Eines Tages wirst du schwach

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Seit Dr. Abigail Trent auf einem Bankett mit dem umschwärmten Kollegen Greg Hastings getanzt hat, brodelt die Gerüchteküche im Merrimac General Hospital. Hat er es wirklich geschafft, die sonst so kühle Ärztin herumzukriegen? Nein, noch konnte Abigail ihm widerstehen, obwohl es ihr ganz schön schwer gefallen ist. Aber ihre Beförderung zur stellvertretenden Leiterin der Klinik will sie auf keinen Fall gefährden - und eine Affäre unter Kollegen wird gar nicht gerne gesehen …


  • Erscheinungstag 14.02.2018
  • ISBN / Artikelnummer 9783733755577
  • Seitenanzahl 130
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

„Das wird eine totale Katastrophe!“, rief Abigail Trent entsetzt aus. Unglücklich betrachtete sie ihr Spiegelbild. Dann atmete sie tief durch, um sich ein wenig zu beruhigen.

„Hey, du hast schließlich gesagt, dass du Jeb eifersüchtig machen willst“, entgegnete ihre Freundin Kim und zielte mit dem Haarspray auf Abbys Kopf. Bevor Abby antworten konnte, gab es ein zischendes Geräusch. Das Spray umnebelte sie, und Abby hielt kurz den Atem an. Kim hatte recht. Als sie begriffen hatte, dass Jeb Stuart sie nicht mehr anrief, weil er sich mit einer anderen Frau traf, war sie wütend gewesen und hatte sich zutiefst verletzt gefühlt. Insgeheim hatte sie geglaubt, dass sie und er eines Tages vor dem Altar stehen würden.

Sie trat einen Schritt vom Spiegel zurück und schüttelte den Kopf. „Meinst du, dass es funktioniert? In dieser Aufmachung sehe ich mir zwar kein bisschen ähnlich, aber ich vermute, dass ich immer noch zu wenig Aufsehen errege. Ich wünschte, ich wäre eine sagenhafte Blondine mit traumhaften Rundungen.“ Sie runzelte die Stirn. „Ich mache mir wirklich Sorgen wegen heute Abend. Eigentlich ist es gar nicht meine Aufgabe, die Spende entgegenzunehmen. Ich bin mir nicht einmal sicher, ob ich überhaupt zu diesem Bankett gehen sollte. Der Verwaltungschef der Klinik sollte den Scheck annehmen. Oder der Leiter der Inneren Medizin, nicht irgendeine junge Kinderärztin.“

„Carols Familie hat ausdrücklich darum gebeten, dass du es machst“, meinte Kim sanft.

Abby nickte. Ihre Augen füllten sich mit Tränen. Sie vermisste ihre Freundin so sehr! Es war einfach nicht gerecht, dass sie so jung gestorben war! Zu jung. Ihr ganzes Leben hatte vor ihr gelegen, bis ein betrunkener Autofahrer ihren Wagen gerammt hatte.

„Hör auf zu weinen, sonst verschmiert dein ganzes Make-up, und wir müssen von vorn anfangen“, warnte ihre Freundin und legte ihr mitfühlend einen Arm auf die Schulter.

Abby schaute zur Decke und blinzelte heftig. „Keine Zeit! Dr. Hastings wird jede Sekunde hier sein. Und ich will ihn auf keinen Fall warten lassen!“

„Ich kann es kaum glauben, dass du schon seit sechs Monaten in der Klinik arbeitest und ihn immer noch Dr. Hastings nennst. Ich dachte, ihr geht zwangloser miteinander um“, bemerkte Kim.

„Nicht mit ihm“, erwiderte Abby und stellte sich wieder vor den Spiegel. Der Push-up-BH verschaffte ihr ein atemberaubendes Dekolletee, und ihr hautenges Kleid unterstrich die restlichen Kurven. Sie versuchte, das knappe Kleid auf eine schickliche Länge nach unten zu ziehen. Kim schlug ihr auf die Finger.

„Lass das. Es ist wunderbar.“

„Es sitzt wirklich wie angegossen. Ich weiß nicht, vielleicht ist die Idee doch nicht so gut.“ Zweifel und Unsicherheit stiegen plötzlich in ihr hoch.

