Familie gesucht, Liebe gefunden

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Die Suche nach ihren leiblichen Eltern führt die hübsche China zur vermögenden Familie Abbott. Alles spricht dafür, dass sie deren vor über zwanzig Jahren entführte Tochter ist. Und so wird China herzlich empfangen - von allen außer ihrem attraktiven neuen Bruder Campell. Fürchtet er, dass sie nur auf Geld aus ist? Oder wieso verhält er sich so rätselhaft abweisend? Erst als ein DNA-Test beweist, dass China doch keine Abbott ist, vertraut Campbell ihr seine Gefühle an. Und auch sie kann sich endlich eingestehen, was sie insgeheim schon länger spürt …


  • Erscheinungstag 23.02.2010
  • Bandnummer 1720
  • ISBN / Artikelnummer 9783862952892
  • Seitenanzahl 144
  • E-Book Format ePub
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Leseprobe

1. KAPITEL

Sanft legte Campbell Abbott den Arm um China Grants Schultern. Er führte die schluchzende junge Frau davon, verließ mit ihr das Stadtfest und steuerte auf das Wäldchen zu. Wie sollte er bloß mit ihr umgehen? Normalerweise fühlte er sich Frauen gegenüber nicht hilflos – weinenden Frauen gegenüber allerdings schon.

„Und ich war mir so sicher!“, seufzte China, und ihre Stimme brach.

Er drückte sie an sich. „Das weiß ich doch. Es tut mir wirklich leid für dich.“

„Bei diesen DNA-Analysen ist wohl jeder Irrtum ausgeschlossen?“, hakte sie nach.

„Nicht unbedingt“, erwiderte Campbell. „Aber ich bin mir ziemlich sicher, dass das Labor in diesem Fall ganz besonders sorgfältig gearbeitet hat. Immerhin dürfte denen klar gewesen sein, was auf dem Spiel stand. Ganz Long Island weiß, dass meine kleine Schwester als Kleinkind entführt wurde. Und alle haben gehofft, dass du Abby bist, die nach fünfundzwanzig Jahren ihre Familie wiedergefunden hat.“

„Ja, alle – außer dir.“

Komisch, sie klang gar nicht verbittert. Und dabei hatte er ihr das Leben schwer gemacht, seit sie vor einem Monat auf dem Familienanwesen Shepherd’s Knoll aufgetaucht war.

Zuerst hatte er einfach alles angezweifelt, was sie behauptet hatte. Zum Beispiel, dass sie den blauen Strampelanzug, den sie dabeihatte, tatsächlich auf dem Dachboden im Haus ihrer Adoptiveltern gefunden hatte. Den gleichen blauen Strampler hatte Campbells kleine Schwester getragen, als sie entführt worden war. Allerdings hatte das Familienunternehmen Abbott Mills Tausende davon verkauft. Da wäre es für China ein Leichtes gewesen, einen in einem Secondhandshop aufzutreiben – nur um es so aussehen zu lassen, als hätte sie Anspruch auf das Erbe der Abbotts.

Campbell hatte sofort auf einer DNA-Analyse bestanden. Zu dem Test wäre nur eine Blutprobe von ihm selbst nötig gewesen: Wenn China wirklich Abigail wäre, dann hätten er und sie dieselben Eltern. Allerdings war seine Mutter Chloe zu der Zeit noch in Frankreich gewesen, um ihre kranke Tante Bijou zu pflegen. Deswegen hatten Campbells Halbbrüder Killian und Sawyer dafür plädiert, mit der Untersuchung bis zu Chloes Rückkehr zu warten. Außerdem hatte Sawyer sich dafür eingesetzt, dass China bei ihnen blieb. In Chloes Abwesenheit sollte sie Campbell dabei helfen, das Anwesen zu verwalten. Killian war als Geschäftsführer der Modefirma Abbott Mills ausgelastet, während Sawyer die zum Konzern gehörende wohltätige Stiftung leitete.

Killian und Sawyer waren Campbells ältere Halbbrüder aus der ersten Ehe des gemeinsamen Vaters mit einer texanischen Ölerbin. Campbell und die verschollene Abigail waren die Kinder seiner zweiten Frau Chloe, einer Französin, die als Designerin für Abbott Mills gearbeitet hatte.

