Eine schicksalhafte Begegnung

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In der rauen Wildnis von Alaska tauchen selten so umwerfende Frauen wie Emmy Harris auf. Dabei hat der gut aussehende Arzt Aiden Tarlington bei ihrer Stiftung doch nur Fördergelder für sein Projekt beantragt. Aber nun ist sie da - und muss sogar bei ihm übernachten …


  • Erscheinungstag 15.03.2017
  • ISBN / Artikelnummer 9783733776770
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Das Flugzeug war in Fairbanks, Alaska, gelandet. Es stand jedoch noch auf dem Vorfeld, und die Passagiere konnten noch nicht von Bord gehen. Während Emmy Harris mit allen anderen wartete, nahm sie ihre Schminktasche aus dem Bordcase, um ein paar Reparaturen an ihrem Make-up vorzunehmen.

Als neue Direktorin der Bernsdorfstiftung wollte sie frisch und gepflegt aussehen, wenn sie Dr. Aiden Tarlington zum ersten Mal begegnete. Er war ein guter Freund des Vorsitzenden des Stiftungsbeirats – der alten Knaben, wie Emmy und ihre Assistentin sie immer nannten.

Die sieben Männer – alle alt genug, um Emmys Großvater sein zu können – waren ihre Arbeitgeber. Und wenn sie in den beiden Monaten, seit sie zur Direktorin befördert worden war, eins gelernt hatte, dann war es die Tatsache, dass die alten Knaben den allergrößten Wert auf eine makellose Erscheinung legten.

Da sie annahm, dass Dr. Tarlington in Howard Wilsons Alter war, wollte sie sich ihm mit einer absolut professionellen Erscheinung und Einstellung präsentieren. In den Augen ihrer Vorgesetzten war sie mit neunundzwanzig Jahren fast noch zu jung für ihre Position, daher wollte sie ihnen keinen weiteren Angriffspunkt bieten.

Allerdings gab es nicht viel zu reparieren, denn Emma trug nur wenig Make-up. Ihre Haut war rein, und bisher hatte sie noch keine Falten entdeckt, die getarnt werden mussten. Aber sie trug gern ein wenig helles Rouge an den hohen Wangenknochen auf, und da sie fast den ganzen Tag unterwegs gewesen war, glänzte ihre schmale, nicht zu lange Nase etwas.

Bevor sie am Morgen von zu Hause aufgebrochen war, hatte sie die haselnussbraunen Augen mit einem Hauch Mascara betont. Den brauchte sie nicht aufzufrischen, obwohl es schon spät am Nachmittag war, aber die dezent geschminkten, vollen Lippen mussten nachgezogen werden.

Sie hatte ihr glattes braunes Haar zu einem strengen Nackenknoten gebunden – um älter und erfahrener zu wirken. Aber ein paar Strähnen hatten sich gelockert, und sie schob sie wieder zurück.

Als die Maschine endlich wieder anrollte, legte sie die Schminktasche wieder in das Bordcase und schnallte sich ab. Sie strich über den blauen Rock, um die Krümel des Radiergummis zu entfernen, die sich dort gesammelt hatten, weil sie während des Flugs gearbeitet hatte. Dann streckte sie ein Bein so weit wie möglich aus, um zu überprüfen, ob die neuen, sehr teuren Nylons wirklich so gut saßen, wie die Werbung versprach.

Eine Minute später dockte das Flugzeug am Terminal an, und der Pilot bedankte sich bei seinen Passagieren dafür, dass sie mit seiner Gesellschaft geflogen waren. Emmy stand auf, zupfte den Stehkragen der weißen Bluse zurecht und zog die Kostümjacke an.

Sie konnte es kaum erwarten, von Bord zu gehen und sich in dem kleinen Ort Boonesbury umzusehen. Zu ihren Aufgaben als Direktorin gehörte es, Fakten zu sammeln und die Antragsteller zu überprüfen, die mit einer Spende der Stiftung die medizinische Versorgung ihrer ländlichen Region verbessern wollten. Von ihrer Empfehlung hing es ab, ob der Antrag bewilligt oder abgelehnt wurde.