„Hey, du wolltest, dass Jeb dich in einem anderen Licht sieht. Keine billigen Klamotten, keinen Laborkittel, keine Jeans. Abby pur eben. In Reinkultur.“

„Aber das hier sieht nicht nach Reinkultur aus!“

Kim lachte. „Na schön, dann eben keine Kultur. Nur eine geheimnisvolle, heißblütige, verführerische Abby. Jeb wird ganz verrückt nach dir sein.“

„Hoffentlich.“ Abby seufzte leise und drehte sich zur Tür, als es klingelte. „Du liebe Güte! Da ist er schon.“

„Warum hast du denn zugestimmt, dass Dr. Hastings dich begleitet, wenn du ihn gar nicht magst?“

„Warum wohl? Als der Chefarzt hörte, dass ich für heute Abend noch keine Begleitung habe, hat er darauf bestanden, dass Dr. Hastings mich begleitet. Und wer bin ich, dass ich mit dem Chefarzt streite? Als junge Ärztin brauche ich jeden Verbündeten auf der oberen Ebene. Jeden, den ich nur finden kann.“

Hastig verließ sie das Schlafzimmer, als es zum zweiten Mal klingelte. Die hohen Absätze fühlten sich fremd an, das türkisfarbene Kleid war mit Sicherheit zwei Nummern zu klein, und ihre hochgesteckte Frisur enthielt so viel Spray, dass noch nicht einmal ein Wirbelsturm sie durcheinander bringen konnte. Viel lieber hätte sie den Abend in einem bequemen Pullover zu Hause verbracht.

Sie atmete noch mal tief durch, öffnete die Tür und bereitete sich innerlich darauf vor, dass eine Welle erregender Gefühle ihren Körper überfluten würde. Obwohl sie Dr. Hastings schon seit sechs Monaten kannte, registrierte sie diese Gefühle immer, wenn sie ihm begegnete. Sie konnte nichts dagegen tun.

Sie hatte ihn schon oft bei den Teambesprechungen getroffen. Diverse Male schon war er ihr auf dem Flur begegnet – normalerweise umringt von Krankenschwestern, die ihn regelrecht anhimmelten. Es war nicht schwer zu erkennen, was sie an ihm so attraktiv fanden.

Alles.

Seine Größe, seine breiten Schultern, seine markanten Wangenknochen, seine dunklen, wissenden Augen. Er wirkte unglaublich gesund und vital. Seine Haut war braun gebrannt, als ob er ständig in Ferien sei.

In seinem anthrazitfarbenen Anzug mit dem weißen Hemd und der silbergrauen Krawatte sah er einfach perfekt aus. Aber auch im weißen Laborkittel oder in zerknitterten Hosen nach einem Tag in der Chirurgie sah er großartig aus.

„Hallo“, grüßte sie und versuchte krampfhaft, das flaue Gefühl in der Magengegend loszuwerden. „Bin sofort fertig. Wollen Sie einen Moment reinkommen?“ Ohne auf eine Antwort zu warten, drehte sie sich um, griff nach ihrer Handtasche und nach einem leichten Mantel. Die Abende in San Francisco waren manchmal noch recht kalt.

Kim kam aus dem Schlafzimmer. „Viel Spaß“, wünschte sie. Erstaunt riss sie die Augen auf, als sie Greg Hastings erblickte.

Er trat ein und ließ seinen Blick durch Abbys Apartment schweifen. Abby konnte sich vorstellen, dass ihm die mädchenhafte Möblierung ihrer Wohnung nicht gefiel. Im Moment hatte sie jedoch andere Sorgen. Zum Beispiel, wie sie die feierliche Übergabe des Schecks von Carols Familie überstehen sollte. Sie wusste, dass sie es schaffen würde. Den Scheck entgegennehmen, den ihr der Anwalt der Familie Walker überreichen würde. Die kleine Dankesrede, die sie im Namen der Klinik halten musste. Sie musste es um ihrer Freundin willen tun.

Kim räusperte sich.

„Kim, das ist Dr. Hastings.“ Abby deutete auf Kim. „Meine Nachbarin, Kim Saunders.“

„Guten Abend, Dr. Hastings. Angenehm“, grüßte Kim lächelnd und schüttelte ihm die Hand.

„Ganz meinerseits. Bitte nennen Sie mich Greg.“ Seine tiefe Stimme verriet, dass Kim ihm gefiel. Abby beobachtete ihn. Wenn seine Stimme nur halb so erfreut klingen würde, wenn er sie in der Klinik traf!