Kaum war Chloe vor zwei Wochen aus Paris zurückgekommen, hatten sie den DNA-Test in die Wege geleitet. Das Ergebnis war diesen Nachmittag per Kurier eingetroffen, als China gerade allein im Haus gewesen war. Alle anderen waren mit der Wohltätigkeitsveranstaltung beschäftigt gewesen, deren Erlös dem Krankenhaus zugutekommen sollte. China hatte den verschlossenen Umschlag mit zum Fest gebracht und ihn dort soeben geöffnet: an einem Picknicktisch, an dem sich die ganze Familie nach Ende der Veranstaltung versammelt hatte.

Das Laborergebnis hatte alle schwer erschüttert: Campbells Mutter Chloe sah aus, als hätte es ihr das Herz gebrochen. Seine Brüder wirkten alle sehr traurig und ihre Frauen ziemlich aufgewühlt. Sogar Campbell war etwas … na ja, komisch zumute.

Es war ein warmer Sommerabend Ende Juli, und die Luft roch nach Fastfood und Salzwasser. Campbell hatte den Eindruck, seine Sinne würden alles doppelt so intensiv aufnehmen wie sonst.

China löste sich von ihm und entfernte sich einige Schritte. Da er nun wusste, dass sie nicht seine Schwester war, konnte er sie ohne Vorbehalte betrachten: ihren schlanken Körper in dem kurzen Jeansrock und dem gelben T-Shirt, ihr langes dunkles Haar.

Als sie sich ihm zuwandte, glitzerten Tränen in ihren dunklen Augen. Ihre Lippen bebten. „Jetzt kannst du dir hundertprozentig sicher sein, dass ich keine Erbschleicherin bin.“

Anfangs hatte er so von ihr gedacht. Es war ihm unwahrscheinlich vorgekommen, dass seine Schwester Abby nach fünfundzwanzig Jahren plötzlich wieder aufgetaucht sein sollte. Als sie verschwunden war, da war er gerade mal fünf Jahre alt gewesen und Abby vierzehn Monate. Sie hatte mit seinen Autos spielen wollen, aber er hatte sie weggestoßen. Schließlich hatte Chloe das weinende Mädchen aus dem Zimmer getragen. Das war das Letzte, woran er sich erinnern konnte.

„Nein, ich halte dich nicht für eine Erbschleicherin“, widersprach er China nun. „Du hast mich längst davon überzeugt, dass du selbst fest daran geglaubt hast, Abby zu sein. Und du hattest gute Gründe dafür.“

Sie schluckte und drehte sich schnell weg. Mit der Schulter lehnte sie sich gegen eine Birke. „Tja, aber am Ende hattest du doch recht. Ich bin nicht Abby und habe bloß einen der Millionen von Stramplern, die Abbott Mills damals verkauft hat.“

Trotzdem hatte Campbell immer noch das Gefühl, mit China auf eine besondere Weise verbunden zu sein. Er gab ihr ein Taschentuch. „Na ja, das erklärt trotzdem nicht die Zeitungsausschnitte über Abbys Entführung. Warum waren die in dem Karton mit dem Strampelanzug, wenn das alles nichts mit dir zu tun hat?“

Ein Ehepaar aus Kalifornien hatte China und ein weiteres Mädchen vor fünfundzwanzig Jahren über ihren Hausarzt adoptiert. Die beiden Kinder waren zusammen aufgewachsen wie Schwestern. Erst war ihre Adoptivmutter gestorben, vor einigen Monaten dann ihr Adoptivvater. Daraufhin hatten die beiden jungen Frauen das Haus ausgeräumt, um es verkaufen zu können. Auf dem Dachboden hatten sie dabei zwei Schachteln gefunden, die mit ihren Namen beschriftet waren.