Auf keinen Fall wollte sie länger als nötig in Boonesbury, Alaska, bleiben. Sie war durch und durch ein Stadtmensch und wusste schon jetzt, dass diese Reise in die entlegensten Teile des Landes nicht gerade zu ihren Lieblingspflichten als neue Direktorin der Bernsdorf-Stiftung gehören würden. Evelyn Wright, ihrer Vorgängerin, war es ebenso gegangen. Es war eine Reise in einen unterentwickelten Teil von Arkansas gewesen, die ihr den Rest gegeben und sie zur Kündigung bewogen hatte.

Bei der ersten Gelegenheit schlüpfte Emma in den Mittelgang und machte sich auf den langsamen Weg zum Ausgang. Aiden Tarlington würde sie am Flughafen abholen und mit ihr nach Boonesbury fahren, wo er der einzige Arzt war.

Vermutlich war er ein rundlicher, gemütlicher Mensch, und sie konnte nur hoffen, dass er noch nicht ganz so alt und gebrechlich wie Howard Wilson war. Als sie das letzte Mal mit Howard gefahren war, hatte sie Todesängste ausgestanden.

Am Flugsteig warteten einige Leute, und automatisch hielt sie nach einem Kopf mit weißem Haar Ausschau – nach einem wie Howards. Aber sie hatte keine Ahnung, wie Dr. Tarlington aussah. Vielleicht hatte er eine Glatze wie Ronald Whitlove – ein anderer alter Knabe.

Dann bemerkte sie, dass einige der Wartenden Schilder mit Namen in die Höhe hielten, und konzentrierte sich darauf, sie zu lesen.

Nein, sie war nicht Sharon.

Auch nicht Winston Murphy.

Aber sie war Emmy Harris …

Nur, der Mann, der das Pappquadrat mit ihrem Namen hielt, war nicht weißhaarig. Oder kahlköpfig. Nicht einmal alt.

Er hatte volles schokoladenbraunes Haar. Und es war lässig aus einem Gesicht gekämmt, das einem Mann gehörte, der wesentlich jünger als Howard war und atemberaubend gut aussah.

Emmy warf einen zweiten Blick auf das Schild, um sicher zu sein, dass sie sich nicht geirrt hatte.

Hatte sie nicht. Es war ihr Name, der in großen Buchstaben darauf stand. Und das Schild wurde von jemandem gehalten, der alles andere als großväterlich wirkte.

Vielleicht ist das überhaupt nicht Dr. Tarlington, dachte sie, als sie auf ihn zuging. Er war nicht gekleidet wie jemand, der Eindruck machen wollte, damit er das beantragte Geld bekam. Dieser Mann trug verwaschene Jeans, einen Pullover, in dessen V-Ausschnitt ein weißes T-Shirt zu sehen war, und eine Denimjacke, die noch heller als die Hose war.

Nicht, dass das Outfit ihm nicht stand. Das tat es. Emmy bezweifelte, dass es irgendetwas gab, in dem der Typ schlecht aussehen würde.

Er war groß und hatte die breitesten Schultern, die ihr je vor die Augen gekommen waren. Außerdem ein kantiges Kinn, eine volle Unterlippe, dazu eine dünnere, aber sehr sinnliche Oberlippe, eine lange, markante Nase und hellblaue Augen, die selbst in einem langweiligen Gesicht auffallen würden.

„Ich bin Emmy Harris“, begrüßte sie ihn, weil sie ihn nicht mit Dr. Tarlington anreden wollte, denn vermutlich war er gar nicht der Landarzt, der sie hier abholen sollte.

Er ließ das Schild sinken und streckte eine große Hand mit kräftigen Fingern aus.

„Hi. Aiden Tarlington.“

Emmy schüttelte die Hand kurz und starrte in sein Gesicht.

„Dr. Tarlington?“, fragte sie. Vielleicht war er der Enkel des Doktors und hieß wie sein Großvater.