„Ich bin fertig“, sagte Abby und wünschte sich, dass sie es mit Männern so leicht hätte wie ihre Freundin. Aber allein die Anwesenheit von Greg Hastings schnürte ihr die Kehle zu.

Greg wandte sich zu ihr und ließ seinen Blick amüsiert an ihr hinuntergleiten. War etwas nicht in Ordnung? Was hatte Kim falsch gemacht?

Er neigte den Kopf zur Seite. „Sie sehen anders aus als sonst.“

„Ich konnte ja schlecht einen Laborkittel anziehen“, erwiderte sie knapp. Aber sein eingehender Blick verstärkte nur ihre eigene Unsicherheit. Sie hob das Kinn und schaute ihn an.

„Mein Wagen steht unten vor der Tür“, erklärte er mit einem Lächeln und trat zur Seite, um sie vorbeizulassen. Kim schlüpfte zur Tür hinaus und winkte ihnen zum Abschied zu.

„Morgen kannst du mir alles erzählen“, rief sie Abby zu und eilte über den Flur zu ihrer Wohnung.

Wenige Augenblicke später saß Abby in dem luxuriösen silberfarbenen Mercedes von Greg Hastings. Geschickt manövrierte er den Wagen vom Parkplatz und fuhr zu dem Restaurant in einem Vorort von San Francisco, in dem das Bankett stattfand.

Sie schwiegen. Abby fühlte sich unbehaglich und dachte über die Dankesrede nach, die sie in Kürze halten sollte. Das Herz war ihr schwer. Carol Walker war ihre beste Freundin gewesen – sie und Jeb. Sie waren beide in Abbys Alter, gerade dreißig, und sie hatten vier Jahre lang gemeinsam Medizin studiert, ihre Praktika in den Krankenhäusern gemeinsam absolviert und außerdem noch Zeit gefunden, miteinander auszugehen, wenn sie einmal nicht lernen oder arbeiten mussten. Sie und Carol und Jeb – drei Musketiere, seit langer Zeit. Die besten Freunde.

Eine von ihnen war jetzt tot, der andere verschwunden.

Plötzlich wurde Abby bewusst, wie lange das Schweigen zwischen ihnen schon andauerte. Sie schaute ihren Begleiter von der Seite an.

„Danke, dass Sie mich mitnehmen“, sagte sie.

Er zuckte die Schultern. „Ich fahre doch sowieso.“

„Ich kann aber nachher selbst nach Hause fahren. Machen Sie sich keine Sorgen um mich.“

Er warf ihr einen kurzen Blick zu. „Ich bringe Sie natürlich nach Hause.“

Das könnte er ruhig ein wenig freundlicher sagen, dachte sie. Immer noch musste sie daran denken, wie peinlich es ihr gewesen war, als der Chefarzt ihr mitgeteilt hatte, dass Dr. Hastings sie abholen würde. Wenn sie das geahnt hätte, hätte sie sicher noch einen anderen Begleiter gefunden. Jeb zum Beispiel. Allerdings schien der im Moment die blonde Sexbombe vorzuziehen.

„Erzählen Sie mir von Carol Walker“, bat Greg jetzt. „Warum schenkt die Familie der Klinik ihre Lebensversicherung?“

„Sie war gerade an der Klinik angestellt worden, als sie ums Leben kam“, antwortete Abby langsam. Die Herzschmerzen, die sich jedes Mal bemerkbar machten, wenn sie von Carol sprach, wurden heftiger. „Sie war wahnsinnig stolz und aufgeregt, weil sie es endlich zur Ärztin gebracht hatte. Und weil das Merrimac General Hospital sie genommen hatte. Wie wir alle.“ Sie schaute ihn an und fragte sich, ob sie nach ein paar Jahren im Krankenhaus wohl genauso kühl werden würde wie er. Hoffentlich nicht!

„Sie müssen nicht antworten. Ich weiß, was Sie denken“, meinte sie, als müsse sie sich verteidigen.

„Und was?“

„Dass wir alle jung und idealistisch sind. Dass sich das mit der Zeit schon geben wird. Aber ich bin immer noch stolz und aufgeregt und gebe es gerne zu! Carol hatte ihr ganzes Leben noch vor sich. Endlich konnte sie die Karriere beginnen, auf die sie sich lange Jahre vorbereitet hatte. Gerade hatte sie sich verlobt. Sie wollte heiraten und Kinder bekommen.“ Abby versagte die Stimme. Sie schaute zur Seite und ärgerte sich darüber, dass sie diesem arroganten Mann ihre Gefühle offenbarte.