„Ich verstehe das alles nicht.“ China tupfte sich die Augen ab. „Ich dachte, ich hätte endlich meine Familie gefunden … Ich habe mich wohl geirrt. Am besten reise ich so schnell wie möglich ab.“

„Du weißt, dass du so lange bei uns bleiben kannst, wie du willst, oder?“

„Das ist lieb, aber das wäre nicht besonders angebracht.“

„Und wer kümmert sich um Shepherd’s Knoll? Um das Haus, um die Verwaltung?“, fragte er. Seine Mutter Chloe würde bestimmt nicht gut damit umgehen können, wenn China einfach so abreiste. Die ganze Familie hatte sie in der kurzen Zeit ins Herz geschlossen. „In einer Woche muss ich meinen neuen Job in Florida antreten, und die anderen haben sich bisher voll auf dich verlassen.“

Sie atmete tief aus. „Ja, aber ich habe schon ein Zuhause – in Kalifornien nämlich. Und mein eigenes Leben, das da drüben auf mich wartet.“

Auf einmal wirkte sie verzweifelt, und seltsamerweise konnte Campbell das kaum aushalten. „Ich weiß, du gehst da für reiche Leute einkaufen“, sagte er. „Die können gut eine Weile ohne dich auskommen. Immerhin muss niemand verhungern, wenn du noch nicht wiederkommst.“

Sie stieß hörbar die Luft aus. „Ich hab dir schon zigmal erklärt, dass ich nicht in erster Linie für reiche Leute arbeite. Ich kaufe für diejenigen ein, die dafür keine Zeit haben. Durch mich sparen diese Leute Geld, das sie dann wiederum für Menschen spenden können, die nicht genug zu essen haben.“

„Alles klar. Ich wollte damit ja nur sagen, dass du dir ruhig Zeit zum Nachdenken nehmen sollst.“

„Nicht nötig, ich weiß jetzt schon, dass ich sofort nach Hause will“, sagte China mit fester Stimme und ging zurück in Richtung Stadtfest.

Die ganze Zeit hatte Campbell etwas ansprechen wollen, das ihm ständig durch den Kopf ging und ihr offenbar noch nicht aufgefallen war. Er lief hinter ihr her.

„Was ist eigentlich mit deiner Adoptivschwester?“, platzte er heraus.

„Wieso, was soll mit ihr sein?“

„Hast du mal darüber nachgedacht, dass sie mit uns verwandt sein könnte?“

„Bitte?“ Abrupt blieb China stehen und bog dabei einen Ahornzweig zur Seite, um Campbell besser ins Gesicht sehen zu können. „Wie meinst du das?“

„Na ja, könnte es nicht sein, dass dein Karton … in Wirklichkeit … ihrer ist?“

Sie zuckte zusammen, dann schien sie darüber nachzudenken.

„Meintest du nicht, dass die beiden Kartons gleich aussahen?“, hakte er nach.

„Doch.“

„Ganz genau gleich?“

„Ja.“ Offenbar verstand sie nicht, worauf er hinauswollte. „Unsere Namen haben jeweils draufgestanden, und …“

„Schon klar. Standen die Namen zufällig auf den Deckeln? Und könnte es nicht sein, dass die Deckel irgendwann vertauscht worden sind – bei einem Umzug vielleicht?“

Ihre Augen weiteten sich, als ihr offenbar bewusst wurde, worauf er anspielte.

„So etwas passiert schnell“, fuhr Campbell fort. „Seid ihr früher mal umgezogen?“

„Zwei Mal sogar“, erwiderte sie. „Freunde meines Adoptivvaters haben dabei geholfen, die Sachen zu verladen.“

„Vielleicht sind beim Transport die Kartons runtergefallen, und jemand hat dabei aus Versehen die Deckel vertauscht.“

Entsetzt starrte sie ihn an. „Das ist doch … völlig an den Haaren herbeigezogen.“

„Wirklich?“ Er griff nach dem Zweig, den sie sich aus dem Gesicht hielt. „Bis heute bist du dir so sicher gewesen, dass die Zeitungsausschnitte etwas mit dir zu tun haben mussten. Aber jetzt hat der Test bewiesen, dass du nicht meine Schwester bist. Also kommt eigentlich bloß eine Erklärung infrage, oder?“

Am liebsten hätte China ihrem vermeintlichen Bruder einen kräftigen Schubs gegeben. Vom ersten Tag an hatte er sich ihr in den Weg gestellt: Erst hatte er nicht daran geglaubt, dass sie die verschollene Abigail sein könnte. Dann hatte er ihr unterstellt, es ginge ihr bloß ums Geld und sie hätte gar kein persönliches Interesse an den Abbotts. Selbst als sie nun am liebsten Reißaus nehmen wollte, stellte er sich ihr in den Weg.

