüdern setze ich lieber meinen Verstand als meine Muskeln ein.“

„Ich finde, das ist normalerweise auch das Beste.“

Nachdem er an die Tür geklopft hatte, betrat der Universitätsdiener den Raum mit einem Kaffeetablett und einem Teller Scones.

„Stellen Sie es auf meinen Schreibtisch“, sagte John. „Ich schenke ein.“

„Jawohl, Sir.“

„Nur Kaffee, danke“, sagte Braden, nachdem der Diener gegangen war. „Zucker und Sahne wären schön.“

„Sie sollten etwas essen“, sagte John. „Sie beginnen mich langsam an eines der Skelette im Anatomiesaal zu erinnern.“

„Vielen Dank für diesen charmanten Vergleich. Und obwohl ich vielleicht nicht so muskulös bin wie meine Brüder, bin ich stark und schnell. Was sich als nützlich erweist, wenn man vor bewaffneten Idioten davonläuft.“

„Das ist wohl ein Vorteil.“ John runzelte die Stirn. „Sie hatten Glück, dass Ihnen nichts passiert ist.“

„Ja, aber die Geschichte geht noch weiter“, erwiderte Braden nach einem Schluck des heißen Gebräus. „Darüber wollte ich mit Ihnen sprechen.“

John seufzte. „Es gibt also Ärger. Ich glaube, Sie sind doch so schlimm wie Ihre Brüder.“

„Das ist buchstäblich unmöglich, zumindest wenn es nach den Naturgesetzen geht.“

John wedelte ungeduldig mit einer Hand. „Was ist geschehen?“

„Ich bin nur entkommen, weil ich von einer jungen Dame gerettet wurde.“

„Eines der Mädchen aus Old Town?“ John warf ihm einen fragenden Blick zu. „Ich weiß, dass einige von ihnen Messer bei sich tragen, aber gegen zwei bewaffnete Männer?“

Sein Freund versorgte die Prostituierten, die in Old Town ihrem Gewerbe nachgingen, oft kostenlos. Ihm und seiner Frau Bathsheba war es ein Anliegen, schutzbedürftigen Frauen zu helfen, die gezwungen waren, sich auf der Straße durchzuschlagen.

„Nein, diese Frau hatte einen bewaffneten Diener bei sich, und sie trug auch eine sehr tödliche Klinge versteckt in einem Gehstock bei sich.“ Er schüttelte den Kopf bei der Erinnerung an ihre beeindruckenden Fähigkeiten. „Und ich muss sagen, dass sie wusste, wie man sie benutzt.“

„Gütiger Gott.“

„Das ist noch nicht einmal das Seltsamste. Weder sie noch ihr Begleiter haben zu irgendeinem Zeitpunkt ein Wort gesagt. Sie haben die Schurken einfach in die Flucht geschlagen und mich gerettet. Und zwar äußerst effektiv.“

John wollte gerade einen Schluck von seinem Kaffee nehmen, stellte die Tasse aber wieder hin. „Sie haben überhaupt nichts gesagt?“

„Kein Wort. Sie haben jedoch mit Handzeichen kommuniziert.“

„Sie meinen wie in der Gebärdensprache?“

„Genau das wollte ich Sie fragen.“

Johns Schwägerin Rachel Compton war eine versierte junge Frau von vierundzwanzig Jahren. Sie war hochgradig schwerhörig. Rachel war einer der Gründe, warum John die Stelle in Edinburgh überhaupt angenommen hatte. In der Stadt war eine der ersten Schulen für Gehörlose gegründet worden, die von hervorragenden Lehrern geleitet wurde, die an der Entwicklung einer standardisierten Gebärdensprache mitgewirkt hatten. Rachel hatte sich als so talentierte Schülerin erwiesen, dass sie kürzlich eine Stelle als Lehrerin an einer neuen Schule in London angetreten hatte.

„Beschreiben Sie ihre Gebärden“, sagte John knapp.

Braden runzelte innerlich die Stirn über den seltsamen Tonfall seines Freundes, gab ihm dann aber einen kurzen Überblick über die Ereignisse und schilderte so viele Details der Kommunikation des geheimnisvollen Paares wie möglich.

„Also“, sagte er, als er mit seinem Bericht fertig war, „klingt das nach dem System, das an der Schule in Edinburgh unterrichtet wird?“

John legte die Hände flach auf den Schreibtisch und starrte einige Momente darauf. „Möglicherweise. Was geschah, nachdem Ihre Angreifer geflohen waren?“

„Meine Retter begleiteten mich zur Cowgate. Als der Nachtwächter kam, zogen sie sich sofort zurück.“ Braden hielt einen Finger hoch. „Nahmen den Weg zurück, den wir gekommen sind, möchte ich hinzufügen.“

Johns Augenbr...

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