„Ein harter Schnitt.“

„Es ist nicht gerecht.“

„So ist das Leben.“

„So spricht der Zyniker.“

„Denken Sie das von mir? Dass ich ein Zyniker bin?“

„Sind Sie das denn nicht? Ihre Äußerungen während der Teambesprechung legen das manchmal sehr nahe. Um keinen Preis möchte ich so werden wie Sie.“

„Dann wollen wir hoffen, dass Sie recht lange unbehelligt auf Ihrer Insel der Seligen leben können.“

„Ich lebe nicht auf einer Insel der Seligen. Schließlich arbeite ich schon seit einiger Zeit als Ärztin. Und ich liebe meinen Beruf. Natürlich hat er auch seine Schattenseiten – zum Beispiel, wenn ich nicht helfen kann. Aber meistens ist es genau, wie ich es mir immer gewünscht habe.“

Er stellte den Wagen auf dem Parkplatz des Restaurants ab. Abby stieg aus. Sie wünschte sich, dass sie sich für eine weniger aufreizende Aufmachung entschieden hätte. Nervös zog sie das Kleid zurecht.

Ihre gute Erziehung befahl ihr, auf Greg zu warten, aber am liebsten hätte sie den Saal allein betreten. Sie wusste, dass sie den ganzen Abend mit ihm verbringen musste, und warf einen Blick auf ihr Handgelenk. Verdammt, sie hatte keine Uhr bei sich. Wie lange würde es dauern, bis das Bankett zu Ende war und er sie nach Hause bringen würde?

Sie bedauerte ihren unfreundlichen Ton. Immerhin hatten sie und Greg Hastings noch nie persönlich miteinander zu tun gehabt, und es war nicht klug, den gemeinsamen Abend mit einer Feindseligkeit zu beginnen. Natürlich würde sie sich nicht entschuldigen. Schließlich war es nicht falsch, wenn sie aussprach, was sie dachte. Er war ein Zyniker. Und er hatte ihr nicht mal widersprochen.

Der Saal war bereits voll, als sie ankamen. Abby nickte ein paar Bekannten zu und ging zu dem Platz, der für sie reserviert worden war. Schnell ließ sie ihren Blick durch den Raum schweifen, um festzustellen, ob sie Jeb irgendwo entdecken konnte. Als enger Freund von Carol war er natürlich eingeladen worden. Ihre Familie wollte so kurz nach ihrem plötzlichen Tod allerdings nicht persönlich erscheinen.

Schließlich entdeckte sie Jeb an einem Tisch auf der rechten Seite des Saals. Wie magisch blieb ihr Blick an der blonden Schönheit hängen, die an seiner Seite saß. Keine Frage, Sara sah großartig aus. Abby fühlte sich plötzlich wieder äußerst unwohl, weil sie ihr normales Aussehen für den Abend so drastisch verändert hatte. Besorgt nahm sie die verwunderten Blicke ihrer Bekannten aus der Klinik zur Kenntnis.

Warum starrten die Leute sie so unverwandt an? War sie vielleicht doch einen Schritt zu weit gegangen? Oder waren sie einfach nur erstaunt, weil sie mit Greg Hastings eintraf? Unsicher legte sie den Kopf zur Seite und war froh, als sie endlich an ihrem Platz angekommen war. Erleichtert setzte sie sich.

Unglücklicherweise saß Greg Hastings genau neben ihr. Viel zu dicht. Sie blinzelte ihn einmal kurz an und schaute dann schnell weg.

Sanft umhüllte sie der unaufdringliche Duft seines Rasierwassers. Ihr Herz schlug schneller, ihre Sinne waren hellwach. Tief in ihrem Innern erwachte die Neugier für diesen Mann. Sie schluckte schwer und versuchte, die verwirrenden Empfindungen und ihr Unwohlsein zu ignorieren. Es war nur ein Bankett. Ein Geschäftstermin.

„Was für ein Haufen Leute“, murmelte sie und wünschte sich verzweifelt, dass sie mehr Talent zum Small Talk besäße.

Er griff nach seinem Wasserglas. Sie warf einen verstohlenen Blick auf seine Hände. Er war ein begabter Chirurg. Seine Handflächen waren groß, seine Finger waren lang und schmal.