Und sie konnte es gar nicht abwarten, von hier zu verschwinden. Es war ihr schrecklich peinlich, dass sie die ganze Familie Abbott so durcheinandergebracht hatte – und das ohne jeden Grund, wie sich gerade herausgestellt hatte. Aber vielleicht war ja etwas dran an Campbells Vermutung? Vielleicht hatte ja wirklich jemand die Deckel der Kartons vertauscht, und ihre Adoptivschwester Janet war Campbells leibliche Schwester Abby?

China begegnete seinem finsteren Blick. Immer noch stand er vor ihr, als ließe er sich nicht von der Stelle bewegen. Er war zwar ein Stück kleiner als seine Halbbrüder, hatte dafür aber breitere Schultern und wirkte insgesamt viel ernster und entschlossener.

Sie drehte sich um und lief in Richtung Parkplatz. „Ich rufe Janet an und sage ihr, dass sie Kontakt zu euch aufnehmen soll“, entgegnete sie noch.

Am Parkplatz holte er sie ein, ergriff ihren Arm und zog sie zu sich herum. „Du darfst jetzt nicht einfach abreisen, das kannst du Mom nicht antun.“ Seine Stimme klang überraschend sanft. „Lass uns das alles noch mal besprechen.“

China fand Janet hübscher und klüger als sich selbst. Sie war immer gut gelaunt und außerdem unheimlich geistreich, die meisten Menschen mochten sie sofort. Darum beneidete China ihre Schwester, hatte ihr diese Beliebtheit aber immer gegönnt. China selbst war eher schüchtern, obwohl sie durchaus ihre Meinung vertreten konnte, wenn es darauf ankam. Dementsprechend hatte es sie unglaublichen Mut gekostet, überhaupt auf die Abbotts zuzugehen.

Nach der großen Enttäuschung mit dem DNA-Test hoffte China jetzt inständig, dass Janet zur Familie gehörte. Als Kinder hatten sie sich öfter gestritten, dann aber doch ihre unterschiedlichen Charaktere zu schätzen gelernt: Während Janet immer exzellente Noten und zahlreiche Verehrer gehabt hatte, war es China gelungen, nach dem Tod ihrer Adoptivmutter der Familie Halt zu geben.

Inzwischen standen sich die beiden Adoptivschwestern sehr nahe. Bevor beide dem Geheimnis der Kartons nachgehen wollten, hatten sie sich geschworen, für immer Schwestern zu bleiben – egal, was sie herausfinden würden.

„China“, raunte Campbell ihr leise zu, als seine gesamte Familie auf die beiden zulief. „Du kannst jetzt nicht abreisen. Bitte nicht.“

Offenbar war Chloe der gleichen Meinung. Sie umarmte China und drückte sie fest an sich. „Bleib bitte hier“, sagte sie mit bebender Stimme. „Das wünschen wir uns alle. Du bist uns nämlich sehr wichtig geworden, auch wenn du nicht meine vermisste Tochter bist.“

Chloe trat ein Stück zurück, um China in die Augen zu sehen. Bevor sie etwas erwidern konnte, ergriff die ältere Frau wieder das Wort: „Natürlich hast du dein eigenes Leben in Kalifornien, aber wir brauchen dich hier. Killian hat mir erzählt, wie toll du dich um Shepherd’s Knoll gekümmert hast. Und du weißt, dass Campbell sich woanders beworben hat und sich ausprobieren will. Du musst hierbleiben und uns helfen, bis wir Ersatz für ihn gefunden haben, oui?“

Am liebsten wäre China bei dieser wunderbar warmherzigen und gleichzeitig so lebhaften Familie geblieben – aber das wäre der echten Abigail gegenüber nicht fair. Schon gar nicht, wenn es sich dabei um ihre Adoptivschwester handelte.