„Aiden reicht völlig“, versicherte er mit tiefer, äußerst männlicher Stimme.

„Sie sind Howards Angelkamerad?“, erwiderte sie verblüfft.

„Ab und zu gehen wir auch zusammen auf die Jagd.“

„Also sind Sie Freunde?“

„Ja. Warum überrascht Sie das?“

„Ich dachte nur … Nun ja, ich schätze, ich habe erwartet, dass Sie in Howards Alter sind.“

„Aha. Nein, zweiundsiebzig bin ich noch lange nicht. Aber wir sind trotzdem befreundet. Und Angel- und Jagdkameraden. Falls das für Sie okay ist“, fügte er mit einem belustigten Lächeln hinzu, das winzige Falten an seine durchdringend blickenden blauen Augen zauberte.

„Es geht nicht um okay oder nicht okay, es ist nur …“

„Eine Überraschung.“

„Eine Überraschung“, bestätigte sie. „Ich dachte wirklich, Sie wären einer von Howards Altersgenossen.“

„Tut mir leid, dass ich Sie enttäuscht habe.“

Enttäuschung war das Letzte, was Emmy verspürte.

Was sie verspürte, war das starke – und völlig unprofessionelle – Bedürfnis, ihr Haar aus dem Nackenknoten zu befreien.

„Nein, nein, schon gut“, sagte sie. „Sie sind nur nicht so, wie ich Sie mir vorgestellt habe. Aber eigentlich bin ich froh, dass Sie jünger als Howard sind. Da brauche ich mir wenigstens keine Sorgen zu machen, dass mich jemand mit Augenproblemen und langsamen Reflexen nach Boonesbury fährt.“

„Meine Augen und Reflexe sind in Ordnung“, antwortete der Doktor, und sie fragte sich, ob er gerade versucht hatte, ein wenig zu flirten.

Ich muss mich getäuscht haben, sagte sie sich.

Obwohl er sie nicht aus den Augen gelassen hatte, seit sie auf ihn zugegangen war und sich ihm vorgestellt hatte.

„Aber wir fahren nicht nach Boonesbury“, sagte er. „Das würde einen ganzen Tag dauern. Und die Rückfahrt auch. Wir fliegen.“

„Oh.“ Das verwirrte sie, denn man hatte ihr nicht gesagt, dass sie einen Weiterflug buchen sollte. „Und Sie haben sich um alles gekümmert?“

„Ja. Ich habe die Maschine hergeflogen und werde sie auch zurückfliegen.“

„Oh.“ Dieses Mal hörte es sich etwas beunruhigt an.

Emmy war einige Jahre lang Evelyns Assistentin gewesen und oft mit ihr unterwegs gewesen. Evelyn hatte das Handtuch geworfen, nachdem das Kleinflugzeug, das sie in den hintersten Winkel von Arkansas bringen sollte, auf einem Acker notgelandet war. Emmy hatte gehofft, so etwas nie erleben zu müssen.

Aber jetzt, auf ihrer ersten Reise als Evelyns Nachfolgerin, sollte sie ebenfalls mit einem kleinen Flugzeug fliegen. An dessen Steuerknüppel ein Arzt sitzen würde.

„Also sind Sie Arzt und Pilot?“, fragte sie und versuchte, sich ihre Nervosität nicht anhören zu lassen.

„Mit Zulassung, ja.“ Er wirkte wieder amüsiert, und jetzt funkelten seine Augen sogar.

Dann beugte er sich vor. „Ich fliege besser, als Howard fährt, falls Sie sich deswegen Sorgen machen.“

Langsam begann sie, sich nicht nur deswegen Sorgen zu machen …

„Sind Sie ein erfahrener Pilot?“, fragte sie.

„Ja. Bei einem Drittel meiner Patienten mache ich die Hausbesuche mit dem Flugzeug.“

„Haben Sie ein eigenes?“

„Na ja, sagen wir, Boonesbury und ich teilen es uns.“

„Was ist es für eins? Eine winzige Propellermaschine?“ Damit war ihre Vorgängerin notgelandet.