Wie sich diese Hand wohl anfühlen würde? Sie hatten sich niemals berührt, und es hatte auch niemals Grund dazu gegeben. Aber einen Moment lang fragte sie sich, wie sich ihre Hand in seiner wohl anfühlen würde.

Ben Taylor, Chefarzt im Merrimac General, kam zu ihnen an den Tisch. Greg stand auf, schüttelte seine Hand und lächelte freundlich.

Als er wieder neben ihr saß, konnte sie seine Kraft und seine Selbstsicherheit deutlich spüren. Seine Ausstrahlung hatte nichts mit ihrem gemeinsamen Beruf zu tun. Sie war rein privat.

Es war nichts anderes als Sex-Appeal. Ja, er war wirklich verdammt attraktiv!

„Wir warten mit unserer Rede, bis das Dessert serviert ist“, bemerkte Ben.

Abby nickte und blickte unwillkürlich zu Jebs Tisch, um seine lebhafte Begleitung zu beobachten. Das war die Sorte Frauen, die bei Männern ankam – wunderschön und mit einem Talent für unverbindliche Plaudereien.

„Wir haben noch Zeit, bis das Essen kommt“, meinte Greg, nachdem Ben gegangen war, um am Nebentisch mit einem anderen Klinikangestellten zu sprechen.

Sie schaute ihn an. „Was meinen Sie?“

„Sie starren die ganze Zeit auf den Tisch dort drüben. Wenn Sie mit jemandem sprechen möchten, der dort sitzt, Sie haben noch Zeit.“

„Nein, nein, mit niemandem.“ Hastig schaute sie in eine andere Richtung. Er bekam zu viel mit. Besser, wenn sie in Zukunft nicht noch mal in Jebs Richtung starrte.

Greg beobachtete sie einen Augenblick lang. Abigail Trent war ihm ein Rätsel. Als Ben ihn am Tag zuvor gefragt hatte, ob er Dr. Trent zum Bankett begleiten würde, war er sehr überrascht gewesen. Er kannte die Tricks der Frauen. Natürlich hatte er sofort einen verborgenen Hintergedanken in der Frage vermutet.

Verblüfft hatte er ihre Verwandlung zur Kenntnis genommen, als sie ihm dann die Tür geöffnet hatte. Aus der ruhigen, manchmal ein wenig kratzbürstigen Dr. Trent war eine – ja, was war aus ihr geworden? Er hatte nichts dagegen, wenn Frauen sich zum Ausgehen schick machten. Aber ihre aufreizende Aufmachung heute Abend ging entschieden zu weit. Natürlich würde er kein Wort darüber verlieren. Schließlich hatte er zwei Schwestern. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, eine abfällige Bemerkung zu machen, wenn eine Frau offensichtlich große Schwierigkeiten hatte, sich für einen gesellschaftlichen Anlass angemessen zu kleiden.

Greg beobachtete, dass sie wieder tief durchatmete. Machte sie sich eigentlich Gedanken darüber, was das für ihr Dekolletee bedeutete?

Ihre Kleidung sprach eine eindeutige Sprache, aber ihr Verhalten verwirrte ihn zutiefst. Hatte sie sich etwa aufgedonnert, um seine Aufmerksamkeit zu erregen? Wenn ja, dann hatte sie jetzt offensichtlich die Nerven verloren. Er fühlte sich eher wie das fünfte Rad am Wagen und nicht wie das Zentrum ihrer Aufmerksamkeit. Außerdem war er es überhaupt nicht gewohnt, mit einer Frau auszugehen, die ihren Blick unablässig auf einen anderen Tisch konzentrierte!

Der Gedanke ärgerte ihn. Aber im Grunde sollte es ihn nicht weiter kümmern. Er fühlte sich schließlich nur verpflichtet, seinem Chef einen Gefallen zu erweisen. Wenn die Abendveranstaltung zu Ende war, würden sie wieder ganz normal ihrer Arbeit nachgehen. Einige Male im Monat würde er ihr bei den Teambesprechungen begegnen. Oder sie würden sich auf dem Flur über den Weg laufen. Sie würde sich an ihn wenden, wenn bei einem ihrer Patienten ein chirurgischer Eingriff nötig war. Mehr hätten sie nicht miteinander zu tun.

Abbys Nervosität wurde unübersehbar, als sich das Abendessen dem Ende näherte. Interessiert beobachtete Greg ihre Anstrengung, sich unter Kontrolle zu behalten. Wer war diese Frau? Er lehnte sich zurück, um unauffällig einen Blick auf den Tisch zu werfen, den sie unablässig fixierte. Für welchen der Männer, die dort saßen, interessierte sie sich?