„Ich versuche sofort, meine Schwester Janet zu finden. Bis sie herkommen kann, bleibe ich hier“, willigte China schließlich ein.

Auf die verwunderten Blicke hin erklärte Campbell seiner Familie die Theorie mit den vertauschten Kartondeckeln.

Killian und Sawyer, die mit ihren hellen Haaren der ersten Frau ihres Vaters sehr ähnlich sahen, runzelten beide die Stirn. „Glaubst du wirklich daran?“, erkundigte sich Killian.

Campbell zuckte mit den Schultern. „Ich halte das jedenfalls nicht für unwahrscheinlich. Wie erklärt ihr euch sonst den Inhalt von Chinas Karton? Es weist alles darauf hin, dass sie Abby sein müsste – aber sie ist es nicht. Allerdings hat sie eine gleichaltrige Adoptivschwester, die ebenfalls auf der Suche nach ihren Angehörigen ist.“

„Da könnte was dran sein“, wandte Sawyer sich an Killian. „Ist Campbell vielleicht doch schlauer als wir zwei?“

„Na, das wäre ja das erste Mal.“ Sein älterer Bruder grinste. „Wo ist denn deine Schwester, China?“

Angestrengt überlegte sie. Was hatte noch auf der Geburtsurkunde gestanden, die Janet in „ihrem“ Karton gefunden hatte? Irgendeine Stadt im Norden Kanadas. Genau dort hatte Janet mit ihrer Suche beginnen wollen.

„Sie müsste gerade irgendwo in Nordkanada sein“, antwortete sie. „Der Ortsname fällt mir im Moment nicht ein. Dafür habe ich mir Adresse und Telefonnumer des Gasthauses aufgeschrieben, in dem sie wohnt. Ich rufe sie heute Abend noch an.“

Killians schwangere Frau Cordie und Sawyers Verlobte Sophie stellten sich neben China, hakten sich bei ihr unter und schoben sie sanft zur Limousine der Abbotts. Sophies Töchter aus erster Ehe, die zehnjährige Gracie und die fünfjährige Emma, liefen vor ihnen her. Der siebenjährige Eddie war hinten bei den Männern geblieben.

„Du musst unbedingt bis zu unserer Hochzeit hierbleiben“, meinte Sophie. „Wir dachten da an Anfang September.“

„Ja, also, ich …“, setzte China an. „Du sollst auf jeden Fall meine Trauzeugin sein!“ Sophie nahm Chinas Hand und drückte sie fest.

„Außerdem musst du meine Zwillinge kennenlernen“, fügte Cordie hinzu. Die Doppelgeburt war allerdings erst in vier Monaten fällig.

China lächelte und ließ die beiden reden. Insgeheim beschloss sie, spätestens in zweieinhalb Wochen abzureisen. In drei Tagen wäre Janet bestimmt hier, und dann würde sie noch zwei Wochen gemeinsam mit ihrer Adoptivschwester auf die Testergebnisse warten.

Der Chauffeur Daniel öffnete die hintere Tür der langen schwarzen Limousine, und die Frauen stiegen ein – zusammen mit Daniels Frau Kezia, die als Köchin und Haushälterin für die Abbotts arbeitete. Killian half Tante Bijou aus ihrem Rollstuhl und schnallte sie ebenfalls auf einem Autositz an. Währenddessen klappte Sawyer den Rollstuhl zusammen und verfrachtete ihn im Kofferraum.

Chloe setzte sich neben China auf die Rückbank und legte ihr einen Arm um die Schulter. „Es wird alles gut“, beruhigte sie sie lächelnd. Dieses typische entschlossene Chloe-Lächeln hatte China in den letzten zwei Wochen oft gesehen.

„Ich versuche sofort, Janet zu erreichen“, versprach China.

„Eigentlich meinte ich eben, dass für dich alles gut wird“, erklärte Chloe.