„Kennen Sie sich mit Flugzeugen aus?“

„Nein.“

„Meine Maschine ist zweimotorig. Das heißt, sie ist etwas größer als eine einmotorige. Sie kann sechs Passagiere befördern. Eine einmotorige hat nur zwei oder vier Sitze, falls Ihnen das hilft.“

„Was mir helfen würde, ist, dass sie sicher ist.“

„Ist sie. Was die Wartung angeht, bin ich Perfektionist, und ich musste noch nie landen, bevor ich es wollte“, versicherte er.

Es gibt immer ein erstes Mal, dachte Emmy, sprach es jedoch nicht aus. Denn sie war eisern entschlossen, diesen Teil ihres Jobs tapferer zu ertragen, als Evelyn es getan hatte.

Außerdem bedeutete das Fliegen, dass sie zwei Tage weniger in dieser Einöde verbringen musste.

Also beschloss sie, diesem Mann zu vertrauen.

„Ich nehme an, es wird schon gehen“, sagte sie.

„Ich garantiere es Ihnen.“

Emmy seufzte. „Wohin müssen wir?“

„Der Privatfliegerbereich ist auf der anderen Seite der Gepäckausgabe.“ Der Doktor nahm ihr das Bordcase ab. „Hier entlang.“

Er marschierte los, aber selbst dabei musterte er sie von Kopf bis Fuß. „Ich hoffe, Sie haben ein paar warme Sachen und eine dicke Jacke eingepackt.“

„Hosen und einen leichten Pullover.“

„Keine Jacke?“

„Wir haben erst September.“

„Aber dies ist Alaska.“

„Deshalb habe ich lange Hosen und einen Pullover mit.“

„Das Problem ist, Boonesbury liegt fast am Polarkreis. Warm heißt bei uns knapp über dem Gefrierpunkt.“

„Oh“, entfuhr es Emmy einmal mehr. Daran hatte sie gar nicht gedacht. In Los Angeles herrschte noch Hochsommer.

„Schätze, wir werden Ihnen ein paar warme Sachen und eine Jacke besorgen müssen. Morgen ist zwar Sonntag, aber ich werde Joan überreden, ihren Laden für uns zu öffnen.“

„In Boonesbury gibt es ein Geschäft für Damenbekleidung?“

„Nein, Joan verkauft so ungefähr alles, was es gibt.“

„Ich verstehe. Na ja, ich brauche nicht viel. Zum Glück bin ich nicht sehr kälteempfindlich.“

Aiden Tarlington schien ein Lächeln nicht unterdrücken zu können. Eins, das zwei äußerst reizvolle Falten an den Mundwinkeln bewirkte. „So?“, fragte er nur, als sie die Gepäckausgabe erreichten.

Es dauerte nicht lange, bis sie ihre Koffer vom Band genommen hatten und das Terminal für die Privatflieger erreichten. Dort gab es keinen überdachten Flugsteig, also mussten sie zu Fuß auf das Vorfeld. Die eisige Luft traf Emmy, als hätte sie einen Gefrierschrank geöffnet.

Sie unterdrückte ein Frösteln. Schließlich sollte der Doktor sie nicht für ein Weichei aus der Großstadt halten.

Neben den Jets der Fluglinien wirkte die zweimotorige Maschine winzig. Emmys Nervosität wuchs.

Wenigstens schien der Landarzt, der kurz darauf seine Checkliste durchging, zu wissen, was er tat. Dennoch zog Emmy den Sicherheitsgurt besonders fest und umklammerte die Armlehnen.

Nach einem kurzen Funkgespräch mit dem Kontrollturm rollten sie zur Startbahn und hoben ab.

„Wir werden in ziemlich niedriger Höhe fliegen“, übertönte Aiden das Dröhnen der Triebwerke. „Also werden Sie viel sehen können, bevor es dunkel wird. Und bevor Sie mich fragen, ich habe eine Lizenz für den Instrumentenflug, das heißt, ich kann im Dunkeln fliegen.“

Emmy hatte nicht gewusst, dass es dafür eine spezielle Lizenz gab, und seine Worte beruhigten sie nicht besonders.