Als der Abend zu Ende ging, empfand Greg fast Mitleid für Abigail Trent. Sie hatte eine gute Dankesrede gehalten, als sie das Geld aus Carols Lebensversicherung entgegengenommen hatte. Ihre Stimme hatte zwar einmal kurz versagt, aber ihre Rede war sehr ergreifend gewesen. Mehrere Kollegen sprachen warmherzige Worte über Carol Walker, über den unersetzbaren Verlust einer ausgezeichneten Ärztin, über den tragischen Unfall, der sie das Leben gekostet hatte. Die Reden schienen Abigail innerlich aufzuwühlen.

Er spürte deutlich, dass der gesamte Abend sie auf eine harte Probe stellte. Als sie schließlich aufstanden, um nach Hause zu fahren, schien sie sehr erleichtert. Wenn Ben Taylor ihn das nächste Mal um einen derartigen bitten würde, hätte er sicher schon andere Pläne, das nahm er sich fest vor.

Ein junger Mann von dem Tisch, auf den sie die ganze Zeit gestarrt hatte, kam auf sie zu. Greg spürte, wie Abigails Anspannung stieg.

„Abby, ich habe dich kaum erkannt. Was hast du nur mit dir angestellt?“, fragte der Mann unverblümt und musterte sie von Kopf bis Fuß.

„Hi, Jeb.“ Sie lächelte ihn an und schien fast erleichtert. „Weißt du, ich trage nicht immer nur Laborkittel.“

„Das kann ich mir denken. Aber solche Kleider trägst du sonst auch nicht“, erwiderte er mit deutlichem Missfallen in der Stimme. „Du bist aufgedonnert wie eine Sahnetorte.“

Abby schoss die Röte in die Wangen.

Und urplötzlich verspürte Greg das Bedürfnis, sie zu beschützen. Vielleicht war sie nicht so dezent gekleidet wie sonst, aber das war noch lange kein Grund, sie zu beleidigen! Er trat einen Schritt näher.

„Ich glaube, man hat uns noch nicht vorstellt. Ich bin Greg Hastings.“ Er streckte seine Hand aus, als ob er durch seine Anwesenheit die Spannung zwischen den beiden zerschneiden könnte.

„Jeb Stuart. Ein alter Freund von Abby. Und von Carol.“ Jeb schüttelte Gregs Hand.

Greg wandte sich an Abby und bot ihr einen Ausweg an. „Wir müssen jetzt gehen“, erklärte er.

„Ja, natürlich. Bis bald, Jeb“, erwiderte sie dankbar.

Als sie sich ihren Weg durch die Menge bahnten, behielt Greg sie im Auge. Mit festem Schritt und erhobenem Haupt ging sie bis zur Tür, aber sie vermied es krampfhaft, irgendjemandem in die Augen zu blicken. Die tiefe Röte ihrer Wangen ließ ihre blauen Augen glitzern. Ein oder zwei Male hatte er dieses Glitzern schon bemerkt, wenn sie sich bei der Teambesprechung für einen Fall besonders engagierte.

Er bewunderte sie, weil sie nach Jebs Beleidigung das Gesicht gewahrt hatte. Offenbar steckte mehr in Dr. Trent, als er zuerst geglaubt hatte. Sie hatte seine Neugier geweckt. Er wollte mehr über ihre Beziehung zu Jeb Stuart wissen. Waren sie ein Paar, das sich getrennt hatte? Der Gedanke behagte ihm merkwürdigerweise überhaupt nicht.

Sie mussten einen Augenblick warten, bis sein Wagen vorgefahren wurde. Die Nachtluft strich kühl um die Gebäude herum, und der kalte Nebel, der vom Ozean heraufzog, legte sich auf die Stadt. Abby hüllte sich in ihren Mantel, schlug den Kragen hoch und sah angestrengt auf ihre Schuhspitzen.

„Sie haben eine großartige Rede gehalten“, sagte er anerkennend, um das Schweigen zu brechen.

„Danke.“

Plötzlich fuhr ein Taxi vor und stoppte vor dem Restaurant. Bevor er irgendetwas sagen konnte, war Abby im Innern des Wagens verschwunden. Sie hielt kurz inne, bevor sie die Tür zuschlug und warf ihm ein gekünsteltes Lächeln zu.