China lächelte höflich. Offenbar wollte Chloe ihr zeigen, dass sie zur Familie gehörte – obwohl sie gerade den eindeutigen Beweis dafür erhalten hatte, dass es nicht so war. Auf einmal fühlte sie sich unglaublich leer und einsam.

Dabei hatte sie bei den Grants eine glückliche Kindheit verlebt. Ihre Adoptiveltern hatten sich liebevoll um Janet und sie gekümmert. Und ihr Vater hatte immer wieder versichert, dass Janet und sie für seine Frau und ihn etwas ganz Besonderes waren: Schließlich hatten sie sich bewusst für die Mädchen entschieden.

Trotzdem hatte sie wissen wollen, wo sie eigentlich herkam. Ihre Adoptivmutter hatte jedoch nur gewusst, dass beide Mütter alleinerziehend gewesen waren. Sie hatte erzählt, dass Chinas Mutter an Krebs gestorben und Janets bei einem Autounfall ums Leben gekommen sei.

Die Mädchen hatten nie daran gezweifelt und nie versucht, Genaueres über ihre leiblichen Eltern herauszufinden. Bis sie auf dem Dachboden die Kartons gefunden und dabei festgestellt hatten, dass man ihnen nicht die Wahrheit gesagt hatte.

Und wenn Campbell mit seiner Vermutung recht hatte, dann befand sich der Schlüssel zu ihrer Vergangenheit in Janets Karton.

Angestrengt versuchte China, die Handschrift ihrer Schwester Janet zu entziffern. Sie saß am antiken Schreibtisch mit Blick auf den Obstgarten und das Häuschen, in dem Kezia und Daniel wohnten. Vor einer Woche war Janets Brief an sie weitergeleitet worden:

Bin in der Nähe von Fort Providence im Little Creek House Hotel untergekommen. Habe herausgefunden, dass die Frau, die auf der Geburtsurkunde als Taufpatin eingetragen war, hier wohnt. Der Ort ist sehr klein. Die Frau soll bei ihrem Sohn eingezogen sein, den ich bisher nicht ausfindig machen konnte. Da steht mir wohl noch eine Menge Arbeit bevor. Ich hoffe, bei Dir läuft’s besser. Alles Liebe, Jan.

Darunter hatte Janet die Telefonnummer des Hotels notiert, die China nun eintippte.

Nach kurzer Zeit meldete sich eine fröhliche Männerstimme: „Little Creek?“

„Hallo, ich würde gern Janet Grant sprechen“, sagte China.

„Das tut mir leid, sie ist gerade für ein paar Tage unterwegs“, erwiderte der Mann. „Soll ich ihr etwas ausrichten?“

„Wie meinen Sie das – sie ist unterwegs?“

„Na ja, sie hat einen Führer gebucht und ist mit ihm auf dem Weg zu Jasper’s Camp. Es dürfte ein paar Tage dauern, bis sie dort ankommen. Über Handy ist sie wahrscheinlich nicht zu erreichen, weil es da oben kein Mobilnetz gibt. Möchten Sie ihr vielleicht eine Nachricht hinterlassen?“

„Ach so, ja … Könnten Sie sie bitten, so schnell wie möglich ihre Schwester anzurufen?“ Sie gab dem Mann die Nummer von ihrem Handy und die vom Anschluss von Shepherd’s Knoll.

„Ich richte es ihr aus, sobald sie in ein paar Tagen zurück ist.“

„Herzlichen Dank.“

China legte auf und stöhnte. Ihr blieb nichts anderes übrig, als sich zu gedulden. Sie hatte keine Ahnung, wo genau Jasper’s Camp lag. Doch wenn Janet extra einen Führer buchen musste, war der Weg dorthin offenbar nicht so ganz einfach.

Allerdings konnte sie sich die schöne Börsenmaklerin Janet Grant nur schwer auf einer dreitägigen Wanderung durch die kanadische Wildnis vorstellen. Der Gedanke daran machte sie nervös. Außerdem fühlte sie sich schrecklich schuldig: Schließlich war Janet wahrscheinlich nicht ihrer eigenen Lebensgeschichte auf der Spur, sondern Chinas. Und der Schlüssel zu Janets Herkunft lag möglicherweise hier in Losthampton.