„Kommen Sie, entspannen Sie sich und genießen Sie den Ausblick“, sagte er, als könnte er ihre Gedanken lesen.

Sie waren noch keine halbe Stunde in der Luft, als die Zivilisation unter ihnen verschwand und sich ein spektakuläres Panorama entfaltete.

Aiden zeigte auf Seen, von Gletschern geschaffene Täler, Berggipfel und andere Naturwunder, die Emmy sonst vielleicht entgangen wären.

Aber trotz der unglaublichen Schönheit einer Landschaft, die durch die untergehende Sonne in ein rosiges Licht getaucht wurde, zweifelte Emmy nicht daran, dass sie sich in eine echte Wildnis begeben hatte. Die Vorstellung begeisterte sie nicht gerade. Sie war von der Zivilisation abgeschnitten.

Ich werde ja nicht für immer hier sein, tröstete sie sich. Dies ist eine Dienstreise, mehr nicht …

Der Flug dauerte anderthalb Stunden, die letzten dreißig Minuten in stockdunkler Nacht. Dann verkündete Aiden endlich, dass sie gleich landen würden.

„Wo denn?“, fragte Emmy. Der fliegende Landarzt hatte keinen Funkkontakt mit dem Boden aufgenommen, und nirgendwo waren Lichter zu sehen.

„Auf einer Wiese. Mehr ist der Flugplatz von Boonesbury nicht“, informierte er sie.

„Eine Wiese?“

„Kein Problem“, sagte er mit einem erneuten Anflug von Belustigung.

Emmy packte die Armlehnen mit aller Kraft und begann zu verstehen, warum ihre Vorgängerin gekündigt hatte.

Aiden wirkte vollkommen konzentriert, als das Flugzeug rasch an Höhe verlor und wenig später sanft aufsetzte. Die Maschine rollte aus und hielt vor einem kleinen Schuppen, der von einem einzelnen Scheinwerfer erhellt wurde. Daneben stand ein Geländewagen, in dem niemand saß. Und es kam auch niemand aus dem Schuppen, um sie zu empfangen. Kein Mensch war zu sehen. Es gab nur die Wiese, den Schuppen und in der Ferne jede Menge Fichten.

Aber wenigstens hatten sie wieder festen Boden unter den Füßen. Emma stieß den angehaltenen Atem aus und schwor sich, dass sie auch diese Prüfung bestehen würde.

Aiden schaltete die Triebwerke aus, und während es in der Kabine langsam leiser wurde, notierte er auf einem Klemmbrett, was die Instrumente vor ihm anzeigten.

„Oh, das habe ich ganz vergessen“, begann er plötzlich. „Die Pension, in der Sie absteigen sollten, musste wegen eines Rohrbruchs schließen. Also werden Sie bei mir schlafen. Und da mein Blockhaus zwischen hier und Boonesbury liegt, werden wir heute Abend nicht mehr in den Ort kommen.“

„Ich schlafe bei Ihnen?“, wiederholte sie und klang nicht so ruhig, wie sie es sich vorgenommen hatte.

„Lassen Sie es mich anders formulieren.“ Er legte das Klemmbrett zur Seite und sah sie an. „Ich fürchte, die Pension ist die einzige Übernachtungsmöglichkeit, die wir hier haben. Also bleibt Ihnen keine andere Wahl, als bei mir zu übernachten. Bei mir, das heißt in einer Dachkammer, die ein eigenes Bad hat und nur über eine Außentreppe erreicht werden kann, also praktisch abgeschlossen ist. Nun ja, Sie werden meine Küche mitbenutzen müssen. Aber es ist ganz gemütlich, und Sie werden vollkommen ungestört sein.“

Emmy musste daran denken, in was für Unterkünften ihre Vorgängerin abgestiegen war. Trotzdem fand sie die Situation, in die sie geraten war, äußerst unangenehm. Zumal sie ihren Gastgeber attraktiver fand als sie sollte.