„Danke für die Begleitung, Dr. Hastings. Ich komme allein nach Hause.“

Ziemlich verblüfft schaute Greg dem Taxi nach. Einen Augenblick später wurde sein Wagen vorgefahren.

„Zeit ist alles“, murmelte er, gab dem Parkplatzwächter in Trinkgeld und setzte sich hinter das Lenkrad. Er überlegte kurz, ob er Abby folgen sollte, um sicherzugehen, dass sie gut zu Hause ankam. Aber er verwarf den Gedanken gleich wieder. Die Frau hatte deutlich gezeigt, dass sie allein sein wollte. Trotzdem fragte er sich, was ihr den ganzen Abend über durch den Kopf gegangen war – bevor und nachdem sie Jeb Stuart begegnet war.

Wer war Abigail Trent in Wirklichkeit? Die ruhige, schüchterne Ärztin? Oder eine heimliche Femme fatale?

2. KAPITEL

„Verdammt!“, murmelte Abigail in sich hinein, als sie über den Klinikflur hastete. Am liebsten wäre sie gerannt, aber das war nur gestattet, wenn ein lebensbedrohlicher Notfall vorlag. Sie hatte sich verspätet. Wieder einmal. Und es interessierte niemanden, außer sie selbst. Als sie das letzte Mal zu spät zur Teambesprechung gekommen war, hatte Dr. Taylor sie mit beißender Kritik bedacht, und sie hatte das Gelächter des gesamten Teams ertragen müssen.

Als sie um die Ecke bog, verlangsamte sie ihren Schritt und versuchte, ihren Atem unter Kontrolle zu bringen. Sie fürchtete das Meeting nicht nur, weil sie zu spät kam. Alle Teilnehmer waren vergangene Woche auf dem Bankett gewesen. Jeder wusste, dass sie sich in ihrem Aufzug lächerlich gemacht hatte. Aber sie war schließlich Ärztin, und zwar eine ziemlich gute. Vergiss Jeb, und konzentriere dich auf deinen Job, befahl sie sich zum x-ten Mal.

Ihre schlimmsten Befürchtungen wurden wahr, als sie den Raum betrat. Alle Anwesenden richteten ihre Blicke sofort auf sie. Der einzige freie Stuhl stand am anderen Ende des Raumes. Sie murmelte Dr. Taylor eine Entschuldigung zu, ging zu ihrem Stuhl und entdeckte im letzten Moment, dass sie direkt neben Greg Hastings sitzen würde. Konnte es noch schlimmer kommen?

„Schön, dass Sie bei uns sind, Dr. Trent“, grüßte Dr. Taylor.

Sie nickte ihm zu und setzte sich. Susan Shattner, ihre Freundin, lächelte ihr zu und rollte mit den Augen. Auch sie war letztens zu spät gekommen und hatte die Kritik von Dr. Taylor ertragen müssen.

„… und das führt uns zum nächsten Punkt auf der Tagesordnung“, sprach Ben Taylor jetzt ungerührt weiter. „Wie Sie alle wissen, war Steve Johnson neben Greg Hastings der zweite Vorsitzende des Vorbereitungskomitees für den geplanten Ärztekongress. Steves Vater ist jedoch leider kürzlich verstorben. Deshalb wird er uns Ende des Monats verlassen und nach Baltimore zurückkehren. Seine Mutter benötigt dringend seine Unterstützung. Ich habe ihn von seinen Verpflichtungen entbunden. Aber …“ Dr. Taylor ließ seinen Blick durch die Runde schweifen. Schließlich schaute er Abby an. „… wir müssen den Posten neu besetzen. Die Arbeit ist zum großen Teil erledigt, aber die Vorbereitungen für den Kongress und den anschließenden Ball müssen überwacht werden. Wir müssen den zweiten Vorsitz im Komitee also neu besetzen. Ich schlage vor, dass Abigail Trent die Aufgabe übernimmt.“

Verblüfft starrte Abby ihn an. „Ich glaube nicht, dass ich dafür geeignet bin“, wagte sie, einzuwenden. „Ich habe viel zu wenig Erfahrung.“

„Sie sollen ja keine Arbeitsgruppe leiten, sondern Greg nur bei der Koordination der Kongressaktivitäten unterstützen. Sally Chapel und Bob Montgomery sind ebenfalls im Komitee. Sie werden Ihnen helfen. Aber die letzten Entscheidungen treffen Sie und Greg.“ Damit schien das Thema für ihn erledigt. Er nahm ein Blatt Papier zur Hand und las den nächsten Tagesordnungspunkt vor.