Seufzend ging China nach unten, um den Abbotts zu erzählen, was sie herausgefunden hatte. Sah ganz so aus, als müssten sie alle sich in Geduld üben.

„Ich verstehe dich nicht.“ Chloe Abbott schritt durchs Schlafzimmer, sodass ihr dunkelblaues Spitzennegligé hinter ihr herflatterte. „Wieso ziehst du ausgerechnet jetzt aus? Immerhin haben wir höchstwahrscheinlich deine Schwester gefunden, die seit fünfundzwanzig Jahren vermisst wird. Und ich bin gerade erst vor zwei Wochen aus Frankreich zurück.“ Sie warf Campbell einen vorwurfsvollen Blick zu. „Ich finde das unsensibel und rücksichtslos … Deinen Brüder würde so etwas nie einfallen.“

Campbell lehnte sich gegen eine Ziersäule und zeigte sich unbeeindruckt. Dass er sich ein Beispiel an Killian oder Sawyer nehmen solle, predigte ihm seine Mutter schon sein ganzes Leben lang – erfolglos.

„Mit meiner vermissten Schwester meinst du sicher Chinas Adoptivschwester Janet“, vermutete Campbell.

Chloe nahm ein Kleidungsstück aus dem begehbaren Schrank und warf es aufs Bett. Dann sah sie zu ihm hoch. „Ganz genau“, erwiderte sie und verschwand wieder im Schrank, um nach passenden Schuhen zu suchen. Campbell kannte diese Prozedur schon: Es konnte sich nur noch um Stunden handeln.

„China meinte vorhin, dass sie Janet im Hotel nicht erreichen konnte, weil sie gerade für ein paar Tage unterwegs ist“, sagte er. „Wer weiß, vielleicht ist sie sogar länger weg, wenn sie wirklich einen Familienangehörigen findet. Jedenfalls habe ich meinem neuen Arbeitgeber auf Flamingo Gables versprochen, in einer Woche bei ihm anzufangen. Darum wollte ich die nächsten paar Tage zum Packen nutzen. Falls Janet hier irgendwann auftaucht, kann ich mir immer noch freinehmen.“

In diesem Moment kam Chloe aus dem Kleiderschrank. Ihr Haar war leicht zerzaust, und sie hielt weiße Pumps in der Hand. „Du kannst dich auch woanders als Verwalter bewerben“, entgegnete sie.

„Ich will aber auf Flamingo Gables arbeiten“, gab er ruhig zurück. „Die Bedingungen sind nämlich optimal. Das Haus selbst ist ziemlich klein, das Anwesen dafür aber sehr groß. Ich hätte also weniger Personal und mehr Grundstücksfläche zu verwalten.“

Chloe warf die Schuhe auf den Boden und stellte sich direkt vor ihn. Zwar war sie um einen Kopf kleiner als er. Doch bei ihr spielte die körperliche Größe keine Rolle, wenn sie sich Respekt verschaffen wollte. „Nie bist du zufrieden mit dem, was du hast! Immer willst du noch mehr.“

Es war zum Verzweifeln: Obwohl Campbell es ihr so oft erklärt hatte, verstand sie ihn offenbar immer noch nicht. „Es geht mir überhaupt nicht darum, mehr zu bekommen. Ich will bloß etwas anderes für mich.“

„Du willst also nichts mit unserer Familie zu tun haben.“

Jetzt musste er seine Worte ganz genau wählen. „Nein, ich wünsche mir bloß einen Job, in dem ich nicht mit Killian oder Sawyer verglichen werde“, erklärte er geduldig. „Damit wir uns nicht falsch verstehen: Ich liebe die beiden und dich genauso. Und ich hänge an Shepherd’s Knoll. Trotzdem frage ich mich seit Jahren, wer ich eigentlich bin und was ich kann. Killian ist schlauer als ich und Sawyer mutiger – das kann ich problemlos hinnehmen. Ich möchte nur nicht ständig in ihrem Schatten stehen.“