„Sonst gibt es keine Möglichkeit?“

„Tut mir leid.“

Sie versuchte, sich an den Gedanken zu gewöhnen.

Diese Situation war für sie völlig neu.

Sie musste sich einfach nur damit abfinden, dann würde es kein Problem geben.

Jedenfalls hoffte sie das.

Aidens Blockhaus lag an einem See, dessen Ufer von Tannen gesäumt war. Der Mondschein spiegelte sich auf der ruhigen Oberfläche, als Aiden Emmys Gepäck auf die Veranda trug. Er ging an der Haustür vorbei zur rechten Seite des Hauses. Sie folgte ihm und sah die Treppe, die nach oben führte.

„Wir bringen Ihre Sachen nach oben und stellen die Heizung an, damit es warm wird, während wir einen Happen essen“, erklärte er.

Emmy war sehr dafür, ihr Zimmer zu heizen, denn er hatte nicht übertrieben – hier draußen war es noch kälter als in Fairbanks.

Der Raum im Obergeschoss war groß und enthielt nichts als ein Messingbett, einen Sessel, eine Leselampe und eine alte Kommode.

„Das Bett hat eine Federmatratze“, informierte Aiden sie, während er ihre Koffer auf den alten, seit Jahrzehnten nicht mehr polierten Dielenboden stellte. „Ich hoffe, Sie sind nicht allergisch.“

„Bin ich nicht“, sagte sie und schaute ins Bad, in dem es eine Toilette, ein Waschbecken und eine altmodische Wanne gab, über der eine noch älter aussehende Dusche hing.

Als sie ins Schlafzimmer zurückkehrte, hatte er bereits den Heizlüfter angestellt.

„Sie sollten ihn nicht die ganze Nacht laufen lassen“, riet er. „Er könnte sich überhitzen. Aber das Bett hat eine Heizdecke, also werden Sie im Schlaf nicht frieren. Nur das Aufstehen könnte ein leichter Schock sein.“

„Das kann ich mir vorstellen.“

„Dafür werden Sie schnell wach.“

„Mmm.“

„Gehen wir nach unten. Ich habe ein paar Sandwichs gemacht.“

Er hielt ihr die Tür auf, und Emmy trat wieder in die Kälte.

Am Fuß der Treppe ging er vor ihr zur Haustür. Wie von selbst fiel ihr Blick auf das in Jeans gehüllte Hinterteil. Wie der Rest von ihm war es durchaus sehenswert, und Emmy zwang sich, nicht mehr hinzuschauen.

Aber was sie sah, als sie den Kopf hob, war ebenso reizvoll. Breite, sehr breite Schultern und Haar, das sich am kräftigen Hals wellte.

„Ladys first“, sagte er, und erst jetzt bemerkte sie, dass er auf sie gewartet hatte, um ihr den Vortritt zu lassen.

Das Erdgeschoss war etwa doppelt so groß wie das Dachzimmer, aber trotzdem nicht sehr geräumig. Oder luxuriös. Wohnzimmer, Esszimmer und Küche gingen ineinander über. Neben der Küche befand sich eine Kammer mit einer Tür nach draußen. Links führte ein Durchgang zum Schlafzimmer mit angeschlossenem Bad.

Die Einrichtung war so schlicht wie das ganze Blockhaus. Ein braun kariertes Sofa mit passendem Sessel, ein aus einem alten Wagenrad gefertigter Couchtisch, ein kleiner Fernseher mit Videorekorder.

Aidens Stereoanlage stand auf gestapelten Backsteinen, an der Wand gegenüber ein Schreibtisch, im Essbereich ein zerkratzter Eichentisch mit vier Stühlen.

„Ich weiß, es ist nicht sehr einladend“, sagte Aiden. „Aber Boonesbury stellt das Blockhaus und die meisten Möbel seinem Arzt zur Verfügung, und ich bin ohnehin meistens unterwegs.“

„Aber es ist ganz gemütlich“, wiederholte sie seine genauen Worte.