Greg schob einen kleinen Zettel zu ihr hinüber. Nachher in meinem Büro? stand darauf geschrieben.

Sie runzelte die Stirn und nahm ihren Stift. Kann nicht, hab Termine kritzelte sie zurück.

Vielleicht sollte sie nach dem Meeting noch einmal versuchen, Dr. Taylor von ihrer Berufung ins Komitee abzubringen. Andererseits würde das keinen professionellen Eindruck hinterlassen, und sie konnte die Erfahrung gut gebrauchen. Wenn nur nicht Dr. Hastings im Spiel wäre!

Der Chefarzt bat Greg, den neusten Stand der Vorbereitungen kurz darzulegen. Abby versuchte krampfhaft, sich auf seinen Bericht zu konzentrieren. Doch immer wieder ertappte sie sich dabei, dass sie seine Hände betrachtete. Sie lauschte dem Klang seiner Stimme. Ausgesprochen männlich, beherrscht und selbstsicher. Er hatte sich scheinbar immer unter Kontrolle. Ob er wohl immer so beherrscht ist? überlegte sie. Lässt er sich niemals gehen? Vielleicht in Gegenwart von Freunden. Oder Freundinnen?

„Und jetzt komme ich zum Abschlussball, der am Samstag den zwanzigsten stattfinden wird. Mehrere Organisationen haben angeboten, sich zu beteiligen. Ich denke, wir können unser Ziel erreichen.“ Greg warf Abby einen Blick zu. „Mit meiner neuen Assistentin könnte ich diese Woche die endgültige Entscheidung für den Ballsaal treffen. Steve hat seine Sache sicher richtig gemacht, aber diesen Punkt habe ich bisher vernachlässigt. Jetzt, wo er nicht mehr bei uns arbeitet, muss ich mich mehr darum kümmern.“

Der Ball! Er war jedes Jahr das wichtigste Ereignis für die Klinik. Dort trafen sich regelmäßig private Geldgeber und Sponsoren aus der Geschäftswelt. Normalerweise fand er im St. Francis Hotel in San Francisco statt. Es war ein feudales und elegantes Ereignis. Jedenfalls hatte sie das gehört. Es würde der erste Ball der Klinik sein, an dem sie teilnahm.

„Gut, Greg. Gibt es noch irgendetwas zu besprechen?“, fragte Ben Taylor. Offensichtlich war das nicht der Fall. Das Meeting war damit beendet.

„Susan, hast du einen Augenblick Zeit?“ Abby sprang auf, griff ihre Notizzettel und lief zu ihrer Freundin. Greg Hastings hatte keine Gelegenheit, sie anzusprechen.

„Aha“, meinte Susan und schaute ihr über die Schulter. „Du und Greg. Ist das ein neuer Trend? Letzte Woche gemeinsam zum Bankett, heute gemeinsam im Komitee. Vielleicht möchtest du deiner Freundin ein Geheimnis anvertrauen?“

„Ja. Ich wünschte, Ben Taylor hätte mich nicht in das Komitee berufen. Hast du nicht gehört, dass Dr. Taylor die Verabredung von letzter Woche arrangiert hatte?“

„Nein, davon erzählt man sich nichts. Aber man spricht über die aufreizende Aufmachung, in der du dich gezeigt hast.“

Abby stöhnte auf. „Ich weiß, da habe ich übertrieben“, meinte sie peinlich berührt.

„Es war sicher nicht dein Stil“, gab Susan freundlich zurück.

„Meine Nachbarin hat mich beraten. Sie ist ein bisschen extravagant.“

„Du hast fantastisch ausgesehen“, sagte Susan.

Abby ließ ihren Blick kurz durch den Raum schweifen, um sich zu vergewissern, dass ihnen niemand zuhörte. „Ich wollte jemanden auf mich aufmerksam machen.“

Autor

Barbara Mc Mahon
<p>Barbara McMahon wuchs in einer Kleinstadt in Virginia auf. Ihr großer Traum war es, zu reisen und die Welt kennenzulernen. Nach ihrem College-Abschluss wurde sie zunächst Stewardess und verbrachte einige Jahre damit, die exotischsten Länder zu erforschen. Um sich später möglichst genau an diese Reisen erinnern zu können, schreib Barbara...
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