„Ich kann ja nachvollziehen, dass es dir manchmal so vorkommt, als würden die beiden dir im Weg stehen“, räumte Chloe ein und gestikulierte heftig. „Aber nur, weil sie dich davor schützen wollen, einen Fehler zu machen. Sie wollen dir helfen.“

„Das weiß ich doch. Allerdings bin ich inzwischen erwachsen und muss nicht mehr beschützt werden.“

„Und was ist mit mir?“ Sie seufzte theatralisch. Auf einmal wirkte sie nicht mehr wie die herrische Gebieterin, sondern wie das arme Opfer. „Ich bin nur eine alte Frau, die verzweifelt versucht, ihre Familie zusammenzuhalten. Aber im Moment löst sich alles auf. Killian muss wahrscheinlich nach England zurück, weil es Probleme mit einem Kunden gibt … und Sophie will mit Sawyer unbedingt nach Vermont …“

Campbell musste sich zusammennehmen, um nicht loszulachen: Chloe hatte ihr persönliches kleines Drama einfach perfekt inszeniert. Er legte die Hände auf ihre Schultern. „Maman“, sagte er. „Selbst in fünfzig Jahren bist du keine alte Frau, und dich und die anderen Abbotts bringt so leicht nichts auseinander. Deine Vorstellung von der armen alten Witwe war bühnenreif, aber das bist du nicht, und das weißt du ganz genau. Du kannst mir nichts vormachen.“

Chloe gab ihm einen kräftigen Stoß in die Seite. „Dann willst du China ausgerechnet jetzt im Stich lassen? Wo sie gerade erst entdeckt hat, wo sie hingehört?“

Innerlich seufzte Campbell auf. Hatte seine Mutter ihm nicht zugehört? „China mag mich doch gar nicht. Sobald sie Janet ausfindig gemacht hat, tauschen die beiden ihre Kartons, und dann …“

Chloe runzelte die Stirn. „Na, hör mal. Sie hat sich ganz bewusst von dir trösten lassen, nachdem sie den Brief aus dem Labor gelesen hat.“

Damit hatte sie natürlich recht. Er hatte lange darüber nachgedacht und konnte sich noch immer keinen Reim darauf machen. „Ja, aber nur, weil ich gerade in der Nähe stand.“

„Cordie und ich standen direkt neben ihr. Uns hat sie links liegen lassen.“

Das war ihm auch aufgefallen. Während er überlegte, was er erwidern sollte, nutzte seine Mutter die Gesprächspause. „Killian und Sawyer haben mir erzählt, dass ihr zwei euch zwar heftig gestritten habt, während ich in Frankreich war … dass ihr aber sehr gut zusammenarbeiten konntet. Wie zwei richtige Geschwister.“

„Mom, die DNA-Analyse hat ergeben, dass wir nicht miteinander verwandt sind. Und jetzt muss China erst mal herausfinden, wo sie hingehört. Genau wie ich.“

„Wieso? Du bist mein Sohn, und du gehörst zu den Abbotts.“

„So meinte ich das nicht. Mir ist schon klar, wie ich heiße und wer meine Eltern sind. Dafür habe ich keine Ahnung, wo meine Fähigkeiten liegen. Hier gibt es eben immer jemanden, der es zu gut mit mir meint und mir alles abnimmt.“

„Ach, das stimmt doch gar nicht! Dein Problem ist, dass du immer alles allein machen willst. Genau wie dein Großvater Marceau. Vierzig Jahre lang hat er sein Land in der Provence allein gepflügt, bis er irgendwann an einem Herzanfall gestorben ist.“

„Immerhin hat er’s vierzig Jahre lang geschafft“, gab Campbell zurück.

„Das schon. Wenn er sich allerdings eine Aushilfe geleistet hätte, dann hätte er mehr Zeit mit deiner Großmutter und uns Kindern verbringen können.“

Autor

Muriel Jensen

So lange Muriel Jensen zurückdenken kann, wollte sie nie etwas andere als Autorin sein. Sie wuchs in einer Industriestadt im Südosten von Massachusetts auf und hat die Menschen dort als sehr liebevoll und aufmerksam empfunden. Noch heute verwendet sie in ihren Romances Charaktere, die sie an Bekannte von damals erinnern....

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