Er lachte, und der Klang gefiel ihr. Genau wie die Tatsache, dass ihr kleiner Scherz ihm nicht entgangen war.

Aiden holte einen Teller mit Sandwichs und eine Schüssel mit Kartoffelsalat aus dem Kühlschrank und stellte sie zusammen mit zwei Gläsern Wasser auf den Tisch. Während sie aßen, klärte er sie über die Macken der Wasserversorgung und Telefonverbindungen in Boonesbury auf.

Als er anschließend die übrig gebliebenen Sandwichs zurück in den Kühlschrank stellen wollte, klopfte es an der Tür.

„Machen Sie auf, ja?“, sagte er über die Schulter.

Sie ahnte schon jetzt, dass er ein ziemlich ungezwungener Mensch war und keinen übertriebenen Respekt vor der Direktorin der Bernsdorf-Stiftung an den Tag legen würde. Also passte sie sich seinem Stil an und ging zur Tür, um sie zu öffnen.

Auf Augenhöhe war kein Besucher zu sehen, doch als sie den Blick senkte, fiel er auf einen Wipper und eine Tasche.

Verblüfft trat sie in die Kälte hinaus.

Aber es war genau das, wonach es aussah.

Eingehüllt in Wolldecken und einen Schneeanzug mit Kapuze lag ein Baby im Wipper. Ein Baby mit großen braunen Augen, die sie über den Schnuller hinweg anstarrten.

„Ich denke, Sie sollten sich das hier ansehen!“, rief sie Aiden zu, während sie sich umsah und niemanden entdeckte.

Doch als Aiden auf die Veranda kam, war in der Ferne ein davonrasendes Auto zu hören.

„Was ist?“, fragte er.

„Gute Frage. Ich habe die Tür aufgemacht und das hier gefunden – eine Tasche und ein Baby in einem Wipper.“

„Oh, oh“, erwiderte Aiden, klang jedoch nicht annähernd so aufgeregt, wie Emmy sich fühlte.

Er verließ die Veranda und ging ums Haus herum. Als er zurückkehrte, zuckte er mit den Schultern. „Niemand da. Wir sollten das Baby hineinbringen.“

Er trug den Wipper und die Tasche hinein. Emmy folgte ihm in die Küche, wo er beides abstellte und das Baby heraushob.

„Hallo“, begrüßte er es mit leiser, beruhigender Stimme.

„Sehen Sie in der Tasche nach, ob es eine Nachricht gibt. Oder irgendetwas, das uns verrät, wen wir hier haben“, bat er Emmy.

Sie tat es und fragte sich dabei, ob ihre Vorgängerin jemals eine so unkonventionelle Dienstreise erlebt hatte.

Zwischen den Kleidungsstücken, Windeln und Gläsern mit Babynahrung fand sie einen Zettel, auf dem nur ein einziges Wort stand: Mickey. Sie zeigte ihn ihrem Gastgeber.

„Mickey, ja? Na, dann untersuchen wir dich mal. Einverstanden, Mickey?“

Emmy beobachtete, wie er das Baby auf das Sofa legte und es auszog.

„Mickey scheint ein Junge zu sein“, verkündete er unnötigerweise, bevor er dem Baby rasch und geschickter, als Emmy erwartet hatte, eine frische Windel verpasste. „Passen Sie auf, dass er nicht vom Sofa fällt“, sagte er und holte seine Arzttasche von einem kleinen Tisch neben der Haustür.

Er untersuchte das Baby gründlich. Mickey lutschte zufrieden an seinem Schnuller und protestierte nur, als Aiden ihm mit dem Stethoskop Herz und Lunge abhörte.

„Ich würde sagen, Mickey ist etwa sieben Monate alt, wohlgenährt, gepflegt und kerngesund“, verkündete er seine Diagnose.

„Und warum lag er auf Ihrer Veranda? Oder kommt es oft vor, dass Leute ihre Kinder spätabends zu einer Untersuchung abgeben?“

„Nein, dies ist eine Premiere.“

„Sie wissen nicht, wer das Kind ist, zu wem es gehört oder woher es kommt?“, fragte Emmy ungläubig.

„Ich weiß nicht mehr als Sie“, antwortete Aiden gelassen.

Sie verstand nicht, warum er so ruhig blieb.

Dann machte es in ihrem Kopf klick und sie ging durch, was geschehen war, seit sie in Alaska gelandet war. Sie war mit einer kleinen Maschine mitten in die Wildnis geflogen. Um bei einem viel zu attraktiven Mann in seiner einsam gelegenen Hütte ohne Zentralheizung zu wohnen. Und jetzt auch noch ein ausgesetztes Baby vor der Tür?

Das alles konnte nur ein Scherz sein, den Howard sich mit ihr erlaubte.

Oder ein Test, um herauszufinden, wie sie mit kritischen Situationen umging.

„Das hier ist ein Test, richtig?“, hörte sie sich sagen. „Howard will wissen, ob ich mich auf meine Arbeit konzentriere, anstatt mich in Dinge einzumischen, die mich nichts angehen. Ich weiß, dass er mit Evelyn unzufrieden war, weil sie sich auf diesen Reisen zu sehr ablenken ließ. Er fand, dass sie alles viel zu persönlich nahm und sich bei ihren Entscheidungen von den falschen Dingen beeinflussen ließ. Also hat er beschlossen, mich einer Feuertaufe zu unterziehen, nicht wahr?“

Aiden setzte Mickey auf sein Knie und sah Emmy an, als hätte sie den Verstand verloren. „Das Einzige, was Howard getan hat, ist, Boonesbury für eine Förderung in Betracht zu ziehen.“

„Kommen Sie. Ich musste in einer Maschine wie der fliegen, in der Evelyn beinahe abgestürzt wäre. Ich muss in einer Hütte mitten im Nichts wohnen. Und kaum komme ich hier an, liegt ein wildfremdes Baby auf der Veranda. Das hat Howard alles so arrangiert.“

„Tut mir leid, Emmy, das hat er nicht.“

Es war kein gutes Zeichen, dass die Art, wie er ihren Namen aussprach, ihr Herz schneller schlagen ließ, obwohl dies wahrlich nicht der richtige Zeitpunkt für so etwas war. Aber wahrscheinlich war sie ein wenig überempfindlich. Schließlich war sie seit vier Uhr morgens wach und hatte einen anstrengenden Tag hinter sich.

Trotzdem war sie noch immer davon überzeugt, dass Howard ihr einen Streich spielen wollte. Und wenn Aiden Tarlington mit ihrem Chef unter einer Decke steckte, würde er es sicher nicht zugeben.

„Okay. Was heißt das also?“, fragte sie spitz. „Während ich hier bin und Sie mir erklären, wie die medizinische Versorgung in Boonesbury verbessert werden kann, müssen wir uns auch noch um ein ausgesetztes Baby kümmern?“

„Nun ja, das werde ich wohl müssen. Jemand hat es auf meiner Veranda gelassen, und bestimmt hat er einen Grund dafür. Ich muss herausfinden, wer das war und warum er es getan hat. Danach sehen wir weiter. Aber bis dahin wird Mickey Sie nicht von Ihrer Arbeit abhalten. Boonesbury braucht das Geld von Ihrer Stiftung wirklich.“

„Sie scheinen das alles ganz normal zu finden“, sagte Emmy. Wie konnte er nur so cool bleiben?

Autor

Victoria Pade

Victoria Pade ist Autorin zahlreicher zeitgenössischer Romane aber auch historische und Krimi-Geschichten entflossen ihrer Feder. Dabei lief ihre Karriere zunächst gar nicht so gut an. Als sie das College verließ und ihre erste Tochter bekam, machte sie auch die ersten schriftstellerischen Gehversuche, doch es sollte sieben Jahre dauern, bis ihr...

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